BOXING DAY 2013 Jingle Bells! Der Weihnachtsmann ist in den englischen Stadien über die Festtage allgegenwärtig. Hier mischt er sich unter die Arsenal-Fans. Festtagszeit – Fussballzeit Wenn das restliche Europa feiert, schmaust und die Beine hochlegt, herrscht im englischen Fussball Hochbetrieb. Niemals sonst wird hier so intensiv gespielt wie in der Weihnachtszeit. Dem Publikum gefällt’s – einigen Trainern weniger. David Price/Arsenal FC via Getty Images 22 THE <strong>FIFA</strong> WEEKLY
Carl Court/AFP Hanspeter Kuenzler Der Himmel ist grau, als würde sich darin ein zugefrorener See spiegeln. Tief am Horizont ringt die bleiche Sonnenscheibe vergeblich nach Aufmerksamkeit. Der Nebel erstarrt vor Kälte. Aber die Stimmung ist grandios. Boxing Day. Der Tag nach dem Weihnachtstag. Wir befinden uns in der fünften englischen Liga, der Conference Premier, im Stadion des Barnet F.C. Selbst in dieser Klasse spielen die meisten Vereine mit Vollprofis. Und auch hier sind klingende Namen anzutreffen. So sitzt auf der Trainerbank der Platzherren der holländische Ex-Internationale Edgar Davids. Dem früheren Ajax-, Juventus-, Milan- und Barcelona-Star gefiel es so gut in London, dass er sich nach dem vermeintlichen Abschluss seiner Aktivkarriere bei Crystal Palace nicht von der Stadt trennen wollte. Heute fungiert er bei den Bees Festtagskater: Arsenal-Trainer Arsène Wenger (links) und Sam Allardyce von West Ham United wünschen sich eine Weihnachtspause. als Spieler/Head-Coach, um das Trainermetier von Grund auf zu lernen. Der Gegner heisst Luton Town. Ein Lokalderby, genau so, wie es die Boxing-Day-Tradition will, dazu ein Spitzenspiel, der Fünfte gegen den Zweiten. 3608 Fans sind ins Hive-Stadion im Norden von London gekommen. Das ist Stadionrekord, aber nicht aussergewöhnlich für diese Division: Wenn Luton, der Klub, der noch 1992 in der obersten Spielklasse mitmischte, daheim spielt, schauen regelmässig 6000 Fans zu. So tief greift die englische Fussball-Leidenschaft. Und für all diese Fans wären die Festtage keine Festtage ohne den Nervenkitzel des wohl intensivsten Fussballprogrammes der Welt. Heuer umfasst es zwischen dem 21. Dezember und dem 4. Januar vier komplette Premier-League-Runden sowie ein FA-Cup-Durchgang. Das dichte Festtagsprogramm ist so alt wie der organisierte Fussball selber. Schon 1888/89, als zwölf Mannschaften zum ersten Mal in einem Liga-Format um den englischen Meistertitel kämpften (Sieger: Preston North End), wurde am Boxing Day Fussball gespielt. Ein mit wenig Gravitas belegter Festtag wie dieser eignete sich perfekt dazu, den neugierigen Massen das neue Phänomen “Zuschauersport” näherzubringen. Ein grosser Teil der Bevölkerung erfreute sich eines arbeitsfreien Tages. Auch waren viele Männer nicht ans Herumsitzen am trauten Herd gewöhnt. Am Boxing Day brannten sie darauf, an die frische Luft zu kommen und deftige Witze auszutauschen. Abgesehen davon, dass in den festtäglichen Stadien heute auch viele Frauen anzutreffen sind und das meistgehörte Weihnachtslied nicht mehr “Silent Night”, sondern die Slade-Komposition “Merry Xmas Everybody” ist, hat sich in dieser Hinsicht seither wenig verändert. Auch heute noch ist bei den Festtags-Matches das elektrische Knistern der überflüssigen Energie zu spüren, die sich beim Schlemmen und Flimmerkistenstarren im Bauch der Fans angestaut hat. Und um ein noch grösseres Publikum in die Stadien zu locken, achtet man beim Zusammenstellen des Programmes traditionellerweise darauf, dass an dem Tag möglichst viele Derbys stattfinden. Wen verwundert es, dass so mancher Zuschauerrekord an einem Boxing Day aufgestellt wurde? Allen Reizen zum Trotz ist das Festtagsprogramm eine der wenigen Erfindungen des englischen Fussballs geblieben, die vom restlichen Europa nicht übernommen wurden. Von allen grösseren europäischen Ligen schalten heute nur die Engländer und die Schotten keine Winterpause ein. Dies hat zu einer kuriosen Situation geführt. So regelmässig wie sich die Fans am Spektakel erfreuen, so oft plädieren Spieler wie Manager für die Abschaffung dieser Tradition. Nebst Arsène Wenger (Arsenal) gehören Sam Allardyce (West Ham), Mark Hughes (Stoke), der englische Nationaltrainer Roy Hodgson und sogar Sir Alex Ferguson zu den Befürwortern einer Winterpause. Sie glauben, dass sich die Spieler bis zum Saisonende nie mehr richtig von den Strapazen erholen. Viele orten hier einen Hauptgrund dafür, dass die englische Nationalmannschaft bei den letzten Europaund Weltmeisterschaften enttäuschte: Ohne Erholungspause seien ihre Batterien zum Zeitpunkt dieser Wettbewerbe leer. Befürworter einer Pause verweisen gern auf Statistiken. Die Tageszeitung “The Guardian” zitierte einen Analytiker der Firma Prozone. Dieser hatte die Leistungen von Mittelfeldspielern und Stürmern während der letztjährigen Festtagsperiode untersucht: Spieler, die zwei Partien bestritten, sprinteten im Schnitt 69.5-mal pro Match, solche, die dreimal spielten 63,7-mal. Bei vier Spielen waren es noch 58-mal. Mannschaften THE <strong>FIFA</strong> WEEKLY 23