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Jahresheft 2013 Jahresbericht 2012 - Klinik Sonnenhof

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Psychische Gesundheit im Kontext<br />

gesellschaftlicher Veränderung<br />

14<br />

Veränderte Kindheit<br />

Dieses Thema war auch Titel der zweiten Fachtagung<br />

<strong>2012</strong>. Zu Ehren von Robert Fisch referierten<br />

seine Favoriten Prof. Dr. Franz Resch und Prof. Dr.<br />

Reinmar du Bois. Ihre Ausführungen werden hier<br />

zusammengefasst dargestellt.<br />

Lässt sich eine veränderte Kindheit mit neuer Morbidität<br />

in neuen Familienstrukturen, neuen Problemfeldern<br />

in den Bereichen Schule und Arbeitsmarkt,<br />

mit Gebrauch der neuen Medien bei<br />

Risikokonsum in gesellschaftlichen Umbruchzeiten<br />

abbilden? Anzeichen für eine reale Zunahme der<br />

Morbidität in einigen Symptombereichen müssen<br />

von einer scheinbaren Zunahme z.B. durch erhöhte<br />

gesellschaftliche Achtsamkeit, Medikalisierung sozialer<br />

Probleme und Inkonsistenz der Normen und<br />

Definitionen differenziert werden. Die Realzunahme<br />

in den Bereichen Selbstverletzung und Suizidalität,<br />

bei psychosomatischen Symptomen und bei<br />

schizophrenen Ausdrucksformen bildet sich auch<br />

im DSM V, der Revision des Klassifikationssystems<br />

der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung<br />

mit einigen neuen Diagnosen ab.<br />

Ob Familien mit der Zunahme von Scheidungen,<br />

Patchworkfamilien, Bindungsschwäche, dem Syndrom<br />

der kalten Schulter, Zeitmangel, Konflikten<br />

und Erschöpfung allgemein tatsächlich häufiger<br />

oder intensiver psychisch erkranken, beantwortet<br />

F. Resch mit dem Satz: «Die Familie ist nicht krank,<br />

aber es gibt kranke Familien». Er fokussiert hier vor<br />

allem auf die Kinder psychisch kranker Eltern, deren<br />

Entwicklung hier durch den schon früh gestörten<br />

emotionalen Dialog zwischen Eltern und Kind leidet.<br />

Aber auch in Schule und Arbeitswelt stattfindende<br />

Veränderungen beeinflussen kindliche und<br />

jugendliche Entwicklung nachhaltig: Die frappante<br />

Zunahme des Schulschwänzens und der Jugendarbeitslosigkeit<br />

stehen hier als Symptome einer<br />

schwerwiegenden, unzumutbaren und dringend<br />

änderungsbedürftigen gesellschaftlichen Notlage.<br />

Mit dem früh möglichen, breiten Zugang zu neuen<br />

Medien sind Kinder und Jugendliche zunehmend<br />

und früher Themen wie Pornografie, Cybermobbing,<br />

Bullying und Happy slapping (öffentlich gemachte<br />

Prügelvideos) ausgesetzt und müssen sich<br />

– meist ohne, dass Erwachsene überhaupt etwas<br />

davon mitbekommen – mit diesen mindestens<br />

von einem Drittel als unangenehmen erlebten Erfahrungen<br />

auseinandersetzen und abgrenzen.<br />

Auch das Risikoverhalten ändert sich mit der gesell-<br />

schaftlichen Veränderung: Computersucht, der<br />

zunehmde Konsum illegaler (Party-)Drogen und<br />

Mixgetränke sind wiederum Beispiele für neue<br />

Herausforderungen an jugendliche Entwicklung.<br />

Zeit des Umbruchs<br />

Heute steht der sich entwickelnde Mensch bei<br />

Informationsvielfalt, bei hoher Komplexität der<br />

Kontexte, bei Wertepluralität, bei einem Übermass<br />

an Positivität (Überfluss) unter hohem Erfolgsdruck<br />

und Konkurrenz. Komplizierend bzw. herausfordernd<br />

kommen Globalisierung, hohe Mobilität und<br />

Flexibilitätsanforderung hinzu. Der Qual der Wahl<br />

stehen die Chancen des Handelns gegenüber. Dies<br />

führt zu hohen Anforderungen an sich entwickelnde<br />

Kinder und Jugendliche: Hohe Ausbildungs-/<br />

Bildungsqualität, hohe Selbststeuerung/Selbstreflektion<br />

und hohe kommunikative Kompetenz sind<br />

oft unerreichbare Ziele. Therapeuten müssen hier<br />

individuelle Strategien erarbeiten, soziale Systeme<br />

können durch sie nicht erlöst werden, auch wenn<br />

dies oft erwartet wird. Individualisierte bio-psychosoziale<br />

Hilfe muss nach differenzierter Problemanalyse<br />

durch Integration, nicht durch Fragmentierung<br />

der Helfersysteme erfolgen.<br />

Anpassung und Entwicklung<br />

Junge Patienten als «schwankende Zeitgenossen»<br />

müssen selbst dafür sorgen, dass man sich über<br />

deren Entwicklung ständig Gedanken macht. Dabei<br />

ist die Abgrenzung von Gesundheit gegen<br />

Krankheit, von Behandlungsbedürftigkeit gegen<br />

Nichtbehandlungsbedürftigkeit äusserst unscharf<br />

und gelegentlich willkürlich.<br />

Verschiedene Konzepte der psychischen Entwicklung<br />

existieren. Sie beziehen sich auf die Entwicklung<br />

des Körpers, auf die Entwicklung von Störeinflüssen<br />

und Traumata, auf die Entwicklung der<br />

Sexualität und der Autonomie, auf die Entwicklung<br />

von Bindung und Beziehungen oder auf die<br />

Entstehung biografischer Sinnzusammenhänge.<br />

Daneben formulieren Konzepte psychischer Entwicklung<br />

die Entwicklung von Anpassungsleistungen<br />

versus Entstehung von Vulnerabilität, die<br />

Entwicklung bzw. der Verlauf psychopathologischer<br />

Phänomene. Die Entwicklung ist nach moderner<br />

Auffassung ein lebenslanger interaktiver<br />

und autopoetischer Prozess, er durchläuft eine<br />

Kreisbahn, führt also immer wieder an denselben<br />

Punkten und Figuren vorbei. Die moderne Entwicklungstheorie<br />

geht von Entwicklungsaufgaben<br />

aus, die zu lösen sind.<br />

Vulnerabilität und äussere Einflüsse<br />

Die Entstehung der Empfindlichkeit (Vulnerabilität)<br />

für eine bestimmte Krankheit und schliesslich auch<br />

die Entwicklung von dort zu einer manifesten Erkrankung<br />

wird intensiv beforscht, Vulnerabilität ist<br />

nach allen vorliegenden Forschungen ein nützliches,<br />

aber zugleich ein irritierend offenes und<br />

vielgestaltiges Konzept, das keine klare Prognose<br />

hinsichtlich einer psychischen Erkrankung bietet.<br />

Der Einfluss, den äussere Ereignisse auf die sichtbare<br />

Symptomatik haben, bleibt während der gesamten<br />

Kindheit und bis ins Jugendalter sehr hoch.<br />

Inzwischen wird von allen Seiten stärker betont,<br />

dass auch schon in der Kindheit die seelischen<br />

Strukturen ein Beharrungsmoment besitzen und<br />

nicht durch beliebige Einflüsse beliebig änderbar<br />

sind. Vielmehr muss man bedenken, dass bestimmte<br />

hirnfunktionsbasierte Anlagen und sich<br />

daraus ergebende Erziehungs- und Verhaltensschwierigkeiten<br />

einem Kind allzu pauschal zugeschrieben<br />

werden könnten und ein Kind unnötig<br />

pathologisiert werden könnte.<br />

Bedeutung traumatischer Erfahrungen<br />

Die Bedeutung traumatischer Erfahrungen wird<br />

am Durchleben einer akuten erstmaligen psychischen<br />

Erkrankung sehr deutlich, obwohl dies eher<br />

selten thematisiert wird. Die «life event»-Forschung,<br />

aber auch die Trauma-Forschung reflektiert allerdings<br />

nur einen winzigen Lebensausschnitt. Sie<br />

ignoriert die fortgesetzte Umbildung oder Verwerfung<br />

von Persönlichkeitsstrukturen. Die Gedächtnisforschung<br />

hat bestätigt, dass psychisches Leid<br />

nicht nur aus der pathologischen Verdrängung,<br />

sondern aus primitiven desorganisierten Gedächtnisspuren<br />

hervorgeht.<br />

Berücksichtigt man Aspekte von Beziehung und<br />

Bindung, so wird deutlich, dass die reziproke Bezogenheit<br />

von Kindern und Eltern ein roter Faden<br />

durch die gesamte Entwicklung ist: Eine mächtige<br />

intrapsychische und eine ebenso mächtige interpersonale<br />

und soziale Realität, die nie aufhört,<br />

auch nicht etwa durch die Autonomieentwicklung.<br />

Autonomie und Eigenkontrolle sind nur die halbe<br />

Wahrheit über die menschliche Entwicklung: In<br />

Wahrheit verbleibt die seelische Struktur zeitlebens<br />

in einem intermediären Raum, wo sie teilweise nur<br />

durch ihre Überschneidungen mit dem seelischen<br />

Leben anderer Menschen sinnvoll beschrieben<br />

und erhalten werden kann. Autonomie kann in<br />

einem Entwicklungsmodell, das nicht linear auf das<br />

Erreichen eines definitiven Ziels ausgerichtet ist,<br />

nur als Idealnorm vorkommen.<br />

Entwicklungsorientierte Psychopathologie<br />

Die Leitidee der Entwicklungsorientierten Psychopathologie<br />

deutet pathologische Symptome als<br />

Überreste einer früheren Struktur des Verstehens.<br />

Am Beginn und im Vorfeld schizophrener Psychosen<br />

muss zum Beispiel das gesamte Reserve- und<br />

Notrepertoire frühkindlicher Verhaltens- und Erlebnismuster<br />

aufgeboten werden – als Versuch, den<br />

drohenden psychischen Zusammenbruch aufzuhalten.<br />

Der Erkrankung vorausgehende Auffälligkeiten<br />

im Reifezustand und in der Entwicklungsdynamik<br />

bietet auch den entscheidenden psychotherapeutischen<br />

Zugang.<br />

Die gestörte Reifeentwicklung der Schizophrenen<br />

ist somit nicht zufälliges Beiwerk, sondern essenzieller<br />

Bestandteil der Erkrankung. In psychischen<br />

Krankheiten kehren also nicht nur Verhaltensmuster,<br />

sondern auch Beziehungsfiguren zurück,<br />

die während der Kindheit wirksam und sinnvoll<br />

waren, und die nun für den therapeutischen Zugang<br />

genutzt werden können. Die Symptome<br />

eines Patienten können – über die Personengrenzen<br />

hinweg – als Hilferuf einer Bezugsperson aufgefasst<br />

werden.<br />

Zu den entwicklungsorientierten therapeutischen<br />

Techniken zählt auch das Spiel – kurioserweise in<br />

der Psychiatrie der Erwachsenen fast eine «terra<br />

incognita». Spielerische Therapietechniken können<br />

ein therapeutisches Vakuum füllen, das sich vor<br />

allem im Umgang mit dissoziativen Störungen und<br />

in der Behandlung wenig reflektierter, agierender<br />

und somatisierender Patienten auftut. Je länger ein<br />

kindliches Verhalten zurückverfolgt werden kann<br />

und der Krankheit vorausläuft, desto eher imponiert<br />

es nicht mehr als «krankhafte Regression»,<br />

sondern als «persönlichkeitsgebundene Retardierung».<br />

Das Wissen, dass ein Patient schon lange vor<br />

seiner psychischen Krise dieselben oder ähnliche<br />

charakterlichen Absonderlichkeiten aufgewiesen<br />

hat, schafft einen vollkommen anderen – nämlich<br />

niedrigeren – Erwartungshorizont für die Therapie.<br />

Dr. med. Ulrich Müller-Knapp<br />

Chefarzt<br />

15

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