Neue Bücher - Instytut Książki
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PIOTR<br />
PAZIŃSKI<br />
DIE<br />
VOGELSTRASSEN<br />
Piotr Paziński (geb. 1973), Journalist, Essayist,<br />
Literaturkritiker und Übersetzer, Chefredakteur<br />
der zweimonatlich erscheinenden jüdischen Zeitschrift<br />
Midrasz, Autor eines Buches über James<br />
Joyce. Für seinen Debütroman Die Pension (2009)<br />
wurde er mit dem Europäischen Literaturpreis<br />
ausgezeichnet, der vom Europäischen Parlament<br />
verliehen wird.<br />
„Wir sind nie über diese Straßen geschlendert. Niemand ist<br />
überhaupt auf die Idee gekommen; als ob wir uns selbst den<br />
Zutritt verwehrt hätten“, schreibt Piotr Paziński in „Das Manuskript<br />
Izaak Feldwurms“, einer von vier langen Erzählungen<br />
aus dem Band Die Vogelstraßen. Auf den Seiten des Buches<br />
wird das Verbot gebrochen, wir betreten einen Raum, der<br />
ungewöhnlich reich ist an Bedeutungen. Es ist das Gebiet des<br />
nördlichen Warschauer Vorkriegs-Stadtteils, aus dem später<br />
das größte jüdische Ghetto Europas gemacht wurde – denn<br />
genau dafür stehen „jene“ Straßen bzw. die „Vogelstraßen“;<br />
dazu verurteilt, „nie von den Toten aufzuerstehen“, sind sie<br />
doch voller Leben, sie nehmen uns mit ihrer seltsamen „Zwischenwelt“<br />
gefangen, die Zeit und Raum des gesamten Erzählbandes<br />
prägt. Bei Paziński verströmt dieser unsichtbare Ort,<br />
überlagert von der Nachkriegstopografie, getilgt auf Karten<br />
und in Gedächtnissen, ein so intensives posthumes Leben,<br />
dass die Realität der Gegenwart schwindet und verblasst,<br />
während die Phantome wieder zum Leben erweckt werden.<br />
„Das aktuelle Straßennetz wurde wahllos ausgeworfen, als<br />
hätte es dort zuvor keins gegeben, als hätte es sich nicht an<br />
den Boden geschmiegt, hätte im luftleeren Raum gehangen,<br />
unbeholfen das Nichts verdeckend.“ Die „Adler-, Gänse-,<br />
Krähen- und Entenstraße“ (im Grunde genommen alles Vogelnamen),<br />
„brachten die Luft zum Klingen, und es schien,<br />
als würde jede ihre eigene Melodie singen.“ Die wichtigen<br />
und die nur erwähnten Helden der Erzählungen sind alte Bekannte,<br />
ein familiärer Kreis von Überlebenden der polnischjüdischen<br />
Welt. Herr Sztajn, Frau Tecia, Dr. Kamińska, Herr<br />
Abram, Herr Rubin, die Oma, die Onkel, schließlich zwischen<br />
alledem der Erzähler, der der Generation der Enkel angehört,<br />
der ersten Generation nach dem Holocaust. Sie alle sind in<br />
Anspruch genommen vom phantastischen Leben, von der Tätigkeit,<br />
Erinnerung zu schaffen. Manche Figuren sind gänzlich<br />
phantasmagorisch wie der titelgebende Feldwurm oder<br />
der Zaddik aus der Erzählung „Trauerzug“. Andere – wie der<br />
von unkonzentrierten Trauergästen getragene Verstorbene<br />
oder Dr. Kamińska – erscheinen vorübergehend in Gestalt von<br />
wirklichen Leichen. Sie alle gehören jedoch jener Zwischenwelt<br />
an, der Welt von Menschen und Geistern, deren Domäne<br />
nicht das klassische Unheimliche, sondern die Literatur selbst<br />
ist, die erlahmende Magie der Fiktion, die ständig vom Leser<br />
wiederbelebt werden muss und in der die Vergessenen fortbestehen.<br />
So ähnlich wie in dem Debüt Die Pension, wenn auch tiefgründiger,<br />
beruht die Struktur der Prosa auf der Idee eines<br />
Ausflugs an einen Ort, an dem die Vergangenheit lauert, sich<br />
verbirgt, aber auch darauf wartet, dass sie jemand beim Namen<br />
nennt. Man kann sie wittern, sie sich vorstellen, sie erblicken.<br />
Kann man, muss es aber nicht. Die elegische Erinnerung<br />
geht zum Teil, unsicher, unbeständig in Erfüllung. Der Autor<br />
führt uns durch einen halb realen, halb geträumten und geisterhaften<br />
Raum, findet eine Form für die Abwesenheit, einen<br />
Begriff für die Nicht-Existenz, eine Darstellung für das Unsichtbare.<br />
Paziński erweist sich als ungewöhnlicher, ironischer<br />
Forscher und Chronist der jüdischen Welt. Der Stil, den<br />
er dabei geschaffen hat, ist zugleich ausdrucksstark und ruhig,<br />
virtuos, aber sich der eigenen Hilflosigkeit bewusst. Sein<br />
Schreiben ist die reiche, tief verinnerlichte Erkenntnis, dass<br />
sich das, was einst als Literatur der Erschöpfung bezeichnet<br />
wurde, infolge des Holocaust endgültig erfüllt hat: Die Notwendigkeit,<br />
in der Literatur über die Nicht-Existenz von Helden<br />
und sogar den Tod von Gegenständen zu schreiben, wie<br />
es in der meisterhaften Erzählung „Die Wohnung“ der Fall<br />
ist. Der gelehrte Stil, reich an Paraphrasen von Bruno Schulz,<br />
biblischer Travestie und Anspielungen auf den Talmud, ist<br />
eine besondere Form, die Philosophie des Verlustes zu praktizieren,<br />
die der schriftstellerischen Mission von Paziński<br />
zugrunde liegt.<br />
Kazimiera Szczuka<br />
PIOTR PAZIŃSKI „PTASIE ULICE”<br />
NISZA, WARSZAWA 2013<br />
135×210, 192 PAGES<br />
ISBN: 978-83-627-9521-5<br />
TRANSLATION RIGHTS: PIOTR<br />
PAZIŃSKI<br />
CONTACT: NISZA