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Armut in der Schweiz - Kirchenblatt

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<strong>Armut</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

Thema<br />

Wenn man von <strong>Armut</strong> spricht, denkt<br />

man zuerst an die «Dritte Welt» und<br />

die Milliarde Menschen, welche mit<br />

weniger als e<strong>in</strong>em Dollar pro Tag auskommen<br />

müssen. Gibt es denn <strong>Armut</strong><br />

auch bei uns, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, e<strong>in</strong>em<br />

<strong>der</strong> reichsten Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> Welt?<br />

HANS-PETER FURRER<br />

Hans-Peter Furrer<br />

geboren am 23. Juni 1936 <strong>in</strong> Luzern,<br />

Klosterschule Disentis 1948 bis 1955, an -<br />

schliessend wohnhaft <strong>in</strong> Grenchen SO.<br />

1960 Lizenziat <strong>der</strong> Rechte an <strong>der</strong> Universität<br />

Freiburg i. Ue. 1961 bis 1966 Universität und<br />

Institut für höhere <strong>in</strong>ternationale Studien Genf<br />

mit Forschungs- und Lehraufträgen <strong>in</strong> Völkerrecht.<br />

1966 bis 2002 Internationaler Beamter<br />

im Generalsekretariat des Europarats <strong>in</strong> Strass -<br />

burg, zuerst im Rechtsdienst, ab 1980 Sekretär<br />

des M<strong>in</strong>isterkomitees, 1985 bis 2002 Leiter <strong>der</strong><br />

Politischen Abteilung. Seit 2002 im Ruhestand,<br />

wohnhaft <strong>in</strong> Luzern. Präsident <strong>der</strong> Bewegung<br />

ATD Vierte Welt <strong>Schweiz</strong>.<br />

4<br />

KIRCHENBLATT 11 09<br />

Sicher muss <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> niemand mit<br />

weniger als e<strong>in</strong>em Dollar pro Tag auskommen.<br />

Aber <strong>Armut</strong> ist nicht e<strong>in</strong> absoluter<br />

Begriff, son<strong>der</strong>n immer relativ, d.h. bezogen<br />

auf die jeweilige Gesellschaft, <strong>in</strong> welcher<br />

es sie gibt. Nach Schätzungen <strong>der</strong><br />

Caritas <strong>Schweiz</strong> s<strong>in</strong>d bei uns tatsächlich<br />

ungefähr e<strong>in</strong>e Million Menschen, d.h.<br />

14% <strong>der</strong> Bevölkerung, arm o<strong>der</strong> armutsgefährdet.<br />

Sie leben <strong>in</strong> Haushalten, die<br />

ihre Existenz mit eigenen aktuellen o<strong>der</strong><br />

ehemaligen E<strong>in</strong>kommen nicht decken<br />

können. Das s<strong>in</strong>d 250 000 K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche<br />

unter 18 Jahren; 600 000 Personen<br />

im Erwerbsalter, die Hälfte davon<br />

sogenannte «Work<strong>in</strong>g Poor»; 200 000<br />

Menschen im Rentenalter. Diese Zahlen<br />

stammen aus dem Jahr 2006, also aus <strong>der</strong><br />

Zeit vor <strong>der</strong> jetzigen F<strong>in</strong>anz- und Wirtschaftskrise;<br />

es ist zu befürchten, dass<br />

noch Schlimmeres auf uns zukommt.<br />

Die Gründe s<strong>in</strong>d mannigfaltig. Neben tradierter<br />

<strong>Armut</strong> und Randständigkeit s<strong>in</strong>d<br />

es Arbeitslosigkeit, Überschuldung, biographische<br />

Krisen wie Scheidung (mit<br />

ausbleibenden Alimenten), Krankheit,<br />

Unfall, Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und an<strong>der</strong>e mehr.<br />

Aktuell ist vor allem (und wie<strong>der</strong>!) die Unsicherheit<br />

am Arbeitsmarkt mit dem Verlust<br />

von Arbeitsplätzen, verbreiteten Tieflohn-<br />

und Zeitarbeitssegmenten, atypischen<br />

und flexibilisierten Beschäftigungsformen<br />

und verschärften Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

für den Zugang zu Arbeitsplätzen, verglichen<br />

mit oft mangeln<strong>der</strong> Ausbildung. Vor<br />

allem zu denken gibt, dass nur knapp die<br />

Hälfte <strong>der</strong> Berechtigten Sozialhilfe o<strong>der</strong><br />

Ergänzungsleistungen zu AHV o<strong>der</strong> IV<br />

beziehen. Die Dunkelziffer <strong>der</strong> «verdeckten<br />

<strong>Armut</strong>» muss also <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> sehr<br />

hoch se<strong>in</strong>. Auch hier können Gründe ausgemacht<br />

werden: Furcht vor Stigmatisierung,<br />

vor permanenter Kontrolle <strong>der</strong> Privatsphäre,<br />

vor Inpflichtnahme von Verwandten,<br />

vor Mangel an Verständnis,<br />

Herabsetzung und E<strong>in</strong>griffen durch<br />

Behörden («die Angst <strong>der</strong> Mutter vor<br />

dem Gang auf das Sozialamt»!).<br />

Arm se<strong>in</strong> heisst, dass man nicht mehr alles,<br />

was man braucht, bezahlen kann, auf<br />

Sozialhilfe o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Sozialleistungen<br />

angewiesen ist, trotzdem auf vieles, vor<br />

allem im gesellschaftlichen und kulturellen<br />

Bereich, auch etwa Ferien, verzichten<br />

muss. Man kann se<strong>in</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n nicht beson<strong>der</strong>e<br />

Ausbildungswege bieten und sie<br />

nicht mit allem ausstatten, was von ihnen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft erwartet wird. Zahnpflege<br />

für sich selber und für die K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

wird unerschw<strong>in</strong>glich. Oft und schwer<br />

bedrückt die Angst, dass K<strong>in</strong><strong>der</strong> weggenommen<br />

werden o<strong>der</strong> dass jugendliche<br />

Familienmitglie<strong>der</strong> für lange Jahre ke<strong>in</strong>e<br />

berufliche Ausbildung und Anstellung erhalten.<br />

In <strong>der</strong> Gesellschaft und im Arbeitsbereich<br />

wird man wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong><br />

enttäuscht, nicht anerkannt und nicht geachtet,<br />

ja man stösst im Gegenteil auf<br />

Misstrauen und generellen Verdacht auf<br />

Sozialmissbrauch. Man fürchtet den Umgang<br />

mit Behörden und fühlt sich e<strong>in</strong>er<br />

ständigen, das Privatleben verletzenden<br />

Aufsicht und Kontrolle ausgesetzt. Die<br />

schwerwiegendsten Auswirkungen für<br />

arme Familien s<strong>in</strong>d wohl die Sorge um<br />

das Wohlergehen und die Zukunft <strong>der</strong>

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