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AUF EIN WORT - Interessengemeinschaft deutschsprachiger ...

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einem Mal geschieht es. Sie kommt mit ihrem<br />

rechten Fuß schräg auf einem großen Stein auf,<br />

der Stein rutscht unter ihrem Gewicht zur Seite.<br />

Die alte Frau beginnt zu taumeln, verliert den<br />

Halt und stürzt zu Boden. Reflexartig versucht<br />

sie, sich mit den Händen abzufangen, Stock und<br />

Tasche fallen in den Staub. Ein entsetzter Aufschrei<br />

lässt sich nicht unterdrücken.<br />

Da sieht sie einen Jungen zwischen den verwaisten<br />

Mauern hervorschauen. Langsam löst er<br />

sich aus dem Schatten und kommt auf sie zu.<br />

Furcht erfasst sie. Ihre fahrigen Hände suchen<br />

die Tasche, doch sie greifen nur Gestein. Der Junge<br />

kommt näher. Erst gestern hatte ihr eine Bekannte<br />

erzählt, dass ihr ein frecher Bengel die<br />

einzige Scheibe Brot stahl, die sie noch besessen<br />

hatte. Der Junge ist fast da. Sie kann die Tasche<br />

nicht erreichen, sieht die durchlöcherten Kinderschuhe<br />

dicht davor stehen bleiben und dünne<br />

Finger nach der Tasche greifen. Unwillkürlich<br />

hält sie die Luft an. Doch da spürt sie eine sanfte<br />

Berührung an der Schulter.<br />

„Kommen Sie, ich helfe Ihnen beim Aufstehen.”<br />

Die alte Frau hebt den Kopf, und ihre Augen<br />

blicken in ein ernstes Knabengesicht. Sie reicht<br />

ihm die Hand. Mit letzter Kraft rappelt sie sich<br />

auf. Der Junge gibt ihr die Tasche und klaubt<br />

ihren Stock aus dem Schutt. Als sie in sein abgezehrtes<br />

Gesicht sieht, steigen ihr Tränen in die<br />

Augen. Sie greift in ihre Tasche und holt einen<br />

Apfel heraus. Für einen kurzen Moment weht ein<br />

glückliches Lächeln über sein Gesicht und seine<br />

Augen strahlen, als er die Frucht wie einen<br />

kostbaren Schatz mit den Händen umschließt.<br />

(Zweiter Preis beim Literaturwettbewerb der Trude-<br />

Unruh-Akademie Heute wir, morgen Ihr<br />

Doris-Elisabeth Gries<br />

DIE BEGEGNUNG<br />

D<br />

er lang anhaltende Regen ließ unerwartet<br />

nach. Nebelschwaden tauchten auf.<br />

Ich befand mich auf dem Heimweg von<br />

meinem Italienurlaub. Während der langen Fahrt<br />

hatte ich beschlossen, einen Abstecher in die Berge<br />

zu machen. In einem der Täler liegt ein kleines<br />

Dorf mit alten Häusern, engen Gassen und gemütlichen<br />

Cafés. Mittendrin eine Kirche, deren<br />

Turm mächtig in den tiefblauen Himmel ragt. In<br />

diesem Dorf habe ich unvergessliche Stunden erlebt.<br />

Als Kind sonnige Schulferien und später, als<br />

ich erwachsen war, glückliche Urlaubstage. Mich<br />

erfasste eine tiefe Vorfreude. In Kürze würde ich<br />

diesen idyllischen Ort wiedersehen. Ich musste<br />

nur noch die Serpentinen hinunter fahren.<br />

Plötzlich wurde der Nebel dichter. Wie aus<br />

dem Nichts tauchte auf der Straße eine Gestalt<br />

auf. Erschrocken bremste ich. Die Gestalt kam<br />

näher. Ich erkannte ihn sofort. Es war Michael,<br />

den ich dreizehn Jahre lang nicht mehr gesehen<br />

hatte. Ich kurbelte die Scheibe herunter und jetzt<br />

schien auch er mich erkannt zu haben.<br />

„Welch ein Zufall!”, rief ich und lachte glücklich.<br />

„Das ist kein Zufall”, sagte er, „ich habe auf<br />

dich gewartet. Glaube mir, du kannst nicht ins<br />

Tal fahren, der Nebel wird immer dichter. Auch<br />

hier oben. Ganz in der Nähe gibt es ein altes<br />

Gasthaus, da kannst du übernachten. Ich werde<br />

mit dir kommen.” Wie selbstverständlich setzte<br />

er sich auf den Beifahrersitz.<br />

Ich stutzte. Woher hatte er gewusst, dass ich<br />

kommen würde? Vielleicht von den Besitzern der<br />

Pension, in der ich von unterwegs aus ein Zimmer<br />

reserviert hatte.<br />

Nach wenigen Minuten erreichten wir das<br />

Gasthaus und setzten uns an einen der Holztische.<br />

Gemütlich hier, dachte ich, während Michael<br />

italienischen Rotwein bestellte. Valpolicella,<br />

den ich besonders mochte.<br />

Draußen in der Dämmerung hatte ich es nicht<br />

bemerkt, aber hier im Licht des Lokals fielen sie<br />

mir auf. Seine traurigen Augen. Nach dem<br />

Grund seiner Traurigkeit wollte ich nicht fragen.<br />

Vielleicht würde sich später eine Gelegenheit ergeben.<br />

Genüsslich nippten wir an dem köstlichen<br />

Roten, der mir schnell zu Kopf stieg.<br />

Wir erzählten uns, was in den dreizehn Jahren<br />

in unserem Leben geschehen war. Wissbegierig<br />

IGdA-aktuell, Heft 3 (2007), Seite 35

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