Thalia Magazin
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THALIA | Reiseziele<br />
Kannitverstan<br />
trifft Ekkehard<br />
Ein literarischer Spaziergang in Karlsruhe<br />
Dirk Heißerer<br />
Autor und „Wegweiser”<br />
des literarischen<br />
Spaziergangs im<br />
<strong>Thalia</strong> <strong>Magazin</strong><br />
© Christina Bleier<br />
Es beginnt vor fast 300 Jahren mit<br />
einem Schnakenstich. Am Oberrhein<br />
im Hardtwald ruht sich der Markgraf<br />
Karl Wilhelm von Baden-Durlach von der<br />
Jagd aus, schläft ein, wacht auf, „von einem<br />
Schnakenstich wahrscheinlich, aus weiß Gott<br />
welchen Träumen“ gerissen, und entschließt<br />
sich, wohl infolge der Störung und des<br />
anschließenden Juckreizes, noch an Ort und<br />
Stelle eine Stadt, genauer: seine Stadt bauen<br />
zu wollen. Hier will er, Karl, seine Ruhe haben,<br />
vermutlich nicht nur vor Schnaken. So lautet<br />
der Gründungsmythos „der Fächerstadt, der<br />
Schnakenstadt, der Weinbrennerstadt“ in<br />
der Version der hier geborenen Marie Luise<br />
Kaschnitz (1901-1974). Tatsächlich wurde am<br />
17. Juni 1715 der Grundstein für das neue<br />
Schloss gelegt, von wo aus sich eine neue<br />
Stadt namens „Karls Ruhe“ fächerförmig ausbreitete,<br />
die später vom Architekten Friedrich<br />
Weinbrenner klassizistisch geprägt wurde<br />
und heute mit fast 300.000 Einwohnern die<br />
zweitgrößte Stadt in Baden-Württemberg<br />
ist. Die Kaschnitz teilt in ihren lapidar-grandiosen<br />
Aufzeichnungen „Orte“ (1973) weiter<br />
mit, dass sich einst unter dem Bahnhof ein<br />
Hermann und Dorothea (1866) im Schlossgarten<br />
alter Luftschutzbunker befunden habe, „der<br />
auch nach dem Krieg stark belegt“ war. Hier<br />
übersetzt sie eines der „Four Quartets“ des<br />
englischen Lyrikers T. S. Eliot und verbindet<br />
diese Verse auf Dauer mit der Erinnerung<br />
an den feuchten, von der Militärpolizei<br />
bewachten Schutzraum. Der Wiederaufbau<br />
der im Zweiten Weltkrieg zu 35 Prozent<br />
zerstörten einstigen barocken Residenzstadt<br />
hat Karlsruhe durch die beiden höchsten<br />
bundesdeutschen Gerichte, den Bundesgerichtshof<br />
(1950) und das Bundesverfassungsgericht<br />
(1951), neue Bedeutung verliehen,<br />
auch wenn die Stadt durch die Vereinigung<br />
der Länder Baden und Württemberg 1952<br />
ihren alten Status als Landeshauptstadt<br />
aufgeben musste. Heute ist Karlsruhe neben<br />
Hochschulen, Akademien, Museen und<br />
Bibliotheken durch das Zentrum für Kunst<br />
und Medientechnologie (ZKM) und den<br />
segensreichen „Karlsruher Virtuellen Katalog“<br />
(KVK, den Zusammenschluss der wichtigsten<br />
Bibliotheken der Welt) ein Ort der Moderne.<br />
Die Literatur hat in diesem Ensemble einen<br />
einzigartig aufschlussreichen und repräsentativen<br />
Ort gefunden.<br />
Ein „Haus der Kindheit“ von Marie Luise Kaschnitz<br />
Der Rheinische Hausfreund<br />
Zwei Wege führen in das Museum für Literatur<br />
am Oberrhein im Prinz-Max-Palais an der<br />
Karlstraße 10. Der eine geht vom Bahnhof<br />
aus mit der Straßenbahn zum Europaplatz,<br />
der andere zu Fuß durch den Zoologischen<br />
Stadtgarten zunächst zum Ettlinger Tor. Von<br />
dort geht es schnurstracks Richtung Schloss,<br />
vorbei an einer Pyramide mitten auf dem Weg,<br />
unter der seit 1823 der einstige Stadtgründer<br />
Karl Wilhelm seine letzte Ruhe gefunden hat.<br />
Eingeweiht hatte die Pyramide seinerzeit<br />
Ludwig, ein Sohn des ersten Großherzogs von<br />
Baden, Karl Friedrich, nach dem wiederum die<br />
Straße zum Marktplatz benannt ist. Dort, am<br />
südlichen Seitengebäude der Evangelischen<br />
Stadtkirche mit den markanten klassizistischen<br />
Säulen, erinnert eine Tafel an Johann<br />
Peter Hebel (1760-1826), den Theologen und<br />
Gymnasialdirektor, der mit „Alemannischen<br />
Gedichten“ (1803), vor allem aber als Verfasser<br />
von Kalendertexten berühmt geworden ist.<br />
Das „Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes“<br />
(1811) mit Kurzgeschichten wie der<br />
vom „Kannitverstan“ oder dem „Bergwerk von<br />
Falun“ hatte viele Leser. Der Philosoph Ernst<br />
Der Schlossplatz-Fächer mit der Kunsthalle (oben) und<br />
dem Bundesverfassungsgericht (rechts davon)