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Interview Heidi! (Vorschau)

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John Irving duckt sich über seine Notizen.<br />

Mit der Brille auf der Nase und dem Stift<br />

in der Hand ist er mit den Gedanken gerade<br />

irgendwo, nur nicht in diesem Abteil,<br />

in diesem Zug, der langsam Fahrt aufnimmt<br />

und ihn in den nächsten drei Stunden von<br />

München nach Frankfurt bringen wird. Kurz schaut<br />

er zur Begrüßung auf, dann taucht er wieder in seine<br />

Aufzeichnungen ab.<br />

Ihm gegenüber hat seine Gattin und Agentin Janet<br />

Turnbull Platz genommen, neben ihr die Pressechefin<br />

vom Diogenes­Verlag, gewissermaßen seine<br />

Entourage, die ihn auf seiner kleinen Lesereise begleitet.<br />

Anlass ist sein neuer Roman In einer Person, in<br />

dem der 70­jährige Schriftsteller Irving den fast<br />

70­jährigen Schriftsteller Billy Abbott sein Leben als<br />

bisexueller Mann rekapitulieren lässt. Die Erzählung<br />

beginnt in den 50er­Jahren in First Sister, einer über<br />

alle Maßen theaterbegeisterten Kleinstadt in Vermont.<br />

Dort wächst Billy Abbott auf und erlebt sein<br />

sexuelles Erwachen, als er der deutlich älteren Bibliothekarin<br />

Miss Frost begegnet, einer Transsexuellen,<br />

die in ihrem früheren Leben einmal der beste Ringer<br />

des örtlichen Jungeninternats gewesen ist.<br />

John<br />

IrvIng<br />

78<br />

MaN trägt wieder FlaNell: aus deM dOkuMeNtarFilM John IrvIng<br />

und wIe er dIe welt sIeht VON aNdré schäFer (IrvIng.wfIlm.de)<br />

VON<br />

hArAld peters<br />

Fotos: Florianfilm GmbH/André Schäfer<br />

Seine Bücher sind so weit und so<br />

freiheitlich wie das große Versprechen<br />

Amerika. Doch wie das Land verzetteln<br />

sich auch seine Helden in den<br />

Verhältnissen. In seinem neuen Roman<br />

„In einer Person“ erzählt John Irving<br />

eine Geschichte zwischen sexueller<br />

Befreiung und dem Ausbruch von Aids.<br />

Eine Zugfahrt mit dem großen<br />

amerikanischen Schriftsteller<br />

79<br />

IntervIew: Herr Irving, kann es sein, dass in dem<br />

Städtchen First Sister, in dem Ihr neuer Roman<br />

spielt, vornehmlich Radikalindividualisten und sexuelle<br />

Außen seiter leben? Die Bibliothekarin ist transsexuell,<br />

der Erzähler bi, sein Vater schwul, die Cousine<br />

lesbisch und der Großvater ein Crossdresser.<br />

John IrvIng: Man muss dazu wissen, dass die<br />

Kleinstädte New Englands nicht mit jenen in Mississippi<br />

oder im Mittleren Westen vergleichbar sind.<br />

New England war immer von einem libertären Geist<br />

beseelt. Hinzu kamen die vielen Internate, die es vor<br />

allem in ziemlich abgelegenen Kleinstädten gab.<br />

Dank der Internate waren die Städte von 16, 17 Jahre<br />

alten Jungen bevölkert, die aus der ganzen Welt kamen,<br />

aus Paris, aus New York, aus Beirut …<br />

IntervIew: Warum? Warum schicken Eltern aus<br />

Frankreich ihren Sohn auf ein Internat in New England?<br />

IrvIng: Diplomatenfamilien! Vielleicht machten<br />

die Väter Bankgeschäfte, arbeiteten im internationalen<br />

Recht, so etwas in der Art. Als ich Ende der Fünfziger,<br />

Anfang der Sechziger auf einem dieser Internate<br />

war, habe ich dort jedenfalls Jungs getroffen, die<br />

sexuell erfahrener waren als alle anderen Menschen,<br />

die ich kannte. Das waren exotische Geschöpfe, wie<br />

sie mir erst wieder in New York in den Achtzigern<br />

begegnet sind – und ich hatte zwischenzeitlich in<br />

Pittsburgh gelebt und in Europa studiert. Aber bis zu<br />

meiner Zeit in New York habe ich nie wieder Leute<br />

getroffen, die es mit den Jungs, die ich in den Fünfzigern<br />

gekannt habe, hätten aufnehmen können.<br />

IntervIew: Verstehe. Ich hatte mich nämlich gewundert,<br />

wie weltoffen und liberal die Kleinstadt First<br />

Sister doch wirkt.<br />

IrvIng: Noch einmal: Eine Kleinstadt im New<br />

England der 50er­Jahre war ungefähr 90­mal liberaler<br />

als eine ähnlich große Stadt irgendwo sonst in den<br />

USA. Es gab im New Yorker eine Rezension, die von<br />

jemandem geschrieben wurde, der zu der Zeit, als Billy<br />

das Internat in First Sister besuchte, vielleicht acht<br />

oder neun Jahre alt war. Dieser Autor ist in der<br />

Gegend von Washington D.C. aufgewachsen, also<br />

eigentlich in den Südstaaten. Ich meine, in direkter<br />

Umgebung von Maryland und Virginia wächst man<br />

zwangsläufig in einer eher konservativen Umgebung

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