Jahresheft 2013 Jahresbericht 2012 - Klinik Sonnenhof
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Kindheit und Jugend von Menschen<br />
aus dem Autismusspektrum<br />
Menschen aus dem Autismusspektrum leiden<br />
nicht in erster Linie unter der «Behinderung Autismus»,<br />
vielmehr unter den Konsequenzen, die daraus<br />
resultieren.<br />
Kleine Details<br />
Sie nehmen die Umwelt und auch Gegenstände<br />
nicht unmittelbar als ein Ganzes wahr, sondern<br />
sehen viele klein(st)e Details, nämlich solche, die<br />
ein gewisses Mass an zeitüberdauernder Stabilität<br />
bieten, auf logisch nachvollziehbare Weise verfolgbar<br />
und genügend stark in Farbe, Form und Intensität<br />
sind, um wahrgenommen werden zu können.<br />
Zum Beispiel Architektonisches, Anordnungen von<br />
Stühlen, Gestellen, Bodenbeschaffenheiten oder<br />
Lichtschalter. Dabei werden Menschen, die sich<br />
meist unvorhersehbar in Räumen bewegen, vorgezogen.<br />
Nonverbale Signale<br />
Menschen im Allgemeinen sind wenig stabil und<br />
zeitüberdauernd, was ihre Verhaltensweisen anbelangt.<br />
Einmal zeigen sie bei Verärgerung im Gesicht<br />
ein gleichzeitiges Kopfschütteln, ein anderes Mal<br />
stossen sie bei Verärgerung lediglich Seufzer aus<br />
oder schauen dabei nach oben. Für detailfokussierte<br />
Menschen – Menschen mit Autismus – verunmöglichen<br />
oder erschweren solche sich immer<br />
wieder anders ausdrückende nonverbale Signale<br />
die Möglichkeit, diese eindeutig einschätzen zu<br />
können. Eine eindeutige Zuordnung einer Verhaltensweise<br />
eines Gegenübers kann nicht gemacht<br />
werden, weil Interaktionspartner bei gleicher emotionaler<br />
Erregtheit nicht immer gleiches Verhalten<br />
zeigen. Die Zuhilfenahme von Wenn-Dann-Verknüpfungen<br />
(«Wenn xy nach oben schaut, dann ist<br />
er verärgert…») sind in sozialen Situationen oft unzureichend,<br />
aber gerade diese Art der Einordnung<br />
der Welt, über die Wenn-Dann-Konstruktion, sind,<br />
so kann vermutet werden, von Geburt an sehr gut<br />
ausgeprägt bei Menschen mit Autismus.<br />
jene, welche die gleichen Begriffe gleich definieren<br />
und die gleiche Terminologie der Sprache benutzen.<br />
Ist dies nicht oder nur partiell gegeben,<br />
wird klar, dass Menschen mit Autismus nicht immer<br />
die gleichen Alltagsgegenstände erkennen können,<br />
Begriffe nicht immer gleich wie typische Menschen<br />
definieren werden. Und umgekehrt. Was<br />
Menschen mit Autismus im Kontakt mit typischen<br />
Menschen nicht gelingt, gelingt typischen Menschen<br />
auch nicht im Kontakt mit autistisch wahrnehmenden<br />
Menschen. Die Behinderung ist deswegen<br />
nicht auf das von Autismus betroffene<br />
Individuum beschränkt; behindert in der Kommunikation<br />
und Interaktion ist die Umwelt ebenso.<br />
Dennoch interpretieren und bewerten typisch<br />
wahrnehmende Menschen alles, was sie von<br />
einem Menschen mit Autismus sehen, mit ihrer<br />
eigenen Wahrnehmung und ausschliesslich mit<br />
Hilfe ihrer eigenen biografischen und (Lern-)Erfahrungen<br />
mit Menschen und Gegenständen. Die<br />
daraus resultierenden Fehldeutungen und die damit<br />
verbundenen Missverständnisse sind logische<br />
Konsequenz aus dieser (für mich verstehbaren)<br />
Einseitigkeit heraus.<br />
Unsichtbare Behinderung<br />
Autismus ist eine unsichtbare Behinderung, die<br />
von Menschen ohne Autismus unterschätzt wird,<br />
weil ein typisch wahrnehmender Mensch nicht daran<br />
denkt, sich vorzustellen, dass eine Verhaltensweise<br />
oder eine Aussage eines autistisch wahrnehmenden<br />
Menschen etwas ganz anderes bedeuten<br />
könnte, als das, was der typische Mensch meint.<br />
Vor allem dann, wenn ein Betroffener gleichzeitig<br />
gute kognitive Fähigkeiten zeigt und sich sprachlich<br />
bestens ausdrücken kann, kommt es vor, dass<br />
ihm Schwierigkeiten abgesprochen werden, weil<br />
sich niemand vorstellen kann, dass jemand, der<br />
sich so gut ausdrückt, nicht einfach nur oppositionell<br />
oder unmotiviert ist, sondern ein Coaching<br />
in der Schule oder an der Uni braucht, oder jemanden,<br />
der ihm erklärt, wie Menschen ohne<br />
Autismus wahrnehmen, denken und sprechen.<br />
Balancieren auf einem Hochseil<br />
Menschen mit Autismus erscheint die sogenannte<br />
natürliche Umgebung, die sich nicht zusammenhängend<br />
und klar logisch offeriert, meist wie das<br />
Balancieren auf einem Hochseil. Kein Mensch ist<br />
besonders flexibel oder kreativ, wenn er auf einem<br />
Hochseil entlanggehen muss, weil es sich dabei<br />
um eine Extremsituation in nicht natürlicher Umgebung<br />
handelt. Flexibilität könnte ihn das Leben<br />
kosten.<br />
Was kann es konkret bedeuten, wenn jemand ganz<br />
anders als man selbst in der Lage ist, es sich vorzustellen,<br />
wahrnimmt, denkt und lernt? Das herauszufinden,<br />
ist und wird auch weiterhin die grosse<br />
Herausforderung sein. Für uns alle. Ich freue mich<br />
darauf.<br />
Matthias Huber M. Sc.<br />
Kinder- und Jugendpsychiatrische Poliklinik,<br />
KJPP Bern<br />
Demgegenüber fällt es jedoch auch Menschen, die<br />
keinen Autismus haben, schwer, den Gefühlszustand<br />
von Menschen mit Autismus zu deuten, da<br />
Letztere zwar intensive Gefühle erleben, diese aber<br />
nur schwer über ihre Körpergrenzen heraus zeigen<br />
können oder nur in abgeschwächter Form.<br />
12<br />
Gleich wahrnehmen tun jene, die eine ähnliche Sozialisation<br />
durchlebten, ein ähnlich strukturiertes<br />
Gehirn haben, ähnliche Verknüpfungen und Assoziationen<br />
machen und, was oft vergessen geht,<br />
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