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Berichte über Landwirtschaft - Bundesministerium für Ernährung ...

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Band 89 (3) ·351–518 ·Dezember 2011 ISSN 0005-9080<br />

<strong>Berichte</strong> <strong>über</strong><br />

<strong>Landwirtschaft</strong><br />

Zeitschrift <strong>für</strong> Agrarpolitik und <strong>Landwirtschaft</strong><br />

Herausgegeben vom <strong>Bundesministerium</strong> <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong>,<br />

<strong>Landwirtschaft</strong> und Verbraucherschutz<br />

00_Titelei.indd 351 17.11.2011 15:13:08


Herausgeber: Die „<strong>Berichte</strong> <strong>über</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>“ und „Sonderhefte der <strong>Berichte</strong> <strong>über</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>“<br />

werden vom <strong>Bundesministerium</strong> <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong>, <strong>Landwirtschaft</strong> und Verbraucherschutz, Postfach<br />

14 02 70, D-53107 Bonn, Deutschland (Tel.: +49(0)30 18529-48 23 oder -32 29), herausgegeben. Die<br />

Beiträge geben die persönliche Auffassung der Verfasser wieder, ihre Veröffentlichung bedeutet keine<br />

Stellungnahme des Herausgebers. Manuskripte senden die Verfasser an die Schriftleitung.<br />

Schriftleitung: Hauptschriftleiter, MinDir Clemens neumann,Leiter der Abteilung „Biobasierte Wirtschaft,<br />

Nachhaltige Land- und Forstwirtschaft“. Verantwortlicher Schriftleiter: MinR Dr. Jürgen OhlhOff.<br />

Vorbehalt aller Rechte: Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt.<br />

Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, des Vortrages,<br />

der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funk- und Fernsehsendung, der Mikroverfilmung<br />

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Deutschland vom 9. September 1965 in der Fassung vom 24. Juni 1985 zulässig. Sie ist grundsätzlich<br />

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D-70565 Stuttgart, Tel. 07 11/78 63-0, Telefax 07 11/78 63-82 88, E-Mail: landwirtschaft@kohlhammer.de,<br />

Baden-Württembergische Bank Kto. 1002 583 100, BLZ 600 200 30).<br />

Geschäftsführung: Dr. Jürgen gutbrOD, leOpOlD freiherr vOn unD zu Weiler.<br />

Erscheinungsweise und Bezugspreis 2011: Es erscheint Band 89 mit 3Heften. Jahresabonnement 225,00 €/<br />

SFr 313,00 einschl. 7%Mehrwertsteuer und Versandkosten.<br />

Das Abonnement wird zum Jahresanfang berechnet und zur Zahlung fällig. Es verlängert sich stillschweigend,<br />

wenn nicht spätestens 6Wochen vor Jahresende eine Abbestellung beim Verlag vorliegt.<br />

Die Zeitschrift kann in jeder Buchhandlung oder beim Kohlhammer Verlag, D-70549 Stuttgart, Deutschland,<br />

bestellt werden. Internet: http://www.kohlhammer.de, E-Mail: landwirtschaft@kohlhammer.de<br />

This journal is covered by Biosciences Information Service ofBiological Abstracts, by Current Contents (Series<br />

Agriculture, Biologyand Environmental Sciences) of Institute for Scientific Information, and by World Agricultural<br />

Economics and Rural Sociology Abstracts (WAERSA) Bureau of the Commonwealth of Agriculture Economics.<br />

©2011 W.Kohlhammer GmbH Stuttgart<br />

Gesamtherstellung: Druckerei W. Kohlhammer GmbH &Co. KG, Stuttgart<br />

Printed inGermany<br />

Ber. Ldw. 89(2011), H. 3, S. 351–514<br />

ISSN 0005-9080<br />

Buel_3_11.indb 352 17.11.2011 08:13:01


Inhalt<br />

Initiativen <strong>für</strong> „faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />

Von agnes Klein und Klaus menraD, Weihenstephan-Triesdorf ........................ 355<br />

Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität –<br />

Ergebnisse einer europaweiten Befragung von Milcherzeugern<br />

Von birthe lassen, Braunschweig. ............................................... 376<br />

Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter besonderer Berücksichtigung<br />

von Transportkosten<br />

Von gerD eberharDt, Potsdam, martin ODening, Berlin,<br />

hermann lOtze-Campen, Potsdam, berit erlaCh, Berlin, susanne rOlinsKi, Potsdam,<br />

pia rOthe, Potsdam, benJamin Wirth, Berlin ....................................... 400<br />

Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong> Mähdrescher in Deutschland<br />

Von Clemens fuChs, JOaChim Kasten, ChristOpher ströbele und mathias urbaneK,<br />

Neubrandenburg.............................................................. 425<br />

BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />

Auswirkungen des BilMoG <strong>für</strong> den BMELV –Jahresabschluss<br />

Von matthias mOser und ennO bahrs, hOhenheim .................................. 440<br />

Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland vor<br />

und nach der Wiedervereinigung<br />

Von axel WOlz, Halle (Saale) ................................................... 455<br />

Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln –Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />

Von axel philipps, Hannover .................................................... 478<br />

Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />

Von elman muraDOv, Berlin .................................................... 497<br />

Berichtigung: <strong>Berichte</strong> <strong>über</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>, Heft 2/2011, Bd. 89, S. 218–231<br />

Identifizierung peripherer Regionen mit strukturellen und wirtschaftlichen Problemen in<br />

Deutschland<br />

Von anne margarian und patriCK Küpper, Braunschweig ............................. 515<br />

Bücherschauen<br />

sChrOers, Jan Ole; sauer, nOrbert: Leistungs-Kostenrechnung in der landwirtschaftlichen<br />

Betriebsplanung<br />

KTBL-Datensammlung: „Direktvermarktung Kalkulationsdaten <strong>für</strong> die Direktvermarktung“,<br />

Darmstadt................................................................... 517<br />

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Buel_3_11.indb 354 17.11.2011 08:13:01


Initiativen <strong>für</strong> „faire“ Milchpreise: Neue Wege in der<br />

(regionalen) Milchvermarktung?<br />

Von Agnes Klein und KlAus MenrAd, Weihenstephan-Triesdorf<br />

1 Einleitung<br />

U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0355 $2.50/0<br />

355<br />

Die Situation der Milcherzeuger und die Entwicklung der Milcherzeugerpreise wurden<br />

in den letzten Jahren immer wieder öffentlichkeitswirksam thematisiert. Dies geschah<br />

z. B. durch die Milchlieferboykotte 2008 und 2009, diverse Protestaktionen von verschiedenen<br />

landwirtschaftlichen Gruppierungen sowie die medialen <strong>Berichte</strong>rstattungen <strong>über</strong><br />

aktuelle Verbraucherpreisentwicklungen bei Milchprodukten. Vordem Hintergrund dieser<br />

Entwicklungen entstanden diverse Initiativen zur Vermarktung von Milch und Milchprodukten<br />

aus der Region in Kombination mit einer „fairen“ Milchpreisgestaltung. Beispiele<br />

hier<strong>für</strong> sind die „Bayerische Bauernmilch“, das „Erzeugerfair-Milch-Projekt“ der Upländer<br />

Bauernmolkerei,die „Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger“-Linie vom Netto Marken-Discount oder<br />

„A faire Milch“ in Österreich. Vielfach ist es das erklärte Ziel dieser Projekte, eine höhere<br />

Wertschöpfung <strong>für</strong> die Produkte zu erreichen und dadurch einen Beitrag zur Einkommenssicherung<br />

der beteiligten Erzeuger zu leisten. Im Zuge der Kommunikation <strong>für</strong> die<br />

Projekte wird oftmals ex- oder implizit mit einer (direkten) Unterstützung der beteiligten<br />

Milcherzeuger geworben. Dabei werden neben der garantiertenHerkunft aus einer Region<br />

verschiedene weitere Argumente vorgebracht, die eine Unterstützung der Erzeuger rechtfertigen.<br />

So wird z. B. argumentiert, dass Milcherzeuger qualitativ hochwertige, unbelastete<br />

Produkte <strong>für</strong> eine gesunde <strong>Ernährung</strong> erzeugen. Außerdem prägen sie den ländlichen<br />

Raum, leisten einen Beitrag zum Erhalt der Kulturlandschaft oder stehen <strong>für</strong> Arbeitsplätze<br />

in Familienbetrieben (1; 16; 29; 44).<br />

Obwohl in den letzten Jahren eine ganze Reihe dieser Projekte entstanden ist, fehlt<br />

bislang eine umfassende Bestandsaufnahme, Systematisierung und wissenschaftliche<br />

Auseinandersetzung mit dieser Form der Regional „fairen“ und <strong>über</strong>wiegend konventionellen<br />

Milchvermarktung. Zwar gibt es einige Arbeiten oder Beiträge, die sich mit dem<br />

Thema auseinandersetzen. Diese fokussieren sich in aller Regel aber auf die Biobewegung<br />

(z. B. 35; 6) oder beschränken sich auf eine rein inhaltliche Beschreibung der Projekte in<br />

landwirtschaftlichen Fachzeitschriften (20). Ziel des vorliegenden Beitrags ist es daher,<br />

eine Bestandsaufnahme und Systematisierung solcher Projekte zuerreichen und auf der<br />

Basis von identifizierten Hemmnissen und Problemen notwendige Handlungsfelder und<br />

Anpassungsmaßnahmen aufzuzeigen. Dadurch soll die aufgezeigte Lücke in der wissenschaftlichen<br />

Literatur geschlossen werden. Hierzu wird zunächst beschrieben, auf welcher<br />

Datengrundlage der vorliegende Beitrag beruht. Im Anschluss erfolgt eine Bestandsaufnahme<br />

und Systematisierung von bestehenden (regionalen) Vermarktungsinitiativen <strong>für</strong><br />

einen „fairen“ Milchpreis. Im weiteren Verlauf werden identifizierte Hemmnisse und Barrieren<br />

sowie Stärken und Schwächen solcher Projekte aufgezeigt. Abschließend erfolgt<br />

eine Diskussion notwendiger Handlungsfelder und Anpassungsmaßnahmen.<br />

Buel_3_11.indb 355 17.11.2011 08:13:01


356 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />

2 Methodik und Datengrundlage<br />

Der vorliegende Beitrag beruht auf den Ergebnissen eines Forschungsprojektes, das von<br />

Frühjahr 2009 bis Frühjahr 2010 im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums <strong>für</strong><br />

<strong>Ernährung</strong>, <strong>Landwirtschaft</strong> und Forsten durchgeführt wurde. Ziel des Projekts war eine<br />

Bestandsaufnahme von am Markt existierenden (regionalen) Milchvermarktungsprojekten,<br />

die mit einer (direkten) Unterstützung der beteiligen Landwirte werben. Im Zuge des<br />

Projekts fand zunächst eine umfangreiche Literaturrecherche statt, um einen Überblick<br />

<strong>über</strong> relevante Projekte am Markt zu erhalten. Basierend auf diesen Ergebnissen, wurden<br />

in einem zweiten Schritt Fallstudien mit den folgenden Projekten durchgeführt:<br />

● Bayerische Bauernmilch (Träger: Milchproduktenhandel Oberland eG) und Bauernmilch<br />

(Träger: Milchproduktenhandel Oberland eG, Vertrieb <strong>über</strong>: Real)<br />

● Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger (Träger: Netto Marken-Discount)<br />

● Erzeugerfair-Milch (Träger: Upländer Bauernmolkerei)<br />

● Unser Land-Milch (Träger: Unser Land)<br />

● Afaire Milch (Träger: IG-Milch, Österreich).<br />

Im Rahmen der Fallstudien wurden vierzehn, <strong>über</strong>wiegend persönliche, leitfadengestützte<br />

Interviews mit verschiedenen Akteuren der Projekte geführt. Unter den Gesprächspartnern<br />

befanden sich Vertreter der Erzeuger-, Verarbeitungs- und Vermarktungsstufe sowie sonstige<br />

Partner der Projekte. Bei den Gesprächen wurden allgemeine Informationen zur Entstehung<br />

und Organisation der Initiativen erfasst. Dar<strong>über</strong> hinaus wurden bisherige Erfahrungen<br />

mit den Projekten, Hemmnisse und Barrieren, Stärken und Schwächen sowie notwendige<br />

Anpassungsmaßnahmen diskutiert. Die Interviews wurden anschließend mithilfe<br />

einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. In einem nächsten Schritt wurden diese<br />

Ergebnisse aus den Fallstudien im Zuge von verschiedenen Expertengesprächen sowie<br />

in einem Workshop diskutiert, validiert und generalisiert. Die am Workshop teilnehmenden<br />

Experten waren <strong>über</strong>wiegend Vertreter von Verbänden, Wissenschaftler, Vertreter von<br />

Handelsunternehmen oder von NGOs.<br />

Im Folgenden wird zunächst ein Überblick <strong>über</strong> relevante, am Markt existierende Konzepte<br />

gegeben.<br />

3 Übersicht <strong>über</strong> und Systematisierung von bestehenden (regionalen)<br />

Vermarktungsinitiativen <strong>für</strong> einen „fairen“ Milchpreis<br />

3.1 Darstellung und Beschreibung der (regionalen) Initiativen<br />

<strong>für</strong> einen „fairen“ Milchpreis<br />

AlsErgebnis der Literatursichtung wurden in Deutschland undÖsterreich zwölf,<strong>über</strong>wiegend<br />

regionale Milchvermarktungsinitiativen identifiziert, die mit einer (direkten) Unterstützung<br />

der beteiligten Erzeuger bzw. „fairen“ Erzeugerpreisen werben oder geworben<br />

haben. Tabelle 1gibt einen Überblick <strong>über</strong> diese Projekte, deren Startzeitpunkt und Produktsortiment<br />

sowie <strong>über</strong> die verfolgte Preis(setzungs-)strategie. Im Folgenden werden<br />

die Projekte zunächst kurz charakterisiert.<br />

Eine der ersten Initiativen, die mit einer Unterstützung der beteiligten Bio-Milcherzeuger<br />

geworben hat, ist das „Erzeugerfair-Milch“-Projekt der Upländer Bauernmolkerei.<br />

Das Projekt wurde bereits im Januar 2005 mit der Kampagne „Aktiv <strong>für</strong> heimische<br />

Bio-Bäuerinnen –denn faire Preise bieten Zukunft“ gestartet. Zunächst wurde nur Bio-<br />

Frischmilch im Naturkosthandel verkauft. Jedoch folgten im weiteren Verlauf eine Sortimentsausdehnung<br />

auf Schmand und der Verkauf <strong>über</strong> den Lebensmitteleinzelhandel. Zu<br />

Beginn des Projekts wurde die Ein-Liter-Packung Milch mit einem direkten Preisauf-<br />

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Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />

357<br />

schlag von5Centverkauft. Dieser wurdenur fällig,wennder Konsumenteinen Aufkleber<br />

(„Fair-Marke“) auf das Produkt geklebt hatte. Da sich der organisatorische Aufwand <strong>für</strong><br />

dieses Vorgehen mit der Zeit als impraktikabel erwies, wurde die Strategie im weiteren<br />

Verlauf verändert. Ab Juni 2007 zahlte die Upländer Bauernmolkerei daher ihren Lieferanten<br />

einen Auszahlungspreis von 40 Cent. Im November desselben Jahres wurde dieser<br />

nochmals um 10 Cent auf 50 Cent angehoben (24).<br />

Auch das österreichische Projekt „A faire Milch“ ist schon verhältnismäßig lange am<br />

Markt. Dieses Konzept wurde im Juli 2006 auf Initiative der IG-Milch, einem Zusammenschluss<br />

österreichischer Rinder- und Grünlandbauern, gegründet. Die „A faire Milch“ ist<br />

eine Ein-Liter-ESL-Milch, die zu einem Preis von 1,09 €vertrieben wird. 10 Cent pro<br />

Liter aus dem Verkauf der Produkte fließen an IG-Milch-Mitglieder, die einen „Fairness“-<br />

Vertrag mit der Organisation abgeschlossen haben. Dieser Zuschlag ist allerdings an<br />

bestimmte Auflagen gebunden (z. B. Einhaltung der Betriebsquote) und wird nur bis zu<br />

einer Jahresliefermenge von 50 000 kg Milch gewährt (8; 9).<br />

In Bayern existiert in und um München das Netzwerk „Unser Land“. Dieses Netzwerk<br />

ist ein ganzheitlicher Ansatz zur Regionalvermarktung, dessen erklärtes Ziel es ist, die<br />

natürlichen Lebensgrundlagen von Menschen, Tieren und Pflanzen zu erhalten und zu verbessern.Neben<br />

40 verschiedenen Lebensmitteln wurde zunächst auch eine konventionelle<br />

Frischmilch verkauft. Bei Einhaltung der von „Unser Land“ festgelegten Erzeugungsrichtlinien<br />

erhielten die beteiligten Erzeuger dabei einen Zuschlag von 2,6 Cent /Liter Milch.<br />

Seitdem aber die <strong>für</strong> das Netzwerk abfüllende Molkerei ihre Produktion vollständig auf<br />

„biologische Erzeugung“ umgestellt hat, wird auch die „Unser Land-Milch“ nur noch als<br />

biologische Variante vertrieben. Nach der Produktionsumstellung konnte allerdings die<br />

Bezahlung des Zuschlags nicht aufrecht erhalten werden, obwohl die Produkte im Hochpreissegment<br />

verkauft werden (43).<br />

Auch die Initiative„Bayerische Bauernmilch“ stammt aus Bayern. Sie ist infolge eines<br />

Konfliktes einer Molkerei mit ehemaligen Lieferanten dieser Molkerei im Februar 2008<br />

durch die MilchproduktenhandelOberland eG ins Leben gerufen worden. Zunächst wurde<br />

nur eine Ein-Liter-H-Milch <strong>über</strong> Lidl zu einem Preis von 0,89 €(1,5 %Fett) bzw. 0,99 €<br />

(3,8 %Fett) unter diesem Markennamen vertrieben. 2009 erfolgte eine Sortimentserweiterung<br />

um Frischmilch. Außerdem nahmen auch Tengelmann und Norma die Produkte in<br />

ihr Sortiment auf. Jedoch stieg Lidl Anfang des Jahres 2010 aus dem Vertrieb der Produkte<br />

aus und startete eine eigene Initiative (12; 13).<br />

Ein weiteres Beispiel bildet das „Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger“-Projekt, das im Sommer<br />

2008 vom Netto Marken-Discount ins Leben gerufen worden ist. Zunächst wurde unter<br />

der Dachmarke nur H-Milch verkauft. Später erfolgte eine Erweiterung des Sortiments<br />

um weitere Produktgruppen, wie Kartoffeln oder Schinken. Die H-Milch wird mit einem<br />

Preisaufschlag von 10 Cent vertrieben, der an die Lieferanten der abfüllenden Molkereien<br />

fließen soll. Das Unternehmen hat gleichzeitig zu den „Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger“-Produkten<br />

je ein vergleichbares Handelsmarkenprodukt im Sortiment, das bei gleicher Qualität<br />

10 Cent günstiger ist. Unter „vergleichbar“ wird dabei verstanden, dass das Produkt von<br />

dem gleichen Verarbeitungsbetrieb produziert wurde. So wurde z. B. die 1,5%ige „Ein<br />

Herz <strong>für</strong> Erzeuger“-H-Milch bei Projektstart 2008 <strong>für</strong> 71 Cent/Literverkauft, während das<br />

Handelsmarken-Pendant (1,5%ige H-Milch der Eigenmarke „Gutes Land“) <strong>für</strong> 61 Cent/<br />

Liter <strong>über</strong> den Ladentisch ging (30).<br />

Ein weiteres Konzept stellt die „Bauernmilch“-Linie dar.Diese „MoPro“-Linie kann in<br />

gewisser Weise als räumliche Erweiterung und Sortimentsausdehnung der „Bayerischen<br />

Bauernmilch“ verstanden werden. Auch diese Linie wurde von der Milchproduktenhandel<br />

Oberland eGangestoßen. Der Vertrieb der Produkte erfolgt deutschlandweit und ausschließlich<br />

<strong>über</strong> das Handelsunternehmen Real. Die Produktaufmachung ähnelt der der<br />

bayerischen Linie. Im Sortiment befinden sich neben verschiedenen Produkten der weißen<br />

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358 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />

Tabelle 1. (Regionale) Initiativen <strong>für</strong> einen „fairen“ Milchpreis in Deutschland und Österreich<br />

Projekt Start der Produkt/ Sortiment Preisstrategie Auflagen/ Quali-<br />

Initiative<br />

tätskriterien<br />

Erzeugerfairmilch der 2005, Januar Bio-Frischmilch, Zunächst 5Cent direkter Preisaufschlag, später 40 Ökologische Erzeu-<br />

Upländer Bauernmolkerei<br />

Schmand<br />

dann 50 Cent Auszahlungspreis<br />

gung<br />

Afaire Milch (IG-Milch, 2006, Juli ESL-Milch, Natur- 1,09 €/Liter, davon 10 Cent an IG-Milch-Mitglieder Gentechnikfreie<br />

Österreich)<br />

joghurt<br />

mit Vertrag<br />

Futtermittel<br />

Unser Land Bio-Milch 2007, Sep- Bio-Frischmilch 1,09 €/Liter (1,5 %Fett), 1,19 €/Liter (mind. 3,8 % Unser Land Richttember<br />

Fett); vor Umstellung auf Bio: 2,6 Cent Zuschlag linien/ Ökologische<br />

bei Einhaltung der Erzeugungsrichtlinien<br />

Erzeugung<br />

Bayerische Bauernmilch 2008, Juli H-Milch, Frisch- Verbraucherpreise: 0,89 €/Liter (1,5 %Fett), S-Klasse<br />

(Milchproduktenhandel<br />

milch<br />

0,99 €/Liter (3,8 %Fett)<br />

Oberland eG)<br />

Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger 2008, Juli H-Milch, andere 10 Cent direkter Preisaufschlag (Verbraucherpreis /<br />

(Netto Marken-Discount)<br />

Produktgruppen Projektstart 2008: 0,71 €/Liter (1,5 %Fett)<br />

S-Klasse<br />

Verbraucherpreise: 0,89 €/Liter (1,5 %Fett) H- und<br />

ESL-Milch; 0,99 €/Liter (3,8 %Fett) H- und ESL-<br />

Milch<br />

MoPro-Linie, u. a.<br />

H-Milch und ESL-<br />

Milch<br />

2009, Januar<br />

Bauernmilch (Vertrieb<br />

<strong>über</strong> Real)<br />

/<br />

7Cent vom Verkaufspreis der günstigsten Trinkmilch<br />

(0,55 €/Liter) fließen in Fonds<br />

2009, Mai Trinkmilch<br />

tegut-Projekt <strong>für</strong> Trinkmilch<br />

„Zeichen setzen <strong>für</strong><br />

faire Milchpreise“<br />

Verbraucher zahlt an Kasse 10 Cent mehr /<br />

Aufkleber kann<br />

auf alle MoPro aus<br />

Kühlregal geklebt<br />

werden<br />

Milchzehnerl (Chiemgau) 2009, Juli<br />

Auszahlungspreis wird um 10 %bei Auszahlung<br />

<strong>über</strong> Molkerei erhöht (Verbraucherpreis: 0,59 €/<br />

Liter Vollmilch)<br />

H-Milch und ESL-<br />

Milch<br />

2009, Sommer<br />

„Faire Milch“ unter der<br />

Marke „Unsere Heimat“<br />

(Edeka Südwest)<br />

Buel_3_11.indb 358 17.11.2011 08:13:01


Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />

Projekt Start der Produkt/ Sortiment Preisstrategie Auflagen/ Quali-<br />

Initiative<br />

tätskriterien<br />

BUBI faire Milch von 2009, Sep- Frischmilch 10 Cent pro verkauften Liter fließen <strong>über</strong> Milch- Traditionell herge-<br />

REWE Dortmund tembergeldauszahlung<br />

an Lieferanten (Verbraucherpreis: stellte Frischmilch<br />

0,59 €/Liter Vollmilch)<br />

„Ein gutes Stück Heimat“ 2010, Januar MoPro-Linie, u. a. Verbraucherpreis zu Projektstart: 0,99 €/Liter QM-Milch, Geprüfte<br />

von Lidl<br />

H-Milch und Frisch- (3,8 %Fett)<br />

Qualität Bayern,<br />

milch<br />

Gentechnikfreie<br />

Fütterung, Laufstall<br />

bzw. Weidehaltung,<br />

S-Klasse<br />

Die Faire Milch der 2010, Januar H-Milch Verbraucherpreise zu Projektstart: 0,99 €/Liter Gentechnikfreie<br />

Milchvermarktungs mbH<br />

(3,8 %Fett) (40 Cent Auszahlungspreis soll ge- Fütterung, kein Imwährleistet<br />

werden)<br />

portfuttermittel aus<br />

Übersee, Beteiligung<br />

an Umweltprogrammen<br />

Buel_3_11.indb 359 17.11.2011 08:13:01<br />

Quelle: Eigene Zusammenstellung 2010 und (20)<br />

359


360 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />

Linie sowohl eine H- als auch eine ESL-Milch. Diese sind preislich auf dem gleichen<br />

Niveau wie die „Bayerische Bauernmilch“ angesiedelt (40; 42).<br />

Auch das Lebensmitteleinzelhandelsunternehmen tegut ist in diesem Bereich aktiv.<br />

Mitte Mai 2009 rief es die Initiative „Zeichen setzen <strong>für</strong> faire Milchpreise“ ins Leben. Im<br />

Zuge dessen hob das Unternehmen die Preise <strong>für</strong> die günstigste 3,5%ige Trinkmilch um<br />

7Cent auf 55 Cent pro Liter an. Kurz zuvor hatte tegut die Preise parallel mit den starken<br />

Preissenkungen der Discounter auf 48 Cent pro Liter gesenkt. Der Preisaufschlag von<br />

7Cent <strong>für</strong> die Trinkmilch fließt in einen Fonds. Mit dem Geld aus dem Fonds sollen regionale<br />

Projekte in der <strong>Landwirtschaft</strong> unterstützt werden, um damit zu einer Verbesserung<br />

der Situation konventioneller Milchbauern beizutragen (38).<br />

Das Projekt „Milchzehnerl“ ist eine Idee eines Supermarkt-Inhabers aus dem Chiemgau.<br />

Dieser startete im Juli 2009 in sieben Märkten der Fa. Edeka Pfeilstetter diese Aktion.<br />

Dabei haben die Verbraucher die Möglichkeit, beim Kauf von Milchprodukten aus dem<br />

Kühlregal einen Aufkleber auf die Produkte zu kleben. Befindet sich ein Aufkleber auf<br />

einem Produkt, zahlt der Kunde freiwillig einen Aufpreis von 10 Cent <strong>für</strong> das Produkt,<br />

der an der Kasse separat erfasst wird. Der auf diese Weise erzielte Mehrerlös soll jeden<br />

Monat an die Bauern des jeweiligen Ortes ausbezahlt werden (12).<br />

Auch die Edeka Südwest hat mit der Marke „Unsere Heimat –echt und gut“ im Sommer<br />

2009 eine regionale Initiative ins Leben gerufen. Unter dieser Marke vermarktet<br />

das Unternehmen neben verschiedenen regionalen Lebensmitteln aus dem Südwesten<br />

Deutschlands eine „faire“ H- und ESL-Milch. Über das Projekt sollen Milcherzeuger der<br />

beteiligten Molkereien aus dem Absatzgebiet der Edeka Südwestzusätzlich zum regulären<br />

Milchpreis eine Vergütung von 10 %des Auszahlungspreises der Molkerei erhalten. Die<br />

Produkte wurden zum Verbraucherpreis von 0,59 €/Liter (Vollmilch) bzw. 0,49 €/Liter<br />

(teilentrahmt) in den Markt eingeführt (13).<br />

Auch die REWE Dortmund vertreibt seit September 2009 eine „faire“ Frischmilch<br />

unter dem Markenname „BUBI“. Vonjedem verkauften Liter fließen <strong>über</strong> die Milchgeldauszahlung<br />

10 Cent an die Milcherzeuger aus dem Münsterland. Dies soll von der<br />

Landesvereinigung der Milchwirtschaft NRW <strong>über</strong>wacht werden. Neben einer Vollmilchvariante<br />

zum Einführungspreis von 59 Cent gibt es auch eine fettarme Version, die <strong>für</strong><br />

55 Cent/Liter<strong>über</strong> den Ladentisch geht. Demnach lag der Preis bei Einführung um 13 bzw.<br />

11 Cent/Liter höher als bei der Discount-Variante des Unternehmens (34).<br />

Seit Januar 2010 vermarktet auch Lidl unter der Eigenmarke „Ein gutes Stück Heimat<br />

–Ursprung ist Heimat“ und dem Slogan „Das Gute liegt so nah“ eine Molkereiprodukte-<br />

Linie. Die 3,8%ige Heimat-Milch wurde zu Projektstart zu einem Preis von 99 Cent/<br />

Liter verkauft. Zur gleichen Zeit kostete die 3,5%ige Milch der Lidl-Eigenmarke „Milbona“<br />

59 Cent/Liter. Zunächst werden die Produkte nur in Bayern vertrieben. Es ist jedoch<br />

geplant, die Linie auch auf andere Regionen und Produktgruppen auszudehnen. (21).<br />

Relativ zeitgleich mit dem Start des Lidl-Projektes wurde im Januar 2010 von der MVS<br />

Milchvermarktungsgesellschaft mbH eine Trinkmilch unter dem Markennamen„Die faire<br />

Milch“ auf dem Markt eingeführt. Die H-Milch mit 1,8 %bzw. 3,8 %Fettgehalt wurde<br />

zunächst in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg <strong>über</strong> REWE (ca. 1200 Filialen) und<br />

tegut (ca. 300 Filialen) zu einem Preis von 89 bzw.99Cent/Liter verkauft. Diese Verbraucherpreise<br />

ergeben sich laut Verantwortlichen aus einer Vorwärtskalkulation ausgehend<br />

von einem Auszahlungspreis von 40 Cent pro Liter, der den beteiligten Erzeugern zugesichert<br />

wird (41; 27)<br />

Diese am Markt existierenden Projekte unterscheiden sich hinsichtlich der verfolgten<br />

Produkt-, Preis-, Distributions- und Kommunikationsstrategie. Beispielsweise werden<br />

<strong>über</strong> manche Projekte nur ein bis zwei Produkte vermarktet und eine Einzelmarkenstrategie<br />

verfolgt. Bei anderen Initiativen existiert dagegen eine ganze Molkereiproduktlinie,<br />

wobei eine Dachmarkenstrategie verfolgt wird. Bei wiederum anderen Projekten werden<br />

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Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />

361<br />

verschiedene Produktgruppen <strong>über</strong> eine Dachmarke vermarktet. Hierbei besteht das Sortiment<br />

entweder nur aus Lebensmitteln oder aus Lebensmitteln und Non-Food-Artikeln.<br />

Des Weiteren unterscheiden sich die Konzepte auch in der Produktionsrichtung (konventionell<br />

bzw. biologisch) und im (Nicht-)Vorhandensein von bestimmten, zusätzlichen<br />

Erzeugungsrichtlinien (z. B. Bio-Zertifizierung, spezielle Erzeugungsrichtlinien) (18).<br />

Aus Tabelle 1wird außerdem deutlich, dass viele der Projekte erst im Jahr 2009 und<br />

Anfang des Jahres 2010 ins Leben gerufen worden sind. Auffällig ist dabei, dass gerade<br />

die noch verhältnismäßig „jungen“ Initiativen vielfach vom Handel aufgebaut wurden<br />

und unter einer Eigenmarke des betreffenden Handelsunternehmens vermarktet werden.<br />

3.2 Systematisierung hinsichtlich des Verständnisses von „regional“ und<br />

„fairen Erzeugerpreisen“<br />

Die vorgestellten Vermarktungskonzepte fokussieren sich <strong>über</strong>wiegend auf zwei Schlüsselmotive:<br />

„Fair zum Erzeuger/Unterstützung der beteiligten Erzeuger“ und „Herkunft/<br />

Regionalität“. Dabei unterscheiden sich die Projekte jedoch im zugrunde gelegten Verständnis<br />

von „regionaler Herkunft“. Beispielsweise existieren Projekte mit einem sehr<br />

engen lokalen Fokus, mit Bundeslandbezug oder mit nationalem Charakter. Auch das<br />

Verständnis bzw. die Handhabung von „Fairness/Unterstützung der beteiligten Erzeuger“<br />

unterscheidet sich zum Teil erheblich. Beispielsweise gibt es Initiativen, bei denen die<br />

„Fairness“darin besteht, zu versprechen, „einfach“ einen bestimmten Betrag pro verkaufte<br />

Einheit an die Erzeuger weiterzureichen oder bei denen die Produkte zu einem vergleichsweise<br />

hohen Preis verkauft werden. Bei anderen Initiativen existieren dagegen zusätzliche<br />

Erzeugungsrichtlinien und/oder höhere Qualitätsstandards, mit denen die höheren Preise<br />

gerechtfertigtwerden sollen. Nur bei einem Projekt existiert ein „Fair-Kriterien-Katalog“,<br />

in dem definiert ist, was unter „Fairness“verstandenwird. In diesem Fall stellen die Erzeugerpreise<br />

nur einen Teilaspekt der Idee „Fairness/fairer Umgang“ dar (19).<br />

In Abbildung 1wird eine Positionierung verschiedener existierender Projekte anhand<br />

der Art und Weise vorgenommen, wie die beiden Schlüsselmotive „Fair zum Erzeuger/<br />

Unterstützung der beteiligten Erzeuger“ und „Herkunft/Regionalität“ verstanden bzw.<br />

umgesetzt werden. Auf der Abszisse ist die verwendete regionale Abgrenzung von eng<br />

lokal <strong>über</strong> die Bundeslandebene bis hin zur Bundesebene abgetragen. Die Ordinate ist in<br />

vier Kategorien unterteilt,die die „Handhabung“ bzw.das Verständnis von „Fairness/eines<br />

fairen Umgangs“ beschrieben. Diese Kategorien wurden auf der Grundlage der Literaturanalyse<br />

und der durchgeführten Fallstudien abgeleitet. Im Einzelnen sind dies:<br />

(1) Fairness beinhaltet allein eine monetäre Unterstützung der Erzeuger.<br />

(2) Im Zuge der Kommunikation <strong>für</strong> die Projekte werden auch andere Stufen der Wertschöpfungskette<br />

in das Fairness-Konzept mit einbezogen. Es gibt aber keine zusätzlichen<br />

Erzeugungsrichtlinien/Qualitätsstandards oder einen Kriterienkatalog <strong>für</strong> „fair“.<br />

(3) Im Projekt sind zusätzliche Erzeugungsrichtlinien/Qualitätsstandards vorhanden, die<br />

entweder <strong>über</strong> das Projekt oder extern kontrolliert werden. Es gibt aber keinen Kriterienkatalog<br />

<strong>für</strong> „fair“.<br />

(4) Es gibt einen Kriterienkatalog <strong>für</strong> „fair“ bzw. ein umfassendes Verständnis des Motivs<br />

„Fairness“<br />

Aus Abbildung 1wird ersichtlich, dass z. B. das Milchzehnerl-Projekt aus dem Chiemgau<br />

lokal sehr eng begrenzt ist und fair <strong>über</strong>wiegend mit der freiwilligen monetären Unterstützung<br />

der Erzeuger gleichsetzt.Die Projekte Bauernmilch und Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger haben<br />

dagegen nationalen Charakter.Bei beiden wird Fairness <strong>für</strong> die verschiedenen Wertschöpfungsstufen<br />

kommuniziert, sie besitzen jedoch keine zusätzlichen Richtlinien und Standards.<br />

Im Fall der österreichischen Afaire Milch wird dagegen GVO-frei produziert. Die<br />

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362 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />

Abb. 1. Positionierung ausgewählter Projekte nach ihrer regionalenAbgrenzung und der Behandlung<br />

von „fair“<br />

Quelle: Eigene Darstellung<br />

Milchvermarktungsgesellschaft mbH, Lidl sowie die Bayerische-Bauernmilch-Linie verfolgen<br />

eine Bundesland-Strategie. Während aber bei den ersten beiden Projekten zusätzliche<br />

Standards/Richtlinien (z. B. Geprüfte Qualität Bayern, bestimmtes Fütterungsregime)<br />

existieren, ist dies beim letzteren nicht der Fall. Auch das Unser-Land-Projekt<br />

besitzt eigene (Produkt-)Richtlinien und hat einen verhältnismäßig engen lokalen Fokus<br />

(München plus darum liegende Landkreise). Das einzige Projekt mit echten Fair-Kriterien<br />

ist die Initiative der Upländer Bauernmolkerei.Die Molkerei hat ihre Warengruppen Milch<br />

und Schmand mit dem Bestes Bio Fair <strong>für</strong> alle-Label zertifizieren lassen (36). Die Nutzungsgenehmigung<br />

dieses Labels erteilt die Qualitätskommission des Vereins „Bestes Bio<br />

–Fair <strong>für</strong> alle“. Der Verein setzt „Fairness“ nicht nur mit „fairen Preisen“ gleich, sondern<br />

versteht darunter auch Transparenz, Qualität, Regionalität und Nachhaltigkeit. Mit der<br />

Arbeit des Vereins sollen Standards geschaffen werden, um „Fairness“ vom „Acker bis<br />

zum Teller“ zu garantieren (45). Zur Überprüfung der Grundsätze des Vereins wurden<br />

eigene Prüfkriterien entwickelt, die beispielsweise im Rahmen der EU-Öko-Kontrolle<br />

oder Verbandskontrolle mit geprüft werden können (45; 3).<br />

4 Beurteilung bestehender Projekte<br />

Das vorangegangene Kapitel hat gezeigt, dass in den letzten Jahren am Milchsektor vermehrt<br />

regionale Vermarktungsinitiativen entstanden sind, die mit einer (direkten) Unterstützung<br />

der beteiligten Erzeuger bzw. „fairen Erzeugerpreisen“ werben. Viele dieser Initiativen<br />

weisen jedoch in verschiedenen Bereichen Schwachstellen und Handlungsbedarf<br />

auf. Im Folgenden wird daher zunächst näher auf die im Rahmen des Forschungsprojekts<br />

identifizierten Hemmnisse und Barrieren der Projekte eingegangen.<br />

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Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />

4.1 Hemmnisse und Barrieren <strong>für</strong> bestehende Projekte<br />

363<br />

Im Zuge des Forschungsprojekts wurden u.a.potenzielle Hemmnisse <strong>für</strong> solche Projekte<br />

identifiziert. Es hat sich gezeigt, dass bei vielen Initiativen Interessenskonflikte zwischen<br />

den verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette (insbesondere mit dem Handel) sowie<br />

Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit der Akteure der Stufen als bedeutende Hemmfaktoren<br />

wirken. Dies wurde sowohl in den Fallstudien als auch bei den durchgeführten<br />

Expertengesprächen und im Workshop deutlich.<br />

Weitere Barrieren hängen damit zusammen, dass die Projekte in aller Regel Nischenstrategien<br />

auf einem ansonsten verhältnismäßig preissensitivem und konzentriertem<br />

Konsummilchmarkt (v. a.H-Milch) verfolgen. Dabei zielen diese Konzepte weitgehend<br />

auf ähnliche Zielgruppen ab, wie z. B. Bio-Produkte oder etablierte regionale Markenkonzepte<br />

von Molkereien. Daher müssen sich „Fairness“-orientierte Projekte auf einem<br />

verhältnismäßig kleinen, weitgehend gesättigten Markt mit z. T. bereits lang etablierten<br />

Mitbewerbern messen. Auf diesem Markt ist Wachstum hauptsächlich im Wege des<br />

Verdrängungswettbewerbs möglich (46). Hinzu kommt, dass gerade in den letzten zwei<br />

Jahren eine verhältnismäßig große Anzahl „Fairness“-orientierter Projekte entstanden ist,<br />

sodass hierdurch nochmals ein verstärkter Konkurrenzdruck und zeitverzögert „Kannibalisierung“<br />

wahrscheinlich sind.<br />

Hemmend wirkt sich weiterhin aus, dass bei diesen Projekten im Regelfall mit zusätzlichen<br />

Kosten in der Erfassung und Verarbeitung (z. B. separate Abfüllung) zu rechnen ist.<br />

Die Erfassungskosten setzen sich aus den Kosten <strong>für</strong> Hin- und Rückfahrt ins bzw.aus dem<br />

Erfassungsgebiet zusammen. Weiterhin sind sie von der Erfassungsdichte 1) ,der Struktur<br />

der Milcherzeugerbetriebe sowie dem zeitlichen Abholungsmodus (eintägige/zweitägige<br />

Abholung) abhängig (7). Die Entstehung von Mehrkosten im Erfassungsbereich ist bei<br />

„Fairness“-orientierten Projekten unter bestimmten Voraussetzungen wahrscheinlich. So<br />

gibt es Projekte, an denen sich nur bestimmte Erzeuger aus unterschiedlichen Gebieten<br />

beteiligen. Dies ist z. B. der Fall, wenn nicht alle die bestehenden Auflagen erfüllen<br />

können (z. B. Laufstallhaltung) und geht in aller Regel mit einer Vergrößerung des<br />

Erfassungsgebiets einher. Dies macht eine Verringerung der Erfassungsdichte und damit<br />

eine Erhöhung des Fahrtstreckenaufwands zwischen den Abholstellen wahrscheinlich. Mit<br />

einer Ausweitung des Erfassungsgebietes steigt gleichzeitig die Entfernung zum Verarbeitungsgebiet<br />

und damit der Streckenaufwand <strong>für</strong> Hin- und Rückfahrt von der Molkerei<br />

ins Erfassungsgebiet. Auch hier gibt es bei den bestehenden Projektkonzepten durchaus<br />

ungünstige Konstellationen (z. B. nur ein Verarbeitungsbetrieb in einem anderen Bundesland).<br />

Ein weiterer Punkt, der im Zusammenhang mit den Erfassungskosten eine Rolle<br />

spielt, ist, dass die Projekte oftmals mit <strong>Landwirtschaft</strong> in Familienbetrieben bzw. klein<br />

strukturierter <strong>Landwirtschaft</strong> werben. Dies impliziert häufig eine ungünstigere Haltestellenstruktur,<br />

dadies oft eher kleinere Betriebe mit geringeren Anlieferungsmengen pro<br />

Betrieb bedeutet. Werden diese Betriebe direkt angefahren (d. h. es liegen keine Straßenhaltestellen<br />

vor), geht dies mit einer Erhöhung des relativen Saugzeitverbrauchs und<br />

einer Reduzierung der Durchschnittsgeschwindigkeit einher (31). Auch dies hat negative<br />

Auswirkungen auf die Erfassungskosten. Wird wirklich nur Milch von ausgewählten<br />

Betrieben verarbeitet, muss außerdem eine getrennte Erfassung erfolgen. Dadurch wird<br />

eventuell <strong>für</strong> eine Molkerei ein zusätzlicher eigener Tanksammelwagen oder ein Trennsystem<br />

im Fahrzeug notwendig. Ein solches Trennsystem verwenden beispielsweise auch<br />

Molkereien, die gleichzeitig konventionelle und Bio-Milch verarbeiten. Ist dagegen ein<br />

betriebsfremder Tanksammelwagen im Einsatz, entstehen erhöhte Kosten durch das Speditionsunternehmen(48).<br />

Auf Basis des durchgeführten Forschungsprojekts kann nicht im<br />

Detail abgeschätzt werden, in welchem Umfang erhöhte Erfassungskosten bei den untersuchten<br />

Projekten auftreten. Dass dieser Punkt aber nicht zu vernachlässigen ist, wurde<br />

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364 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />

zum einen im durchgeführten Experten-Workshop mehrmals angesprochen. Zum anderen<br />

weisen auch Studien aus dem Biomilchsektor sowie die grundsätzliche Bedeutung von<br />

Erfassungskosten <strong>für</strong> Molkereien (durchschnittlich3–5 %der Gesamtkosten einer Molkerei)<br />

auf diesen Sachverhalt hin (32; 39). 2) Wenn bei den Projekten nur Milch der beteiligten<br />

Erzeuger verwendet wird, wäre auch in der Produktion mit erhöhten Kosten zu rechnen.<br />

Höhere Kosten würden <strong>über</strong>wiegend aufgrund geringerer Chargengrößen entstehen, die<br />

zu höheren Stückkosten in der Verarbeitung führen (39, S. 24 ff.). Diese erhöhten Kosten<br />

wirken sich möglicherweise negativ auf das Projektergebnis aus. Dies ist insbesondere<br />

dann problematisch, wenn dadurch erzielte Mehrerlöse aus höheren Verbraucherpreisen<br />

ganz oder teilweise kompensiert werden.<br />

Eine weitere Barriere <strong>für</strong> den ökonomischen Erfolg solcher Produkte können außerdem<br />

Kosten darstellen, die infolge von zusätzlichenKontrollen und Zertifizierungenentstehen.<br />

Ein Beispiel hier<strong>für</strong> wäre die „Heimat“-Marke von Lidl. Das Produkt ist im Milchbereich<br />

eines der ersten, das mit dem Siegel „Geprüfte Qualität (GQ)-Bayern“ zertifiziert<br />

ist. Jeder landwirtschaftliche Erzeugerbetrieb, der <strong>für</strong> dieses Programm Produkte liefert,<br />

muss sich da<strong>für</strong> zertifizieren lassen. Da<strong>für</strong> entstehen zunächst Kosten <strong>für</strong> die Erstzertifizierung<br />

und später <strong>für</strong> die Folgezertifizierungen (2). Nicht zu vergessen ist außerdem<br />

ein zusätzlicher Arbeitsaufwand im Erzeugerbetrieb <strong>für</strong> die Dokumentation. Dieser wird<br />

umso größer, jemehr Anforderungen dokumentiert werden müssen. Einige der initiierten<br />

Projekte verlangen außerdem eine GVO-freie Fütterung (z. B. „Die faire Milch“, „A<br />

faire Milch“). In einer Studie aus Österreich konnte dazu gezeigt werden, dass aufgrund<br />

einer GVO-freien Fütterung im landwirtschaftlichen Betrieb und in der Futtermittelerzeugung<br />

an verschiedenen Stellen Mehrkosten entstehen. Dies sind beispielsweise Kontroll-<br />

und Untersuchungskosten <strong>für</strong> die Eigenkontrolle und die externe Kontrolle des<br />

Betriebs, zusätzliche Kosten <strong>für</strong> die Verwaltung und Dokumentation bzw. <strong>für</strong> Qualitätssicherungsmaßnahmen<br />

sowie möglicherweise Kosten <strong>für</strong> Haftungs<strong>über</strong>nahmen aufgrund<br />

von eventuellen Verunreinigungen und Verschleppungen in der Wertschöpfungskette. Für<br />

österreichische Verhältnisse wurden in der Untersuchung, je nach Anzahl der zu kontrollierenden<br />

Betriebe einer Kontrollstelle,Kontrollkosten zwischen 0,30 und 0,28 Cent je kg<br />

Milch und Jahr bzw. reduzierte Kontrollkosten zwischen 0,24 und 0,22 Cent je kg Milch<br />

und Jahr im Milchviehbetrieb errechnet (33). 3) Auch wenn diese Berechnungen aufgrund<br />

unterschiedlicher Gegebenheiten (z. B. sehr klein strukturierte Betriebe in Österreich)<br />

nicht eins zu eins auf Deutschland zu <strong>über</strong>tragen sind, wird trotzdem deutlich, dass bei<br />

einer Gewährleistung von GVO-freier Fütterung zusätzliche Kontrollkosten <strong>für</strong> die Produktion<br />

eines Kilogramms Milch auftreten. Bei anderen Projekten wird außerdem z. B.<br />

ein erhöhter Gehalt anOmega-3-Fettsäuren ausgelobt. Da die Untersuchung des Omega-<br />

3-Fettsäuregehalts nicht zu den standardmäßigen Routineuntersuchungen gehört, fallen<br />

auch hier höhere Kontroll- und Analysekosten an. Weitere Hinweise <strong>für</strong> möglicherweise<br />

erhöhte Kontrollkosten <strong>für</strong> die Projekte liefert auch die bereits zitierte Studie von thiele<br />

et al. (39, S. 27 f.). Darin wurde gezeigt, dass bei der Produktion von Bio-Milchprodukten<br />

durchschnittliche Mehrkosten von etwa zwei Cent pro kg Endprodukt in der Qualitätskontrolle<br />

und -sicherung entstehen (ausschließlich des Mitgliedsbeitrages bei den Bioanbauverbänden).<br />

Insgesamt wird deutlich, dass eine größere Zahl zu <strong>über</strong>prüfender Merkmale<br />

die Kosten <strong>für</strong> solche Projekte erhöhen. Dies kann sich negativ auf die ökonomische<br />

Leistungsfähigkeit der Initiativen auswirken.<br />

Ein weiterer hemmender Faktor können außerdem die Markteinführungskosten darstellen.<br />

Das Gros der beschriebenen Projekte muss seine Produkte zunächst am Markt etablieren.<br />

Gerade in der Einführungsphase ist jedoch mit erhöhten Kosten <strong>für</strong> die Bekanntmachung<br />

und gleichzeitig geringen Marktanteilen bzw. Absatzmengen zu rechnen. Die<br />

Markteinführung eines Produkts erfolgt, wenn das neue Produkt das erste Mal in die<br />

Warenverteilung aufgenommen wird und auf dem Markt erhältlich ist. In dieser Phase ist<br />

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Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />

365<br />

es notwendig, das Produkt bekannt zumachen und Erstkäufe herbeizuführen (37). Hier<br />

gibt es generell die höchsten Marktinvestitionen. Eine entscheidende Rolle spielen dabei<br />

vor allem Werbe- und Verkaufsförderungsmaßnahmen. Gerade diese Marktinvestitionen<br />

führen dazu, dass in der Einführungsphase neuer Produkte Verluste in Kauf genommen<br />

werden müssen. Das Ausmaß der Anfangsverluste hängt dabei u. a. auch von der verfolgten<br />

preispolitischenStrategie ab. Verlust erhöhend wirken sich in der Anlaufphase oftmals<br />

auch auftretende „Anfangs“-Schwierigkeiten aus, wie z. B. Mangel an Produktionserfahrung<br />

oder fehlende Erfahrung der Verkäufer. Indieser Phase geringer Umsätze und<br />

gleichzeitig hoher Aufwendungen <strong>für</strong> Kommunikation und Distribution scheiden viele<br />

Neueinführungen wieder vom Markt aus, wenn die erwartete Nachfrage ausbleibt (22). Es<br />

wird deutlich, dass diese Phase bei den meisten Produktneueinführungen kritisch ist. Ferner<br />

kommt hinzu, dass diejenigen, die das Produkt am Markt einführen, verhältnismäßig<br />

unerfahren bei der Einführung eines neuen Produktes (z. B. bei ausschließlich Erzeugerinitiierten<br />

Projekten) bzw. imMarktumfeld sind, wodurch diese Phase doppelt kritisch zu<br />

bewerten ist. Dies ist vor allem problematisch, weil durch die Projekte höhere Erlöse und<br />

damit höhere Milchpreise erzielt werden sollen. Da aber in der Einführungsphase in aller<br />

Regel negative Gewinne entstehen, werden vermutlich keine spürbaren (positiven) Auswirkungen<br />

auf den Milchpreis erzielt. Dies wiederum wirkt sich einerseits kontraproduktiv<br />

auf die Unterstützung des Projekts durch die beteiligten Landwirte aus. Andererseits<br />

kann sich dies aber auch negativ auf die Glaubwürdigkeit des Projekts auswirken, da mit<br />

einer Unterstützung der Erzeuger geworben wird. Im Zusammenhang mit der Markteinführungsphase<br />

ist außerdem zu bedenken, dass zunächst Marktanteile aufgebaut werden<br />

müssen und u. U. nur begrenzte Rohstoffmengen in ein solches Projekt fließen können.<br />

Dieses Phänomen trat in der Vergangenheit bei einigen Projekten auf. Auch dies kann die<br />

Glaubwürdigkeit u. U. erheblich schwächen.<br />

Diese Darstellung zeigt, dass die am Markt entstandenen „fair“-Initiativen einer Vielzahl<br />

an Hemmnissen und Barrieren gegen<strong>über</strong> stehen. Gleichzeitig weisen die Projekte<br />

selbst aber auch Stärken und Schwächen auf, die es erleichtern bzw. erschweren, den<br />

aufgezeigten Hemmnissen und Barrieren zu begegnen. Im Folgenden wird auf die identifizierten<br />

Stärken und Schwächen näher eingegangen.<br />

4.2 Stärken und Schwächen bestehender Projekte<br />

4.2.1 Identifizierte Stärken der Projekte<br />

Viele der untersuchten Projekte leben vom Engagement der beteiligtenAkteure. Dies wurde<br />

insbesondere in den durchgeführten Fallstudien deutlich. In diesem Zusammenhang sind<br />

zunächst beteiligte Erzeuger zu nennen, wenn diese sich selbst intensiv <strong>für</strong> „ihr“ Projekt<br />

engagieren. In der Praxis geschieht dies häufig vor allem bei PR-Maßnahmen oder durch<br />

diverse Aktionen, wie z. B. einen selbstorganisierten Staffellauf quer durch Deutschland<br />

oder verschiedenste Verkostungsaktionen. Ein persönlicher Einsatz der Erzeuger ist vor<br />

allem insofern wichtig, als dies die Gruppe ist, die „fair“ behandelt werden soll. Treten<br />

diese selbst in Aktion, erhält der „Erzeuger ein Gesicht“ und die Projekte treten aus<br />

der Anonymität. In einer weiteren Fallstudie wird dagegen vor allem das Engagement<br />

der beteiligten Molkerei unterstrichen. Insgesamt hat sich im Zuge des durchgeführten<br />

Forschungsprojekts gezeigt, dass in vielen Projekten gerade die Verarbeitungsstufe eine<br />

untergeordnete Rolle spielt und vielfach „nur“ als Abfüllbetrieb eingeschaltet ist. Gerade<br />

wenn sich aber die Molkerei als Schnittstelle zwischen Erzeuger und Handel intensiv <strong>für</strong><br />

ein solches Projekt einsetzt, scheinen diese Projekte eher eine langfristige Perspektive zu<br />

haben.<br />

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366 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />

Dar<strong>über</strong> hinaus haben die Fallstudien auch gezeigt, dass bei einigen der schon verhältnismäßig<br />

lange erfolgreichen Projekte, ein/wenige Schlüssel-Akteur(e) (z. B. Projektverantwortlicher)<br />

existiert/en. Ein solcher Schlüssel-Akteur ist in den meisten Fällen eine<br />

Person, die sich intensiv <strong>für</strong> das Projekt einsetzt und es vorantreibt und entscheidend zum<br />

langfristigen Erfolg beiträgt.<br />

Auch der Lebensmitteleinzelhandel (LEH) als Projektträger kann <strong>für</strong> ein solches Projekt<br />

eine Stärke darstellen. Obwohl dies gerade in den Fallstudien häufig als kritisch beurteilt<br />

wurde, bietet eine solche Konstellation auch Vorteile. Gerade die Entstehung einer<br />

verhältnismäßig großen Anzahl an Projekten, die durch den Handel initiiert wurden, und<br />

das zunehmende Engagement von Handelsunternehmen imBereiche regionaler Eigenmarken<br />

machen deutlich, dass der LEH durchaus Interesse an solchen Konzepten hat.<br />

Insbesondere wenn ein Handelsunternehmen mithilfe eines solchen Projekts eine Eigenmarke<br />

aufbaut, ist weiterhin zu vermuten, dass dem Unternehmen auch am langfristigen<br />

Erfolg des Konzepts gelegen ist, da mit dem Aufbau auch nicht zu vernachlässigende<br />

Investitionen verbunden sind. Für die beteiligten Partner kann dies eine Sicherung des<br />

Absatzes bedeuten. Außerdem fallen keine Listungsgebühren an. Unter Umständen sind<br />

auch Einsparungen in der Lagerhaltung und Logistik möglich. Außerdem werden in aller<br />

Regel der Markenaufbau und die Markenkommunikation vom erfahrenen Handelsunternehmen<br />

<strong>über</strong>nommen.<br />

Eine weitere Stärke kann es <strong>für</strong> ein „Fairness“-orientiertes Projekt darstellen, wenn<br />

eine Veröffentlichung der Rohstoffproduzenten erfolgt. Sogibt es beispielsweise Hinweise<br />

darauf, dass Lebensmittel aus der Region <strong>für</strong> viele Verbraucher eine verhältnismäßig<br />

preiswerte Alternative darstellen, um subjektiv eine höhere Kontrolle <strong>über</strong> Produktionsbedingungen<br />

zu haben. Regionale Lebensmittel sind <strong>für</strong> viele Konsumenten<br />

greifbarer, weil der Konsument z. B. den Bauernhof aus dem Nachbarort vor Augen hat<br />

(49). Durch eine Veröffentlichung der beteiligten Erzeuger und deren Geschichte kann<br />

man bei solchen Projekten noch einen Schritt weiter gehen. So existieren beispielsweise<br />

Projekte, bei denen man alle beteiligten Erzeuger auf der Homepage der Initiative samt<br />

Adressdaten, Geschichte des Hofes und im Falle einer biologischen Erzeugung auch den<br />

Anbauverband, nach dem der jeweilige Landwirt produziert, nachlesen kann. Auf diese<br />

Weise hat der interessierte Konsument die Möglichkeit, genau nachzuvollziehen, woher<br />

der Rohstoff stammt und welchen Betrieb er mit seinem Kauf gegebenenfalls unterstützt.<br />

Falls dies dem Konsument nicht ausreicht, kann er sich sogar selbst vor Ort ein Bild <strong>über</strong><br />

die Produktionsbedingungen machen. Auf diese Weise entsteht eine Transparenz <strong>über</strong> die<br />

Rohstoffherkunft und die Produktionsbedingungen, die Glaubwürdigkeit schafft. Durch<br />

ein solches Vorgehen werden daher insbesondere zwei Ziele erreicht: Zum einen gibt man<br />

dem Konsumenten das Gefühl, dass er selbst eine Art „Kontrolle <strong>über</strong> den Produktionsprozess“<br />

hat bzw. dass die Produktion <strong>für</strong> ihn transparent ist. Da er die Wertschöpfungskette<br />

mit diesen Informationen selbst zurückverfolgen kann, schafft diese Vorgehensweise eine<br />

gewisse Sicherheit <strong>für</strong> den Konsumenten. Zum anderen kommen hier aber auch emotionale<br />

Aspekte zum Tragen, da durch die Darstellung „‚echter’ Landwirte/‚echter’ Höfe“<br />

bestimmte Vorstellungen in den Köpfen der Konsumenten verankert werden und somit<br />

eine emotionale Positionierung der Produkte einfacher erreicht werden kann.<br />

Andere Projekte punkten außerdem durch intensive „Guerilla-Marketing-Strategien“<br />

und verwenden dabei eingängige Key-Visuals. Solche Schlüsselbilder eignen sich bei<br />

der herrschenden Kommunikationsflut vor allem dazu, Markenbotschaften schnell und<br />

unmissverständlich zu transportieren. Dabei kann immer wieder in die gleiche „kommunikative<br />

Kerbe“ geschlagen werden. Das ist vor allem dann wichtig, wenn das Kommunikationsbudget<br />

verhältnismäßig klein ist, wie dies häufig gerade bei Erzeuger-initiierten<br />

Projekten der Fall ist (40).<br />

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Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />

367<br />

Eine weitereStärkestelltes<strong>für</strong> dieuntersuchtenProjektedar,wenn sie eine Definition<br />

und Zertifizierung der „Fairness“ besitzen. Beispielsweise kommunizieren viele der existierenden<br />

Projekte „Fairness“. Lediglichineinemder näher untersuchtenProjekte existiert<br />

aber tatsächlich ein Kriterienkatalog, in dem festgehalten ist, was unter „Fairness“ verstanden<br />

wird. Mithilfe einer solchen Zertifizierung ist es möglich, dass ein Unternehmen<br />

Verbindlichkeiten schafft. Dadurch wird der Grundstein <strong>für</strong> die Glaubwürdigkeit eines<br />

Projekts geschaffen.<br />

Neben diesen aufgezeigten Stärken konnten aber auch eine ganze Reihe von Schwächen<br />

bei „Fairness“-orientierten Projekten identifiziert werden. Auf diese wird im Folgenden<br />

näher eingegangen.<br />

4.3 Identifizierte Schwächen der Projekte<br />

Bei mehreren der untersuchten Projekte hat sich gezeigt, dass die Verarbeitungsstufe nur<br />

verhältnismäßig schwach eingebunden bzw. nur als Abfüller im Werkslohn beteiligt ist<br />

und damit austauschbar wird. Die durchgeführten Fallstudien haben außerdem deutlich<br />

gezeigt, dass Molkereien häufig wenig Interesse an solchen Projekten haben. Andererseits<br />

gibt es aber auch den Fall, dass von Erzeugerseite aus kaum Interesse an einer starken<br />

Zusammenarbeit mit einem Verarbeitungsbetrieb besteht oder dass sogar versucht wird,<br />

diese Stufe weitestgehend zu umgehen. Eine schwache Einbindung einer Molkerei ist<br />

jedoch aus verschiedenen Gründen problematisch. Die Molkerei als Schnittstelle zwischen<br />

Erzeuger und Handelsstufe kennt die Gepflogenheiten des Marktes und besitzt die<br />

organisatorischen, administrativen und operativen Voraussetzungen <strong>für</strong> die Geschäftsbeziehungen<br />

mit der vor- und nachgelagerten Stufe. Sie besitzt etablierte Informations- und<br />

Kommunikationswege zu den Rohstofflieferanten und der Absatzstufe, die genutzt werden<br />

können. Bei einer „Ausschaltung“ der Molkerei in einem „Fairness“-orientierten Projekt<br />

müssten diese erst aufgebaut werden und es entsteht ein erheblicher „Lernbedarf“ der<br />

anderen Akteure, der die (ökonomische) Leistungsfähigkeit eines solchen Projekts u. U.<br />

erheblich schwächt. Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang relevant ist, ist<br />

das bestehende Machtverhältnis bzw. das Marktungleichgewicht in der Wertschöpfungskette<br />

„Milch“. Dies ist erheblich zugunsten des stark konzentrierten Lebensmitteleinzelhandels<br />

und zuungunsten der Hersteller verschoben. Aufgrund des größenbedingten<br />

Marktunterschiedes ist eine gleichberechtigte Partnerschaft schon zwischen diesen beiden<br />

Stufen kaum möglich (31). Dieses Ungleichgewicht verstärkt sich im Fall der untersuchten<br />

„Fairness“-orientierten Projekte z. T. erheblich, da diese aufgrund ihres geringen<br />

Volumens oft eine noch schwächere Position am Markt besitzen. Eine Umgehung der<br />

Molkerei schwächt also die Verhandlungsposition einer solchen Initiative u. U. zusätzlich.<br />

Außerdem besitzen die Molkereien das technische Know-how und die technischen<br />

Möglichkeiten zur Herstellung der Produkte, welches fehlt, wenn die Molkereien nicht<br />

integriert sind. Eine fehlende Integration der Molkerei führt teilweise auch zu erheblichen<br />

Distanzen zwischen Rohstofferzeugern und dem Verarbeitungsbetrieb. Dies schadet u. U.<br />

auch der argumentativen Basis der Konzepte, da das Argument „Regionalität“ aufgrund<br />

langer Transport- und Distributionswege eigentlich kaum vertretbar ist. Noch schwieriger<br />

ist es, gegebenenfalls dieses Motiv aufrechtzuerhalten, wenn es zu einem Wechsel des<br />

Abfüllers kommen sollte und kein neuer Betrieb gefunden wird bzw. wenn dieser in einer<br />

völlig anderen Region lokalisiert ist. Gerade wenn die beteiligte Molkerei kein großes<br />

Interesse andem Projekt hat bzw. keinen wirklichen Vorteil <strong>für</strong> sich darin sieht (z. B.<br />

stärkere Lieferantenbindung), ist die Gefahr einer fehlenden Einigung und eines Wechsels<br />

des Abfüllbetriebs groß.<br />

Problematisch ist bei vielen Projekten auch das verhältnismäßig unscharfe Profil des<br />

Motivs „Regionalität/regionale Herkunft“ bzw. wird dieses Motiv nicht <strong>über</strong>zeugend<br />

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368 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />

umgesetzt oder kommuniziert. Dies liegt zum einen daran, dass es weder eine allgemein<br />

geltende, eindeutige Definition noch ein allgemein akzeptiertes Verständnis des Begriffs<br />

„Region“ gibt. Dar<strong>über</strong> hinaus unterscheidet sich auch das persönliche Verständnis von<br />

„Region“ in der Bevölkerung z. T. erheblich. So setzt zwar ein Großteil der Bevölkerung<br />

die Region mit dem eigenen Bundesland gleich, andere verstehen aber darunter z. B.<br />

auch eine naturräumliche Einheit, die Stadt oder den Kreis, in dem derjenige lebt (50).<br />

Demnach ist das zugrunde gelegte Motiv „Region“ von vornherein unscharf.Erschwerend<br />

kommt hinzu, dass es in den Projekten vielfach nicht <strong>über</strong>zeugend umgesetzt wird. So gibt<br />

es z. B. einige Initiativen, die sich zwar auf die „Regionalität“ berufen, dann aber die Produkte<br />

bundesweit vertreiben. Das Bundesgebiet entspricht im Allgemeinen aber nicht dem<br />

Verständnis der Verbraucher von „regional“. Gerade bei diesen nationalen Projekten wird<br />

zusätzlich auch auf die noch unklareren Begriffe „heimisch“ oder „einheimisch“ ausgewichen<br />

oder die Region mit dem Erfassungsgebiet der abfüllenden Molkerei gleichgesetzt.<br />

Bei anderen Projekten wird mit der regionalen Herkunft geworben; dann wird aber der<br />

Rohstoff etliche 100 Kilometer transportiert, um zum Verarbeitungsbetrieb zu gelangen.<br />

Dies hat teilweise dazu geführt, dass die Werbeaussage „aus der Region“ nicht mehr verwendet<br />

werden darf. Insgesamt entsteht bei einigen der untersuchten Projekte daher der<br />

Eindruck, dass man der Initiative unbedingt den „Herkunftsstempel aufdrücken“ möchte,<br />

um auf den Trend „Regionalität“ aufzuspringen. Bei einigen Konstellationen wäre es<br />

jedoch sinnvoller, sich nur auf das Motiv der „Unterstützung der beteiligten Erzeuger“ zu<br />

fokussieren und dies <strong>über</strong>zeugend umzusetzen.<br />

Auch eine fehlende Preisstabilität und/oder eine fehlende Kontrolle von Zahlungsströmen<br />

kann die Glaubwürdigkeit „Fairness“-orientierter Projekts schwächen. Sogibt<br />

es Projekte, die schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit den Produktpreis gesenkt haben,<br />

was vermutlich mit niedrigeren Rohstoffpreisen einhergegangen ist. Dies schwächt die<br />

Glaubwürdigkeit der Projekte erheblich, da mithilfe der Initiativen eigentlich ein Beitrag<br />

zur Einkommenssicherung der beteiligten Landwirte geleistet werden soll. Auch eine<br />

fehlende Offenlegung und Kontrolle von Kostenkalkulationen oder tatsächlichen Mehrerlösen<br />

werden bei etlichen Projekten von der Öffentlichkeit immer wieder kritisiert und<br />

führen zu erheblichen Spekulationen. Solche Spekulationen führen unweigerlich zu einer<br />

Verbraucherverunsicherung. Würden die Projektverantwortlichen ihre Zahlen zumindest<br />

teilweise ehrlich offenlegen, könnte man dies vermeiden.<br />

Problematisch ist weiterhin, dass nur eines der untersuchten Projekte eine klare Definition<br />

von „fair“ bzw. einen Kriterienkatalog <strong>für</strong> „fair“ besitzt. Bei den anderen Projekten<br />

sind die Erklärungen und die Begründungen der „Fairness“ vielfach schwammig und<br />

wenig handfest oder zielen auf die beteiligten Landwirte und eine Erhöhung des Auszahlungspreises<br />

ab (vgl. Abschn. 3.2.5). Dabei ist oftmals die Rede davon, dass ein „fairer“/<br />

angemessener/gerechter Preis erzielt werden soll. Generell wird aber nicht definiert, wann<br />

ein Preis „fair“ ist. Hierzu schwirrt einerseits mit der 40-Cent-Forderung des Bundesverbandes<br />

Deutscher Milchviehhalter e.V. (BDM) eine produktionslastige Definition auf<br />

Basis der durchschnittlichen Vollkosten der Landwirte durch das Land. Andererseits ist<br />

zu vermuten, dass es auch in Anlehnung andie „Fair Trade“-Bewegung ein gewisses Vorverständnis<br />

der Konsumenten von „Fairness“ im Lebensmittelsektor gibt. Solange jedoch<br />

nicht eindeutig festgelegt ist, was unter einem „fairen Preis“ oder einem „fairen“ Umgang<br />

verstanden wird, bleibt das Motiv immer verhältnismäßig schwach und angreifbar. Dies<br />

ist insbesondere der Fall, wenn die Definition von „fair“ allein mit der monetären Unterstützung<br />

der Erzeuger (= „faire“ Erzeugerpreise) gleichgesetzt wird, aber dann keine nennenswerten<br />

Mehrerlöse durch das Projekt erwirtschaftet werden können.<br />

Buel_3_11.indb 368 17.11.2011 08:13:08


Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />

5 Diskussion und Handlungsbedarf<br />

369<br />

Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass am Milchsektor in den letzten<br />

Jahren vermehrt regionale Vermarktungsinitiativen entstanden sind, die mit einer Unterstützung<br />

der beteiligen Erzeuger bzw. „Fairness zum Erzeuger“ werben. Diesen Projekten<br />

stehen verschiedenste Hemmnisse und Barrieren gegen<strong>über</strong> und sie weisen auch in ihrer<br />

Organisation Verbesserungspotenzial auf. Auf Basis des durchgeführten Forschungsprojekts<br />

konnten daher verschiedene Handlungsfelder und notwendige Anpassungsmaßnahmen<br />

identifiziert werden. Diese werden im Folgenden dargelegt und diskutiert.<br />

Kooperationen verschiedener Akteure fördern<br />

Für eine nachhaltige Etablierung von „Fair“-Projekten wären horizontale und vertikale<br />

Kooperationen zwischen verschiedenen Akteuren notwendig. Hierzu sind einerseits die<br />

Akteure entlang der Wertschöpfungskette (z. B. Erzeugerzusammenschlüsse und -gemeinschaften,<br />

Molkereien) gefordert, andererseits aber auch weitere Akteure wie z. B. Verbraucherorganisationen,<br />

staatliche Akteure oder andere gesellschaftliche Gruppen. Solche<br />

Kooperationen würden eine Vielzahl an Vorteilen bieten, wie beispielsweise die Erschließung<br />

neuer Marktchancen, die Einsparung von Investitionen, die Nutzung von Skaleneffekten<br />

oder der Zugang zu spezialisiertem Wissen und Können. Jedoch sind sie meistens<br />

auch mit Kompromissen und dem (zumindest partiellen) Verlust von Eigenständigkeit<br />

verbunden. Eine wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> eine solche Kooperation wäre die Bereitschaft<br />

zur Zusammenarbeit bei allen Beteiligten (23). Es ist jedoch anzunehmen, dass es<br />

gerade entlang der Wertschöpfungskette „Milch“ vielfach verhältnismäßig schwierig ist,<br />

solche Kooperationen zu schaffen und zu etablieren. Hinweise darauf geben zum einen<br />

die Ergebnisse des durchgeführten Forschungsprojektes, die auf vielfältige Probleme und<br />

Schwierigkeiten zwischen den Stufen hindeuten. Zum anderen existiert auch generell auf<br />

horizontaler und vertikaler Ebene viel Konfliktpotenzial. Sowirken Konflikte auf Erzeugerebene,<br />

schwierige Beziehungen zwischen Lieferanten und ihren Molkereien bis hin zu<br />

einem generellen Misstrauen gegen<strong>über</strong> der Absatzstufe als hemmende Faktoren <strong>für</strong> eine<br />

verstärkte Kooperationsbereitschaft der verschiedenen Akteure.<br />

Gerade aber ein Thema wie „Fairness“ würde es erfordern, in einem kooperativen<br />

Aushandlungsprozess dynamisch entwickelt, gestaltet und <strong>über</strong>prüft zu werden. Hierzu<br />

wäre ein Austausch und Dialog verschiedenster Akteure zwingend erforderlich. Ein verstärkter<br />

Austausch könnte beispielsweise mithilfe von Plattformen erreicht werden, die<br />

sowohl den Austausch der verschiedenen Stufen als auch den Dialog mit verschiedenen<br />

weiteren Interessensgruppierungen (z. B. Verbraucherschutzorganisationen) unterstützen<br />

und fördern könnten. Hier<strong>für</strong> wäre einerseits die Politik gefordert, indem sie geeignete<br />

Rahmenbedingungen schafft oder den Anstoß zu solchen Kooperationen gibt. Des Weiteren<br />

könnten aber auch privatwirtschaftliche oder halbstaatliche Initiativen auf diesem Feld<br />

aktiv werden. Beispiele hier<strong>für</strong> existieren bereits: So wurde <strong>für</strong> den Großraum München<br />

mit der „Interessensgemeinschaft <strong>für</strong> fair-regionale Produkte“ eine Diskussionsplattform<br />

geschaffen, die sich regelmäßig zusammensetzt (15). Auch am Bio-Milchsektor hat man<br />

es geschafft, Vertreter der gesamten Wertschöpfungskette Bio-Milch an einen Tisch zu<br />

holen und eine gemeinsame Erklärung zum Bio-Milchmarkt und zu einem „fairen Preis“<br />

abzugeben (5).<br />

Überprüfung der ökonomische Machbarkeit<br />

Ein weiterer notwendiger Diskussionspunkt betrifft die Überprüfung der ökonomischen<br />

Machbarkeit der Projekte. Die untersuchten Projekte wurden in aller Regel gegründet,<br />

um einen Beitrag zur Sicherung/Verbesserung des Einkommens der beteiligten Erzeuger<br />

zu leisten. Jedoch ist bei diesen Initiativen an verschiedenen Stellen mit erhöhten Kos-<br />

Buel_3_11.indb 369 17.11.2011 08:13:08


370 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />

ten zu rechnen. Hierunter fallen zunächst die notwendigen Marketinginvestitionen in der<br />

Einführungsphase. Häufig ist diese Phase außerdem mit einem verhältnismäßig geringen<br />

Marktanteil verbunden. Gerade in der Einführungsphase ist daher bei hohen Kosten mit<br />

verhältnismäßig geringen Umsätzen zu rechnen. Dies schmälert im besten Fall den erzielbaren<br />

Gewinn oder resultiert in (anfänglichen) Verlusten. Außerdem werben die Projekte<br />

<strong>über</strong>wiegend mit dem Motiv „Regionalität“. Wenn dieses Motiv von den Projektverantwortlichen<br />

ordnungsgemäß umgesetzt wird, ist hier oftmals mit weiteren Kosten in der<br />

Erfassung und Produktion zu rechnen, weil der Rohstoffu.U.separat gesammelt und verarbeitet<br />

werden muss. Weitere Zusatzkosten können <strong>für</strong> notwendigeKontrollen entstehen,<br />

wenn das Produktzusätzliche Qualitäten aufweist oder nach bestimmten Kriterien erzeugt<br />

wird. Insgesamt ist also –entsprechend der Organisation des Projekts –teilweise mit<br />

erheblichen Mehrkosten zu rechnen. Daher sind im Vorfeld eine genaue Kostenkalkulation<br />

und eine Überprüfung der ökonomischen Machbarkeit und Tragfähigkeit unabdingbar.<br />

Mittelfristig dürfen die erzielten Mehrerlöse nicht durch die erhöhten Kosten aufgezehrt<br />

werden.Ansonstenverlieren die Projekte die Glaubwürdigkeit und Seriosität bzw.werden<br />

die proklamierten Ziele konterkariert.<br />

Anhebung von Mindestanforderungen und Zertifizierung durch externe Kontrollen<br />

Bei der Gestaltung von „Fairness“-orientierten Projekten sollte darauf geachtet werden,<br />

dass die gesetzlich geregelten Mindeststandards <strong>über</strong>troffen werden. Höhere Mindestanforderungen<br />

sind z. B. bei der Rohstoffqualität oder bei bestimmten produktionstechnischen<br />

Aspekten, wie der Tiergerechtigkeit oder beim Haltungssystem, denkbar. Das<br />

Forschungsprojekt hat jedoch gezeigt, dass nur ein Teil der untersuchten Projekte solche<br />

zusätzlichen Qualitätsaspekte einbezieht. Die Produkte werden dennoch aber preislich oft<br />

im Premium-Segment angeordnet. In einem solchen Fall haben die Produkte <strong>für</strong> den Verbraucher<br />

also trotz eines höheren Produktpreises keinen erkennbaren und nachvollziehbaren<br />

Zusatznutzen. Gerade dann ist es aber vermutlich auf Dauer schwierig, diesen höheren<br />

Preis zu rechtfertigen und durchzusetzen. Dies ist insbesondere dann kritisch, wenn<br />

gleichzeitig der ausgelobte Mehrerlös <strong>für</strong> die beteiligten Landwirte nicht erreicht werden<br />

kann. Auf Dauer sind in diesem Fall die Konsumenten voraussichtlich nicht bereit, einen<br />

Aufpreis zu bezahlen, da sie keinen wirklichen Zusatznutzen beim Kauf der Produkte<br />

erzielen können. Werden andererseits zusätzliche Standards im Zuge der Projekte versprochen,<br />

ist es wichtig, dass diese Qualitätskriterien nachweisbar und <strong>über</strong>prüfbar sind. Dies<br />

kann mithilfe einer Zertifizierung und Kontrolle durch eine neutrale, externe Stelle gelingen.<br />

Dies ist insofern zu empfehlen, als bei den untersuchten Produkten die ausgelobten<br />

Produktqualitäten vielfach Vertrauenseigenschaften darstellen und zwischen Abnehmern<br />

(Konsument) und Verkäufer im Regelfall eine Informationsasymmetrie besteht. Eine Zertifizierung<br />

bezüglich der zusätzlich ausgelobten Anforderung kann zumindest teilweise<br />

dazu beitragen, diese bestehenden Informationsasymmetrien abzubauen.<br />

Anstreben einer eindeutigen Positionierung bezüglich der Motive „Regionalität“ und<br />

„Fairness“ -Schaffung eines Alleinstellungsmerkmals<br />

Beim Aufbau von „Fairness“-orientierten Projekten sollte weiterhin darauf geachtet werden,<br />

dass eine eindeutige Positionierung angestrebt wird. Die Einzigartigkeit des Konzepts<br />

sollte einfach und nachvollziehbar herausgestellt und damit ein Alleinstellungsmerkmal<br />

geschaffen werden können. Im Allgemeinen fungieren bei den untersuchten Projekten<br />

die Motive „Regionalität“ und „Fairness“ als emotionale Nutzenkomponenten. Für die<br />

Positionierung der Produkte ist es dabei insbesondere erforderlich, dass das jeweilige<br />

Nutzenversprechen (wie regionale Herkunft, Unterstützung der Erzeuger) glaubwürdig<br />

und <strong>über</strong>zeugend ist. Dies muss durch eine zielorientierte und eindeutige Umsetzung und<br />

durch eine klare und unmissverständliche Kommunikation erreicht werden. Problema-<br />

Buel_3_11.indb 370 17.11.2011 08:13:08


Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />

371<br />

tisch ist das bei einigen Projekten v. a. hinsichtlich des Motivs „regionale Herkunft“.<br />

Wenn mit Regionalität geworben wird, ist es dringend notwendig, dass der Initiative eine<br />

eindeutige Definition der Herkunftsregion zugrunde gelegt wird und der Rohstoff aus der<br />

entsprechenden Region stammt. Hierbei sollte auch das Verständnis der Konsumenten<br />

von „Region“ berücksichtigt werden. So ist es beispielsweise schwierig, ein nationales<br />

Projekt als „Regionalkonzept“ zu vermarkten, wenn der Großteil der Bevölkerung mit<br />

Region beispielsweise das Bundesland oder die naturräumliche Einheit, in der sie lebt,<br />

verbindet. In einem solchen Fall ist es sinnvoller, sich z. B. nur auf den Aspekt „Unterstützung<br />

der beteiligten Landwirte“ zu fokussieren und diesen glaubwürdig umzusetzen<br />

und zu kommunizieren. Falls man trotz einer ungeeigneten Projektkonstellation versucht,<br />

beide Motive zu kombinieren, ist es wahrscheinlich, dass beide Nutzenkomponenten verhältnismäßig<br />

schwach und das Profil des Projekts unscharf bleibt.<br />

Transparenz der Qualitätseigenschaften „Fairness“ und „Regionalität“ zur Erzielung<br />

von Glaubwürdigkeit<br />

Wie dargelegt, bilden bei den untersuchten Projekten die Motive „Fairness“ und „regionale<br />

Herkunft“ in aller Regel die Schlüsselmotive. Beide Attribute sind Vertrauenseigenschaften.<br />

Der Konsument kann sie weder vor dem Kauf prüfen noch nach dem Gebrauch<br />

bestimmen. Als Nachweis <strong>für</strong> das Vorhandensein hat der Käufer nur die Zusicherung des<br />

Anbieters (17). Dies gilt bei den untersuchten Projekten sowohl <strong>für</strong> die regionale Herkunft<br />

der Produkte (insbesondere des Rohstoffs) als auch in Bezug auf die Prozessqualität<br />

„Fairness“, die mit der Unterstützung der beteiligten Erzeuger gerechtfertigt wird.<br />

Hinzu kommt, dass es <strong>für</strong> beide Motive keine eindeutige (gesetzliche) Definition gibt und<br />

die Auslegung einen erheblichen Gestaltungsspielraum bietet. Dementsprechend ist die<br />

Erfüllung der beiden Motive <strong>für</strong> die Konsumenten nur schwer nachzuvollziehen und zu<br />

bewerten. Daher ist es notwendig, die beiden Qualitätseigenschaften im Zuge der Projekte<br />

transparent zu machen. Dies bildet die Voraussetzung zur Erzielung von Glaubwürdigkeit.<br />

Um eine stärkere Transparenz bezüglich der Herkunft zuerreichen, bieten sich mehrere<br />

Möglichkeiten an. Beispielsweise können die beteiligten Erzeuger veröffentlicht werden<br />

(z. B. <strong>über</strong> Homepage, Tafeln auf den landwirtschaftlichen Betrieben) oder sie können an<br />

einem Herkunftssicherungsprogramm (z. B. „Geprüfte Qualität –Bayern“) teilnehmen.<br />

Damit Konsumenten außerdem den tatsächlichen Nutzen der Erzeuger aus dem Projekt<br />

besser abschätzen können, ist es notwendig, die durch das Projekt erzielten Mehrerlöse<br />

zu veröffentlichen. Dar<strong>über</strong> hinaus ist es auch sinnvoll, eine neutraleKontrollstelle einzuschalten,<br />

die die Zahlungsströme beim betreffenden Projekt <strong>über</strong>prüft.<br />

Realistische Einschätzung der Marktleistung der Projekte<br />

Die existierenden Projekte erreichen in aller Regel nur verhältnismäßig geringe Marktanteile.<br />

Beispielsweise erzielten nach Analyse der GfK alle neuen „Fair- und Regional-<br />

Milchprogramme“ im Lebensmitteleinzelhandel bei Trinkmilch einen Umsatzanteil von<br />

0,9 %und einen Absatzanteil von 0,7 %imJahr 2010 (20). Auch bei den Programmen,<br />

die mittlerweile seit einigen Jahren bestehen, gelang es nicht, die Markanteile in großem<br />

Umfang auszudehnen. Generell ist daher davon auszugehen, dass solche Projekte<br />

(immer) eher Nischenstrategien <strong>für</strong> einzelne Unternehmen/Organisationen darstellen<br />

werden. Dementsprechend sind auch die Milchmenge und damit die Anzahl an Erzeugern<br />

beschränkt, die sich an derartigen Initiativen beteiligen können. Hinzu kommt, dass<br />

vermutlich <strong>für</strong> viele Erzeuger die Teilnahme an einem solchen Projekt <strong>über</strong>haupt nicht<br />

relevant ist. Dies kann zum einen daran liegen, dass es in der Region, in der der Landwirt<br />

ansässig ist, keine solche Initiative gibt. Zum anderen ist es aber auch denkbar, dass der<br />

Erzeuger die Anforderungen zur Teilnahme an dem Projekt nicht erfüllen kann (z. B. kein<br />

Laufstall, geforderte Qualitätsmerkmale des Projekts werden nicht erzielt). Nicht zu ver-<br />

Buel_3_11.indb 371 17.11.2011 08:13:08


372 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />

gessen ist außerdem, dass die Projekte gerade in der Startphase häufig keine relevanten<br />

Beiträge zum Betriebsergebnis der beteiligten Landwirte leisten. Aus diesen Gründen ist<br />

es notwendig, dass die Marktleistung der Projekte von den Beteiligten realistisch eingeschätzt<br />

und kommuniziert wird. So ist es beispielsweise nicht vertretbar, den beteiligten<br />

Landwirten unrealistische Versprechen bezüglich erzielbarer Milchpreise zu geben. Dies<br />

ist v. a. insofern kritisch und als fragwürdig zu beurteilen, als teilnehmende Landwirte<br />

zum Beispiel bestehende Lieferverträge mit ihrer Molkerei gekündigt oder Investitionen<br />

getätigt habe (z. B. Umstellung auf GVO-freie Fütterung). Außerdem sollte durch die<br />

Kommunikation der Verantwortlichen auch nicht der Eindruck erweckt werden, dass man<br />

mithilfe eines solchen Projektes die „Probleme“ der ganzen Wertschöpfungskette Milch<br />

lösen und insgesamt aus dem bestehenden Preisgefüge am Markt ausbrechen kann. Wahrscheinlicher<br />

ist dagegen, dass solche Projekte nur <strong>für</strong> bestimmte Unternehmen und eine<br />

eingeschränkte Anzahl an Erzeugern ein interessantes Differenzierungspotenzial bieten<br />

und eine Erfolg versprechende Marktnische darstellen können.<br />

Etablierung von allgemeingültigen „Fair-Kriterien“ und Übertragung auf den Milchsektor<br />

Die Kernaussage in der Kommunikation der meisten untersuchten Projekte besteht darin,<br />

dass durch das Projekt „Fairness“ erreicht wird. Dabei unterscheiden sich sowohl die<br />

Zielpersonen/-gruppen, <strong>für</strong> die „Fairness“ erreicht werden soll (z. B. nur Erzeuger, auch<br />

Verbraucher etc.), als auch die Art und Weise, wie „Fairness“ erreicht werden soll, zwischen<br />

den Projekten. Vielfach bleibt das „Fairness“-Argument bei den Initiativen aber<br />

bisher verhältnismäßig schwammig und unklar. Auch eine gesetzliche Definition oder<br />

ein allgemein gültiges Verständnis des Begriffs ist (noch) nicht vorhanden. Anzunehmen<br />

ist zwar, dass Konsumenten aufgrund der „Fair Trade“-Bewegung ein gewisses „Vorverständnis“<br />

haben, was im Lebensmittelsektor unter „fair“ zu verstehen ist. Andererseits<br />

lässt die steigende Anzahl an Initiativen, die in den letzten Jahren entstanden ist, vermuten,<br />

dass sich ein gewisser Markt <strong>für</strong> „Domestic Fair Trade“ entwickelt. Aus Wettbewerbs-<br />

und Verbraucherschutzgründen wären daher allgemeingültige und verbindliche<br />

Definitionen und Kriterien <strong>für</strong> „Fairness/fair“ notwendig. Nur so kann gewährleistet werden,<br />

dass es zu keinen Wettbewerbsverzerrungen kommt, wenn unterschiedliche Niveaus/<br />

Auslegungsgrade von „Fairness“ insolchen Projekten kommuniziert und zugrunde gelegt<br />

werden. Außerdem kann nur auf diese Weise sichergestellt werden, dass Verbraucher die<br />

in der Kommunikation verwendeten Angaben <strong>für</strong> ihre Kaufentscheidung nutzen können<br />

und dass Verbrauchertäuschung vorgebeugt bzw. verhindert wird. Einige solcher „Fair“-<br />

Kataloge existieren bereits. Auffällig ist, dass ein Großteil davon aus der Bio-Branche<br />

stammt. So hat z. B. Naturland „Fair-Kriterien“ entwickelt (28). Auch der Verein „Bio<br />

Bestes Fair- Für alle“ und der Anbauverband „Biokreis“ besitzen einen solchen Katalog<br />

(45). Weitere Beispiele sind eher aus Regionalbewegungen entstanden (z. B. FairRegional<br />

Charta Berlin Brandenburg) oder stammen aus der „Domestic Fair Trade“-Bewegung<br />

des angelsächsischen Sprachraums (4; 10; 11). Diese existierenden Kataloge könnten als<br />

Grundlage <strong>für</strong> eine gemeinsame Entwicklung von „Fair-Kriterien“ dienen.<br />

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass mittlerweile eine ganze Reihe von<br />

(regionalen) Milchvermarktungsprojekten existieren, die mit einer Unterstützung der<br />

beteiligten Erzeuger bzw. „Fairness zum Landwirt“ werben. Viele dieser Projekte sind<br />

noch verhältnismäßig „neu“ am Markt. Auffällig ist dabei, dass gerade diese „jungen“ Initiativen<br />

oftmals vom Handel aufgebaut wurden und die Produkte unter einer Eigenmarke<br />

des betreffenden Handelsunternehmens vermarktet werden. Inwieweit diese Projekte langfristig<br />

erfolgreich am Markt bestehen werden, ist derzeit kaum absehbar, dasie einerseits<br />

einer Vielzahl an Hemmnissen und Barrieren gegen<strong>über</strong>stehen. Andererseits weisen sie<br />

aufgrund ihrer Projektorganisation zum Teil aber auch erheblichen Verbesserungsbedarf<br />

Buel_3_11.indb 372 17.11.2011 08:13:09


Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />

auf. Gerade das Bestehen amMarkt wäre jedoch die Grundvoraussetzung zur Erreichung<br />

des proklamierten Ziels der „Unterstützung der beteiligten Milcherzeuger“.<br />

Zusammenfassung<br />

373<br />

In den vergangen Jahren sind am Milchsektor vor dem Hintergrund einer schwierigen Erzeugerpreissituation<br />

verschiedene regionale Vermarktungsinitiativen entstanden, die ex- oder implizit mit<br />

einer direkten Unterstützung der beteiligten Erzeuger bzw. „Fairness“ gegen<strong>über</strong> den beteiligten<br />

Erzeugern werben. Ziel des Beitrags ist eine Bestandsaufnahme und Systematisierung von solchen<br />

Projekten sowie Handlungsbedarf und notwendige Anpassungsmaßnahmen <strong>für</strong> diese Projekte aufzuzeigen.<br />

Insgesamt sind in den letzten Jahren in Deutschland und Österreich zwölf Projekte am<br />

Milchsektor entstanden, die eine Unterstützung der beteiligten Erzeuger kommunizieren. Die Projekte<br />

unterscheiden sich dabei sowohl hinsichtlich ihrer regionalen Abgrenzungsstrategie als auch in<br />

dem Verständnis von „Fairness/fairen Erzeugerpreisen“. Die Hemmnisse <strong>für</strong> solche Projekte hängen<br />

mit verschiedenen Aspekten zusammen, wie z. B. Problemen zwischen den Akteuren, dem Nischencharakter<br />

oder erhöhten Kosten. Aufgrund der Verschiedenartigkeit von identifizierten Hemmnissen<br />

und Schwächen existiert bei den Projekten vielfach Handlungsbedarf in den unterschiedlichsten<br />

Bereichen.<br />

Summary<br />

Initiatives for “fair” milk prices: striking new paths in the regional marketing of milk<br />

In light of decreasing milk prices, several initiatives for milk were launched in recent years which<br />

aimed at fostering the marketing of regional milk products and claimed to directly support, or provide<br />

fair pricing for, domestic milk producers. The objective of this paper is to give an appraisal,<br />

description and systematisation of these recently launched regional marketing projects for milk and<br />

to identify the need for action for such projects. In recent years twelve regional marketing projects<br />

which claim to directly support milk producers were established in the German and Austrian milk<br />

sectors. These projects differ in terms of the area they cover as well as in terms of their understanding<br />

of “fairness”/“fair pricing”. The barriers in connection with such projects are diverse and are<br />

associated with aspects such as conflicts between different actors, the niche character of the project,<br />

or increased costs. Because of the diversity of identified barriers and weaknesses of the existing<br />

projects, need for action exists in different fields.<br />

Résumé<br />

Initiatives pour un prix du lait équitable :Nouvelles approches dans la commercialisation<br />

(régionale) du lait<br />

Ces dernières années, dans le contexte d’une situation difficile en ce qui concerne le prix àlaproduction,<br />

plusieurs initiatives pour une commercialisation régionale ont été lancées dans le secteur laitier<br />

visant àséduire les consommateurs en évoquant explicitement ou implicitement le soutien direct aux<br />

producteurs participants ou le principe d’équité àl’égard des producteurs. Le rapport présent offre un<br />

aperçu, des descriptions et une systématisation de ces projets tout en montrant les nécessités d’agir et<br />

les mesures d’adaptation indispensables. Au total, douze projets ont été initiés dans le secteur laitier<br />

en Allemagne et en Autriche qui soulignent le soutien apporté aux producteurs participants. Les projets<br />

diffèrent non seulement par leur stratégie de délimitation régionale mais aussi par l’interprétation<br />

du principe «équité/prix àlaproduction équitable ». Les obstacles auxquels de tels projets peuvent<br />

se heurter résultent d’aspects différents, par exemple des problèmes entre les acteurs, du caractère de<br />

niche ou des coûts trop élevés. En raison de la hétérogénéité des obstacles et défauts identifiés, les<br />

mesures nécessaires pour améliorer les résultats de ces projets sont également très variées.<br />

Literatur<br />

1. Bayerisches <strong>Landwirtschaft</strong>liches Wochenblatt, 2008: Startschuss <strong>für</strong> die Bayerische Bauern-Milch.<br />

In: Bayerisches landwirtschaftliches Wochenblatt 27 (4.07.2008), 11.<br />

2. Bayerisches Staatsministerium <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong>, <strong>Landwirtschaft</strong> und Forsten, 2010: Geprüfte Qualität -<br />

Bayern. Online: http://gq-bayern.de/. (abgerufen am: 22.03.2010).<br />

3. Biofairverein, o. J.: Richtlinien. Online: http://www.biofairverein.de/70.0.html (abgerufen am<br />

15.05.2009).<br />

4. Bionachrichten, 2009: Denn sie wissen, was sie tun. Regional und fair ist keine Utopie: Vier Unternehmer<br />

beweisen es. In: Bionachrichten 008 (Februar 2009), 30–31.<br />

Buel_3_11.indb 373 17.11.2011 08:13:09


374 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />

5. Bundesverband Naturkost Naturwaren (BNN), 2009: Gemeinsame Erklärung zum Bio-Milchmarkt:<br />

Bio-Milch verdient einen stabilen und fairen Preis. Pressemitteilung vom 12. Januar 2009. Berlin.<br />

6. burCharDi, h.;Thiele, H., 2006: Preispolitische Spielräume <strong>für</strong> regional erzeugte ökologische Produkte:<br />

Analyse und Umsetzung einer Marketingstrategie <strong>für</strong> Biomilchprodukte. Endbericht des durch<br />

das Bundesprogramm Ökologischer Landbau geförderten Forschungsprojektes 03OE286, Institut <strong>für</strong><br />

Ökonomieder <strong>Ernährung</strong>swirtschaft -Bundesforschungsanstalt <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong> und Lebensmittel.Kiel.<br />

7. busChenDOrf, h.,2009: Optimierung der Betriebsstättenstruktur als Ausgangspunkt unternehmerischer<br />

Optionen der Molkereiwirtschaft Deutschlands. Dissertation TU München. Weihenstephan.<br />

8. COuDenhOve, C.,2007: Außenseitersieg. In: Bestseller, Juni 2007, 72–75.<br />

9. Die <strong>Landwirtschaft</strong>liche Zeitschrift (DLZ), 2007: Projekt Bauern-Milchmarke. In: Die landwirtschaftliche<br />

Zeitung (Österreich) 2, 10.<br />

10. Domestic Fair Trade Association,2008: Principles -For health justice and sustainability Online: http://<br />

dftassociation.org/principles. (abgerufen am: 20.05.2009).<br />

11. Domestic Fair Trade Working Group, 2005: Principles for domestic fair trade „For Health, Justice,<br />

Sustainability“. Online: http://209.85.129.132/search?q=cache:Y4XUOTfVs34J:www.rafiusa.<br />

org/programs/DFT.principles.12.05.pdf+principles+for+domestic+fair+trade+for+health&cd=1&hl=<br />

de&ct=clnk Ordner Fair Trade; Faire Konzepte. (abgerufen am: 16.04.2009).<br />

12. Edeka Pfeilstetter, 2009: Milchzehnerl -Faire Preise <strong>für</strong> saubere Ware! Online: http://www.milchzehnerl.de/Material/Pressetext.pdf.<br />

(abgerufen am: 24.07.2009).<br />

13. Edeka Südwest, 2009: Unsere Heimat -echt und gut. Online: (abgerufen am: 08.09.2009).<br />

14. esCh, f.-r., 2003: Strategie und Technik der Markenführung. Verlag Franz Vahlen GmbH, München.<br />

15. frieDer, t.; engel, a.,2009: Fairness und ethische Werte im Ökologischen Landbau. Bestandsaufnahme,<br />

Strategien und Initiierung einer Plattform zur Stärkung von fair-regionalen Bio-Produkten in<br />

und um die Biostadt München, Agrar Bündnis e.V. Münchner Projetgruppe <strong>für</strong> Sozialforschung e.V.<br />

München.<br />

16. halbmayr,e.,2009: Afaire Milch. Homepage. Online: http://www.afairemilch.at/was.htm. (abgerufen<br />

am: 4.05.2009).<br />

17. hanf, h., 1999: Zur Bedeutung von Vertrauenseigneschaften <strong>für</strong> den Wettbewerb auf Lebensmittelmärkten.<br />

Vortrag auf der 40. Gewisola, 04.10.1999–06.10.1999, Kiel.<br />

18. Klein, a.; menraD, K.,2010: Regionalvermarktungsprojekte aus dem Milchsektor, die eine direkte<br />

Unterstützung der heimischen Erzeuger betonen. Literatur<strong>über</strong>sicht im Rahmen des Projekts „Analyse<br />

von regionalen Vermarktungsprojekten <strong>für</strong> Milch, die eine direkte Unterstützung der heimischen Erzeuger<br />

betonen“, Wissenschaftszentrum Straubing. Straubing (unveröffentlicht).<br />

19. –; –, 2010: Abschlussbericht des Projkets „Analyse von regionalen Vermarktungsprojekten <strong>für</strong> Milch,<br />

die eine direkte Unterstützung der heimischen Erzeuger betonen“. Wissenschaftszentrum Straubing<br />

Straubing (unveröffentlicht).<br />

20. lehnert, s.,2010: Faire Milch: Geschäfte in der Nische. In: TopAgrar 6/ 2010, R6-R11.<br />

21. Lidl, 2010: Ein gutes Stück Heimat -Der beginn einer neuen Marke. In: Lidl Anzeigenblatt.<br />

22. meffert, h., 2000: Marketing. Grundlagen marktorientierter Unternehmensführung. 9. Auflage, Gabler<br />

Verlag, Wiesbaden.<br />

23. meyer, r., 2003: Qualität, Regionalität und Verbraucherinformation bei Nahrungsmitteln. Zusammenfassender<br />

Endbericht zum TAB-Projekt „Entwicklungstendenzen bei Nahrungsmittelangebot und<br />

-nachfrage und ihre Folgen“, Büro <strong>für</strong> Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB).<br />

Berlin.<br />

24. Milcherzeugergemeinschaft Hessen w.V.,2008: ErzeugerfairMilch. Ein Leitfaden <strong>für</strong> die Praxis, Lichtenfels,<br />

Willingen-Usseln, Kiel.<br />

25. Milchproduktenhandel Oberland eG, 2008: Bayerische Bauern-Milch.Homepage. Online: http://www.<br />

bayerische-bauernmilch.de/kontakt/(abgerufen am: 16.04.2009).<br />

26. möllers, C., 2010: Neue Strategie: Discounter setzt auf regionale Milch (11.01.2010). Online: http://<br />

www.merkur-online.de/nachrichten/bayern/neue-strategie-discounter-setzt-regionale-milch-587612.<br />

html. (abgerufen am: 13.01.2010).<br />

27. MVS Milchvermarktungsgesellschaft mbH, 2009: Die faire Milch. Homepage. Online: http://www.<br />

die-faire-milch.de/index.php. (abgerufen am: 13.01.2010).<br />

28. Naturland, 2010: Naturland Fair Richtlinien. Online: http://www.naturland.de/fileadmin/<br />

MDB/documents/Richtlinien_deutsch/Naturland-Richtlinien_Fair-Richtlinien.pdf. (abgerufen am:<br />

24.03.2010).<br />

29. Netto Marken-Discount, 2008: Werbeprospekt von Netto Marken-Discount. Gültig in KW 32/ alle NL.<br />

30. –, 2009: Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger Online: http://www.netto-online.de/herzfuererzeuger/index.php. (abgerufen<br />

am: 27.04.2009).<br />

31. ObersOJer, t.,2009: Efficient Consumer Response: Supply Chain Management <strong>für</strong> die <strong>Ernährung</strong>swirtschaft.<br />

Gabler GWF Fachverlage GmbH, Wiesbaden.<br />

Buel_3_11.indb 374 17.11.2011 08:13:09


Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />

375<br />

32. o. A., 2007: Milcherfassung -Kostenoptimum ist noch nicht erreicht. In: Deutsche Milchwirtschaft<br />

15, 535–536.<br />

33. pöChtrager, s.; penzinger, J.,2005: Differenzkosten bei der Erzeugung von tierischen Lebensmitteln<br />

bei Einsatz von „gentechnikfreien“ oder „GVO-freien“ Futterrationen im Vergleich zu als GVO gekennzeichneten<br />

Futterrationen sowie Kostenbetrachtung <strong>für</strong> tierische Lebensmittel in Österreich. In:<br />

Österreichische Agentur <strong>für</strong> Gesundheit und <strong>Ernährung</strong>ssicherheit GmbH und Universität <strong>für</strong> Bodenkultur<br />

Wien (Hrsg.) Machbarkeitsstudie zur Auslobung „gentechnikfrei“ und Vermeidung von GVO<br />

bei Lebensmitteln aus tierischer Erzeugung. Wien, 140–186.<br />

34. REWE Dortmund, 2009: NEU bei REWE BUBI faire Milch. Online: http://www.rewe-dortmund.de/<br />

actionen/faire-milch/faire_milch_001.html. (abgerufen am: 21.10.09).<br />

35. sChäfer, m.; Kröger, m.; Wirz,a.,2010: Fairness entlang der Wertschöpfungskette -Möglichkeiten<br />

der Profilierung am Biomarkt und der Verbraucheransprache mittels regionalem Mehrwert. Abschlussbericht,<br />

Technische Universität Berlin, Berlin.<br />

36. sCheKahn,a.,2008: Bio fair-stärken. In: Inkota Brief 143 „Supermärkte und Discounter weltweit: Die<br />

hohen Kosten der niedrigen Preise“ März 2008, 31.<br />

37. sChmalen,C., 2005: Erfolgsfaktoren der Markteinführung von Produktinnovationen klein- und mittelständischer<br />

Unternehmen der <strong>Ernährung</strong>sindustrie. Herbert Utz Verlag GmbH München.<br />

38. tegut, 2009: Zeichen setzen <strong>für</strong> faire Milchpreise. Online: http://www.tegut.com/aktuelles/faire_milchpreise.php.<br />

(abgerufen am: 23.06.2009).<br />

39. thiele,h.;burCharDi,h.,2004: Verbesserung der Vermarktungsmöglichkeiten ökologischer Produkte<br />

entlang der Wertschöpfungskette. Endbericht des Forschungsprojekts 02OE043. Institut <strong>für</strong> Ökonomie<br />

der <strong>Ernährung</strong>swirtschaft Bundesforschungsanstalt <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong> und Lebensmittel. Kiel.<br />

40. TopAgrar, 2009: Bauernmilch jetzt bundesweit. In: TopAgrar 3, R2.<br />

41. top agrar online, 2009: Lidl-Projekt mit ausgewählten Milcherzeugern. Online: http://www.topagrar.<br />

com/index.php?option=com_content&task=view&id=14176&Itemid=521. (abgerufen am: 19.10.09).<br />

42. truChsess, v. a., 2009: Pressekonferenz: Startschuss <strong>für</strong> die Bauernmilch. Ablauf und Inhalte real,-<br />

SB-Warenhaus GmbH. Vorlage <strong>für</strong> Herrn Saveuse und Herrn Sauer. 23.01.2009. Internationale Grüne<br />

Woche, Messezentrum Berlin.<br />

43. Unser Land GmbH 2009: Willkommen beim Netzwerk Unser Land. Homepage. Online: http://www.<br />

unserland.info/index.php?option=com_frontpage&Itemid=122. (abgerufen am: 11.05.2009).<br />

44. Upländer Bauernmolkerei GmbH, 2006: Plakat <strong>für</strong> Erzeugerfair-Milch. Willingen-Usseln.<br />

45. Verein Bestes Bio -Fair <strong>für</strong> alle, 2008: Hintergrundpapier.Der Verein Bester Bio -Fair <strong>für</strong> alle. Kassel.<br />

46. WeinDlmaier, h., 2004: Herstellermarken versus Handeslmarken. In: Deutsche Molkerei-Zeitung 22,<br />

28–35.<br />

47. –; betz, J.,2005: Zur aktuellen Situation der Milcherfassung in Deutschland und Österreich im Jahr<br />

2003. Teil 2-Physische Milcherfassung. In: Deutsche Milchwirtschaft 10, 405–408.<br />

48. –; –, 2009: Zur aktuellen Situation der Milcherfassung in Deutschland und Österreich im Jahr 2007.<br />

In: Milchwissenschaftliche Forschung am Zentralinstiut <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong>s- und Lebensmittelforschung<br />

(Weihenstepahn (ZIEL) Jahresbericht 2008, 43–47.<br />

49. YouGovPsychonomics AG, 2009: Aktuelle Studie „Bio, Öko, fairer Handel-was zählt, wer zahlt?“<br />

Pressemitteilung vom 18. Dezember 2009. YouGovPsychonomics AG: Köln.<br />

50. ZMP Zentrale Markt- und Preisberichtsstelle GmbH; CMA Centrale Marketing Gesellschaft der deutschen<br />

Agrarwirtschaft mbH, 2003: Nahrungsmittel aus der Region -Regionale Spezialitäten. Bonn.<br />

Fußnoten<br />

1) Erfassungsdichte =Erfassungsmenge pro qkm im Erfassungsgebiet.<br />

2) Beispielsweise resultiert die Erfassung von Biomilch in separaten Milcherfassungsfahrzeugen<br />

in erhöhten Erfassungskosten von durchschnittlich 1,4 Cent (Streuung: 0,5–2,5 Cent). Dies<br />

entspricht mehr als einer Verdopplung der durchschnittlichen Erfassungskosten in Deutschland<br />

(z. B. 2007: 1,13 Cent/ kg) (34).<br />

3) Zu reduzierten Kontrollkosten kommt es, wenn bestimmte Kontrollen zusätzlich im Rahmen<br />

einer anderen Kontrolle (z. B. Tierschutz, AMA-Gütesiegel) durchgeführt werden und dadurch<br />

eine Kostenreduktion erfolgt<br />

Autorenanschrift: agnes Klein und Prof. Dr. Klaus menraD,Hochschule Weihenstephan-Triesdorf,<br />

Wissenschaftszentrum Straubing, Fachgebiet <strong>für</strong> Marketing und Management<br />

Nachwachsender Rohstoffe, Schulgasse 16, 94315 Straubing, Deutschland<br />

K.Menrad@wz-straubing.de<br />

Buel_3_11.indb 375 17.11.2011 08:13:09


376<br />

Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und<br />

Produktivität –Ergebnisse einer europaweiten Befragung<br />

von Milcherzeugern<br />

Von Birthe lAssen, Braunschweig<br />

1 Einleitung<br />

1.1 Problemstellung<br />

Im Wettbewerb zwischen Milcherzeugern spielen Produktionskosten je Kilogramm Milch<br />

eine wichtige Rolle. Diese werden zu 20 bis 25 %von den Arbeitskosten (Lohnkosten und<br />

Opportunitätskosten <strong>für</strong> nicht entlohnte Familienarbeitskräfte) beeinflusst (30). Mit etwa<br />

einem Drittel nimmt der reine Melkprozess dabei einen großen Teil der täglichen Arbeitszeit<br />

ein (13). Unter Berücksichtigung der vor- und nachgelagerten Arbeiten umfasst der<br />

Melkprozess sogar etwa 60 %der täglichen Arbeitszeit und bildet damit einen wichtigen<br />

Ansatzpunkt <strong>für</strong> Effizienzsteigerungen (16). Der Einfluss der Arbeitseffizienz im Melkstand<br />

auf die Lohnkosten je Kuh und Jahr wird in der Praxis jedoch zumeist unterschätzt<br />

(27).<br />

Inwiefern sich die Arbeitseffizienz beim Melken in unterschiedlichen Melkstandformen<br />

voneinander unterscheidet, wurde bisher kaum in größerem Umfang untersucht. Zwar<br />

gibt es zahlreiche Studien zu Arbeitszeitmessungen in unterschiedlichen Melksystemen<br />

(u. a. 24; 3; 26; 19; 20; 13; 10), diese basieren jedoch im Allgemeinen auf Angaben<br />

verhältnismäßig weniger Praxisbetriebe und sind meist auf eine Region begrenzt. Analysen,<br />

die die Zusammenhänge zwischen Produktivität im Melkprozess und Melktechniken<br />

regions<strong>über</strong>greifend oder sogar international untersuchen, liegen bisher nicht vor. Es<br />

ist jedoch sowohl <strong>für</strong> Milcherzeuger (Optimierung der eigenen Betriebsabläufe und der<br />

eigenen Rentabilität) als auch <strong>für</strong> Politiker (u. a. Optimierung der Investitionsförderung)<br />

durchaus von Interesse, Zusammenhänge zwischen produktionstechnischen Kennzahlen<br />

und betrieblicher Produktivität im Rahmen von internationalen Vergleichen zu erkennen.<br />

Erste Analysen zur Implementierung von automatischen Melksystemen (AMS) deuten<br />

zum Beispiel an, dass sich diese in der EU sehr unterschiedlich verbreiten (22). Dies<br />

kann einen Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit der Milcherzeugung in den jeweiligen<br />

Regionen haben.<br />

Die Durchführung einer solchen internationalen Untersuchung wird jedoch aufgrund<br />

mangelnder Datenverfügbarkeit erschwert: Das EU-Testbetriebsnetz, das einen repräsentativen<br />

Datensatz darstellt, verfügt nicht <strong>über</strong> detaillierte produktionstechnische Kennzahlen.<br />

Der Aufbau eines separaten Datensatzes, der sowohl Repräsentativitätskriterien<br />

erfüllt als auch eine Analyse von Produktionskosten und Produktionstechnik ermöglichen<br />

würde, wäre sehr kostspielig.<br />

Die Herausforderung besteht deshalb darin, einen Ansatz zu entwickeln, der auf der<br />

freiwilligen Teilnahme einer großen Zahl von Milcherzeugern beruht und die Möglichkeit<br />

eröffnet, Zusammenhänge zwischen Betriebsstrukturen, Produktionstechnik und Produktivität<br />

zu analysieren.<br />

U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0376 $2.50/0<br />

Buel_3_11.indb 376 17.11.2011 08:13:09


Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

1.2 Zielsetzung<br />

377<br />

Ziel der vorliegenden Analyse ist es, einen ersten Überblick <strong>über</strong> den aktuellen Einsatz der<br />

Melktechnik in ausgewählten Ländern Europas zu ermöglichen sowie Einschätzungen der<br />

Betriebsleiter <strong>über</strong> die künftige Entwicklung der Melktechnik zu erfassen. Dabei sollen<br />

Zusammenhänge zwischen ausgewählten Betriebs- und Standortfaktoren und der jeweiligen<br />

Melktechnik untersucht werden. Dar<strong>über</strong> hinaus soll der Einfluss der unterschiedlichen<br />

Melktechniken auf die Produktivität der Betriebe analysiert werden.<br />

1.3 Vorgehensweise<br />

Die vorliegende Untersuchung basiert auf Daten einer quantitativen Befragung von 2611<br />

Milchviehbetrieben in 19 Ländern, die mittels eines standardisierten Fragebogens im<br />

Frühjahr 2011 durchgeführt wurde. Im Folgenden wird zunächst das Forschungsdesign<br />

vorgestellt. Die anschließende Präsentation der Ergebnisse erfolgt zum einen <strong>für</strong> die<br />

gesamte Stichprobe, zum anderen nach Mitgliedsstaaten differenziert. Da die Stichprobenumfänge<br />

<strong>für</strong> einzelne Länder teilweise gering sind, können nur begrenzte Schlussfolgerungen<br />

bezüglich der Perspektiven der Milchviehhaltung in den einzelnen Ländern<br />

abgleitet werden. Aussagekräftiger sind die Erkenntnisse, die sich aus der umfangreichen<br />

Gesamtstichprobe zum einen <strong>über</strong> die Entwicklung der Melktechnik im Zeitablauf und<br />

zum anderen <strong>über</strong> den Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

ableiten lassen.<br />

2 Forschungsdesign und Stichprobenbeschreibung<br />

2.1 Fragebogengestaltung<br />

Die schriftlich und standardisiert durchgeführte Befragung wurde in die internationalen<br />

Netzwerke der European Dairy Farmers und agri benchmark eingebunden, die jährlich<br />

eine Befragung aktiver Milcherzeuger durchführen (EDF-agri benchmark Snapshot-<br />

Befragung). Mit wechselnden Schwerpunktthemen zielt die Snapshot-Befragung auf eine<br />

verbesserte Abschätzung künftiger strategischer und produktionstechnischer Entwicklungen<br />

bei zukunftsorientierten Milcherzeugern in Europa ab. Die Experten in den Netzwerken<br />

diskutieren den Fragebogen im Vorfeld und stellen sicher, dass die Fragen <strong>für</strong> die<br />

Milcherzeuger aus den teilnehmenden Ländern verständlich und ausfüllbar sind. Sie sind<br />

neben der Übersetzung des Fragebogens sowohl <strong>für</strong> die Durchführung der Pretests als<br />

auch <strong>für</strong> die Verteilung der Fragebögen in ihrem Land verantwortlich (21).<br />

Um einen hohen Fragebogenrücklauf zu erreichen, hat es sich als besonders wichtig<br />

herausgestellt, dass der Fragebogen möglichst kurz ist (maximale Bearbeitungszeit 15<br />

Minuten) und schnell von den Milcherzeugern zu beantworten ist. Neben jährlich wiederkehrenden<br />

Fragen z. B. zur Herdengrößenentwicklung wurde 2011 der Einsatz unterschiedlicher<br />

Melktechniken in den Fokus der Erhebung gestellt. Es wurden <strong>über</strong>wiegend<br />

geschlossene Fragen verwendet. Dar<strong>über</strong> hinaus konnten die Teilnehmer auf einer 7-er<br />

bzw. 5-er Likert-Skala ihre Zustimmung bzw. Ablehnung zubestimmten Sachverhalten<br />

auszudrücken.<br />

Buel_3_11.indb 377 17.11.2011 08:13:09


378 Birthe Lassen<br />

2.2 Stichprobenbeschreibung und Einordnung in die Grundgesamtheit<br />

Vonden 2611 Teilnehmern der EDF-agri benchmark Snapshot-Befragung sind 83 %<br />

Betriebsleiter bzw. Betriebsleiterinnen, die übrigen Teilnehmer sind etwa zu gleichen Teilen<br />

Hofnachfolger/Innen, leitende Angestellte oder Partner/Innen des Betriebsleiters bzw.<br />

Altenteilers.<br />

Die Beteiligung in den jeweiligen Ländern war sehr unterschiedlich (vgl. Tab. 1). Die<br />

meisten Teilnehmer kamen aus Deutschland, gefolgt von Frankreich, Belgien, Schweden,<br />

den Niederlanden und Spanien. Inden anderen Ländern lag die Teilnehmerzahl bei weniger<br />

als 100 Milcherzeugern je Land. Aufgrund der sehr heterogenen Stichprobengröße in<br />

den Ländern werden im Folgenden zwei unterschiedliche Stichprobenzuschnitte verwendet:<br />

Zur Feststellung allgemeiner Zusammenhänge, beispielsweise zwischen bestimmten<br />

Standort- oder Betriebsfaktoren und der Melktechnik, werden alle Betriebe in die Analysen<br />

einbezogen. Für regionalisierte Analysen auf Länderebene werden jedoch nur die<br />

Länder berücksichtigt, in denen sich 30 oder mehr Betriebe beteiligt haben.<br />

Die befragten Betriebe sind durchschnittlich größer und haben höhere durchschnittliche<br />

Milchleistungen als der Landesdurchschnitt laut Statistik (vgl. Tab. 1). In der Befragung<br />

geben 44 %der Teilnehmer an, sich selbst zu den 25 %wirtschaftlich besten Betrieben<br />

ihrer Region zu zählen. Aufgrund der vergleichsweise guten ökonomischen Situation,<br />

plant die Mehrheit der Teilnehmer (88 %) auch in 2016 noch Kühe zu melken. Die Stichprobe<br />

kann somit nicht als repräsentativ <strong>für</strong> die Gesamtheit der europäischen Milcherzeu-<br />

Tabelle 1. Vergleich der Herdengröße und Milchleistung inder Stichprobe<br />

mit den jeweiligen Landesdurchschnitten<br />

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Quelle: 1) (9); 2) (1); 3) eigene Berechnung auf Basis der Daten des EDF-agri benchmark Snapshots<br />

(2011)<br />

Buel_3_11.indb 378 17.11.2011 08:13:09


Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

ger gesehen werden. Sie erlaubt es jedoch, <strong>für</strong> eine große Anzahl <strong>über</strong>durchschnittlicher<br />

Betriebe Aussagen zur Entwicklung der Melktechnik abzuleiten.<br />

2.3 Analyserahmen<br />

379<br />

Zunächst werden die Stichprobendaten deskriptiv ausgewertet und so Veränderungen im<br />

Einsatz unterschiedlicher Melktechniken herausgearbeitet. Anschließend werden die im<br />

Rahmen der Literaturanalyse identifizierten Hypothesen <strong>über</strong> den Einfluss bestimmter<br />

Betriebs- und Standortfaktoren auf die Wahl der Melktechnik mittels Kontingenzanalysen<br />

<strong>über</strong>prüft. Die Beziehung zwischen den zu analysierenden Variablen kann mittels<br />

des Chi-Quadrat-Tests nach pearsOn <strong>über</strong>prüft werden. Dieser untersucht die statistische<br />

Hypothese, dass beide Variablen voneinander unabhängig sind. Ist der Chi-Quadrat-Wert<br />

(X 2 )bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5%größer als 0,05, kann diese Null-Hypothese<br />

nicht abgelehnt werden. Ist X 2 kleiner als 0,05 muss die Null-Hypothese verworfen<br />

werden und ein Zusammenhang zwischen den Variablen kann angenommen werden.<br />

Eine Aussage <strong>über</strong> die Stärke oder Richtung des Zusammenhangs ist damit jedoch nicht<br />

verbunden. Dar<strong>über</strong> hinaus erlaubt der Chi-Quadrat-Test keine Aussage <strong>über</strong> Einflüsse<br />

weiterer Variablen (2). Sofern diese bekannt sind, werden sie jedoch bereits beim Aufbau<br />

der jeweiligen Kontingenztabelle berücksichtigt,umihren Einfluss zu reduzieren. Wird im<br />

Rahmen der Kontingenzanalysen eine Gruppierung einzelner Variablen notwendig, wird<br />

diese entsprechend der Verteilung in der Stichprobe so vorgenommen, dass ähnlich große<br />

Gruppen entstehen.<br />

Um die durchschnittliche Produktivität der Betriebe bei unterschiedlichen Melktechniken<br />

zu vergleichen, werden Varianzanalysen (ANOVA, analysis of variance) durchgeführt.<br />

Mittels einer Varianzanalyse wird die statistische Hypothese untersucht, dass die<br />

unabhängigen Variablen nicht auf die abhängige Variable wirken. Mittels F-Test können<br />

die Hypothesen <strong>über</strong>prüft werden. Liegt der empirische F-Wert <strong>über</strong> dem theoretischen<br />

F-Wert, kann die Null-Hypothese verworfen werden. ANOVA-Analysen im Statistikprogramm<br />

SPSS ermitteln neben dem F-Wert gleichzeitig auch das Signifikanzniveau der<br />

F-Statistik sowie das partielle Eta 2 .Letzteres zeigt die Erklärungskraft der einzelnen Faktoren<br />

<strong>für</strong> die abhängige Variable (2).<br />

3 Veränderter Einsatz der Melktechnik im Zeitablauf<br />

Für die Analyse von Entwicklungen in der Melktechnik wurde im Fragebogen die Melktechnik<br />

zu drei Zeitpunkten abgefragt: Neben der heutigen Melktechnik (2011) ist auch<br />

die Melktechnik von vor fünf Jahren (2006) sowie die Melktechnik bekannt, mit der die<br />

Betriebe voraussichtlich in fünf Jahren melken werden (2016). Für die folgendenAnalysen<br />

wurden nur Betriebe ausgewählt, die <strong>für</strong> alle drei Analysezeitpunkte ihre Melktechnik<br />

angegeben haben (n =2302).<br />

Die Bedeutung der jeweiligen Melktechnik kann in der vorliegenden Studie mit drei<br />

Variablen gemessen werden:<br />

● Anteil der Betriebe in der Stichprobe, die mit einer bestimmten Melktechnik melken,<br />

● Anteil derKühe in der Stichprobe, die mit einer bestimmten Technik gemolken werden<br />

● und Anteil der von den teilnehmenden Betrieben produzierten Milch, die mit einer<br />

bestimmten Melktechnik ermolken wird.<br />

Während der Anteil der Betriebe, die mit einer bestimmten Melktechnik melken, auf den<br />

Verbreitungsgrad der jeweiligen Melktechnik hinweist, zeigt der Anteil der Kühe, die mit<br />

einer bestimmten Technik gemolken werden, die Bedeutung der jeweiligen Melkstand-<br />

Buel_3_11.indb 379 17.11.2011 08:13:09


380 Birthe Lassen<br />

form <strong>für</strong> die Milchviehhaltung insgesamt. Der Anteil der ermolkenen Milch zeigt die<br />

Bedeutung einer bestimmten Technik <strong>für</strong> die Milchproduktion insgesamt.<br />

Die zentralen Veränderungen in der Melktechnik sind <strong>für</strong> den Analysezeitraum anhand<br />

aller drei Variablen gleichermaßen zu erkennen. Deshalb werden die Trends in der Melktechnik<br />

zunächst nur anhand des veränderten Anteils gemolkener Kühe dargestellt, bevor<br />

die Rangfolge der drei wichtigsten Technologien <strong>für</strong> alle drei Variablen dargestellt wird.<br />

Anschließend werden nationale Unterschiede in der Verbreitung der Technologien herausgearbeitet.<br />

Zum Zeitpunkt der Befragung (2011) wurden die meisten Kühe der befragten Betriebe<br />

in FGM (Fischgrätenmelkstand) gemolken (42 %, vgl. Tab. 2), gefolgt von SbS-Melkständen<br />

(Side by Side-Melkstand), Melkkarussellen und AMS. Der Anteil der Kühe, der<br />

in Rohrmelkanlagen oder Tandemmelkständen gemolken wird, ist sehr gering. Vergleicht<br />

man zwischen 2006 und 2016 den Anteil der Milchkühe, die mit bestimmten Melktechniken<br />

gemolken werden, zeigen sich in der Stichprobe die folgenden Entwicklungen:<br />

● Die meisten Kühe werden zu allen drei Zeitpunkten mit FGM gemolken. Gleichzeitig<br />

erfolgt hier der stärkste Rückgang der Kuhzahlen.<br />

● Die höchsten Zuwachsraten weisen AMS auf, gefolgt von Melkkarussellen.<br />

● Der Anteil der Kühe, die in SbS-Melkständen gemolken wurden, steigt nur bis 2011<br />

nennenswert an.<br />

● Die Bedeutung von Tandem-Melkständen oder Rohrmelkanlagen ist rückläufig. Beide<br />

Systeme werden in der Stichprobe in 2016 kaum noch vorhanden sein.<br />

Insgesamt lässt sich im Rahmen dieser Untersuchung festhalten, dass die Heterogenität<br />

in der Nutzung unterschiedlicher Melktechniken zunimmt: In2006 waren noch in mehr<br />

als der Hälfte der Betriebe FGM installiert und darin wurde die Hälfte der produzierten<br />

Milchmenge gemolken. Zehn Jahrespäter(2016) erwarten die teilnehmenden Milcherzeuger,<br />

dass nur noch in etwa einem Drittel der Betriebe FGM installiert sind, die nur noch<br />

rund ein Viertel der produzierten Milch ermelken werden. Gleichzeitig steigt der Anteil<br />

neu implementierter AMS und Melkkarusselle an. Dies verändert die Reihenfolge der<br />

bedeutendsten Melktechniken im Zeitablauf (vgl. Tab. 3).<br />

Tabelle 2. Anteil der Milchkühe in der Stichprobe, die mit der jeweiligen<br />

Melktechnik gemolken werden (in %, 2006, 2011 und 2016) sowie Veränderungen<br />

im Zeitablauf (2006 bis 2011), sortiert nach ihrer Bedeutung im Jahr 2011<br />

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1) Nur <strong>für</strong> Betriebe, die zu allen drei ZeitpunktenAngaben zur Melktechnik und Kuhzahl gemacht<br />

haben (n =2055).<br />

2) Betriebe, die in zwei unterschiedlichen oder „sonstigen“ Systemen melken, werden nicht angezeigt.<br />

Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />

Buel_3_11.indb 380 17.11.2011 08:13:10


Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

Tabelle 3. Ranking unterschiedlicher Melktechniken nach Anteil an Betrieben, nach<br />

Anteil gemolkener Kühe und nach Anteil an der Milchproduktion der Teilnehmer<br />

(2006 vs. 2016)<br />

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1) Nur <strong>für</strong> Betriebe, die <strong>für</strong> alle drei Zeitpunkte Angaben zur Melktechnik gemacht haben<br />

(n =2302).<br />

2) Nur <strong>für</strong> Betriebe, die <strong>für</strong> alle drei Zeitpunkte Angaben zur Melktechnik und zu ihrer Herdengröße<br />

gemacht haben (n =2055).<br />

3) Nur <strong>für</strong> Betriebe, die zu allen drei ZeitpunktenAngaben zur Melktechnik, Kuhzahl und<br />

Milchleistung gemacht haben (n =1979).<br />

Quelle: eigene Darstellung nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />

Tabelle 4. Anteil der gemolkenen Kühe der Stichprobe (2011) je Melksystem in<br />

ausgewählten Ländern sowie künftige Veränderungen (2011 bis 2016)<br />

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Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />

Buel_3_11.indb 381 17.11.2011 08:13:10<br />

381


382 Birthe Lassen<br />

Die zuvor skizzierten Entwicklungen in der Melktechnik sind in den unterschiedlichen<br />

Ländern Europas nicht einheitlich zu beobachten: Überwiegend werden Kühe in den verschiedenen<br />

Ländern in Gruppenmelkständen (FGM +SbS) gemolken (>60 %).<br />

Es gibt jedoch auch Ausnahmen: In SE und NL werden mehrheitlich AMS eingesetzt.<br />

Unter den Gruppenmelkständen dominieren mehrheitlich FGM. In LU, IE und HU werden<br />

jedoch vergleichsweise viele Kühe auch in SbS gemolken. Künftig erwarten die Teilnehmer<br />

in den meisten Ländern (FR, BE, LU, DE, SE) einen Rückgang von FGM zugunsten<br />

von AMS (vgl. Tab. 4).<br />

4 Einfluss unterschiedlicher Betriebs- und Standortfaktoren<br />

auf die Wahl der Melkstandform<br />

Im Folgenden wird die vergleichsweise große Stichprobe genutzt, um zu analysieren wie<br />

sich betriebliche und standörtliche Einflussfaktoren auf die Wahl der Melktechnik auswirken.<br />

Dabei konzentriert sich die Analyse auf Faktoren, die in der Beratungspraxis und in<br />

der wissenschaftlichen Literatur als besonders wichtig <strong>für</strong> die Auswahl der Melkstandform<br />

eingeschätzt werden.<br />

4.1 Betriebsstruktur und -organisation<br />

Der Betriebsstruktur und -organisation wird bei der Wahl <strong>für</strong> eine bestimmte Melkstandform<br />

besondere Bedeutung beigemessen. Sie umschließt Aspekte der aktuellen Betriebsgröße,<br />

der Arbeitsverfassung sowie der künftigen Betriebsentwicklung (17; 7).<br />

4.1.1 Herdengröße<br />

Die Herdengröße hat einen maßgeblichen Einfluss auf die genutzte Melkstandform, da<br />

einige Melksysteme nur in bestimmten Herdengrößen betriebswirtschaftlich sinnvoll eingesetzt<br />

werden können (12).<br />

In den teilnehmenden Betrieben variiert die aktuelle Herdengröße stark: Der kleinste<br />

Betrieb melkt 2Kühe, der größte teilnehmende Betrieb melkt 2499 Milchkühe. Insgesamt<br />

melken jedoch 55 %der Betriebe weniger als 100 Kühe. Für die folgende Analyse werden<br />

die Betriebe deshalb in zehn etwa gleichgroße Gruppen eingeteilt.<br />

Die Analysen zeigen <strong>für</strong> die teilnehmenden Betriebe, dass ein signifikanter Zusammenhang<br />

zwischen Herdengröße und Melktechnik festgestellt werden kann (vgl. Tab. 5):<br />

● FGM sind in fast allen Herdengrößenklassen die meist genutzte Melkstandform (Ausnahme:<br />


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Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

Tabelle 5. Einsatz unterschiedlicher Melkstandformen in den<br />

jeweiligen Herdengrößenklassen (2011)<br />

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383<br />

● Melkkarusselle werden 2016 vereinzelt auch in Beständen mit weniger als 90 Kühen<br />

eingesetzt. Besonders große Zuwächse erfahren die Karusselle jedoch in Betrieben mit<br />

mehr als 233 Kühen.<br />

● AMS werden in 2016 nicht mehr nur in kleineren und mittleren Herdengrößen eingesetzt.<br />

Sie finden auch in größeren Beständen häufiger Anwendung.<br />

● Tandemmelkstände und Rohrmelkanlagen verlieren auch in kleineren Beständen<br />

zugunsten von Gruppenmelkständen oder AMS an Bedeutung.<br />

Da eine neue Melktechnik durchschnittlich 15 bis 20 Jahre genutzt wird (26), sollten bei<br />

der Entscheidung <strong>für</strong> eine bestimmte Melkstandform auch künftige Entwicklungsschritte<br />

berücksichtigt werden (13; 14). Es wäre deshalb zu erwarten, dass auch zwischen den Entwicklungsplänen<br />

der Milcherzeuger und der Melkstandform ein Zusammenhang besteht.<br />

Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ausgangsherdengrößen kann diese Hypothese<br />

<strong>für</strong> die Stichprobe jedoch nicht bestätigt werden.<br />

4.1.2 Haupt- oder Nebenerwerb<br />

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1) Betriebe, die in zwei unterschiedlichen oder „sonstigen“ Systemen melken, werden nicht<br />

angezeigt.<br />

Chi-Quadrat-Test nach pearsOn: X 2 =0,000<br />

Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />

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Mit der Frage der Herdengröße hängt häufig auch die Frage nach der Erwerbsform des<br />

Betriebes zusammen: Kleinere Betriebe werden häufiger im Nebenerwerb (NE) bewirtschaftet<br />

als größere. Die größeren Betriebe werden in aller Regel im Haupterwerb bewirtschaftet<br />

(HE). Die Frage nach der Erwerbsform des Betriebes (HE oder NE) könnte bei<br />

der Entscheidung <strong>für</strong> ein bestimmtes Melksystem relevant sein. Zum einen wird durch<br />

die Erwerbsform die zur Verfügung stehende Arbeitszeit beeinflusst, zum anderen aber<br />

gegebenenfalls auch das zur Verfügung stehende Kapital <strong>für</strong> Investitionen.<br />

NE sind in der Stichprobe durchschnittlich halb so groß wie HE. Um den Einfluss<br />

unterschiedlicher Herdengrößen zu reduzieren, werden im Folgenden nur Betriebe ähnlicher<br />

Größenordnungen ausgewählt. Da NE mehrheitlich weniger als 75 Kühe halten,<br />

werden auch bei den HE nur Betriebe mit weniger als 75 Kühen berücksichtigt (insgesamt<br />

Buel_3_11.indb 383 17.11.2011 08:13:11<br />

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384 Birthe Lassen<br />

n=1564). Die ausgewählten Betriebe werden anschließend in zwei Gruppen unterteilt,<br />

um den Herdengrößeneffekt weiter zu reduzieren:<br />

● inBetriebe mit weniger als 30 Milchkühen<br />

● und in Betriebe mit 30 bis 75 Milchkühen.<br />

Die Analysen zeigen einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Erwerbsform<br />

eines Betriebes und dem Melksystem sowohl in 2011 wie auch in 2016:<br />

● Kleinere NE melken häufiger in Rohrmelkanlagen als HE,<br />

● NEmelken in 2011nicht in SbS-Melkständen. Auch in Zukunft planen nur sehr wenige<br />

NE in SbS zu investieren.<br />

4.1.3 Lohnniveau<br />

Da mit den unterschiedlichen Melktechniken ein unterschiedlicher Zeitbedarf <strong>für</strong> den<br />

Melkprozess einher geht, ist zu erwarten, dass es einen Zusammenhang zwischen gewählter<br />

Melktechnik und dem Lohnniveau gibt. Es ist davon auszugehen,dass das Lohnniveau<br />

nicht nur <strong>für</strong> Lohnarbeitsbetriebe relevant ist, sondern auch <strong>für</strong> Familienbetriebe,indenen<br />

sich die Opportunitätskosten der Arbeit am Lohnniveau der Region orientieren. Analysen<br />

bestätigen dar<strong>über</strong> hinaus, dass die Arbeitsverfassung der teilnehmenden Betriebe keinen<br />

Einfluss auf die Wahl einer Melktechnik hat, sodass <strong>für</strong> die folgenden Analysen sowohl<br />

Familien- als auch Lohnarbeitsbetriebe berücksichtigt werden.<br />

Als Lohnniveau werden die Lohnsätze aus dem Produktionskostenvergleich der European<br />

Dairy Farmers angenommen. Dabei handelt es sich um den Bruttostundenlohn, den<br />

ein Betrieb zahlen müsste, wenn die Arbeitskraft der unbezahlten Familienmitglieder<br />

durch Fremdarbeitskräfte ersetzt werden müsste (8).<br />

Tabelle 6. Zusammenhang zwischen Herdengröße, Landes-Lohnniveau<br />

und dem gewählten Melksystem<br />

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1) Betriebe, die in zwei unterschiedlichen oder „sonstigen“ Systemen melken, werden nicht<br />

angezeigt.<br />

Chi-Quadrat-Test nach pearsOn: X 2 =0,000<br />

Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />

Zwischen dem Lohnniveau imLand und der gewählten Melkstandform des Betriebes<br />

lässt sich sowohl <strong>für</strong> 2011 als auch <strong>für</strong> 2016 innerhalb der jeweiligen Herdengrößenklassen<br />

ein statistischer Zusammenhang feststellen. Tabelle 6zeigt die Zusammenhänge <strong>für</strong><br />

die beiden Herdengrößenklassen:<br />

Buel_3_11.indb 384 17.11.2011 08:13:11


Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

385<br />

● AMS wird <strong>über</strong>wiegend in Ländern eingesetzt, in denen der Stundenlohn 20 €und<br />

mehr beträgt. In diesen Ländern hat die Arbeitszeiteinsparung einen größeren Effekt<br />

auf die Produktionskosten, sodass es sich eher lohnt, trotz der noch vergleichsweise<br />

hohen Anschaffungspreise in AMS zu investieren.<br />

● Rohrmelkanlagen und Tandemmelkstände werden <strong>über</strong>wiegend in Ländern eingesetzt,<br />

in denen das Lohnniveau vergleichsweise niedrig ist. Der höhere Arbeitseinsatz wirkt<br />

sich hier entsprechend geringer auf die Gesamtarbeitskosten aus.<br />

● Ingrößeren Beständen sinkt der Einsatz der Gruppenmelkstände (SbS und FGM) mit<br />

steigendem Lohnniveau zugunsten von Melkkarussellen. Dies gilt jedoch nur bis zu<br />

einem Lohnniveau von bis zu 20 €jeStunde, anschließend werden alle drei Melkstandformen<br />

durch AMS abgelöst.<br />

4.1.4 Weitere Einflussfaktoren<br />

Neben dem Lohnniveau können auch andere „landestypische“ Einflussfaktoren dazu führen,<br />

dass sich die Melksysteme in den Ländern unterscheiden. Dies können z. B. gezielte<br />

Beratungen von Melktechnikfirmen oder privaten Beratungseinrichtungen zugunsten einer<br />

bestimmten Melkstandform sein aber auch Pressemeldungen oder andere Einflussfaktoren,<br />

denen primär die Landwirte in einem Land unterliegen. Um einen möglichen Einfluss<br />

unterschiedlicher Betriebsstrukturen zwischen den Ländern zu reduzieren, werden <strong>für</strong> die<br />

folgende Analyse nur Betriebe ausgewählt, die die nachstehenden Kriterien erfüllen:<br />

● 65bis 135 Milchkühe,<br />

● Milchleistung zwischen 8500 und 9500 kg je Kuh und Jahr,<br />

● Betriebsleiter zwischen 35 und 55 Jahre alt und<br />

● Weidehaltung im Sommer.<br />

Einen Vergleich der Länder, indenen nach der Betriebsselektion noch mehr als zehn<br />

Betriebe verbleiben, zeigt Tabelle 7. Die Analysen zeigen signifikante Unterschiede zwischen<br />

den Ländern. Besonders auffällig ist der hohe Anteil AMS in SE und NL. Berücksichtigt<br />

man, dass das Lohnniveau in NL und SE höher ist als in den anderen drei Ländern<br />

(Ø 20,2 €/h vs. Ø15,5 €/h), müssen die Länder getrennt voneinander analysiert werden.<br />

Die Verteilung der Melkstandformen unterscheidet sich dabei<br />

● nicht signifikant zwischen Betrieben in NL und SE,<br />

● signifikant zwischen Betrieben in FR, BE und DE:<br />

● Betriebe in FR und BE melken häufiger in AMS als Betriebe in DE,<br />

● Betriebe in FR melken häufiger in SbS als Betriebe in DE und BE,<br />

● Betriebe in BE und DE melken häufiger in Tandemmelkständen.<br />

Tabelle 7. Verteilung unterschiedlicher Melkstandformen in ausgewählten Ländern<br />

unter Berücksichtigung betriebsstruktureller Aspekte (2011)<br />

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1) Ausgewählt wurden nur Haupterwerbsbetriebe mit 65 bis 135 Milchkühen, Weidehaltung, einer<br />

Milchleistung zwischen 8500 und 9500 kg je Kuh und Jahr und Betriebsleitern, die zwischen 35<br />

und 55 Jahre alt sind.<br />

Chi-Quadrat-Test nach pearsOn: X 2 =0,000<br />

Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />

Buel_3_11.indb 385 17.11.2011 08:13:12


386 Birthe Lassen<br />

Die Tatsache, dass sich die Verteilung der Melkstandformen in SE und NL nicht unterscheidet,<br />

könnte ein Indiz da<strong>für</strong> sein, dass AMS ab einem bestimmten Lohnniveau wettbewerbsfähiger<br />

sind als andere Melkstandformen. Unterhalb dieses Lohnniveaus scheinen<br />

andere Melkstandformen wettbewerbsfähiger zu sein –hier können externe Faktoren wie<br />

beispielsweise eine landesspezifische Beratung auf die Verteilung der Melksysteme wirken.<br />

Diese externen Faktoren wurden im Rahmen der Befragung jedoch nicht erfasst.<br />

4.2 Einfluss des Produktionssystems auf die Wahl der Melktechnik<br />

Das Produktionssystem bestimmt die Rahmenbedingungen <strong>für</strong> die Milchproduktion und<br />

ist somit neben der Betriebsstruktur eine entscheidende Größe bei der Wahl des Melksystems.<br />

Dabei geht es sowohl um Fragen der Tierhaltung als auch um Fragen des Intensitätsniveaus.<br />

4.2.1 Milchleistung<br />

Die jährliche Milchleistung der Kühe wird von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst.<br />

Neben der Genetik der Tiere und der Fütterung spielt auch die Zahl der täglichen Melkungen<br />

eine Rolle. Ein Zusammenhang zwischen Melktechnik und Milchleistungen ist<br />

deshalb insofern zu erwarten, als dass die Melkstandform die Anzahl der täglichen Melkungen<br />

beeinflusst und mit steigender Anzahl der Melkungen eine höhere Milchleistung<br />

einhergeht. Während in Gruppenmelkständen beispielsweise <strong>über</strong>wiegend zweimal täglich<br />

gemolken wird, können in AMS Kühe häufiger gemolken werden. Da bei häufigerem<br />

Melken und entsprechender Anpassung der Fütterung die durchschnittliche Milchleistung<br />

ansteigt (23; 17), wäre zu erwarten, dass Betriebe, die eine höhere jährliche Milchleistung<br />

anstreben, häufiger mit AMS melken.<br />

Die Analyse des erhobenen Datensatzes zeigt, dass Betriebe mit höherer durchschnittlicher<br />

Milchleistung (>8500 kg je Kuh und Jahr) häufiger mit AMS melken als Betriebe mit<br />

niedrigen Milchleistungen. Dieser Zusammenhang ist auf die höhere Anzahl Melkungen<br />

zurückzuführen, die mittels AMS erreicht werden. Denn, werden die Betriebe nach der<br />

Anzahl ihrer Melkungen in zwei Gruppen unterteilt (vgl. Tab. 8), zeigt sich,<br />

● dass der Zusammenhang zwischen Melktechnik und Milchleistung bestehen bleibt,<br />

wenn die Betriebe weniger als dreimal täglich melken;<br />

● dass jedoch kein Zusammenhang mehr zwischen Melktechnik und Milchleistung in<br />

Betrieben besteht, die dreimal täglich oder häufiger melken.<br />

In der Gruppe der Betriebe mit weniger als drei täglichen Melkungen haben AMS-Betriebe<br />

durchschnittlich höhere Milchleistungen als Betriebe mit anderen Melkstandformen<br />

(Ø 9145 kg je Kuh und Jahr). Dies lässt sich durch die höhere Anzahl Melkungen erklären<br />

(Ø 2,8 vs. 2inallen anderen Melkstandformen). In der Gruppe der Betriebe mit drei oder<br />

mehr Melkungen je Kuh und Tag liegen die durchschnittlichen Milchleistungen in allen<br />

Melkstandformen <strong>über</strong> 9650 kg je Kuh und Jahr –hier besteht kein Zusammenhang mehr<br />

zwischen Intensitätsniveau und Melkstandform. Für 2016 ergibt sich das gleiche Bild.<br />

Neben der Anzahl der Melkungen beeinflusst auch die Fütterung die täglichen Milchleistungen.<br />

Diese wird neben zahlreichenanderen Aspekten von der Bewirtschaftungsform<br />

des Betriebes beeinflusst (ökologisch/konventionell). Häufig melken ökologische Betriebe<br />

niedrigere durchschnittliche Milchleistungen als konventionell geführte Betriebe (5). Ein<br />

Zusammenhang zwischen der Bewirtschaftungsform des Betriebes und der Melktechnik<br />

kann jedoch unter Berücksichtigung des Herdengrößeneffektes und nationaler Sonderregelungen<br />

(insbesondere in SE) nicht nachgewiesen werden.<br />

Buel_3_11.indb 386 17.11.2011 08:13:12


Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

Tabelle 8. Zusammenhang zwischen durchschnittlicher jährlicher Milchleistung<br />

und Melkstandform<br />

1) Betriebe, die in zwei unterschiedlichen oder „sonstigen“ Systemen melken, werden nicht<br />

angezeigt.<br />

Chi-Quadrat-Test nach pearsOn: X 2 <strong>für</strong> Betriebe mit weniger als drei Melkungen =0,000, X2 <strong>für</strong><br />

Betriebe mit drei Melkungen und mehr =0,128)<br />

Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />

4.2.2 Weidehaltung<br />

387<br />

Weidehaltung stellt andere Ansprüche an ein Melksystem als ganzjährige Stallhaltung. So<br />

sind die Kühe nicht ganztägig zum Melken verfügbar, sondern häufig nur zu bestimmten<br />

Stoßzeiten im Stall. Es wäre deshalb zu erwarten, dass ein Zusammenhang zwischen der<br />

Wahl des Melksystems und einer eventuellen Weidehaltung besteht.<br />

Bei der Untersuchung zum Zusammenhang zwischen Melksystem und Weidehaltung<br />

ist zu beachten, dass die Weidehaltung in SE unter besonderen Rahmenbedingungen stattfindet.<br />

Hier ist Weidehaltung <strong>für</strong> einige Monate im Jahr gesetzlich vorgeschrieben, doch<br />

die Umsetzung dieser Verpflichtung ist in den Betrieben sehr unterschiedlich: Zwar haben<br />

alle schwedischen Milcherzeuger Weidehaltung in der Befragung bejaht, teilweise handelt<br />

es sich jedoch eher um ein „green walking“ welches nicht mit der klassischen Weidehaltung<br />

vergleichbar ist. Aus diesem Grund werden die schwedischen Betriebe aus dieser<br />

Teilanalyse ausgeschlossen.<br />

Für die Gesamtheit der übrigen Betriebe zeigt sich, dass <strong>für</strong> Betriebe mit weniger als<br />

110 Kühen ein Zusammenhang zwischen Melksystem und Weidehaltung festgestellt werden<br />

kann, während dies <strong>für</strong> Betriebe mit 110 oder mehr Kühen nicht der Fall ist.<br />

Für kleinere Betriebe (


388 Birthe Lassen<br />

● AMS <strong>über</strong>wiegend in Betrieben mit kurzer bis mittlerer täglicher Weideperiode eingesetzt<br />

werden (weniger als vier Stunden/Tag, vier bis acht Stunden/Tag),<br />

● SbS-Melkstände häufiger in Betrieben mit langen Weidezeiten (acht Stunden und<br />

mehr) eingesetzt werden.<br />

4.3 Persönlichkeitsmerkmale des Betriebsleiters<br />

Neben objektiven Aspekten der Betriebsstruktur oder des Produktionssystems fließen<br />

dar<strong>über</strong> hinaus auch subjektive Einschätzungen in die Investitionsentscheidung <strong>für</strong> eine<br />

bestimmte Melkstandform ein. Dazu zählen unter anderem auch Technikaffinität und Risikoneigung<br />

der Betriebsleiter (6; 18).<br />

Um sicherzustellen, dass derjenige, der die Entscheidung <strong>für</strong> das aktuelle Melksystem<br />

traf, auch derjenige ist, der den Fragebogen ausgefüllt hat, werden im Folgenden nur Fragebögen<br />

(n =1327) berücksichtigt, die<br />

● von den Betriebsleitern selbst ausgefüllt wurden und<br />

● deren aktuelles Melksystem erst nach der Übernahme des Betriebes durch den aktuellen<br />

Betriebsleiter installiert bzw. erneuert wurde.<br />

4.3.1 Alter des Betriebsleiters<br />

Einstellungen zu bestimmten Technologien oder auch die Risikoneigung eines Menschen<br />

können sich mit zunehmendem Alter verändern. Deshalb wird zunächst ein möglicher<br />

Einfluss des Alters der Betriebsleiter auf die Wahl der Melktechnik untersucht.<br />

Unter Berücksichtigung der jeweiligen Herdengrößenklassen kann ein Zusammenhang<br />

zwischen Alter und Melktechnik angenommen werden. Dabei zeigt sich, dass<br />

● jüngere Betriebsleiter (


Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

389<br />

Ein Zusammenhang zwischen Zustimmung/Ablehnung zum Statement „Je mehr die<br />

Technik anstelle eines Menschen machen kann, desto besser“ und der gewählten Melktechnik<br />

kann unter den Teilnehmern nicht einheitlich festgestellt werden.<br />

4.3.3 Risikoneigung des Betriebsleiters<br />

Es ist zu vermuten, dass die zeitliche Verbreitung neuer Melktechniken im Agrarsektor<br />

der aus der Innovationsforschung bekannten S-Kurve folgt: Zunächst implementieren<br />

nur wenige Betriebe die Technologie (Early Adopters) und erst zeitversetzt investieren<br />

auch andere Betriebsleiter (Late Adopters), die sich bis dahin bei anderen Betriebsleitern<br />

vom Erfolg der Technologie <strong>über</strong>zeugen konnten (15). Da insbesondere AMS zu den jüngeren<br />

Melktechniken gehören, könnte ein Zusammenhang zwischen Risikoneigung der<br />

Betriebsleiter und der gewählten Melktechnik in den Betrieben bestehen.<br />

Um die Risikoneigung der Betriebsleiter einschätzen zu können, stehen im Rahmen<br />

dieser Untersuchung zwei Statements zur Verfügung:<br />

● „Ich versuche, Risiken aller Art zu vermeiden.“<br />

● „Ich warte mit neuen Technologien, bis andere sie getestet haben.“<br />

Die vorliegenden Analysen zeigen jedoch, dass, unter Berücksichtigung der Altersstruktur<br />

der Betriebsleiter, ein Zusammenhang zwischen Risikoneigung der Betriebsleiter und<br />

Wahl der Melktechnik nicht nachgewiesen werden kann.<br />

4.4 Zwischenfazit<br />

Der (regional) unterschiedliche Einsatz der Melksysteme lässt sich zum einen durch<br />

betriebsstrukturelleund standortspezifische Unterschiede bzw.andere Produktionssysteme<br />

erklären; zum anderen jedoch auch durch nationale Einflussfaktoren, die im Rahmen des<br />

Fragebogens nicht erfasst werden konnten. Analysen <strong>für</strong> die vorliegende Stichprobe zeigen<br />

signifikante Einflüsse der Herdengröße, der Erwerbsform des Betriebes, des Lohnniveaus<br />

im Land, einer möglichen Weidehaltung und der durchschnittlichen Herdenmilchleistung<br />

auf die Entscheidung <strong>für</strong> ein bestimmtes Melksystem. Ein Zusammenhang zwischen weiteren<br />

betriebsstrukturellen oder –organisatorischen Faktoren (künftige Betriebsentwicklung,<br />

Arbeitsverfassung, ökologische/konventionelle Bewirtschaftung) und der jeweiligen<br />

Melkstandform konnte hingegen nicht bestätigt werden. Neben betriebsstrukturellen<br />

Aspekten spielt auch die Persönlichkeit des Betriebsleiters bei der Wahl eines Melksystems<br />

eine Rolle. So konnten signifikante Einflüsse des Betriebsleiteralters und der Technikaffinität<br />

des Betriebsleiters auf das Melksystem im Betrieb festgestellt werden. Ein<br />

Einfluss der Risikoneigung der Betriebsleiter auf die Entscheidung <strong>für</strong> eine bestimmte<br />

Melkstandform konnte hingegen nicht festgestellt werden.<br />

5 Produktivität im Melkprozess bei unterschiedlichen Melktechniken<br />

Die nachfolgend vorgestellten Analysen zur Produktivität im Melkstand wurden lediglich<br />

<strong>für</strong> Gruppenmelkstände, Melkkarusselle und AMS durchgeführt, daessich dabei um<br />

die künftig dominierenden Melkstandformen handelt (vgl. Kap. 3). Wie produktiv eine<br />

Melktechnik im Betrieb eingesetzt wird, kann anhand unterschiedlicher Kriterien beurteilt<br />

werden. Diese unterscheiden sich nach der Art der Melktechnik.<br />

Buel_3_11.indb 389 17.11.2011 08:13:12


390 Birthe Lassen<br />

5.1 Gruppenmelkstände und Melkkarusselle<br />

Die Produktivität von Gruppenmelkständen und Melkkarussellen wird in der vorliegenden<br />

Studie auf Basis der folgenden Kriterien verglichen:<br />

● Durchsatz im Melkstand (gemolkene Kühe je Melkzeug pro Stunde, gemolkene Kühe<br />

je Melker pro Stunde) und<br />

● ermolkene Milch je Akh (in kg).<br />

5.1.1 Durchsatz im Melkstand<br />

Der Durchsatz im Melkstand kann auf zwei unterschiedliche Basisgrößen bezogen werden:<br />

Zum einen kann der Durchsatz pro Melkplatz je Stunde gemessen werden, zum<br />

anderen kann der Durchsatz pro Melker je Stunde (=Arbeitskraftstunde, Akh) gemessen<br />

werden. Während die erste Variable die Produktivität des Melkplatzes (und damit indirekt<br />

die Produktivität des darin gebundenen Kapitals) misst, beschreibt der Durchsatz pro Melker<br />

je Stunde die Arbeitsproduktivität imMelkstand.<br />

In der Beratungspraxis werden in Gruppenmelkständen fünf Melkungen je Melkplatz<br />

und Stunde angestrebt, in Melkkarussellen vier bis fünf (24). Unter Berücksichtigung der<br />

Personendichte im Melkstand werden bei Melkstandneukonzeptionen in Gruppenmelkständen<br />

Arbeitsproduktivitäten von ca. 50 bis 70 Kühen pro Melker je Stunde angestrebt.<br />

In Melkkarussellen kann ein Melker je Stunde ca. 90 bis 110 Kühe melken, ohne dabei<br />

die Melkroutine zu vernachlässigen (11; 10; 14).<br />

Die <strong>für</strong> die Stichprobe durchgeführten Analysen zeigen, dass sich die Durchsätze in<br />

den unterschiedlichen Melksystemen signifikant unterscheiden. Höchste Durchsätze (in<br />

Kühe/Melkplatz/Stunde) werden in FGM in der Swing-Over-Ausführung (SwO) erzielt,<br />

niedrigste Durchsätze in Melkkarussellen. Ein Vergleich der Arbeitsproduktivität (in<br />

Kühe/Akh) zeigt jedoch, dass diese in Melkkarussellen am höchsten ist, während Gruppenmelkstände<br />

niedrigere Arbeitsproduktivitäten zeigen. Dabei haben SwO-Ausführungen<br />

signifikant höhere Arbeitproduktivitäten als Melkstände, die doppelt mit Melkzeugen<br />

bestückt sind (vgl. Tab. 9).<br />

Die durchgeführten Analysen zeigen, dass der Durchsatz in Gruppenmelkständen stark<br />

von der Personaldichte im Melkstand beeinflusst wird. Für Melkkarusselle konnte hin-<br />

Tabelle 9. Durchsatz und Arbeitsproduktivität unterschiedlicher Melkstandformen<br />

in der Stichprobe, gemessen in Anzahl gemolkener Kühe je Melkplatz und<br />

Stunde und Arbeitsproduktivität gemessen in Kühe je Akh (2011)<br />

F-Statistik =42,961*** bzw. 42,961***<br />

Annahme: P≤0,001: hoch signifikant***, P≤0,01: signifikant**, P≤0,05: schwach signifikant*<br />

Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />

Buel_3_11.indb 390 17.11.2011 08:13:13


Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

391<br />

gegen kein Zusammenhang zwischen Personaldichte und Durchsatz festgestellt werden.<br />

Aufgrund der hohen Bedeutung des Personalbesatzes in der <strong>über</strong>wiegenden Anzahl der<br />

Melkstände, sollte die Anzahl der Melker bei Produktivitätsanalysen jedoch berücksichtigt<br />

werden. Deshalb wird im Folgenden lediglich die Arbeitsproduktivität der jeweiligen<br />

Melkstandformen verglichen.<br />

Die unterschiedlichen Durchsätze und Produktivitäten im Melkstand können verschiedene<br />

Ursachen haben (Zusammenstellung nach 14; 20; 12):<br />

● unterschiedliche technische Ausstattungen (bspw. mit oder ohne Abnahmeautomatik),<br />

● unterschiedliche durchschnittliche Milchleistungen der Herde,<br />

● Verhältnis von melkenden Personen zu bedienendem Melkzeug,<br />

● unterschiedliche Melkroutinen oder<br />

● unterschiedliches Herdenmanagement (u. a. Boxenpflege, Gruppenhaltung).<br />

Hinsichtlich des Herdenmanagements wurden im Rahmen dieser Befragung keine Daten<br />

erhoben. Auch konkrete Angaben zur Melkroutine der Betriebe wurden aufgrund der<br />

Kürze des Fragebogens nicht erfasst. Als Indikator <strong>für</strong> eine gute Hygiene im Melkprozess<br />

und damit auch <strong>für</strong> eine ausreichende Melkroutine kann die Höhe des somatischen<br />

Zellgehaltes herangezogen werden. Die durchgeführten Analysen zeigen jedoch <strong>für</strong> die<br />

Stichprobe keinen Zusammenhang zwischen durchschnittlichem Zellgehalt der Betriebe<br />

und ihrem Melksystem oder der Arbeitsproduktivität.<br />

Die durchgeführten Analysen <strong>für</strong> die vorliegende Stichprobe zeigen dar<strong>über</strong> hinaus:<br />

● Die Arbeitsproduktivität steigt, je mehr Melkplätze ein Melker betreut.<br />

In Betrieben, in denen ein Melker 14oder mehr Melkplätze betreut, werden durchschnittlich<br />

70Kühe je Akh gemolken. In Betrieben, in denen ein Melker lediglich bis<br />

zu sechs Melkplätze betreut, sind es nur 25 Kühe je Akh. Wird die Arbeitsproduktivität<br />

der Betriebe <strong>für</strong> die unterschiedlichen Herdengrößen getrennt voneinander analysiert,<br />

zeigt sich, dass insbesondere in kleineren Beständen (


392 Birthe Lassen<br />

Tabelle 10. Durchschnittliche Arbeitsproduktivität in den unterschiedlichen<br />

Melksystemen gemessen in ermolkene kg Milch je Akh (bei 340 Tagen in Milch)<br />

Annahme: P≤0,001: hoch signifikant***, P≤0,01: signifikant**, P≤0,05: schwach signifikant*<br />

Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />

5.1.2 Ermolkene Milch je Arbeitskraftstunde<br />

Um die Arbeitsproduktivität in den unterschiedlichen Melkstandformen abschließend<br />

gegen<strong>über</strong> zu stellen, ist ein Vergleich der ermolkenen kg Milch je Akh interessant. Zur<br />

Berechnung dieser Kennzahl wird angenommen, dass die Kühe in den Betrieben durchschnittlich<br />

340 Tage im Jahr gemolken werden (8).<br />

In der Beratungspraxis wird eine Arbeitsproduktivität von 1000 kg je Akh angestrebt<br />

(25). Dies wird in den Betrieben mit unterschiedlichen Melksystemen durchschnittlich<br />

nicht erreicht. Lediglich Betriebe mit einem Melkkarussell erreichen mit 1009 kg Milch<br />

je Akh diese Zielsetzung (vgl. Tab. 10).<br />

Den größten Einfluss auf die Arbeitsproduktivität im Gruppenmelkstand hat, den Analysen<br />

zufolge, die Personaldichte: Je mehr Melkzeuge ein Melker bedient, desto höher<br />

die ermolkene Milchmenge je Akh. Mit einem Erklärungsanteil von etwa 25 %hat die<br />

Personaldichte einen stärkeren Einfluss auf die durchschnittliche Arbeitsproduktivität als<br />

die Wahl des jeweiligen Melksystems. Für die Praxis bedeutet dies, dass in allen Gruppenmelkstandformen<br />

die Arbeitsproduktivität erhöht werden kann, indem die Personaldichte<br />

reduziert wird.<br />

Regionale Unterschiede in der Arbeitsproduktivität von Gruppenmelkständen sind<br />

schwer zu interpretieren. Das Lohnniveau hat als wichtiger Standortfaktor zwar einen<br />

Einfluss auf die Personaldichte im Melkstand, ein Einfluss des Lohnniveaus auf die<br />

Arbeitsproduktivität gemessen in kg je Akh kann jedoch nicht nachgewiesen werden. Da<br />

weitere länderspezifische Standortfaktoren im Rahmen der Befragung nicht erfasst wurden,<br />

besteht hier weiterer Forschungsbedarf.<br />

5.2 Produktivität der Betriebe mit AMS<br />

Da in Betrieben mit AMS keine Melker eingesetzt werden, sind hier andere Indikatoren<br />

zu verwenden, um die Produktivität der Technik zu messen. In der vorliegenden Studie<br />

werden folgende Kriterien <strong>für</strong> den Betriebsvergleich herangezogen:<br />

● Anzahl Melkungen je Kuh und Tag,<br />

● ermolkene Milchmenge je AMS-Box.<br />

Buel_3_11.indb 392 17.11.2011 08:13:13


Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

5.2.1 Anzahl Melkungen je Kuh und Tag<br />

393<br />

Ein Ziel der Implementierung von AMS kann es sein, die Zahl der Melkungen je Kuh<br />

und Tag ohne zusätzlichen Personalaufwand zu erhöhen und so die Milchleistungen zu<br />

steigern (17; 28). Durchgeführte Analysen <strong>für</strong> die vorliegende Stichprobe bestätigen einen<br />

Zusammenhang zwischen der Anzahl der Melkungen und der durchschnittlichen Milchleistung.<br />

Werden die AMS-Betriebe entsprechend ihrer durchschnittlichen Melkungen in<br />

vier ähnlich große Gruppen eingeteilt, zeigt sich, dass<br />

● Betriebe mit durchschnittlich mehr als 2,9 Melkungen je Kuh und Tag mit 9808 kg<br />

Milch je Kuh und Jahr die höchsten Milchleistungen erzielen (n =49),<br />

● die Milchleistungen in den AMS-Betrieben, die bis zu 2,5 Melkungen täglich angaben,<br />

vergleichsweise niedrig sind (9151 kg Milch je Kuh und Jahr, n=53).<br />

Die Anzahl der täglichen Melkungen kann durch verschiedene Parameter beeinflusst werden.<br />

Dazu gehören u. a.:<br />

● Anzahl der zu melkenden Kühe je AMS-Box und<br />

● Zeitraum, in dem die Kühe Zugang zum AMS haben.<br />

Wie auch bei Gruppenmelkständen sollte die Anzahl der Kühe zur vorhandenen Technikgröße<br />

passen. Während sich in Gruppenmelkständen bei größeren Herden die Melkzeit<br />

verlängert, geht eine Ausweitung der Herdengröße bei AMS zulasten der täglichen Melkfrequenz.<br />

In der Beratungspraxis werden deshalb <strong>für</strong> AMS häufig Herdengrößen von bis<br />

zu 55, maximal 65 melkenden Kühen je AMS –Box empfohlen (u. a. 6; 14).<br />

Die untersuchten AMS-Betriebe hielten zum Zeitpunkt der Befragung durchschnittlich<br />

63 Kühe je AMS-Box. Dies entspricht in der Stichprobe durchschnittlich 55 zu melkende<br />

Kühe. Da die Anzahl laktierender Kühe jedoch lediglich <strong>für</strong> den Zeitpunkt der Befragung<br />

erfasst wurde, wird im Folgenden die Entwicklung der Kuhzahlen je AMS-Box anhand<br />

der Anzahl gehaltener Kühe analysiert. Diese schwanktstark: Zwischen 31 und 110Kühen<br />

werden je AMS-Box gehalten. Die Mehrheit der teilnehmenden Betriebe (70 %) hält<br />

jedoch zwischen 50 und 75 Kühe je AMS Box.<br />

Für die folgende Analyse werden die Betriebe entsprechend ihrer Besatzdichte in<br />

vier ähnlich große Gruppen eingeteilt. Für diese Gruppen wird neben der durchschnittlichen<br />

täglichen Melkhäufigkeit auch die jährliche Milchleistung der Kühe ermittelt. Die<br />

Tabelle 11 zeigt, dass<br />

● die Anzahl täglicher Melkungen mit zunehmender Besatzdichte sinkt,<br />

● die durchschnittliche Milchleistung der Kühe ab einer Besatzdichte von 65 gehaltenen<br />

Kühen je AMS-Box signifikant zurück geht. Bei niedrigeren Besatzdichten hat diese<br />

keinen Einfluss auf die Milchleistung.<br />

Die Besatzdichten unterscheiden sich in den untersuchten Ländern mit mehr als 15 implementierten<br />

AMS (vgl. Tab. 12): In SE sind die Besatzdichten amhöchsten, gefolgt von<br />

Betrieben in DE. Während Betriebe in DE ihre Besatzdichten jedoch künftig beibehalten,<br />

planen Betriebe in SE ihre Besatzdichten weiter zu steigern. Experten in SE sehen diese<br />

Entwicklung durchaus kritisch und gehen davon aus, dass die hohen Besatzdichten lediglich<br />

durch gelenkten Kuhverkehr erreicht werden können. Dies zieht erneute Investitionen<br />

nach sich. Es wird inzwischen geraten, die Besatzdichten eher zu reduzieren (29).<br />

Neben der Besatzdichte ist auch die Zeit, in der die Kühe Zugang zum AMS haben, <strong>für</strong><br />

die tägliche Melkfrequenz von Bedeutung. Diese hängt unter anderem von einer möglichen<br />

Weidehaltung ab. Während die Kühe in Betrieben mit Stallhaltung ganztägig Zugang<br />

zum AMS haben, gilt dies in Weidebetrieben nur eingeschränkt. Je länger die tägliche<br />

Weidezeit ist, desto kürzer sind die Kühe im Stall und haben Zugang zum AMS. Es wäre<br />

also zu erwarten, dass die Melkfrequenz mit zunehmender Weidelänge sinkt.<br />

In der Stichprobe zeigen sich signifikant unterschiedliche Melkfrequenzen pro Tagje<br />

nachdem ob und wie lange die Kühe im Sommer weiden:<br />

Buel_3_11.indb 393 17.11.2011 08:13:13


394 Birthe Lassen<br />

Tabelle 11. Anzahl täglicher Melkungen im Sommer und Winter sowie jährliche<br />

Milchleistung je Kuh in Abhängigkeit von der Anzahl Kühe je AMS-Box (2011)<br />

Annahme: P≤0,001: hoch signifikant***, P≤0,01: signifikant**, P≤0,05: schwach signifikant*<br />

Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />

Tabelle 12. Anzahl gehaltener Kühe je AMS-Box in<br />

ausgewählten Ländern<br />

Annahme: P≤0,001: hoch signifikant***, P≤0,01: signifikant**, P≤0,05: schwach signifikant*<br />

Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />

● Betriebe ohne Weidehaltung melken im Sommer und Winter täglich durchschnittlich<br />

2,8-mal ihre Kühe.<br />

● Betriebe mit Weidehaltung (ohne SE, siehe auch Kap. 4) melken im Winter ihre Kühe<br />

ebenfalls 2,8-mal im Durchschnitt; im Sommer jedoch nur 2,6-mal täglich. Je länger<br />

die tägliche Weideperiode im Sommer ist, desto seltener werden die Kühe gemolken:<br />

– Weideperiode bis zu acht Stunden täglich: Ø2,7 Melkungen täglich (n =64),<br />

– Weideperiode acht Stunden täglich und länger: Ø2,4 Melkungen täglich (n =21).<br />

Entsprechend der niedrigeren Melkfrequenzen bei Weidehaltung sinkt auch die Milchleistung:<br />

Je länger die tägliche Weidedauer ist, desto niedriger ist die durchschnittliche<br />

Milchleistung.<br />

5.2.2 Durchschnittlich erzeugte Milchmenge je AMS-Box<br />

Die durchgeführten Analysen zeigen, dass die Betriebe derzeit eine durchschnittliche<br />

Milchmenge von 590 370 kg je AMS-Box erzeugen. Zum Vergleich: Beratungsempfehlungen<br />

liegen bei 600 000 bis 700 000 kg je AMS-Box (4). Der in der analysierten<br />

Stichprobe erzielte Output je AMS-Box weist auf erhebliche regionale Unterschiede hin.<br />

Beispielsweise liegt die Milchmenge je AMS-Box in den befragten AMS-Betrieben in<br />

Buel_3_11.indb 394 17.11.2011 08:13:14


Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

Tabelle 13. Durchschnittlich erzeugte Milchmenge je AMS-Box in ausgewählten<br />

Ländern in 2011 und 2016 sowie die durchschnittliche Milchleistung der Betriebe<br />

Δ=Veränderung<br />

Annahme: P≤0,001: hoch signifikant***, P≤0,01: signifikant**, P≤0,05: schwach signifikant*<br />

Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />

395<br />

SE um ca. 100 000 kg höher als in FR. Die regionalen Unterschiede sind primär auf die<br />

unterschiedlichen Besatzdichten zurückzuführen. Dar<strong>über</strong> hinaus spielt jedoch auch die<br />

durchschnittliche Milchleistung der Betriebe eine Rolle, die in SE ebenfalls besonders<br />

hoch ist. Die Anzahl der Melkungen hat in diesem Falle keinen signifikanten Einfluss auf<br />

die Gesamtmilchmenge je AMS-Box (vgl. Tab. 13).<br />

5.3 Fazit<br />

Unabhängig von der Entscheidung <strong>für</strong> ein bestimmtes Melksystem ist es wichtig, dass<br />

dieses produktiv im Betrieb eingesetzt wird und so die Kapital- und Arbeitskosten niedrig<br />

gehalten werden. Durchgeführte Analysen <strong>für</strong> die folgende Stichprobe zeigen, dass in<br />

Gruppenmelkständen der Personalbesatz im Melkstand ein besonders wichtiger Einflussfaktor<br />

ist. Höchste Durchsätze zeigen die Betriebe in SwO-Systemen. Unter Berücksichtigung<br />

der Anzahl melkender Personen ist die Arbeitsproduktivität in Melkkarussellen hingegen<br />

am höchsten. Die Arbeitsproduktivität wird neben der Anzahl melkender Personen<br />

auch von der technischen Ausstattung beeinflusst: In neueren Melkständen werden höhere<br />

Arbeitsproduktivitäten erreicht als in älteren Melkständen des gleichen Typs. Das Lohnniveau<br />

eines Landes wirkt sich nur insofern auf die Arbeitsproduktivität der Betriebe aus,<br />

als dass in größeren Betrieben bei höherem Lohnniveau tendenziell eher Melkkarusselle<br />

gewählt werden. Hier ermöglicht die feste Umlaufgeschwindigkeit eine hohe Arbeitsproduktivität<br />

bei vergleichsweise niedrigem Personalbesatz. Regionale Unterschiede zeigen<br />

in einigen Ländern auch den besonders produktiven Einsatz von Gruppenmelkständen<br />

(IE) –die Ursache <strong>für</strong> die international heterogene Arbeitsproduktivität ist jedoch im<br />

Rahmen dieser Untersuchung nicht feststellbar.<br />

Die Produktivität eingesetzter AMS hängt den Erkenntnissen zufolge hauptsächlich<br />

von der Besatzdichte ab, da diese die Anzahl täglicher Melkungen und die durchschnittliche<br />

Milchleistung der Herden beeinflusst. Werden mehr als 65 Kühe je AMS-Box<br />

gehalten, geht die durchschnittliche Milchleistung der Herden signifikant zurück. Neben<br />

der Besatzdichte hat auch eine mögliche Weidehaltung Einfluss auf die durchschnittliche<br />

Milchleistung der Betriebe, da in Betrieben mit Weidehaltung die Anzahl Melkungen<br />

zurück geht und damit auch die durchschnittliche Milchleistung sinkt. Je länger die<br />

tägliche Weidedauer ist, desto niedriger ist bei den befragten Betrieben auch die durch-<br />

Buel_3_11.indb 395 17.11.2011 08:13:14<br />

Δ


396 Birthe Lassen<br />

schnittliche Milchleistung. Es gibt allerdings Betriebe (vornehmlich in SE), die trotz einer<br />

hohen Besatzdichte (>65 Kühe je AMS-Box) hohe Milchleistungen erzielen und damit die<br />

höchste Produktivität in kg Milch je AMS-Box erzielen.<br />

In allen Melksystemen ist es wichtig, dass Arbeitsproduktivität und Arbeitsqualität in<br />

einem guten Verhältnis zueinander stehen. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität sollte<br />

dabei nicht zulasten der Arbeitsqualität (u. a. Eutergesundheit, Milchqualität) gehen. Im<br />

Rahmen dieser Studie konnten nur wenige Daten zur Feststellung der Arbeitsqualitäterhoben<br />

werden (siehe 5.1.1). Hier besteht weiterer Forschungsbedarf.<br />

6 Weiterer Forschungs- und Entwicklungsbedarf<br />

Die vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass Analysen, die produktionstechnische Parameter<br />

mit Produktivitätskriterien zusammenführen, aufschlussreiche Erkenntnisse liefern, insbesondere,<br />

wenn sie international durchgeführt werden. Dies ermöglicht espraktischen<br />

Milcherzeugern, den eigenen Produktionsprozess zu <strong>über</strong>denken und ggf. anzupassen.<br />

Dar<strong>über</strong> hinaus können Auswirkungen produktionstechnischer Entwicklungen in anderen<br />

Ländern und ihre Bedeutung <strong>für</strong> die eigene Wettbewerbsfähigkeit besser eingeschätzt<br />

werden.<br />

Die vorliegenden Ergebnisse leisten einen Teilbeitrag zu Identifikation künftiger Entwicklungen<br />

in der Melktechnik. Gleichzeitig unterliegen die Ergebnisse jedoch einigen<br />

Einschränkungen. Eine abschließende Bewertung von AMS gegen<strong>über</strong> anderen Melkstandformen<br />

kann im Rahmen dieser Studie beispielsweise nicht erfolgen, da die notwendigen<br />

Angaben zu Kapitalkosten und einzelnen Arbeitspositionen nicht erfasst wurden.<br />

Da die Teilnehmer die Fragebögen freiwillig ausfüllen, muss der Fragebogen sehr kurz<br />

und einfach auszufüllen sein. Eine Abfrage von Daten, die die Milcherzeuger nicht im<br />

Gedächtnis haben, war nicht möglich. Dies führte dazu, dass einige Fragestellungen wie<br />

z. B. nach der ökonomischen Situation im Mehrjahresmittel oder dem konkreten Finanzmittelbedarf<br />

<strong>für</strong> die Investitionen, unterbleiben mussten. Zusammenhänge zwischen produktionstechnischen<br />

Angaben und betriebswirtschaftlichem Erfolg oder betrieblichen<br />

Produktivitäten können deshalb nur grob aufgezeigt werden. Um diese Lücke zwischen<br />

produktionstechnischen Erhebungen und betriebswirtschaftlichenAnalysen zu schließen,<br />

ist es künftig von Bedeutung, die Verknüpfung zwischen den Snapshot-Befragungen und<br />

ökonomischen Analysen (z. B. EDF-Produktionskostenvergleich) zu optimieren und so<br />

zumindest <strong>für</strong> eine Teilstichprobe entsprechende Ergebnisse generieren zu können. Dar<strong>über</strong><br />

hinaus ist eine enge Zusammenarbeit mit Experten in den jeweiligen Ländern notwendig,<br />

da die Befragungsdaten zwar internationale Unterschiede aufdecken können, eine<br />

Ursachenforschung jedoch aufgrund der begrenzten Datenmenge zumeist nicht allein auf<br />

Basis der Befragungsdaten möglich ist.<br />

Neben einer weiter zu verbessernden Verknüpfung ökonomischer Parameter mit produktionstechnischen<br />

Kennzahlen wird künftig ein weiterer Schwerpunkt die Erweiterung<br />

des Datensatzes im Ausland sein. Erste vorliegende Analysen deuten darauf hin, dass<br />

Melksysteme in einigen Ländern möglicherweise produktiver eingesetzt werden als in<br />

Deutschland. Um konkrete Ursachen zu analysieren wären jedoch größere Datenmengen<br />

nötig, die eine optimierte Gruppierung der Daten erlauben.<br />

Zusammenfassung<br />

Ein effizienter Melkprozess ist ein wichtiger Bestandteil niedriger Produktionskosten. Bisherige<br />

Analysen erlauben keine Rückschlüsse <strong>über</strong> den internationalen Einsatz verschiedener Melktechniken<br />

und ihrer Produktivitäten. Vor diesem Hintergrund war es das Ziel der vorliegenden Studie,<br />

Daten und Einschätzungen von Milcherzeugern <strong>über</strong> den aktuellen und künftigen Einsatz der<br />

Buel_3_11.indb 396 17.11.2011 08:13:14


Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

397<br />

Melktechnik inausgewählten Ländern Europas zuerfassen. Dabei sollten neben Zusammenhängen<br />

zwischen ausgewählten Betriebs- und Standortfaktoren und der jeweiligen Melktechnik auch der<br />

Einfluss der jeweiligen Melksysteme auf die Produktivität im Melkprozess analysiert werden. Die<br />

vorliegenden Ergebnisse basieren auf Angaben von 2611 Betriebsleitern aus 19 Ländern Europas.<br />

Da die Befragungsdaten nicht auf Basis einer Zufallsstichprobe erhoben wurden, sind die Ergebnisse<br />

nicht als repräsentativ <strong>für</strong> die europäischen Milcherzeuger zu sehen. Sie erlauben jedoch Aussagen<br />

<strong>für</strong> größere, erfolgreiche und zukunftsorientierte Milcherzeuger.<br />

Die meisten Kühe werden zum Zeitpunkt der Befragung (Frühjahr 2011) in FGM gemolken<br />

(42 %). Bis 2016 erwarten die teilnehmenden Betriebe jedoch einen deutlichen Rückgang der<br />

FGM zugunsten von AMS und Melkkarussellen. Die Entscheidung <strong>für</strong> ein bestimmtes Melksystem<br />

hängt neben betrieblichen Kriterien (Herdengröße, Erwerbsform, Weidehaltung, durchschnittliche<br />

Milchleistung) auch von länderspezifischen Einflussfaktoren (u. a. Lohnniveau) und Persönlichkeitsmerkmalen<br />

der Betriebsleiter (Alter, Technikaffinität) ab. Die Produktivität der eingesetzten<br />

Melktechnologie hängt von unterschiedlichen Aspekten ab: Bei AMS sind dies vor allem die Besatzdichte<br />

und die durchschnittliche Herdenleistung. Die Arbeitsproduktivität in Gruppenmelkständen<br />

und Melkkarussellen wird hingegen maßgeblich von der Anzahl der Melker sowie vom Alter der<br />

Technik (und damit der Ausstattung) beeinflusst.<br />

Summary<br />

Relationsship between farm structure, milking technology and productivity – survey results<br />

from European dairy farmers<br />

Efficiency in the milking process is crucial for low production costs. Past studies fail to examine<br />

different milking technologies with respect totheir international distribution and their productivity.<br />

Thus,itwas the aim of the present study to collate estimations by dairy farmers about the current and<br />

future adoption of different milking technologies within selected countries in Europe. The study analyses<br />

the relationship between selected farm and site factors and the different milking technologies.<br />

It further studies the influence of different technologies on the productivity of the milking process.<br />

The underlying data was collected from 2611 farm managers from 19 European countries. Since the<br />

survey sample was not drawn as arandom sample, the data cannot be taken as representative for the<br />

European dairy sector. However, survey results allow conclusions to be drawn for larger, successful,<br />

and future-oriented dairy farms.<br />

At the time of the survey, most cows in the sample are being milked in herringbone parlours<br />

(42 %). Yet, by 2016 participants expect astrong decrease of herringbone parlours in exchange for<br />

automatic milking systems and rotaries. The decision to opt for amilking technology is mainly<br />

determined by farm factors (herd size, full-time/part-time farming, grazing, average milk yield)<br />

and country-specific aspects (e.g. wage rates) as well as personality characteristics (age, technical<br />

affinity). The productivity of the different milking technologies is influenced by different aspects:<br />

For automatic milking systems, these factors mainly comprise the stocking rate and the average milk<br />

yield. On the other hand, in group milking parlours or rotaries, it is mainly the number of milkers<br />

and the age of the technology (and therefore the technical equipment) that influence productivity.<br />

Résumé<br />

Liens entre lastructure des exploitations agricoles, latechnique de traite appliquée et la productivité<br />

-résultats d’une enquête auprès des producteurs laitiers àl’échelle européenne<br />

Un système de traite efficace est un élément important pour arriver àdes coûts de production relativement<br />

bas. Les analyses existantes àcejour ne permettent pas d’en déduire des conclusions<br />

concernant l’utilisation des différentes techniques de traite au niveau international et leurs productivités<br />

respectives. C’est pourquoi l’objectif de l’étude présente aété de mettre àladisposition<br />

des données et estimations de producteurs laitiers relatives àl’application actuelle et future de la<br />

technique de traite dans plusieurs pays européens. Outre les liens possibles entre certains facteurs au<br />

niveau de l’exploitation et du lieu d’implantation et la technique de traite utilisée, c’est l’influence<br />

des différents systèmes de traite sur la productivité de la traite qui est analysée. Les résultats basent<br />

sur les informations fournies par 2611 chefs d’exploitation de 19 pays européens. Vulefait que les<br />

données ne s’appuient pas sur un échantillon aléatoire, les résultats ne sont pas représentatifs pour<br />

les producteurs laitiers européens mais ils permettent d’en tirer des conclusions intéressantes pour<br />

des exploitations laitières plus grandes travaillant avec succès et orientées vers l’avenir.<br />

Àl’époque de la réalisation de l’enquête (au printemps 2011), la plupart des vaches sont traites<br />

dans des salles de traite en épi (42 %). Néanmoins,d’ici 2016, les agriculteurs participant àl’enquête<br />

attendent un net recul des salles de traite en épi en faveur des systèmes de traite automatiques et des<br />

Buel_3_11.indb 397 17.11.2011 08:13:14


398 Birthe Lassen<br />

carrousels de traite. Lechoix du système detraite dépend non seulement des conditions spécifiques<br />

àl’exploitation (nombre de vaches, forme d’exploitation, élevage sur prairie, performance laitière<br />

moyenne) mais aussi defacteurs spécifiques dechaque pays (dont le niveau des salaires) et encore<br />

des caractéristiques personnelles des chefs d’exploitation (âge, affinité technique). Laproductivité<br />

de la technique detraite utilisée est soumise àdifférents éléments :Dans le cas du système de traite<br />

automatique, c’est la densité d’occupation et la performance moyenne du troupeau qui sont déterminantes.<br />

Dans les salles de traite en groupe et pour les carrousels de traite, par contre, la productivité<br />

varie selon le nombre de trayeurs et l’âge de l’équipement technique.<br />

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23. nunnenKamp, W., 1999: Trotz Weidegang automatisch Melken? In: top agrar (Hg.): Melkroboter <strong>für</strong><br />

Ihren Betrieb? top agrar extra, Münster: <strong>Landwirtschaft</strong>sverlag Münster-Hiltup, S. 52–55.<br />

24. OrDOlff, D.,1994: Arbeitszeitbedarf beim Melken großer Milchviehbestände. In: Landtechnik, Jg.<br />

49, H. 4, S. 210–211.<br />

Buel_3_11.indb 398 17.11.2011 08:13:14


Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />

399<br />

25. paChe, S., 2010: Investition in neue Melktechnik, Empfehlungen zur Entscheidungsfindung,<br />

URL: http://www.landwirtschaft.sachsen.de/landwirtschaft/download/Melk-technik_Investition.pdf,<br />

Abrufdatum: 10.08.2011.<br />

26. pOWell, I.; OhnstaD, I.; pettit, D.; giles, N.; ADAS Dairy Group, 2002: Astudy into milking<br />

machine automation. Project No. 02/T2/10. Herausgeber: mdc -milking development council. Somerset.<br />

27. sChleitzer, g.,1997: Je Melker und Stunde 60–80 Kühe. In: Deutsche Bauernzeitung (Hg.): Rentable<br />

Milchproduktion. Deutsche Bauernzeitung, Sonderheft 1/1997: Deutscher Bauernverlag, S. 43–45.<br />

28. smith, J.F.; armstrOng, D.V.; gamrOth, M.J.; martin, J.G., 1997: Planning the milking centre<br />

in expanding dairies. In: Journal of Dairy Science, Jg. 80, S. 1866–1871.<br />

29. söDerberg, J., 2011: persönliche Mitteilung per E-Mail vom 15.08.2011.<br />

30. Wille-sOnK, S., 2010: interne Berechnungen.<br />

Dank<br />

Die Autorin dankt den Projektpartnern bei EDF und agri benchmark <strong>für</strong> die Unterstützung bei der<br />

Datenerhebung sowie Prof. fOlKharD isermeyer und frieDeriKe sChierhOlz <strong>für</strong> wertvolle Hinweise<br />

und konstruktive Kritik.<br />

Autorenanschrift: M. Sc. birthe J. lassen, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut<br />

<strong>für</strong> Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Institut <strong>für</strong> Betriebswirtschaft,<br />

Bundesallee 50, 38116 Braunschweig, Deutschland<br />

birthe.lassen@vti.bund.de<br />

Buel_3_11.indb 399 17.11.2011 08:13:15


400<br />

Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter<br />

besonderer Berücksichtigung von Transportkosten<br />

Von gerd eBerhArdt, Potsdam, MArtin Odening, Berlin,<br />

herMAnn lOtze-CAMpen, Potsdam, Berit erlACh, Berlin, susAnne rOlinsKi, Potsdam,<br />

piA rOthe, Potsdam und BenjAMin Wirth, Berlin<br />

1 Ausgangslage und Problemstellung<br />

Die Hydrothermale Karbonisierung (HTC) ist ein chemisches Verfahren zur Aufbereitung<br />

und Veredelung von Biomasse. Der Prozess wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

von dem Chemiker frieDriCh bergius beschrieben (2)und aufgrund seiner Ähnlichkeit mit<br />

dem natürlichen Kohleentstehungsprozess zunächst meist im Labormaßstab angewendet,<br />

um die Vorgänge bei der Inkohlung zu erforschen. Frühe technische Anwendungen waren<br />

einige Pilotanlagen zur hydrothermalen Behandlung von Torf, die bis in die 1960er-Jahre<br />

in Skandinavien und der UdSSR in Betrieb waren. Erst Anfang dieses Jahrhunderts wurde<br />

die Hydrothermale Karbonisierung wiederentdeckt und ihre Bedeutung erkannt. Im Kontext<br />

der schwindenden fossilen Brennstoffressourcen und mit dem Wissen um die Bedeutung<br />

von CO 2 -Emissionen <strong>für</strong> das globale Klima wird die Suche nach Alternativen zu fossilen<br />

Energieträgern aktuell verstärkt gefördert. Im Nationalen Biomasseaktionsplan der Bundesregierung<br />

wurde 2009 festgelegt, dass der Anteil der erneuerbaren Energieträger am<br />

Primärenergieverbrauch von 6,7 %(Stand 2007) auf 16 %imJahr 2020 und der Anteil an<br />

Bioenergie von 4,9 %auf 11 %ansteigen soll. Bei der Hydrothermalen Karbonisierung<br />

wird aus Biomasse ein hochwertiger Festbrennstoffhergestellt. Dadurch kann das Verfahren<br />

einen wichtigen Baustein bei der Erfüllung der Ziele des Biomasseaktionsplans darstellen.<br />

Die Besonderheit des Verfahrens liegt in einer hohen Kohlenstoffeffizienz und in einer<br />

hohen Flexibilität bezüglich der Biomasse, die als Substrat eingesetzt werden kann. Das<br />

bedeutet, dass durch die Verwendung von Reststoffen wie Stroh, Waldrestholz und Landschaftspflegematerialien<br />

oder anderen biogenen Rest- und Abfallstoffen einer zusätzlichen<br />

Flächenkonkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion entgegengewirkt werden kann. Bei der<br />

Hydrothermalen Karbonisierung handelt es sich um einen Inkohlungsprozess: Biomasse<br />

wird bei einer Temperatur von 180–250°C und bei einem Druck von 10–40 bar innerhalb<br />

von 1–8 Stunden in eine kohleartige Substanz, HTC-Kohle, umgewandelt. Die HTC-Kohle<br />

kann mechanisch entwässert und getrocknet werden und weist eine hohe Lagerstabilität<br />

auf. Der Brennwert liegt, je nach Reaktionsbedingungen und Biomasseart, zwischen 22<br />

und 28 MJ/kg –bezogen auf die Trockenmasse (TM). Der Großteil der Energie, die zur<br />

Vorwärmung der Biomasse erforderlich ist, kann durch die freiwerdende Reaktionswärme<br />

und aus der Produktkühlung gedeckt werden, wozu allerdings ein komplexes Verfahren zur<br />

Wärmerückgewinnung erforderlich ist (20; 8). Zur Erreichung der erforderlichen Reaktionstemperatur<br />

muss dem Reaktor Prozessdampf zugeführt werden, der <strong>über</strong> einen Zusatzbrennstoff<br />

bereitgestellt werden muss (ca. 3–15 %der Biomasseenergie). Der wesentliche<br />

energetische Vorteil des Verfahrens liegt in der Möglichkeit der mechanischen Entwässerung<br />

der HTC-Kohle, die im Vergleich zur thermischen Trocknung ungleich weniger<br />

Energie benötigt. Beim Einsatz von Biomasse mit einem sehr hohen Wassergehaltkann bei<br />

effizienter Führung des HTC-Verfahrens dadurch die Energiebilanz von HTC mit anschließender<br />

Verbrennung günstiger sein als bei der Direktverbrennung der nassen Biomasse.<br />

U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0400 $2.50/0<br />

Buel_3_11.indb 400 17.11.2011 08:13:15


Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />

HTC-Pellets<br />

analog zu<br />

Holzpellets p in<br />

Holzfeuerungsanlagen<br />

Zementwerke<br />

Klk Kalkwerke k<br />

Industriekraftwerke<br />

Hydrothermale<br />

Karbonisierung<br />

Energetische Verwertung von HTC-Staub<br />

in bestehenden Anlagen<br />

mit<br />

Umrüstung<br />

Biomassekraftwerke<br />

Abb. 1. Verwendungsmöglichkeiten von HTC-Kohle<br />

ohne<br />

Umrüstung<br />

BKS-Ersatz im<br />

Heizkraftwerk,<br />

Hi Heizwerk, k<br />

Kohlekraftwerk,<br />

Industriebetrieb<br />

Perspektivische<br />

Verwendungsmöglichkeiten<br />

Chemische Industrie<br />

BTL-Kraftstoff<br />

CO 2-Speicherung<br />

C-Dünger<br />

C-Brennstoffzellen<br />

401<br />

Die Kohle, die durch das Verfahren der Hydrothermalen Karbonisierung aus Biomasse<br />

gewonnen wird, kann vielfältig genutzt werden. Die Beschaffenheit des Karbonisierungsproduktes<br />

kann mithilfe der Variation der Prozessparameter Druck, Temperatur und Verweilzeit<br />

speziell an den jeweiligenVerwendungszweck angepasst werden. Dadurch eröffnen<br />

sich vielfältige Absatzmöglichkeiten (Abb. 1).<br />

Perspektivisch könnte HTC-Kohle sowohl in der chemischen Industrie, als auch bei der<br />

BTL-Kraftstoffherstellung Verwendung finden. Ferner ist eine Nutzung als Medium zur<br />

CO 2 -Speicherung und als Kohlenstoffdünger in der <strong>Landwirtschaft</strong> denkbar. Allerdings<br />

sind die Auswirkungen auf die Böden und die rechtliche Situation bei der Nutzung von<br />

Abfall-Reststoffen als Substrat noch nicht abschließend geklärt.<br />

Die konkreteste Form der Nutzung der HTC-Kohle stellt die Verwendung als Brennstoff<br />

dar.InPelletform kommt zum Beispiel der Einsatz in Kleinfeuerungsanlagenals Substitut<br />

<strong>für</strong> Holzpellets infrage, und auch in großen Elektrizitätskraft- und Heizkraftwerken könnte<br />

die Kohle Verwendung finden. Neben dem Einsatz in Kohlekraftwerken präsentiert auch<br />

die Verbrennung in Biomassekraftwerken eine interessante Möglichkeit, HTC-Kohle energetisch<br />

zu nutzen. Aufgrund des hohen Heizwertes, des niedrigen Wassergehalts und der<br />

Homogenitätder HTC-Kohlekönnte der Einsatz in Biomassekraftwerken, im Vergleich zu<br />

unbehandelten biogenen Festbrennstoffen, zu einer deutlichen Verbesserungen der Brenneigenschaften<br />

führen. Gleichzeitig erfüllt die HTC-Kohle die Anforderungen des EEG in<br />

Bezug auf den Einsatz von Festbrennstoffen in Biomassekraftwerken (11).<br />

Um die Perspektiven der Hydrothermalen Karbonisierung als potenziellen Baustein<br />

der Energieversorgung in Deutschland zu analysieren, ist es notwendig, neben der verfahrenstechnischen<br />

Optimierung, die Wirtschaftlichkeit des HTC-Verfahrens näher zu untersuchen.<br />

Dies ist das Ziel des vorliegenden Beitrags, in dem Ergebnisse eines von BMBF<br />

geförderten Verbundprojekts „Hydrothermale Karbonisierung von Biomasse“ vorgestellt<br />

werden sollen. Eine Ex-ante-Abschätzung der Rentabilität des HTC-Verfahrens gestaltet<br />

sich aus mehreren Gründen schwierig. Zum einen müssen mehrere Stufen der Wertschöp-<br />

Buel_3_11.indb 401 17.11.2011 08:13:15


402<br />

Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />

Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />

fungskette betrachtet werden: die Bereitstellung der Biomasse, der Konversionsprozess<br />

und die potenzielle Endnachfrage. Zum anderen hängt die Rentabilität der HTC-Herstellung<br />

von einer Vielzahl von Faktoren ab, etwa der Art der verwendeten Biomasse oder<br />

der Größe der HTC-Anlage. Dar<strong>über</strong> hinaus spielt bei allen Formen der energetischen<br />

Biomassenutzung die Logistik eine entscheidende Rolle. Die räumliche Verteilung der<br />

eingesetzten Biomasse bestimmt den Einzugsradius einer HTC-Anlage mit und ist infolgedessen<br />

besonders relevant <strong>für</strong> die Berechnung der Logistikkosten. Will man sich der<br />

Wirtschaftlichkeitsfrage möglichst allgemein mithilfe von Modellrechnungen nähern, hat<br />

dies zur Folge, dass eine Vielzahl von Parametern als endogen zu betrachten ist. Aus<br />

diesem Grund wird in dieser Arbeit ein Modellierungsansatz gewählt, der es gestattet,<br />

eine Vielzahl erlös- und kostenrelevanter Faktoren simultan zu optimieren. Um zu konkreten<br />

Ergebnissen zu kommen, müssen allerdings Rahmenbedingungen gesetzt werden.<br />

Dies erfolgt in der Weise, dass die Planung der HTC-Anlage vor dem Hintergrund der<br />

Standortbedingungen des Bundeslandes Brandenburg vollzogen wird. Somit gelten die<br />

spezifischen Ergebnisse zunächst nur <strong>für</strong> dieses Bundesland; die vorgestellte Methodik<br />

lässt sich dagegen verhältnismäßig leicht auf andere Standorte <strong>über</strong>tragen.<br />

2 Methodik<br />

Um die zuvor genannte Bedeutung der Transportkosten auf die Rentabilität einer HTC-<br />

Anlage adäquat berücksichtigen zu können, wird ein lineares Optimierungsmodell entwickelt,<br />

in dem das Planungsproblem einer HTC-Anlage als modifiziertes zweistufiges kapazitives<br />

Warehouse Location Problem (WLP) dargestellt wird (siehe z. B. 4; 5). Die erste<br />

Distributionsstufe repräsentiert den Transport der Substrate vom Entstehungsort (Feld,<br />

Wald) zur HTC-Anlage, die zweite Distributionsstufe den Transport von der HTC-Anlage<br />

zum Kunden (Abb. 2).<br />

Abb. 2. Netzwerkdarstellung des Planungsproblems<br />

Buel_3_11.indb 402 17.11.2011 08:13:15


Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />

403<br />

Im Unterschied zu einem klassischen WLP gibt es keine Produktionsstätten im eigentlichen<br />

Sinn, sondern das Feld, bzw. der Wald stellen die Produktionsstätte dar. ImModell<br />

wird jedoch nicht jeder einzelne Ackerschlag oder jeder einzelne Wald als Ausgangsort<br />

der ersten Distributionsstufe angesehen,sondern es werden Kreisringe um die potenziellen<br />

Standorte gezogen. Jeder dieser Kreisringe gilt als möglicher Substratlieferant. Konkret<br />

werden in der folgenden Anwendung <strong>für</strong> jeden potenziellen Anlagenstandort sieben verschiedene<br />

Lieferanten im Abstand von 5, 10, 15, 20, 25, 30 und 50 km zugelassen. Jeder<br />

dieser Standorte verfügt <strong>über</strong> ein bestimmtes Potenzial an Stroh sowie Hackschnitzeln aus<br />

Energieholz bzw. Kurzumtriebsplantagen (KUP). Die Höhe des Potenzials ist abhängig<br />

von dem Substrataufkommen der Gemeinden, die der Kreisring schneidet und von dem<br />

Flächeninhalt des Kreisrings. Die Berechnungder Kreisringe und deren Potenziale erfolgt<br />

mithilfe von ArcGIS. Inder HTC-Anlage wird aus einer bestimmten Menge Biomasse<br />

nach Maßgabe eines Massenumwandlungsfaktorseine kleinere Menge HTC-Kohle hergestellt.<br />

Es werden drei Anlagetypen mit unterschiedlicher Kapazität untersucht, die jeweils<br />

unterschiedliche Fixkosten verursachen. Neben den Fixkosten, die bei der Einrichtung<br />

einer Anlage entstehen, fallen während des Produktionsprozesses zudem variable Kosten<br />

an. Die zweite Distributionsstufe umfasst den Transport der HTC-Kohle zu den unterschiedlichen<br />

Endkunden und ist wiederum mit Transportkosten verbunden (13).<br />

Für die Formulierung des Optimierungsmodells werden folgende Indizes, Parameter<br />

und Variablen definiert:<br />

Indizes<br />

k: Substratarten zur Hydrothermalen Karbonisierung<br />

h: Angebotsstandorte der Substratarten<br />

i: Standort einer HTC-Anlage<br />

j: Standort eines Kraftwerks/Kunden<br />

w: Kapazitätsklassen der HTC-Anlagen<br />

HTC: HTC-Kohle<br />

Parameter<br />

x : Maximale Menge der Substratart kamAngebotsstandort hintFM/a<br />

hk<br />

p : Preis der Substratart kamAngebotsstandort hin€/t FM<br />

hk<br />

TKI : Transportkosten des Substrats kvom Angebotsstandort hzur HTC-Anlage<br />

hik<br />

iin€/t FM<br />

TKII : Transportkosten Biokohle von HTC-Anlage am Standort izum Kraftwerk jin<br />

ij<br />

€/t HTC Kohle<br />

f HTC<br />

iw<br />

: Fixkosten der Errichtung einer HTC-Anlage mit der Kapazität wamStandort<br />

iin€/a<br />

var ikw : Variable Kosten der Karbonisierung des Rohstoffs kaneiner HTC-Anlage mit<br />

der Kapazität wamStandort iin€/t FM<br />

β ik : Massenumwandlungsfaktor des Substrats kzuHTC-Kohle in TM HTC-Kohle/<br />

TM Substrat<br />

M HTC : Anzahl HTC-Anlagen<br />

d j : Nachfrage nach HTC-Kohle am Kraftwerksstandort jintHTC Kohle/a<br />

Kap : j Verarbeitungskapazität HTC-Kohle amKraftwerksstandort jintHTC Kohle/a<br />

yminHTC wk,, ymaxHTC :untere bzw. obere Kapazitätsschranke einer Anlage der Größe w<br />

wk<br />

η : j Wirkungsgrad Kraftwerk<br />

pCO2 i : Preis je Tonne eingesparten CO2 pel : j Erlöse aus energetischer Verwertung beim Kunden jin€je kWh<br />

α: Umrechnungsfaktor Megajoule in kWh (1 MJ =0,27778 kWh)<br />

h: Heizwert HTC-Kohle<br />

ε: Umrechnungsfaktor HTC-Kohle TMinFM(Wassergehalt 10%)<br />

co : j CO -Emission in t/kWh (in Jänschwalde 0,0012 t/kWh)<br />

2<br />

Buel_3_11.indb 403 17.11.2011 08:13:15


404<br />

Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />

Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />

Variablen<br />

x : Menge des vom Angebotsstandort hzur HTC-Anlage itransportierten<br />

hik<br />

Substrats kintFM/a<br />

x HTC<br />

ij<br />

: Menge der vom Standort izum Kraftwerk jtransportierten HTC-Kohle kint<br />

Biokohle/a<br />

yHTC : Menge der aus dem Substrat kproduzierten Menge Biokohle am Standort iin<br />

ik<br />

tBiokohle/a<br />

yHTC : Menge der produzierten Menge Biokohle am Standort iintBiokohle/a<br />

i<br />

zHTC : Binäre Entscheidungsvariable <strong>für</strong> HTC-Anlage am Standort i<br />

iw<br />

G : Gesamter Gewinn<br />

ges<br />

Unter Verwendung dieser Notation lässt sich die Zielfunktion folgendermaßen definieren:<br />

Der Gewinn der gesamten Unternehmung setzt sich zusammen aus dem Verkauf der HTC-<br />

Kohle und den Einsparungen an Emissionsberechtigungen bei der energetischen Nutzung,<br />

abzüglich der Biomassekosten, der Transportkosten <strong>für</strong> Biomasse und HTC-Kohle sowie<br />

den fixen und variablen Kosten einer HTC-Anlage. Es wird der Standort <strong>für</strong> eine HTC-<br />

Anlage gesucht, bei dem der Gewinn maximiert wird. Dabei werden 175 potenzielle Biomassestandorte,<br />

drei unterschiedliche Substrate, 25 potenzielle HTC-Anlagenstandorte<br />

sowie 8potenzielle Abnehmer <strong>für</strong> HTC-Kohle berücksichtigt.<br />

Der Gewinn (G ges )soll unter folgenden Nebenbedingungen maximiert werden:<br />

(2.2)<br />

(2.3)<br />

(2.4)<br />

(2.5)<br />

(2.6)<br />

(2.7)<br />

Buel_3_11.indb 404 17.11.2011 08:13:16<br />

(2.1)


Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />

(2.8)<br />

(2.9)<br />

(2.10)<br />

(2.11)<br />

(2.12)<br />

(2.13)<br />

405<br />

Die Nebenbedingung (2.2) zielt auf das Substratpotenzial inden Gemeinden bzw. den<br />

Kreisringen ab. Die Menge an Biomasse, die zur HTC-Anlage transportiert wird, darf<br />

nicht größer sein als die Menge an Biomasse/Rohstoffen, die an den Bereitstellungsorten<br />

maximal verfügbar ist. Gleichung (2.3) kalkuliert den Masseverlust, der während der<br />

Karbonisierung eintritt. Die produzierte HTC-Kohlemenge ergibt sich demnach aus der<br />

eingesetzten Substrattrockenmasse multipliziert mit dem Massenumwandlungsfaktor.<br />

Weiterhin muss die gesamte am Standort iproduzierte HTC-Kohle der Summe der aus<br />

den einzelnen Substratfraktionen gewonnenen HTC-Kohle entsprechen; Nebenbedingung<br />

(2.4). Die Nebenbedingungen (2.5) und (2.6) führen Kapazitätsgrenzen <strong>für</strong> die einzelnen<br />

Anlagengrößen ein. Außerdem ist durch diese beiden Ungleichungen sichergestellt, dass,<br />

falls zHTC gleich Null ist, am Standort ialso keine Anlage errichtet wird, keine Substrate<br />

i<br />

zur Anlage itransportiert werden. Gleichung (2.7) legt fest, dass nur die HTC-Kohle zum<br />

Endverbraucher transportiert wird, die auch produziert wurde. Die Nachfrage der Kraftwerke<br />

wird in Nebenbedingung (2.8) berücksichtigt. Die maximal gelieferte Menge an<br />

HTC-Kohle darf die Verarbeitungskapazität des belieferten Kraftwerks nicht <strong>über</strong>schreiten<br />

[Gleichung (2.9)]. Mittels Nebenbedingung (2.10) wird die CO 2 -Menge bestimmt,<br />

die durch den Einsatz der HTC-Kohle eingespart und mit dem Preis <strong>für</strong> CO 2 -Zertifikate<br />

multipliziert wird. Gleichung (2.11) stellt sicher, dass die im Kraftwerk eingesetzte HTC-<br />

Menge vorher zum Kraftwerk transportiert wurde. (2.12) und (2.13) stellen Nichtnegativitäts-<br />

bzw. Ganzzahligkeitsbedingungen dar. Zusammengefasst ermittelt das Optimierungsmodell<br />

folgende Größen:<br />

● Gewinn<br />

● Anzahl und Größe der errichteten HTC-Anlagen<br />

● Standorte der HTC-Anlagen und Einzugsradien der Substrate<br />

● Menge der eingesetzten Substrate<br />

● Transportflüsse der HTC-Kohle zu den Kraftwerken.<br />

Das Modell wurde in GAMS programmiert und mithilfe des CPLEX Solvers gelöst.<br />

3 Datengrundlage<br />

Für die Berechnung des optimalen Standortes und der zu erwartenden Transportkosten ist<br />

es zunächst notwendig, die Menge und die räumliche Verteilung der als Substrat verwendeten<br />

Biomasse in Brandenburg zubestimmen. Im Rahmen der Studie wird das technische<br />

Biomassepotenzial <strong>für</strong> Getreidestroh und Hackschnitzel aus Waldrestholz bzw. aus<br />

Kurzumtriebsplantagen im Land Brandenburg bestimmt. Außerdem werden die zu erwartenden<br />

Investitions- und Prozesskosten einer HTC-Anlage abgeschätzt.<br />

Buel_3_11.indb 405 17.11.2011 08:13:17


406<br />

Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />

Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />

Tabelle 1. Kennwerte der HTC-Anlagen<br />

Tonnen FM/a HTC TM/Biomasse<br />

TM<br />

HTC TM/a Brennwert<br />

MJ/kg TM HTC<br />

A 32 500 32 500 0,66 8580 22–26<br />

A 45 000 45 000 0,66 11 880 22–26<br />

A 60 000 60 000 0,66 15 840 22–26<br />

3.1 Kosten einer Anlage zur Hydrothermalen Karbonisierung<br />

Die Gesamtkosten der Hydrothermalen Karbonisierungsetzen sich zusammen aus investitionsabhängigen<br />

Kosten, verbrauchsabhängigenBetriebsmittelkosten, Personalkosten und<br />

sonstigen Kosten sowie dem Verkaufserlös von Kuppelprodukten, z. B. <strong>über</strong>schüssige<br />

Prozesswärme und eventuell im Abwasser enthaltene Mineralstoffe bei HTC-Anlagen.<br />

Um die einzelnen Kosten identifizieren zu können, ist es notwendig, sich auf einen<br />

Produktionsprozess mit einer bestimmtenProduktionskapazität<strong>für</strong> eine HTC-Anlage festzulegen.<br />

Das im Rahmen dieser Studie verwendete Prozessschema basiert auf dem von erlaCh<br />

und tsatsarOnis (8) entwickeltenAnlagendesign <strong>für</strong> HTC-Anlagen im industriellen Maßstab.<br />

In Tabelle 1sind die wichtigsten Kennzahlen der untersuchten Anlagentypen aufgeführt.<br />

Bei der Massenausbeute an HTC-Kohle ist zu beachten, dass diese von den unten<br />

angegebenen Werten abweicht, sobald Biomasse (z. B. Stroh) mit einer anderen Zusammensetzung,<br />

insbesondere einem anderen als dem hier angenommenen Wassergehalt von<br />

60 %, als Substrat eingesetzt wird. Die Werte dienen also zunächst als Orientierung, in<br />

welchen Größenordnungen die Anlagen produzieren. Die energetische Ausbeute ohne Einbeziehung<br />

der erforderlichen Hilfsenergie beträgt ca. 92 %bezogen auf den Brennwert,<br />

mit Einbeziehung der erforderlichen Hilfsenergie ca. 87 %.<br />

Im Rahmen der Faktormethode (18) wird ein Teil der Kapitalbedarfspositionen detailliert<br />

vorkalkuliert, die restlichen Bedarfspositionen werden anhand von Zuschlagssätzen<br />

geschätzt. Dazu ist es zunächst notwendig, die verschiedenen Kapitalbedarfspositionen<br />

in eine Hauptkomponente und direkte bzw. indirekte Nebenpositionen zu strukturieren.<br />

Unter der Hauptkomponente werden die Kosten <strong>für</strong> Maschinen und Apparate verstanden.<br />

Diese Kosten stellen die Basis dar, anhand derer die anderen Positionen mithilfe von<br />

Zuschlagsfaktoren berechnet werden.Die direkten Nebenpositionen beinhaltendie Kosten<br />

<strong>für</strong> Nebenkomponenten wie Leitungen, Steuer- und Messinstrumente, die Montagekosten<br />

und die Kosten <strong>für</strong> Baustelleneinrichtungen einschließlich Unvorhergesehenes. Die<br />

indirekten Nebenpositionen beinhalten u. a. Kosten <strong>für</strong> Lagerhaltung, Engineering und<br />

Lizenzen (19).<br />

Demnach ergeben sich <strong>für</strong> eine Anlage je nach Verarbeitungskapazität Kosten <strong>für</strong> die<br />

Hauptkomponente von ca. 1Mio. €(A 45 000 )bzw. von ca. 1,215 Mio. €(A 60 000 ). Ausgehend<br />

von den Hauptkomponenten lassen sich durch den Zuschlagsfaktor Z die Kosten<br />

der indirekten Nebenpositionen bestimmen. Je nach Anlagekapazität ergeben sich hieraus<br />

unterschiedliche Investitionssummen (s. Tab. 2).<br />

Für die Anlage A 32 500 ergeben sich nach der Annuitätenmethode investitionsabhängige<br />

Kosten in Höhe von ca. 786 000 €, <strong>für</strong> die Anlage A 45 000 Kosten in Höhe von ca. 861 000 €<br />

und <strong>für</strong> die größte betrachteteAnlagenkapazität von 60 000 Tonnen Biomasse (FM) belaufen<br />

sich die investitionsabhängigen Kosten auf ca. 1Mio. €. Anlagen <strong>für</strong> die Aufbereitung<br />

der HTC-Kohle zu Staub (Mühle) oder Pellets (Pelletierpresse) sind in dieser Kostenschätzung<br />

nicht berücksichtigt.<br />

Buel_3_11.indb 406 17.11.2011 08:13:17


Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />

Tabelle 2. Investitionssumme nach Anlagetyp<br />

407<br />

Im Rahmen der Schätzung der Personalkosten wird die konstante Anwesenheit einer<br />

Person, die den Produktionsprozess <strong>über</strong>wacht, in der Anlage angenommen. Hieraus<br />

ergibt sich ein Personalbedarf von 4,2 Personen pro Jahr.Insgesamt ergeben sich jährliche<br />

Personalkosten, die zwischen 207 000 €und 220 000 €pro Jahr liegen. Verbrauchsabhängige<br />

Betriebsmittelkosten bestehen aus Biomasse-, Wasser- (Frisch- und Abwasser),<br />

Energie- und Entsorgungskosten. Die Kosten <strong>für</strong> die Abwasserentsorgung sind zum jetzigen<br />

Zeitpunkt noch nicht quantifizierbar,danoch nicht geklärt ist, wie die Nebenprodukte<br />

des HTC-Prozesses zu behandeln sind. Vorerst gilt es, die Energiekosten zu quantifizieren.<br />

Beim HTC-Prozess verbrauchen vor allem die Slurry-Pumpen, die Prozessdampferzeugung<br />

<strong>für</strong> den Reaktor und die Trocknung der HTC-Kohle Strom bzw. Gas. Stoff- und<br />

Energieströme der HTC-Anlage wurden mithilfe einer Anlagensimulation mit dem Programm<br />

Aspen Plus bestimmt, welche im Rahmen des Forschungsprojektes an der TU<br />

Berlin durchgeführt wurde. Basierend auf den Simulationsergebnissen können die Stromund<br />

Erdgaskosten berechnet werden. Insgesamt liegen die Energiekosten je Tonne zu verarbeitende<br />

Biomasse zwischen 2,4 und 1,9 €.<br />

Da derzeit noch keine HTC-Anlagen in industriellem Maßstab betrieben werden,<br />

unterliegen die Kostenschätzungen einer hohen Unsicherheit. Neuere Simulationen und<br />

Kostenschätzungen lassen einen höheren Hilfsenergiebedarf sowie höhere Personal- und<br />

Investitionskosten erwarten (vgl. 9).<br />

3.2 Substratkosten<br />

Kosten in TSD €jeAnlagentyp<br />

A 32 500 A 45 000 A 60 000<br />

Battery Limits 2729 2981 3646<br />

Indirekte Nebenpositionen 813 981 1172<br />

Bauzinsen 354 396 482<br />

Erstinbetriebnahme 354 245 164<br />

Umlaufkapital 531 594 723<br />

Gesamte Investitionssumme 4782 5197 6186<br />

Jährliche investitionsabhängige Kosten 786 861 1032<br />

Bei der Bestimmung der Biomassepreise ergibt sich das Problem, dass es in Deutschland<br />

noch keine marktüblichen Preise <strong>für</strong> Stroh bzw. Hackschnitzel aus Waldrestholz als<br />

Substrate der Hydrothermalen Karbonisierung gibt. Um die Preise einschätzen zu können,<br />

werden die Bereitstellungskosten der einzelnen Substrate bestimmt; diese stellen den<br />

jeweiligen Mindestverkaufspreis dar.<br />

Als Nebenprodukt der Getreideproduktion kann Stroh günstig bereitgestellt werden.<br />

Sämtliche Anbaukosten, sowie Pacht und Gemeinkosten werden der Kornproduktion<br />

zugeordnet, sodass sich die Kosten <strong>für</strong> Getreidestroh aus dem Nährstoffwert und den<br />

Kosten der Bergung zusammensetzen.Bei der Ermittlung der Nährstoff-oder Düngewerte<br />

ist zu beachten, dass es sich hierbei um Kosten handelt, die durch die Entnahme der im<br />

Stroh enthaltenen mineralischen Nährstoffe aus dem betrieblichen Stoffkreislauf entstehen.<br />

Die Höhe des Düngewertes und des daraus resultierenden Strohpreises ist demnach<br />

eng mit der Entwicklung der Düngemittelpreise verknüpft. Für das Jahr 2008 ergibt sich<br />

ein durchschnittlicher Düngewert von 61,42 €jeha.<br />

Buel_3_11.indb 407 17.11.2011 08:13:17


408<br />

Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />

Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />

Neben dem Nährstoffwert bestimmen die Bergekosten die Kosten <strong>für</strong> die Bereitstellung<br />

von Stroh. Die Berechnungen, die sich an Vollkostenrechnungen des Leitfadens Bioenergie<br />

der FNR (10) orientieren, führen beim Einsatz von Lohnunternehmen zu Bereitstellungskosten<br />

frei Feldrand von ca. 237 €jehabzw. ca. 51,7 €jeTonne TM. Andere<br />

Quellen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. leible et al. (16) beziffern die Kosten in<br />

Abhängigkeit von Schlaggröße und Ballenart zwischen 42,6 und 58,3 €jeTonne TM.<br />

Die Bereitstellung von Hackschnitzeln aus Waldrestholz erfordert einen hohen manuellen<br />

Arbeitsaufwand und ist deshalb mit hohen Arbeitskosten verbunden (12). Eine einheitliche<br />

Kostenbestimmung anhand einer Vollkostenrechnung ist <strong>für</strong> die Bereitstellung<br />

von Hackschnitzeln aus Energie-/Waldrestholz demnach nur bedingt durchführbar.InVersuchen<br />

der Bayerischen Landesanstalt <strong>für</strong> Wald- und Forstwirtschaft (24) differieren die<br />

Kosten <strong>für</strong> Hackschnitzel aus Fichtenkronen zwischen 7und 11 €jeSchüttraummeter.<br />

Andere Studien (z. B. 3) berechnen Preise <strong>für</strong> Energieholzhackschnitzel zwischen 8,2 €<br />

und 15 €jeSchüttraummeter bzw.41€und 76 €jeTonne Trockenmasse. Die große Preisspanne<br />

ist auf die oben dargelegte Vielzahl unterschiedlicher Faktoren zurückzuführen,<br />

die letztendlich den Preis der Hackschnitzel bestimmen.<br />

Bei der Berechnung der Substratkosten <strong>für</strong> Hackschnitzel aus Kurzumtriebsplantagen<br />

wird von einer Nutzungsdauer von zwanzig Jahren und fünf bis sechs Ernten innerhalb<br />

dieses Zeitraums ausgegangen. Die Kosten pro Tonne Hackschnitzel werden durch<br />

den Ertrag bestimmt. Hier<strong>für</strong> werden die Kosten von drei verschiedenen Ertragsklassen,<br />

mit sechs, zehn und vierzehn Tonnen Trockenmassezuwachs pro Jahr, bestimmt. Auf die<br />

Bereitstellungskosten <strong>für</strong> Hackschnitzeln aus Kurzumtriebsplantagen haben die Anlagekosten<br />

den größten Einfluss. Es ergeben sich je nach Ertragsklasse Kosten zwischen<br />

122 €/t TM und 66,6 €/t TM.<br />

3.3 Transportkosten<br />

Im Rahmen einer Standortwahl mittels quantitativer Methoden sind die Transportkosten<br />

von zentraler Bedeutung. Im Laufe des Produktionsprozesses von HTC-Kohle fallen eine<br />

Vielzahl von unterschiedlichen Transportvorgängen an. Das betrifft zum einen den Transport<br />

der unterschiedlichen Substrate zur HTC-Anlage und zum anderen den Transport der<br />

HTC-Kohle zum Kraftwerk.<br />

Die erste Transportstufe beinhaltet den Biomassetransport vom Feld bzw. Wald zur<br />

HTC-Anlage. In dieser Studie umfasst der Einzugsbereich der Substrate einen Radius<br />

von 50 km. Der Transport der unterschiedlichen Substrate zur HTC-Anlage vollzieht sich<br />

demnach in einem Bereich von bis zu 50 km. Der Großteil dieser Transporte findet jedoch<br />

innerhalb eines Radius von 30 km statt, in diesem Bereich kommen vor allem der landwirtschaftliche<br />

Transport mit Schlepper und Anhänger infrage. Der Transport per LKW<br />

lohnt sich im Nahbereich aufgrund der im Vergleich zur Fahrzeit sehr langen Beladezeit<br />

nicht (16). Ähnlich verhält es sich mit dem Transport per Binnenschiff und Bahn, da die<br />

Substrate hier zunächst von dem Entstehungsort (Feld, Waldstrasse) zu einem Binnenhafen<br />

bzw. Verladebahnhof transportiert werden müssten.<br />

Beim Transport mit landwirtschaftlichen Zügen werden Fahrzeugkombinationen untersucht,<br />

die aus einem Schlepper (90 kW) und zwei Anhängern mit einer Nutzlast von je 14<br />

Tonnen bestehen. Aus Vollkostenrechnungen sind die Kosten je Betriebstunde (BH) <strong>für</strong><br />

den Schlepper und die Anhänger bekannt.<br />

Die Transportkosten sind von der Zeit abhängig, die zum Be- und Entladen benötigt<br />

wird sowie von der Entfernung und von der Durchschnittsgeschwindigkeit des Transports<br />

(1). Die Kosten <strong>für</strong> den Transport von Hackschnitzeln werden <strong>für</strong> die oben genannten<br />

Verfahren berechnet, bei denen die Transportfahrzeuge direkt durch den Häcksler oder<br />

<strong>über</strong> den Hackschnitzelcontainer beladen werden. Dadurch entfallen Kosten <strong>für</strong> die Bela-<br />

Buel_3_11.indb 408 17.11.2011 08:13:17


Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />

Abb. 3. Biomassetransportkosten jeTonne TM und Kilometer<br />

409<br />

dung mithilfe eines Front- oder Radladers. Daraus resultiert ein geringer „Sockelbetrag“.<br />

Mit zunehmenden Entfernungen wird die Durchschnittsgeschwindigkeit immer mehr zur<br />

entscheidenden Größe. Die wesentlichen Anteile an den Transportkosten sind die Personalkosten<br />

mit einem Anteil von 40–50 %, gefolgt von Kapitalkosten, Energiekosten und<br />

Kosten <strong>für</strong> Versicherung und Reparatur, die jeweils zwischen 10 %und 20 %liegen. Für<br />

die Lösung des Standortmodells ist es notwendig, die Transportkosten je Fahrt in Transportkosten<br />

je Tonne Substrat umzurechnen. Das Ergebnis ist in Abbildung 3dargestellt.<br />

Da die Anhänger, die <strong>für</strong> den Strohtransport eingesetzt werden, <strong>über</strong> ein deutlich größeres<br />

Volumen verfügen als die Anhänger, die <strong>für</strong> den Hackschnitzeltransport verwendet<br />

werden (91 m 3 gegen<strong>über</strong> 35,3 m 3 )und aufgrund des hohen Trockenmassegehalts von<br />

Stroh, lässt sich mit einer Fuhre wesentlich mehr Stroh als Hackschnitzel befördern. Der<br />

Unterschied im Wassergehalt von Hackschnitzeln aus Waldrestholz (35 %) und Hackschnitzeln<br />

aus Kurzumtriebsplantagen (60 %) erklärt auch die höheren Transportkosten<br />

der Hackschnitzel aus Kurzumtriebsplantagen.<br />

Einen wichtigen Aspekt bei der Berechnung der Kosten <strong>für</strong> die Beförderung von<br />

HTC-Kohle stellt die Beschaffenheit der HTC-Kohle zum Zeitpunkt des Transports dar.<br />

In diesem Zusammenhang gibt es verschiedene Möglichkeiten. Zum einen könnte die<br />

HTC-Kohle in Brikett-oder in Pelletform transportiert werden. Das hätte den Vorteil, dass<br />

übliche Pritschen-LKWs oder Verladecontainer eingesetzt werden könnten. Allerdings<br />

würde dies bedeuten, dass die HTC-Kohle an der Anlage zuerst gepresst und im Kraftwerk<br />

wiederum zermahlen werden müsste. Die Transportkosten würden demnach sinken,<br />

die Kosten der HTC-Herstellung und Weiterverarbeitung jedoch steigen. Im Folgenden<br />

soll die Beförderung von HTC-Kohle als Kohlenstaub in Gefahrgutsilos näher untersucht<br />

werden. Der HTC-Kohlenstaub ähnelt in seiner Beschaffenheit Braunkohlenstaub und<br />

wird wie dieser als Gefahrgut der Klasse 4(selbst entzündbare Stoffe) behandelt.<br />

Kostenbestimmende Parameter sind neben der Transportentfernung die Dichte der<br />

HTC-Kohle (497,94 kg/m³) und das Volumen der Transporttanks (33 m³). Ferner spielen<br />

die Befüllungs- und Entleerungszeiten eine entscheidende Rolle. Der Transport der<br />

HTC-Kohle kann sich hingegen auch <strong>über</strong> eine größere Entfernung erstrecken, sodass ein<br />

Schiffs- bzw.Bahntransport durchaus sinnvoll sein kann. Hierzu bedarf es allerdings eines<br />

speziellen Verladebahnhofs oder -hafens <strong>für</strong> den kombinierten Verkehr. Unter kombiniertem<br />

Verkehr versteht man, dass ein Transportmodul (Container, Silocontainer) zunächst<br />

per LKW transportiert und dann komplett auf einen Waggon oder ein Schiffverladen wird.<br />

Buel_3_11.indb 409 17.11.2011 08:13:17


410<br />

Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />

Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />

Abb. 4. Transportkosten HTC-Kohle<br />

Abbildung 4zeigt die Kosten <strong>für</strong> den Transport von HTC-Kohle. Unter der Vorraussetzung,<br />

dass sich ein Verladebahnhof im Umkreis von 10 km Fahrstrecke von der HTC-<br />

Anlage befindet, lohnt sich ein Transport per Bahn schon ab ca. 50 km. Dieser Wert verschiebt<br />

sich bei weiter entfernten Verladebahnhöfen zu Ungunsten des Schienentransports,<br />

da die Vorlaufkosten (Transport zum Bahnhof) ansteigen. Beim LKW-Transport liegen die<br />

Kosten <strong>für</strong> einen Transport <strong>über</strong> 50 km bei ca. 11 €, <strong>über</strong> 100 km bei ca. 17 €und <strong>über</strong><br />

200 km bei ca. 28 €/t TM. Die Werte <strong>für</strong> einen Bahntransport <strong>über</strong> 200 km liegen bei ca.<br />

21,28 €/t TM und demnach um fast 7€unter denen des LKW-Transports. Bei einer Anlage<br />

mit einem Produktionsvolumen von 8550 tHTC-Kohle im Jahr beträgt die Differenz fast<br />

60 000 €. Noch erheblicher sind die Unterschiede zwischen der Beförderung in Brikettform<br />

und als HTC-Kohlenstaub, hier beträgt die Differenz bei einer Transportentfernung<br />

von 200 km und einem Transportvolumen von 8550 tetwa 100 000 €.<br />

3.4 Biomassepotenziale<br />

Der Anteil des Getreidestrohs, der zur Produktion von HTC-Kohle genutzt werden kann,<br />

hängt hauptsächlich von drei Faktoren ab (16):<br />

● Strohaufkommen (Klima, Böden, Anbauumfang, Düngung, etc.)<br />

● benötigte Strohmenge in der Viehhaltung (Futter, Einstreu)<br />

● benötigte Strohmenge, um eine positive Humusbilanz gemäß den Cross Compliance-<br />

Regelungen zu erhalten.<br />

Zur Abschätzung des Strohaufkommens werden im Folgenden Angaben des Amtes <strong>für</strong><br />

Statistik Berlin-Brandenburg aus den Jahren 1991–2009 hinsichtlich des Anbauumfangs,<br />

der Erntemenge und des Ausmaßes der Ackerflächen ausgewertet. Mithilfe von ArcGIS<br />

lässt sich so jeder Gemeindefläche ein bestimmtes Strohpotenzial zuordnen. Das Land<br />

Brandenburg verfügt <strong>über</strong> eine landwirtschaftliche Fläche von fast 1,5 Mio. ha. Davon<br />

bestehen etwa eine Mio. ha aus Ackerland, wovon fast 700 000 ha mit Getreide bestellt<br />

werden. Um beurteilen zukönnen, inwieweit sich die räumliche Verteilung der Anbauflächen<br />

auch tatsächlich inden Potenzialen widerspiegelt, werden im nächsten Schritt die<br />

Getreideerträge der letzten zehn Jahre in den einzelnen Landkreisen untersucht. Hinsichtlich<br />

der Berechnung des technischen Strohpotenzials wird davon ausgegangen, dass 50 %<br />

des Bruttostrohaufkommens zur Erhaltung einer positiven Humusbilanz notwendig sind.<br />

Buel_3_11.indb 410 17.11.2011 08:13:17


Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />

Abb. 5. Räumliche Verteilung des Überschussstrohs<br />

411<br />

Bei der Standortwahl entscheidet nicht die Menge des absoluten Strohpotenzials sondern<br />

der Quotient aus technischem Potenzial und Bodenfläche. Der Quotient bestimmt die<br />

Größe des Einzugsradius und gibt folglich Auskunft <strong>über</strong> die Höhe der anfallenden Transportkosten.<br />

Abbildung 5stellt die räumliche Dichte des Strohaufkommens dar. Damit ist<br />

gemeint, wie viele Tonnen Stroh je ha Gemeindefläche im Jahr zur energetischen Nutzung<br />

zur Verfügung stehen. Bei der Bewertung des technischen Potenzials von Stroh<br />

als HTC-Substrat muss mit einbezogen werden, dass es in Trockenjahren zu erheblichen<br />

Ertragsausfällen kommen und sich so der Einzugsradius <strong>für</strong> die benötigte Strohmenge<br />

beträchtlich erhöhen kann.<br />

Das Substrat „Stroh“ zeigt außerdem beispielhaft die Schwierigkeit, das wirtschaftliche<br />

Potenzial zu quantifizieren. Das wirtschaftliche Potenzial ist u. a. abhängig von:<br />

● Anteil des Strohs, der zur Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit notwendig ist, unterliegt<br />

der subjektiven Einschätzung des Landwirts<br />

● Persönliche Einstellung des Landwirts gegen<strong>über</strong> neuen Vermarktungsmöglichkeiten<br />

● Aufwand <strong>für</strong> den Aufbau von Lieferbeziehungen zwischen Anbieter und Kunde<br />

● Entwicklung des Strohpreises bei einer starken Erhöhung der Nachfrage<br />

● Entwicklung von Energie-, Mineraldünger- und Saatgutpreisen.<br />

Buel_3_11.indb 411 17.11.2011 08:13:18


412<br />

Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />

Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />

Abb. 6. Räumliche Verteilung des Energieholzes<br />

Die Höhe des wirtschaftlichen Potenzials hängt, wie aufgezeigt, von unterschiedlichen<br />

Faktoren abund ist damit komplexer und schwieriger einzuschätzen als die Höhe des<br />

technischen Potenzials.<br />

Unter dem Begriff „Energieholz“ oder auch „Waldrestholz“ wird im Rahmen dieser<br />

Studie zum einen das Kronenholz verstanden, das bei der Industrie- bzw. Stammholzgewinnung<br />

entsteht und zum anderen jenes Holz, das bei der Pflege von Jungholzbeständen<br />

anfällt. Die im Folgenden verwendeten Energieholzpotenziale beziehen sich auf Daten<br />

und Berechnungen, die im Rahmen des Forschungsprojektes DENDROM gewonnen<br />

wurden (17). Abbildung 6zeigt die räumliche Verteilung des Energieholzaufkommens in<br />

Brandenburg auf Gemeindeebene.<br />

In Brandenburgwird bisher kaum Agrarholz produziert, obwohl die Herstellung dieses<br />

wichtigen Substrates in Kurzumtriebsplantagen seit <strong>über</strong> zwei Jahrzehnten bekannt ist und<br />

von wissenschaftlicher Seite bereits eingehend erforscht wurde (z. B. 7). Für einen potenziellen<br />

Ausbau des Anbauumfangs von Agrarholz ist eine Vielzahl an Faktoren mitentscheidend.<br />

Ein wichtiger Faktor betrifft die Konkurrenzfähigkeit des Agrarholzes gegen<strong>über</strong><br />

herkömmlichen Marktfrüchten, die Konkurrenzfähigkeit hängt zum einen von den<br />

Entwicklungen auf den Agrarmärkten ab. Aber auch die Preisentwicklungen bei anderen<br />

Buel_3_11.indb 412 17.11.2011 08:13:18


Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />

KUP-dichte intTM/ha<br />

0,00 –0,08<br />

0,09 –0,15<br />

0,15 –0,21<br />

0,21 –0,27<br />

0,27 –0,34<br />

Abb. 7. Räumliche Verteilung des Aufkommens von Hackschnitzeln aus Kurzumtriebsplantagen<br />

413<br />

Energieformen, die wie Biogas, Biodiesel oder Bioethanol auf Biomasse beruhen, bestimmen,<br />

in welchem Umfang Ackerfläche <strong>für</strong> die Energieholzproduktion genutzt werden<br />

kann. Zum anderen hängt die Konkurrenzfähigkeit von der Entwicklung der Produktionskosten<br />

von Agrarholz und der Entwicklung auf der Nachfrageseite ab. Ein weiterer wichtiger<br />

Faktor betrifft die Innovationsbereitschaft der Landwirte. Viele Landwirte werden von<br />

dem hohen Kapitalbedarf abgeschreckt, der mit der Anlage einer Kurzumtriebsplantage<br />

verbunden ist, zumal die Rückgewinnung des eingesetzten Kapitals erst spät erfolgt. Ferner<br />

mindert die Abhängigkeit von einer positiven Entwicklung der politischen Rahmenbedingungen<br />

die Bereitschaft der Landwirte, in Kurzumtriebsplantagen zu investieren (23).<br />

Im Rahmen dieser Studie wird zur Ermittlung des theoretischen Potenzials von einem<br />

Anbauanteil von 10 %ander gesamten Ackerfläche ausgegangen. Der Ertrag bewegt<br />

sich zwischen acht und zwölf Tonnen Trockenmasse pro Jahr und ha und ist vorrangig<br />

von der Wasserverfügbarkeit des Standortes abhängig. Aus diesen Annahmen ergibt sich<br />

ein technisch nutzbares KUP-Potenzial von 1,01 Mio. Tonnen FM. Grundsätzlich muss<br />

betont werden, dass die Schätzungen in Bezug auf das technische Potenzial von Holz aus<br />

Kurzumtriebsplantagen verglichen mit dem technischen Potenzial von Stroh und Energieholz<br />

stärker auf möglichen zukünftigen Entwicklungen als auf den gegenwärtig realisier-<br />

Buel_3_11.indb 413 17.11.2011 08:13:18


414<br />

Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />

Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />

Tabelle 3. HTC-Potenzial in Brandenburg<br />

Biomasseart Stroh Energieholz KUP Gesamt<br />

TNP in Mio. tTM 1,10 0,27 0,61 1,97<br />

MUF (TM/TM) 0,60 0,65 0,70<br />

HTC-Kohle in Mio. tTM 0,66 0,17 0,36 1,20<br />

Energiegehalt in Petajoule 14,52 3,80 8,00 26,32<br />

Energiegehalt in Terawattstunden 4,03 1,06 2,22 7,31<br />

(TNP =Technisch nutzbares Potenzial, MUF =Masseumwandlungsfaktor)<br />

ten Anbauumfängen basieren. Abbildung 7stellt die räumliche Verteilung des Aufkommens<br />

von Hackschnitzeln aus Kurzumtriebsplantagen dar.<br />

Anhand der Biomassepotenziale lässt sich ein theoretisches HTC-Kohle-Potenzial von<br />

1,2 Mio. Tonnen TM <strong>für</strong> Brandenburg bestimmen (siehe Tab. 3). Bei einem Heizwert<br />

von 22 MJ/kg HTC-Kohle ergibt sich ein Gesamtenergiegehalt von 26,32 Petajoule bzw.<br />

7,31 TWh (Terawattstunden). Damit ließen sich ca. 4%des Primärenergieverbrauchs des<br />

Landes Brandenburg (2004: 639 PJ) abdecken. Der bisherige Anteil der Biomasse am<br />

Primärenergieverbrauch (25,6 PJ) würde sich dadurch verdoppeln.<br />

3.5 Erlöse<br />

Die Erlöse setzen sich aus dem Verkauf von HTC-Kohle als BrennstoffanKraftwerke und<br />

Industriebetriebe, sowie aus den Einsparungen an Emissionsberechtigungen, die durch<br />

die Nutzung von HTC-Kohle als CO 2 -neutralem Brennstoff entstehen, zusammen (6).<br />

Seit 2010 werden an den Strombörsen der European Energy Exchange die Treibhausgas-<br />

Emissionsberechtigungen versteigert. Im zweiten Quartal 2010 wurden Durchschnittserlöse<br />

in Höhe von 15,02 €pro Berechtigung erzielt. Die weitere Preisentwicklung wird<br />

maßgeblich von der zukünftigen Zuteilungspraxis bestimmt werden, da diese Angebot<br />

und Nachfrage festlegt.<br />

Um die Erlösmöglichkeiten von HTC-Kohle als Brennstoff zur energetischen Nutzung<br />

zu bestimmen, muss die Nachfrageseite des Standortmodells genauer spezifiziert werden.<br />

Dazu wird ein Substitutionswert ermittelt, der in diesem Kontext als „Ersatzbrennstoffkosten“<br />

zu verstehen ist. Die „Ersatzbrennstoffkosten“ stellen den Brennstoffpreis je kWh<br />

dar, zudem ein Kraftwerk Strom zu einem vorgegebenen Preis produzieren kann. In diesem<br />

Zusammenhang werden Annahmen <strong>über</strong> Stromgestehungskosten in verschiedenen<br />

Kraftwerksarten getroffen. Die Energiegestehungskosten der Strom- und Wärmeproduktion<br />

sind abhängig von der Kraftwerksart, den Investitionskosten, den Betriebskosten,<br />

dem Wirkungsgrad und den Brennstoffkosten (14 sowie 15). In diese Rechnung nicht<br />

einbezogen sind zum einen die Umrüstkosten in den Kraftwerken und zum anderen die<br />

Einsparungen, die aufgrund der Homogenität, des staubförmigen Aggregatzustands und<br />

des höheren Heizwertes der HTC-Kohle bei der Verbrennung zu erwarten sind. Während<br />

bei Braunkohlekraftwerken mit Staubfeuerung die Mitverbrennung von HTC-Kohle voraussichtlich<br />

ohne größere Umbaumaßnahmen an Brennstoffeintragssystemen und Kesseln<br />

erfolgen kann, ist dies bei den Biomassekraftwerken im Einzelfall zuprüfen. Ggf. wäre<br />

der Einbau eines neuen Kessels erforderlich. Tabelle 4weist die so ermittelte potenzielle<br />

Zahlungsbereitschaft <strong>für</strong> Kraftwerke in Brandenburg aus. Um zu unveränderten Kosten<br />

produzieren zu können, würde beispielsweise das Kraftwerk Jänschwalde HTC-Kohle bis<br />

zu einem Preis von ca. 61 €frei Kraftwerk einsetzen. Es wird deutlich, dass der Anreiz,<br />

HTC-Kohle einzusetzen, zwischen den Kraftwerken als potenziellen Kunden stark variiert.<br />

Buel_3_11.indb 414 17.11.2011 08:13:18


Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />

Kraftwerk-<br />

Standort<br />

Tabelle 4. Berechnung der Ersatzbrennstoffkosten<br />

η η<br />

elektr.<br />

Spez.<br />

Invest.<br />

Kosten<br />

Volllast fixe<br />

Betriebskosten<br />

Einspeise-<br />

Vergütung<br />

4 Ergebnisse des Standortmodells<br />

415<br />

Wie oben ausgeführt, wird das Ergebnis der Standortplanung wesentlich durch die Substratverfügbarkeit<br />

bestimmt. Um die Unsicherheit bezüglich dieser Größe berücksichtigen<br />

zu können, werden verschiedene Szenarien definiert, die sich in ihrer Substratverfügbarkeit<br />

unterscheiden:<br />

I. Szenario „Technisch nutzbares Potenzial“ (TNP): Es orientiert sich an dem im Rahmen<br />

der Arbeit ermittelten, technisch möglichen Biomasseaufkommen in Brandenburg<br />

ungeachtet konkurrierender Verwendungsmöglichkeiten.<br />

II. Szenario „Korrigiertes technisches Potenzial“ (KTNP): das wirtschaftlich erschließbare<br />

Potenzial lässt sich nicht genau bestimmen, es liegt aber deutlich unter dem technisch<br />

nutzbaren Potenzial. In diesem Szenario wird das technisch nutzbare Potenzial<br />

um 50 %reduziert, um das wirtschaftlich erschließbare Potenzial grob abschätzen zu<br />

können.<br />

III. Szenario „Trockenjahr“: Die landwirtschaftlichen Erträge in Brandenburgsind bekanntermaßen<br />

durch Trockenheit gefährdet. Das Strohaufkommen wird in dem Szenario<br />

anhand der Erträge von 2003 berechnet, in dem drastische Ertragsausfälle zu verzeichnen<br />

waren. Dieses Szenario ist in Hinblick auf eine mögliche Verschlechterung der<br />

klimatischen Voraussetzungen interessant.<br />

Anschließend wird im Rahmen von Sensitivitätsanalysen der Einfluss verschiedener Kosten<br />

und Erlöskomponenten auf die Rentabilität untersucht. Hierbei wird vor allem auf<br />

mögliche Veränderungen bei den Substratkosten und den Preisen <strong>für</strong> Emissionszertifikate<br />

eingegangen.<br />

4.1 Szenario 1: Technisch nutzbares Potenzial<br />

Grenzbrennstoffpreise<br />

je KW in h/a je KW/a in €/kWh in €/<br />

kWh<br />

HTC<br />

Grenzbrennstoffpreise<br />

in €/t TM<br />

HTC<br />

Jänschwalde - 35,5 1100 8250 44 0,045 0,0100 61,23<br />

Cottbus 81 40 1700 7000 68 0,045 0,0124 75,90<br />

Frankfurt (Oder) 81 40 1700 7000 68 0,045 0,0124 75,90<br />

Klingenberg 87 38 1 500 7000 60 0,045 0,0153 93,80<br />

Strausberg 86 34 2 000 7000 80 0,045 0,0119 72,84<br />

Heiligengrabe 83 25 2350 7000 94 0,083 0,0193 117,71<br />

Baruth 83 25 2350 7000 94 0,083 0,0193 117,71<br />

Märk. Viertel 84 25 2350 7000 94 0,083 0,0195 118,93<br />

Rechnungen mit dem Standortmodell (2.1) bis (2.13) zeigen, dass unter den gegenwärtigen<br />

Bedingungen und unter den getroffenen Annahmen mit dem Bau einer HTC-Anlage<br />

in Brandenburg kein Gewinn zu erzielen ist. Die optimale Lösung wäre also der komplette<br />

Verzicht auf den Bau solcher Anlagen. Um dennoch Erkenntnisse <strong>über</strong> den Einfluss<br />

Buel_3_11.indb 415 17.11.2011 08:13:19


416<br />

Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />

Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />

der einzelnen Parameter auf den Gewinn und die Kosten zuerhalten, wurde das Modell<br />

erweitert. Zumeinem wurdeder Baumindestenseiner Anlage alsNebenbedingungeingeführt<br />

und somit erzwungen. Zum anderen wurde eine Nachfrage von insgesamt 250 000 t<br />

HTC-Kohlepro Jahr eingeführt und auf die einzelnenKraftwerke in Brandenburgverteilt,<br />

was als eine Art „Beimischungszwang“ interpretiert werden kann. Die Nachfragemenge<br />

orientiert sich an der gesamten jährlichen Braunkohlestaubproduktion von ca. 700 000 t<br />

in Brandenburg (22) und unterstellt eine Substitutionsrate von Braunkohlenstaub durch<br />

HTC-Kohle von 35 %. In den Szenarien, die mit (d) gekennzeichnet sind, ist die Deckung<br />

dieser Nachfrage als Nebenbedingung in das Modell integriert. So konnte untersucht werden,<br />

wie sich veränderte Parameter bei mehreren Standorten auf die Wahl der Anlagengröße<br />

bzw. die Standortwahl auswirken.<br />

Der optimale Standort <strong>für</strong> eine HTC-Anlage in dem Szenario TNP ist der Standort<br />

Müncheberg (Tab. 5). Die optimale Anlagenkapazität beträgt hier 45 000 Tonnen FM<br />

Biomasse. Dies entspricht der mittlerenKapazitätsklasse; es werden 22 950 Tonnen HTC-<br />

Kohle produziert, wobei ausschließlich Stroh als Substrat verwendet wird. Als Abnehmer<br />

wird das Kraftwerk Klingenberg inBerlin gewählt, die Transportentfernung beträgt ca.<br />

50 km.<br />

Der Einsatz von Stroh als Substrat führt in Brandenburg zu Produktionskosten von<br />

165,63 €jeTonne TM HTC-Kohle. Die Gesamtkosten belaufen sich auf ca. 3,8 Mio. €,<br />

den größten Kostenblock bilden die Substratkosten mit 51 %, gefolgt von den investitionsabhängigen<br />

Fixkosten mit 23 %. Durch die niedrigeren Transportkosten von Stroh und<br />

durch das hohe Strohpotenzial des Einzugsradius liegt der Anteil der Substrattransportkosten<br />

nur bei 10 %. Der Biomasseeinzugsradius wird im Rahmen eines Vergleichs aller Szenarien<br />

in Abschnitt 4.3 analysiert. Bei einem CO 2 -Zertifikatspreis von 15 €erwirtschaftet<br />

die Anlage in Müncheberg einen Verlust von 655 164 €.<br />

Unter der Vorgabe, der Nachfrage von insgesamt 250 000 tHTC-Kohle aller potenziellen<br />

Kunden nachzukommen, werden neun Standorte in Brandenburg als optimale<br />

Lösungen identifiziert (siehe Abb. 8). Die Transportentfernungen zwischen dem Standort<br />

der Karbonisierungsanlage und den Kunden bewegen sich zwischen 105 km in Bezug<br />

auf den Transport von Dahme/Mark nach Jänschwalde und 5kminBezug auf Anlage<br />

Tabelle 5. Ergebnisse des Szenarios Brandenburg TNP<br />

TNP TNP(d)<br />

Zertifikatspreis in € 15 15<br />

Anlagenanzahl 1 9<br />

Kohlemenge in t 22950 250 000<br />

Kosten je Anlage in €<br />

Substrat 1978 650 2394 880<br />

Substrattransport 361 649 471 616<br />

Fixkosten 861 000 975 000<br />

HTC-Transport 267 375 267 957<br />

Gesamte Kosten 3801 150 4462 615<br />

HTC je Tonne 165,63 160,65<br />

Erlöse Zertifikate 1009 800 583 000<br />

Erlöse Verkauf 2136 186 2664 867<br />

Gewinn je Anlage -655 164 -1 214 749<br />

Buel_3_11.indb 416 17.11.2011 08:13:19


Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />

417<br />

und Kunden in Brandenburg ander Havel. Die durchschnittliche Entfernung zwischen<br />

Standort (Anlage) und zu belieferndem Kunden beträgt im Szenario TNP 39,8 km. Die<br />

Kosten je Tonne HTC-Kohle erweisen sich im Vergleich zu denen des kostenoptimalen<br />

Standorts in Münchebergals um 5€geringer (160,65 €), alle sonstigen durchschnittlichen<br />

Kosten je Anlage sind jedoch höher.Allerdings lassen sich die durchschnittlichen Kosten<br />

nicht unmittelbar miteinander vergleichen, da unter der Vorgabe der Nachfragedeckung<br />

<strong>über</strong>wiegend Anlagen mit einer Kapazität von 60 000 tBiomasse gewählt werden, die<br />

zwar höhere Kosten verursachen, aber auch mehr HTC-Kohle produzieren können. Die<br />

Substrattransportkosten je Anlage sind bei Nachfragedeckung zwar höher, die Substrattransportkosten<br />

je Tonne Frischmasse belaufen sich hingegen nur auf 11,88 €(beim optimalen<br />

Standort in Müncheberg auf 15,75 €). Daraus lassen sich wieder Rückschlüsse<br />

auf die Gewichtung der einzelnen Kostenelemente bei der Suche nach einem optimalen<br />

Standort ziehen.<br />

4.2 Szenarien Korrigiertes TNP und Trockenjahr<br />

In dem Szenario BrandenburgKTNPwird das Substrataufkommenum50%reduziert.Im<br />

Szenario Trockenjahr wird das Strohpotenzial, ausgehend von dem korrigierten technisch<br />

nutzbaren Potenzial, mit den Stroherträgen von 2003 berechnet.<br />

Die Ergebnisse des Szenarios KTNP entsprechen weitgehend denen des Szenarios<br />

TNP.Der Standort Münchebergmit einer Kapazität von 45 000 twird wieder als optimaler<br />

Standort ermittelt, der einzige Unterschied betrifft die gestiegenen Transportkosten. Eine<br />

Reduzierung des Strohpotenzials um 50 %führt letztendlich zu einer Steigerung der Produktionskosten,<br />

inklusive Transport nach Klingenberg, um 1,72 €/t HTC-Kohle. Im Rahmen<br />

einer weiteren Reduzierung des Strohpotenzials im Szenario Trockenjahr kommt es<br />

zu wesentlichen Veränderungen gegen<strong>über</strong> den anderen Szenarien. Stroh bleibt zwar auch<br />

im Szenario Trockenjahr das einzig gewählte Einsatzsubstrat, durch die erhöhten Biomassetransportkosten<br />

erhöht sich jedoch der Verlust je produzierter Tonne HTC-Kohle.<br />

Dies führt zu einer geringen Anlagenkapazität von 32 500 tFMBiomasse und zu einer<br />

Produktion von 16 230 tTMHTC-Kohle. Die Produktionskosten steigen auf 183,38 €/t<br />

Kohle an, und es wird ein Verlust von ca. 740 000 €erwirtschaftet.<br />

Tabelle 6. Ergebnisse der Szenarien KTNP und Trockenjahr<br />

KTNP Trockenjahr<br />

Anlagenanzahl 1 1<br />

Ges. Kohlemenge in Tonnen 22 950 16 230<br />

Kosten je Anlage in €<br />

Substratkosten je Anlage 1978 650 1407 040<br />

Transportkosten Substrat 401 280 293 333<br />

HTC-Transportkosten 267 375 190 134<br />

Gesamte Kosten 3840 780 2976 332<br />

Kosten pro Tonne HTC 167,35 183,38<br />

Erlöse Zertifikate 1009 800 718 080<br />

Erlöse Verkauf 2136 186 1519 066<br />

Gewinn je Anlage -694 793 -739 186<br />

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418<br />

Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />

Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />

4.3 Einfluss der Biomassepotenziale auf den Einzugsradius<br />

Das Biomasseaufkommen hat einen entscheidenden Einfluss auf den Einzugsradius der<br />

HTC-Anlagen und folglich auch auf die Substrattransportkosten. Die Höhedes Biomassepotenzials<br />

wirkt sich sowohl auf die Auswahl der Standorte zur Nachfragedeckung, als<br />

auch auf die, dem jeweiligen Standort zugeordnete, Anlagenkapazität aus. ImSzenario<br />

TNP und KTNPwerden am Standort Friesack 30 600 tHTC-Kohle produziert, imSzenario<br />

„Trockenjahr“ fällt der Standort Friesack hingegen aus der Auswahl heraus. Stattdessen<br />

wird eine Anlage am Standort Kyritz errichtet, im Vergleich zum Standort Friesack<br />

werden hier nun nur noch 20 910 tHTC-Kohle produziert.<br />

In Abbildung 8sind die Einzugsradien der einzelnen Standorte <strong>für</strong> die unterschiedlichen<br />

Szenarien dargestellt. Müncheberg (1) zeigt den Einzugsradius des Standortes Münchebergbei<br />

der Ermittlung eines Standorts mit minimalen Kosten. Der geringe Einzugsradius<br />

im Szenario „Trockenjahr“ ist durch die Reduktion der Anlagenkapazität zu erklären.<br />

Genauso verhält es sich hinsichtlich der Standorte Friesack/Kyritz und Lieberose, hier<br />

wurde die Anlagenkapazität jeweils um eine Klasse heruntergesetzt. Innerhalb der Anlagenkapazitätsklasse<br />

mit 60 000 tweist Münchebergmit 19,3 km, 28,3 km und 43,4 km die<br />

geringsten Einzugsradien auf. Die größten Einzugsradien betreffen den Standort Lieberose<br />

im Szenario TNP und KTNP mit 25,9 km bzw.39,7 km und den Standort Luckenwalde mit<br />

46,9 km beim Szenario „Trockenjahr“. Die Verringerung des Potenzials um 50 %führt im<br />

Durchschnitt zu einer Erhöhung des Einzugsradius von 20,9 km auf 31,3 km. Die weitere<br />

Reduzierung des Strohpotenzials, entsprechend der Erträge von 2003, bedeutet eine weitere<br />

Ausdehnung des Einzugsradius um 11 km auf 42,3 km.<br />

Abb. 8. Einzugsradien bei unterschiedlichen technisch nutzbaren Potenzialen<br />

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Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />

4.4 Bedeutung des Strohpreises<br />

419<br />

Die Berechnung des Strohpreises anhand der Bereitstellungskosten und des Düngewerts<br />

beinhaltet starke Unsicherheiten. Im Folgenden wird der Einfluss von Veränderungen des<br />

Strohpreises auf das Angebot an HTC-Kohle und den Gewinn analysiert. Der im Modell<br />

verwendete Strohpreis beläuft sich auf 43,97 €/t Frischmasse. Mit diesem Wert ist es nicht<br />

möglich, Gewinn zu erzielen. Wird dagegen der Strohpreis schrittweise auf einen Wert<br />

von 10 €/t FM gesenkt, wird die gesamte Nachfrage nach HTC-Kohle befriedigt und es<br />

können insgesamt <strong>über</strong> 6Mio. €erwirtschaftet werden (Abb. 9).<br />

Ein solcher Strohpreis ist unter normalen Bedingungen jedoch nicht realisierbar. Bei<br />

Eigenmechanisierung und voller Auslastung der Ballenpresse liegt der Preis je Tonne<br />

FM Stroh bei ca. 24 €. Unter diesen optimalen Bedingungen beliefe sich die angebotene<br />

Menge an HTC-Kohle auf ca. 120 000 Tonnen. Das würde bedeuten, dass es an vier Standorten<br />

möglich wäre, einen Gewinn zu erwirtschaften. Bei einem Strohpreis von 34 €/t<br />

FM ist es an keinem Standort mehr möglich, HTC-Kohle mit Gewinn zu produzieren. Im<br />

Rahmen der zunehmenden Nachfrage nach Biomasse zur energetischen Verwertung und<br />

in Bezug auf die Unsicherheiten, die bei der Menge an Stroh besteht, die tatsächlich von<br />

den Landwirten zum Verkauf angeboten wird, ist ein Preis, der noch <strong>über</strong> 43,97 €liegt,<br />

nicht unwahrscheinlich.<br />

Abbildung 10 zeigt die Auswirkungen eines Anstieges des Strohpreises auf den Anteil<br />

der unterschiedlichen Biomassearten an dem gesamten eingesetzten Substrat der HTC-<br />

Anlagen (Gesamtproduktion 250 000 tHTC-Kohle) im Szenario „Trockenjahr“ und stellt<br />

so dessen Einfluss auf die optimale Substratwahl dar. Bei einem Strohpreis von 43,97 €<br />

wird ausschließlich Stroh als Substrat verwendet. Bereits ab einem Strohpreis von 48 €<br />

wird Stroh jedoch durch Energieholz substituiert. Das Ausmaß der Substitution erfolgt<br />

gemäß einer Abwägung zwischen Strohpreis, dem Preis der alternativen Substrate, der<br />

räumlichenVerteilung der Substrate, sprich: den zu erwartenden Transportkosten, und der<br />

Kohleausbeute der unterschiedlichen Substrate.<br />

Im Rahmen dieser Erwägungen schneidet Stroh als einzusetzendes Substrat bei steigenden<br />

Preisen schrittweise immer ungünstiger ab. Zunächst wird Stroh nur durch Energieholz<br />

substituiert, ab einem Preis von 58 €/t Stroh wird neben Energieholz auch Holz aus<br />

KUP aus dem Nahbereich verwendet. Bei einem Preis von 66 €werden die vorhandenen<br />

Energieholzpotenziale weitestgehend genutzt, und Stroh wird vollständig durch Holz aus<br />

KUP substituiert.<br />

Abb. 9. Entwicklung des Gewinns und der angebotenen Menge inAbhängigkeit vom Strohpreis<br />

(Szenario TNP)<br />

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420<br />

Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />

Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />

Abb. 10. Substratzusammensetzung inAbhängigkeit vom Strohpreis im Szenario „Trockenjahr“<br />

4.5 Vergleich unterschiedlicher Parameterkonstellationen<br />

Auf die Unsicherheiten bei der Festlegung der Modellparameter wurde mehrfach hingewiesen.<br />

So können zum Beispiel Entwicklungen bei der Nachfrage nach den Substraten<br />

oder Änderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen deutliche Änderungen der Erlössituation<br />

bewirken. Deshalb werden im Folgenden die Kosten der Biomassetransporte<br />

und die tatsächlichen investitionsabhängigen Kosten, die der Bau einer HTC-Anlage verursacht,<br />

sowie der Zertifikatspreis mithilfe von Sensitivitätsanalysen untersucht. Dazu<br />

werden die Parameter ineinem Intervall von +/-50 %ihres Ausgangswertes variiert.<br />

DieinAbbildung 11 dargestellten Ergebnisse veranschaulichennoch einmal die Bedeutung<br />

der Substratpreise <strong>für</strong> den Gewinn. Eine Erhöhung der Strohpreise um 20 %führt<br />

zu einer Reduktion des Gewinns um <strong>über</strong> 50 %, eine Erhöhung der Investitionskosten um<br />

20 %hat eine Verringerung des Gewinns um 19 %zur Folge. Ebenfalls sensitiv verhält<br />

sich die Rentabilität bezüglich des Zertifikatpreises <strong>für</strong> Emissionsrechte. Eine Erhöhung<br />

der Biomassetransportkosten hat dagegen einen vergleichsweise geringen Einfluss auf<br />

Abb. 11. Sensitivitätsanalyse <strong>für</strong> das Szenario TNP<br />

Buel_3_11.indb 420 17.11.2011 08:13:20


Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />

421<br />

den Gewinn. Dabei ist zu beachten, dass hier nur die Kosten je Tonne FM und Kilometer<br />

variiert werden. Wie bereits aufgezeigt, hat eine Erhöhung des Einzugsradius und damit<br />

der absoluten Biomassetransportkosten einen großen Einfluss auf den Gewinn.<br />

5 Fazit<br />

Im Rahmen der Standortplanung wurden mögliche Standorte zur Errichtung einer Anlage<br />

zur Hydrothermalen Karbonisierung im industriellen Maßstab in Brandenburg untersucht.<br />

Ausgehend von einem mehrstufigen Warehouse Location Problem wurde ein Lösungsansatz<br />

entwickelt, der es ermöglichte, die speziellen Produktionsbedingungen von HTC-<br />

Kohle in ein zweistufiges gemischt binäres LP zu integrieren. Um ein möglichst realitätsnahes<br />

Modell zu erhalten, wurde zunächst die Ausprägung verschiedener Standortfaktoren<br />

in Brandenburg untersucht und bei der Ermittlung der Eingangsdaten des Modells<br />

berücksichtigt. Bei der Bestimmung der Eingangsdaten wurde den einzelnen Gemeinden<br />

Brandenburgs ein spezifisches technisches Potenzial der untersuchten Biomassearten<br />

zugeordnet. Ferner wurden die Transportkosten der zwei Distributionsstufen bestimmt<br />

und die Kosten der Einrichtung und des Betriebs einer HTC-Anlage geschätzt. Um die<br />

Absatzseite des Standorts zu berücksichtigen, wurden potenzielle Kunden identifiziert und<br />

kundenspezifische Abnahmepreise definiert.<br />

Die Modellrechnungen zeigen, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen und <strong>für</strong><br />

die untersuchten Biomassearten mit dem Bau einer HTC-Anlage in Brandenburg kein<br />

Gewinn zu erzielen ist. Um gewinnbringend produzieren zu können, ist die Einstufung der<br />

HTC-Kohle als CO 2 -neutraler Brennstoff von elementarer Bedeutung. Sowohl bei Stroh<br />

und stärker noch bei Holzhackschnitzeln als Substrat lässt sich HTC-Kohle erst durch die<br />

Miteinbeziehung der vermiedenen Kosten <strong>für</strong> Emissionsberechtigungen gewinnbringend<br />

vermarkten. Um die energetische Nutzung von Kohle aus der Hydrothermalen Karbonisierung<br />

rentabel zu machen, wären gegenwärtig Preise <strong>für</strong> Emissionsberechtigungen von<br />

<strong>über</strong> 30 €bei Stroh und <strong>über</strong> 50 €bei Hackschnitzel notwendig. Unter der Bedingung mindestens<br />

eine Anlage zu errichten, erwiesen sich aus betriebswirtschaftlicher Sicht große<br />

Anlagen mit einem verhältnismäßig großen Biomasseeinzugsradius als optimale Lösung.<br />

Einbrüche bei der verfügbaren Strohmenge, wie sie wetterbedingt immer wieder zu erwarten<br />

sind, konnten durch eine Vergrößerung des Einzugsradius wettgemacht werden, ohne<br />

dass es zu einer starken Erhöhung der Produktionskosten kam. Die klimarelevanten CO 2 -<br />

Emissionen stiegen hingegen bei einer Vergrößerung des Einzugsradius naturgemäß an<br />

und verringerten somit das CO 2 -Einsparpotenzial.<br />

Bei der Wahl eines optimalen Standortes erwies sich die räumliche Nähe zu den<br />

potenziellen Kunden als dominierendes Auswahlkriterium. Das an den verschiedenen<br />

Standorten vorhandene Biomassepotenzial war bei der Standortwahl einer HTC-Anlage<br />

in Brandenburg hingegen zweitrangig. Dies ist auf das hohe technische Biomassepotenzial<br />

von Stroh und Hackschnitzeln aus Waldrestholz bzw. Kurzumtriebsplantagen in ganz<br />

Brandenburg zurückzuführen. Die zum Betrieb einer Anlage benötigten Substratmengen<br />

ließen sich infolgedessen in fast jedem der in Betracht gezogenen Standorte bei verhältnismäßig<br />

konstanten Gesamtkosten beschaffen. Diese Biomassearten bilden eine solide<br />

Basis <strong>für</strong> den Betrieb einer HTC-Anlage in Brandenburg, ihre hohen Kosten wirken sich<br />

aber negativ auf die Wirtschaftlichkeit der HTC-Anlage aus. Aufgrund des großen Einflusses<br />

der Substratkosten auf die Produktionskosten wäre es <strong>für</strong> ein Unternehmen wichtig,<br />

Potenziale anderer Biomassearten, die nicht flächendeckend, sondern nur punktuell vorhanden<br />

und kostengünstig zu beschaffen sind, in die Standortwahl mit einzubeziehen und<br />

sich dadurch einen Standortvorteil zu verschaffen. Bei den hier betrachteten Biomassen,<br />

insbesondere Holz, wäre im Übrigen zu prüfen, ob nicht die Herstellung von Holzpellets<br />

eine kostengünstigere Alternative zur HTC wäre.<br />

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422<br />

Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />

Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />

Zusammenfassung<br />

Der Beitrag untersucht die Rentabilität der HydrothermalenKarbonisierung (HTC) als ein Verfahren<br />

zur Aufbereitung und Veredelung von Biomasse. Die Analyse erfolgt aus einer ex-ante-Perspektive<br />

beispielhaft <strong>für</strong> das Bundesland Brandenburg. Um der besonderen Bedeutung der Transportkosten<br />

<strong>für</strong> die Rentabilität gerecht zu werden, wird ein zweistufiges Standortmodell entwickelt. Das Modell<br />

ermöglicht es, die zu erwartenden Transportflüsse an Biomasse und HTC-Kohle zu quantifizieren<br />

und die damit verbundenen Kosten zu minimieren. Dadurch können optimale Biomasseeinzugsradien<br />

und die eingesetzten Substrate <strong>für</strong> verschiedene Standorte bestimmt werden. Dar<strong>über</strong> hinaus<br />

ermittelt das Modell die zu erwartenden Gesamtkosten einer HTC-Anlage. Es werden verschiedene<br />

Szenarien bezüglich der Verfügbarkeit von Biomasse untersucht und die Auswirkungen maßgeblicher<br />

Parameter auf Kosten und Rentabilität analysiert. Es zeigt sich, dass <strong>für</strong> die untersuchte Region Brandenburg<br />

der Bau von HTC-Anlagen unter den gegenwärtigen Preisen und Kosten nicht rentabel ist.<br />

Die Gewinnschwelle könnte allerdings bei steigenden Preisen <strong>für</strong> CO 2 -Zertifikate erreicht werden.<br />

Summary<br />

The impact of transportation costs on the profitability of industrial hydrothermal carbonisation<br />

This article is about the profitability ofhydrothermal carbonization (HTC), aprocess for converting<br />

biomass into biocoalonanindustrial scale.The analysis is based on an ex-anteevaluation of production<br />

costs and an estimation of the biomass potential of straw,wood chips from short-rotation forestry<br />

and wood chips from forest residues in the German federal state of Brandenburg. Amulti-stage<br />

location model is developed in order to investigate the influences of the transportation costs on the<br />

profitability of a hydrothermalcarbonization plant. The location model makes it possible to quantify<br />

expected transportation flows and to minimize the overall costs. The model determines the intake<br />

radius of biomass for different locations as well as the amount of HTC coal that can be produced<br />

from different feedstock. Furthermore, costs and possible revenues of an HTC plant are calculated.<br />

Uncertainties regarding the available quantity of biomass are considered by investigating different<br />

scenarios.The main finding of the study is that under present conditions the production of HTC coal<br />

from straw and wood is not profitable in Brandenburg. However, inthe event of aprice rise of CO 2<br />

emission certificates the break-even point could be reached.<br />

Résumé<br />

La rentabilité de la carbonisation hydrothermale en tenant compte des coûts de transport<br />

L’étude évalue la rentabilité de la carbonisation hydrothermale (CHT) comme procédé de traitement<br />

et d’affinage de la biomasse. L’analyse aété effectuée dans une perspective ex ante en s’appuyant<br />

sur l’exemple du Land de Brandebourg. Comme la question des coûts de transport représente un<br />

critère essentiel pour le calcul de la rentabilité, un modèle de localisation àdeux étapes est appliqué.<br />

Ce modèle permet de quantifier les flux de transport prévus pour la biomasse et le charbon CHT<br />

et de réduire les coûts liés au transport. Ainsi, il est possible de calculer les rayons géographiques<br />

optimaux d’approvisionnement en biomasse et de préciser, quels sont les substrats àutiliser aux<br />

différents lieus d’implantation. De plus, ce modèle calcule les coûts totaux attendus pour une installation<br />

CHT. Différents scénarios concernant la disponibilité de biomasse sont analysés, et l’impact<br />

d’importants paramètres sur les coûts et la rentabilité est évalué. L’étude démontre qu’une installation<br />

CHT dans la région en question du Brandebourgn’est pas rentable sous les conditions de prix et<br />

de coûts actuelles. Pourtant, le seuil de rentabilité pourrait être atteint si les prix pour les certificats<br />

d’émissions de CO 2 augmentent.<br />

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Buel_3_11.indb 422 17.11.2011 08:13:20


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Buel_3_11.indb 423 17.11.2011 08:13:20


424<br />

Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />

Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />

Autorenanschrift: MSc. gerD eberharDt, Leibniz-Institut <strong>für</strong> Agrartechnik Potsdam-Bornim<br />

e.V., Max-Eyth-Allee 100, Gebäude B, 14469 Potsdam, Deutschland<br />

geberhardt@atb-potsdam.de<br />

Prof. Dr. martin ODening, Humboldt Universität zu Berlin, Dep. <strong>für</strong> Agrarökonomie,<br />

FGAllgemeine Betriebslehre des Landbaus, Philippstr. 13, Haus 12a,<br />

10115 Berlin, Deutschland<br />

m.odening@agrar.hu-berlin.de<br />

Dr. hermann lOtze-Campen, Dr. susanne rOlinsKi, pia rOthe, Potsdam-Institut<br />

<strong>für</strong> Klimafolgenforschung (PIK), Telegrafenberg, GebäudeA51, Postfach 60 12 03,<br />

14412 Potsdam, Deutschland<br />

lotze-campen@pik-potsdam.de; rolinski@pik-potsdam.de; PiaRothe@gmx.de<br />

Dipl.-Ing. berit erlaCh, BSc. benJamin Wirth, Technische Universität Berlin,<br />

Institut <strong>für</strong> Energietechnik, Marchstr. 18, Gebäude KT1, 10587 Berlin, Deutschland<br />

erlach@iet.tu-berlin.de; wirthbenjamin@gmx.de<br />

Buel_3_11.indb 424 17.11.2011 08:13:20


Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong><br />

Mähdrescher in Deutschland<br />

Von CleMens FuChs, jOAChiM KAsten, ChristOpher ströBele<br />

und MAthiAs urBAneK, Neubrandenburg<br />

1 Einleitung<br />

U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0425 $2.50/0<br />

425<br />

Die technische Entwicklung der Mähdrescher ist enorm. Immer größere Schnittbreiten,<br />

höhere Leistung und bessere Elektronik imCockpit führen dazu, dass die Effektivität der<br />

einzelnenMaschine steigtund in der Folge immerwenigerMähdrescher benötigt werden.<br />

Dieser Artikel geht zunächst kurz auf die technische Entwicklung und die Bestandsentwicklung<br />

an Mähdreschern ein und prognostiziert anschließend die Absatzzahlen von<br />

Mähdreschern <strong>für</strong> die Region Deutschland.<br />

2 Technische Entwicklung und Hersteller<br />

Mit der Erfindung des stationären Dreschwerkes durch den Schotten anDreW meiKle im<br />

Jahre 1785 haben sich in der Druschfruchternte revolutionäre technische Fortschrittevollzogen.<br />

Die USA und die Staaten Westeuropas sind im 21. Jahrhundert die Vorreiter der<br />

selbstfahrenden Mähdruschtechnik mit stets höheren Ansprüchen an Schlagkraft, Durchsatz<br />

und präziser Strohausbringung im Schwad oder als Häckselgut. Selbstfahrende und<br />

stationäre Mähdruschtechnik wurden im Jahre 2007 weltweit <strong>für</strong> die Ernte von ca. 695<br />

Mio. ha Getreide- und 153 Mio. ha Ölsaatenanbaufläche eingesetzt. An den weltweiten<br />

Ackerflächen nehmen die Druschfrüchte etwa zwei Drittel der angebauten Kulturen ein.<br />

Weltweit resultiert aus diesen Anbauverhältnissen im Jahre 2007 eine Erntemenge von<br />

2,35 Mrd. tGetreide und 150 Mio. tÖlsaaten, welche die wichtigste <strong>Ernährung</strong>sgrundlage<br />

<strong>für</strong> eine stetig wachsende Weltbevölkerung von derzeit 6,8 Mrd. Menschen bildet (2).<br />

Die technische Entwicklung der jeweils höchsten Leistungsklasse ist in den letzten 25<br />

Jahren bei den Mähdreschern stetig angestiegen (Tab. 1). Die Parameter Schneidwerksbreite<br />

und Korntankinhalt haben sich innerhalb von 25 Jahren in der obersten Mähdrescherleistungsklasse<br />

fast verdoppelt sowie die Motorleistung annähernd verdreifacht.<br />

Zusätzlich wird das hohe Leistungspotenzial durch elektronische Steuerung in entscheidenden<br />

Funktionen im Arbeitsablauf ergänzt. Der rasante technische Fortschritt in der<br />

Mähdruschtechnik ist stark mit den weltweit und europäisch führenden Mähdrescherherstellern<br />

John Deere, CNH, AGCO und Claas verbunden. Mähdrescher der höchsten<br />

Leistungsklasse nutzen Schneidwerke mit einer Arbeitsbreite bis zu 12 m, verfügen <strong>über</strong><br />

eine Motorleistung bis zu 434 kW und besitzen einen Korntankinhalt bis zu 12 500 l<strong>für</strong><br />

Körnerfrüchte.<br />

Die zunehmende elektronische Ausstattung der Mähdrescher bei den führenden Herstellern<br />

verfolgt die Ziele: Fahrererleichterung, Präzision, größtmögliche Mähdruschausschöpfung<br />

und Dokumentation zahlreicherLeistungsdaten. Die Großmaschinen, unabhängig<br />

ob Mähdrescher oder selbstfahrende Landmaschine, werden immer mit der neuesten<br />

Technologie bestückt, weil Zusatzkosten im Verhältnis zum hohen Stückpreis weniger<br />

Buel_3_11.indb 425 17.11.2011 08:13:21


426 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />

Tabelle 1. Technische Entwicklung der Mähdrescher-Spitzenklasse<br />

von 1985 bis 2010<br />

Kennzahl Jahre<br />

Motorleistung (KW) 147<br />

(200 PS)<br />

Korntank-Kapazität<br />

(l)<br />

Schneidwerksbreite<br />

(m)<br />

Quelle: (13)<br />

1985 1989 1995 1999 2004 2005 2010<br />

206<br />

(280 PS)<br />

243<br />

(330 PS)<br />

265<br />

(360 PS)<br />

ins Gewicht fallen. Nach einer erfolgreichen Bewährung werden die neuen integrierten<br />

elektronischen Lösungen auch im mittleren Marktsegment eingebaut.<br />

Auf dem westeuropäischen Markt wurden in der Saison 2010 neun Mähdreschermarken<br />

von internationalen Herstellergruppen angeboten: New Holland und Case ICH (CHN),<br />

John Deere (John Deere), MF, Fendt und Gleaner (AGCO), Claas (Claas), Sampo und<br />

Sampo (SDF) sowie Laverda (ARGO). Technisch lassen sich die Mähdrescher wie folgt<br />

einteilen: Die konventionellen Mähdrescher mit Tangentialdreschwerk und Hordenschüttler<br />

(Vier-, Fünf-, Sechs- und Acht-Schüttlervarianten) sind ausgerüstet mit 85 bis 335 kW<br />

(115–455 PS). Tangentialmähdrescher mit einem oder zwei Abscheiderotoren verfügen<br />

<strong>über</strong> Motorleistungen von 268 bis 431 kW (365–586 PS). In der Leistungsklasse der<br />

Axialmähdrescher reicht das Leistungsspektrum im Motorenbereich von 205 bis 435 kW<br />

(279–591 PS). Schneidwerksbreiten sind von den Mähdrescherherstellern mit Arbeitsbreiten<br />

von 3,1 bis 12,0 mverfügbar. Der österreichische Anbieter von Schneidwerken BISO<br />

bietet dar<strong>über</strong> hinaus ein Schneidwerk mit einer Arbeitsbreite bis zu 15 mauf modularer<br />

Aluminiumbauweise an. Somit stehen aus westeuropäischer Produktion mit internationalen<br />

Verflechtungen <strong>über</strong> 40 Mähdrescherbaureihen, 80 bis 100 Mähdreschermodelle und<br />

zahlreiche zusätzliche Ausrüstungsvarianten <strong>für</strong> den Markt Westeuropa zur Verfügung 1) .<br />

3 Mähdrescherbestand und Absatz weltweit<br />

3.1 Mähdrescherbstand<br />

316<br />

(430 PS)<br />

390<br />

(530 PS)<br />

434<br />

(590 PS)<br />

6300 9100 9500 9700 11 500 12 000 12 500<br />

6,1 7,3 7,4 9,2 9,2 9,2 12,0<br />

Die EU-27 verfügte im Jahr 2007 mit knapp 700 000 Maschinen im Vergleich zu anderen<br />

globalen Anbauregionen <strong>über</strong> den zweitgrößten Mähdrescherbestand inder Welt. Die<br />

meisten Mähdrescher, einschließlich Dreschmaschinen, sind mit ca. 2,8 Mio. Einheiten<br />

auf dem asiatischen Kontinent zu finden.<br />

In den Mitgliedsstaaten der EU-27 zählte der Mähdrescherbestand imJahre 2006<br />

knapp 715 000 Maschinen bei einer Druschfläche von annähernd 70 Mio. ha Getreide<br />

und Ölsaaten. Das entspricht im Durchschnitt der EU-27 einer Druschfläche von 98 ha<br />

pro Mähdrescher, welche jedoch innerhalb der Mitgliedsländer aufgrund unterschiedlicher<br />

Agrarstrukturen und Mähdrescherbestände schwankt. Den größten Mähdrescherbestand<br />

innerhalb der EU-27 mit 124 000 Maschinen hat Polen gefolgt von Deutschland mit<br />

88 500 und Frankreich mit 78 000 Maschinen. Fast zwei Drittel der 27 Mitgliedsstaaten<br />

besitzt einen Mähdrescherbestand von unter 20 000 Einheiten. Einzig Malta, die Mittelmeerinsel<br />

mit subtropischem Klima, verfügt <strong>über</strong> keine Mähdrescher. Auf der landwirt-<br />

Buel_3_11.indb 426 17.11.2011 08:13:21


Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong>Mähdrescher in Deutschland<br />

schaftlich genutzten Fläche Maltas von ca. 10000 ha werden <strong>über</strong>wiegend Baumobst und<br />

Zitrusfrüchte angebaut (18).<br />

3.2 Mähdrescherabsatz<br />

427<br />

Die technischen Fortschritte mit neuen Leistungsmerkmalen sowie der Strukturwandel<br />

in der <strong>Landwirtschaft</strong> haben dazu geführt, dass sich der Mähdrescherabsatz in Westeuropa<br />

innerhalb von 40 Jahren von ehemals ca. 48 000 auf 7000 Einheiten im Jahr eingependelt<br />

hat. Die durchschnittlich 7000 Einheiten im Jahr auf dem westeuropäischen Markt<br />

bedeuten im Vergleich zum weltweiten Absatzmarkt <strong>für</strong> selbstfahrende Mähdrescher einen<br />

Anteil von 20 %imJahr 2004 (Abb. 1). 2004 lag der Weltmarkt bei etwas mehr als 35 000<br />

Einheiten unter Berücksichtigung der Produktion in Osteuropa. Mit 7800 Mähdreschern,<br />

davon 5000 aus osteuropäischer und 2800 aus westeuropäischer Produktion, ist der Markt<br />

in Osteuropa gegen<strong>über</strong> Westeuropa um 800 Einheiten größer. Inder Summe der zwei<br />

getrennt aufgeführten Märkte ist Europa mit 14 620 Einheiten vor Südamerika mit 10 300<br />

(Anteil29%)und Nordamerika mit 8000 Einheiten (Anteil23%)der größte Absatzmarkt<br />

(11).<br />

Auf dem westeuropäischen Markt sind die abgesetzten Mähdrescherstückzahlen mit<br />

ca. 7000 Einheiten pro Jahr seit zehn Jahren, mit geringen jährlichen Schwankungen, verhältnismäßig<br />

konstant. Vondiesen Einheiten decken die Vier-Schüttler-Mähdrescher bis<br />

zu den mittleren Fünf- und Sechs-Schüttler-Mähdreschern den Markt mit ca. 43 %ab. In<br />

der oberen Leistungsklasse der konventionellen Mähdrescher ist eine Marktdurchdringung<br />

der Sechs- oder Acht-Schüttler-Mähdrescher mit ca. 37 %kennzeichnend. Der restliche<br />

Marktanteil von 20 %wird von den Hybrid- und Axialmähdreschern abgedeckt –mit steigender<br />

Tendenz (11). Die verkaufte Stückzahl mit annähernd 6800 Einheiten im Jahr 2007<br />

entsprach fast der von 2005; Unterschiede gab es lediglich in der immer wieder anderen<br />

Verteilung der Anzahl unter den einzelnen Ländern (12). Mit insgesamt fast 4000 Einheiten,<br />

entspricht 58,6 %des Mähdrescherabsatzes in Westeuropa, verfügen Deutschland<br />

und Frankreich <strong>über</strong> den größten Markt in diesem Segment. Der hohe Mähdrescherabsatz<br />

in diesen beiden Ländern lässt sich mit dem starkenAnbau von Körnerfrüchten erklären;<br />

beide Ländergehörenzuden stärksten Getreideerzeugern der EU-27 neben Polen, Spanien<br />

und Rumänien (16).<br />

Gegen<strong>über</strong> den stabilen bis tendenziellleicht abnehmenden Stückzahlen in Westeuropa<br />

nimmt das geldwerte Umsatzvolumen aufgrund steigender Motorleistung und hochgerüsteten<br />

elektronischen Leistungsmerkmalen <strong>über</strong>proportional zu.<br />

Weitere gute Zukunftsaussichten <strong>für</strong> einen zunehmenden Absatz von Mähdreschern<br />

haben die Märkte Osteuropas, insbesondere die GUS-Staaten. Mit dem Zusammenbruch<br />

der Sowjetunion gerieten die großen Mähdrescherhersteller dort an den Rand des Bankrotts.<br />

Vorder politischen Wende wurden im Ostblock jährlich 35 000 Einheiten produziert.<br />

Im Jahr 1998 war mit knapp <strong>über</strong> 1000 produzierten Einheiten der Tiefpunkt in Russland<br />

erreicht. Daneben ist der Mähdrescherbestand von 200 000 Einheiten stark <strong>über</strong>altert.<br />

Hinzu kommt, dass 50 %der Mähdrescher wegen technischer Defekte nicht einsatzfähig<br />

sind. Weiterhin wirkt sich in diesem Zusammenhang aus, dass Russland und die Ukraine<br />

ihre Getreideerzeugung stark erweitern wollen. Allein Russland plant, bis 2015 die<br />

Produktion von Getreide auf 120 Mio. taufzustocken. Gegen<strong>über</strong> 2004 mit 78 Mio. t<br />

erzeugtem Getreide bedeutet das eine Steigerung von 65 %ineinem Zeitraum von 10<br />

Jahren (11). Dies bedeutet einen erheblichen Investitionsstau und Nachholbedarf anMähdreschern.<br />

Erschwert wird dies durch die stockende eigene Produktion sowie durch die<br />

Verteuerung der Importe, nachdem im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2009 die Importzölle<br />

<strong>für</strong> Landmaschinen auf ca. 15 %angehoben wurden.<br />

Buel_3_11.indb 427 17.11.2011 08:13:21


428 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />

Abb. 1. Mähdrescher Weltmarkt 2004<br />

Quelle: Neue <strong>Landwirtschaft</strong>. (verändert nach 11)<br />

Der asiatische Markt mit den bedeutenden Getreideerzeugern China und Indien, welche<br />

im Jahr 2008 zusammen 740 Mio. t Getreide produzierten, ist weniger aussichtsreich<br />

<strong>für</strong> einen verstärkten Mähdrescherabsatz aus westlicher Produktion. Dennoch haben beispielsweise<br />

John Deere im chinesischen Jiamusi und Claas im indischen Faridabad und<br />

Chandigarh Produktionsstätten <strong>für</strong> Mähdrescher, um am Umsatzpotenzial des südostasiatischen<br />

Marktes teilzuhaben und als strategischer „Global Player“ Präsenz zu zeigen<br />

(10). Neben den führenden internationalen Herstellern produzieren in Indien 48 heimische<br />

Unternehmen (beispielsweise Preet Agro Industries Private Limited) Mähdrescher (15).<br />

Mit einem Bestand von 477 000 Mähdreschern und Dreschmaschinen ist der indische<br />

Markt nach dem chinesischen (632 400 Einheiten) und japanischen Markt (957 000 Einheiten)<br />

der bedeutendste in Asien (4).<br />

4 Entwicklung des Inlandsabsatzes und des Bestandes von<br />

Mähdreschern in Deutschland<br />

4.1 Produktion und Inlandsabsatz<br />

Die Produktion von Landtechnik in Deutschland deckt eine Vielzahl von Landmaschinen<br />

und -geräten <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> ab. Mit einem Produktionszuwachs von 53 % verzeichneten<br />

die gefertigten Mähdreschereinheiten den höchsten Anstieg im Zeitraum 2006<br />

bis 2008 gefolgt von den Pflanzenschutzgeräten (48 %) und Sämaschinen (40 %) (21).<br />

Die 10 692 gefertigten Mähdreschereinheiten in 2008 stammen zum <strong>über</strong>wiegenden Teil<br />

aus den Produktionsstandorten von Claas in Harsewinkel und John Deere in Zweibrücken.<br />

Im Bereich der Mähdrescher- und Feldhäckslerproduktion spiegelt sich die Ausrichtung<br />

der deutschen Landtechnikindustrie auf den Export besonders stark wider. Beispielsweise<br />

Buel_3_11.indb 428 17.11.2011 08:13:21


Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong> Mähdrescher in Deutschland<br />

Abb. 2. Inlandsabsatz von Mähdreschern (1990–2008)<br />

Quelle: (19)<br />

429<br />

entfielen von den 6994 gefertigten Mähdreschereinheiten in 2007 <strong>über</strong> 80 % auf den<br />

Export (4).<br />

Die Inlandsabsätze haben sich seit 1998 von 2 678 auf 1 279 Einheiten in 2008 mehr als<br />

halbiert. Im Zeitraum 2000 bis 2008 ist ein abnehmender Trend zu erkennen. Im Durchschnitt<br />

belief sich der Inlandsabsatz in den Jahren 1990 bis 2008 auf 1 864 abgesetzten<br />

Einheiten (Abb. 2) (19). Das Marktvolumen im Segment Erntemaschinen und -geräte im<br />

Jahr 2008 belief sich auf 715 Mio. Euro. Nach den Traktoren mit einem Umsatzvolumen<br />

von 1,6 Mrd. Euro sind die Erntemaschinen und -geräte in Deutschland der zweitstärkste<br />

Absatzmarkt <strong>für</strong> die Landtechnikindustrie. In der Summe decken die Bereiche Traktoren<br />

und Erntemaschinen im Jahr 2008 ca. 50 % des Marktvolumens ab.<br />

Der Absatz von Mähdrescherklassen verteilt sich tendenziell wie im übrigen Westeuropa,<br />

wo die Vier-Schüttler-Mähdrescher bis zu den mittleren Fünf- und Sechs-Schüttler-<br />

Mähdreschern den Markt mit ca. 43 % abdecken. In der oberen Leistungsklasse der konventionellen<br />

Mähdrescher ist eine Marktdurchdringung mit ca. 37 % kennzeichnend. Der<br />

restliche Marktanteil von 20 % wird von den Hybrid- und Axialmähdreschern abgedeckt<br />

(11).<br />

4.2 Bestandsentwicklung der Mähdrescher<br />

Die Mähdrescherbestände stiegen ab Mitte der 1950er-Jahre, mit den ersten selbstfahrenden<br />

Mähdreschern und den stark verbreiteten gezogenen Dreschwerken, bis zum Jahr<br />

1975 auf <strong>über</strong> 189 0 00 Einheiten an. Der Anteil der selbstfahrenden Mähdrescher war<br />

im Jahr 1976 gegen<strong>über</strong> den gezogenen Mähdreschern fünfmal größer. In den folgenden<br />

Jahren ist der Anteil der gezogenen Mähdrescher stark zurückgegangen. Mit den weiteren<br />

technischen Entwicklungen, verbunden mit Leistungssteigerungen und dem Strukturwandel<br />

in der <strong>Landwirtschaft</strong> mit gestiegenen Betriebsgrößen verringerte sich der Mähdrescherbestand<br />

in den darauf folgenden Jahren um die Hälfte (5).<br />

Für die Körnerfruchternte von 9,9 Mio. ha mit einer Erntemenge von 61 Mio. t wurden<br />

im Jahr 2008 knapp 85 000 Mähdrescher eingesetzt. Im Mittel wurden in den Jahren 2003<br />

bis 2009 auf 9,8 Mio. ha <strong>über</strong> 56 Mio. t Körnerfrüchte durch 93 200 Mähdrescher geerntet<br />

(17). Obwohl sich in den zurückliegenden Jahren durch konstruktive Möglichkeiten<br />

Buel_3_11.indb 429 17.11.2011 08:13:21


430 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />

Abb. 3. Mähdrescherbestand (Altbestand, Inlandsabsatz, kumulierter Bestand) 1990–2008<br />

Quelle: Eigene Berechnungen nach FAOSTAT und Statistische Jahrbücher 2010<br />

das Leistungspotenzial der Mähdrescher stets erhöhte, wird die installierte Mähdrescherleistung<br />

nur zur Hälfte auf dem Feld ausgenutzt, was einer Feldeffizienz von ca. 50 %<br />

entspricht (9).<br />

Abbildung 3 zeigt <strong>für</strong> den Zeitraum 1990 bis 2008 die Anzahl der jährlich eingesetzten<br />

Mähdrescher, die sich aus der Summe der Anzahl der eingesetzten Mähdrescher aus<br />

Altbeständen und den jährlichen Inlandsabsätzen ergibt. Danach ist der Bestand an Mähdreschern<br />

in diesem Zeitabschnitt von ehemals 156 890 auf 79 153 Einheiten gesunken.<br />

Dies entspricht einem Rückgang von annähernd 50 %.<br />

Laut FAO-Angaben liefen in Deutschland im Jahr 2007 noch 85 480 Mähdrescher. Da<br />

im Zeitraum von 1990 bis 2008, d h. in 17 Jahren des Untersuchungszeitraums, 20 248<br />

neue Mähdrescher hinzukamen bzw. von den neuen verblieben, müssten noch 63 193<br />

Mähdrescher, die 17 Jahre und älter sind, im Einsatz sein (1). Wird der Altbestand mit<br />

einer Abnahme von 5 % fortgeschrieben, wären im Jahr 2022 immer noch 28 632 Mähdrescher<br />

(potenziell aus der Zeit vor 1990) im Bestand. Ein schnellerer Ersatz der sehr alten<br />

Mähdrescher ist auch denkbar, wenn neueren da<strong>für</strong> etwas länger laufen. Deshalb ist die<br />

künftige Struktur der Mähdrescherflotte, insbesondere bezüglich des Altbestandes, nicht<br />

eindeutig zu bestimmen.<br />

4.3 Einflussfaktoren auf den Mähdrusch und Ableitung der Mindestkapazität<br />

Der Bedarf an Mähdreschern wird von mehreren Faktoren bestimmt. Auf den Mähdrusch<br />

haben neben dem Erntemanagement noch weitere Faktoren einen Einfluss auf die Ausschöpfung<br />

der tatsächlichen Leistungsfähigkeit. Im Vorfeld spielen die Faktoren Züchtung<br />

und pflanzenbauliche Maßnahmen eine wichtige Rolle und wie der jeweilige Bestand<br />

bis zur Ernte geführt wurde. Liegen hier bereits Mängel, wie beispielsweise Lagergetreide<br />

oder Gründurchwuchs vor, kann selbst durch ein optimales Erntemanagement die<br />

Leistungsfähigkeit der Mähdrescher nicht mehr voll zur Geltung kommen. Ein weiterer<br />

Faktor, den der Landwirt nicht beeinflussen kann, der die Druscheignung aber maßgeblich<br />

bestimmt, ist die Witterung (7).<br />

Nachfolgend soll der Mindestbesatz an Mähdreschern <strong>für</strong> die Region Deutschland<br />

abgeschätzt werden. Dabei wird Deutschland in drei Teilregionen eingeteilt, die sich aufgrund<br />

von Standortfaktoren (Betriebsgröße und Schlaggröße) unterscheiden und in denen<br />

der Einsatz kleinerer, mittlerer und größerer Mähdrescher sinnvoll erscheint. Weiterhin<br />

wird in einer Art Risikoanalyse der Einfluss von Umweltfaktoren (Witterung mit Auswir-<br />

Buel_3_11.indb 430 17.11.2011 08:13:22


Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong> Mähdrescher in Deutschland<br />

431<br />

kung auf Erntemenge, verfügbare Druschstunden und Feldeffizienz) simuliert. Ungünstige<br />

Konstellationen erfordern den Einsatz einer größeren Anzahl von Maschinen und<br />

verursachen höhere Erntekosten. Wären z. B. nicht ausreichend Mähdrescher verfügbar,<br />

könnten noch höhere naturale Verluste und Kosten entstehen, im Extremfall bliebe ein<br />

Teil ungeerntet.<br />

Ergebnis dieser Simulationen sind die regionsspezifische notwendige Anzahl an Mähdreschern<br />

sowie die Kosten des Mähdrusches. Anhand der Durchschnittskosten <strong>für</strong> den<br />

Drusch und den Grenzverlusten bei Ernteverlust wird versucht den Mindestbestand einzuschätzen.<br />

4.4 Aufteilung in Druschregionen <strong>für</strong> die Berechnungen<br />

Die Grundlage <strong>für</strong> die Berechnungen einer Mähdrescherbestandsentwicklung bildet die<br />

Aufteilung der Körnerfruchtanbauflächen in Deutschland in drei Teilregionen. Die Bundesländer,<br />

mit Ausnahme der Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen, sind entsprechend<br />

der landwirtschaftlich genutzten Fläche je Betrieb in die Kategorien unter 40 ha LF,<br />

40 bis 60 ha LF und <strong>über</strong> 60 ha LF eingeteilt worden (Tab. 2). Dementsprechend konnten<br />

die jeweiligen Erntemengen und Anbauflächen zugeordnet werden. Entscheidungskriterium<br />

<strong>für</strong> die Zuordnung einer Mähdrescherleistungsklasse <strong>für</strong> eine Teilregion ist der Parameter<br />

Durchsatzleistung in Getreidemenge je Stunde.<br />

Die Mähdruschregion 1 (Süd-Deutschland) umfasst die Bundesländer Hessen (HE),<br />

Nordrhein-Westfalen (NW), Rheinland Pfalz (RP), Bayern (BY) und Baden-Württemberg<br />

(BW). In diesen fünf Bundesländern wurden im Mittel der Jahre 2003 bis 2008 auf einer<br />

Anbaufläche von <strong>über</strong> 3,5 Mio. ha jährlich zwischen 18,4 bis 24,1 Mio. t Körnerfrüchte<br />

geerntet. In der Mähdruschregion 1 wurden <strong>für</strong> die Ernte der Körnerfrüchte Mähdrescher<br />

mit einer Motorleistung von 200 kW, einem Korntank von 8 500 l und einem Schneidwerk<br />

von 5 m eingesetzt (Tab. 3). Mit dieser Mähdreschergröße ist es möglich, eine Durchsatzleistung<br />

von 15 t/h zu erzielen.<br />

Die vier Bundesländer Schleswig-Holstein (SH), Sachsen (SN), Niedersachsen (NI)<br />

und das Saarland (SL) stellen die zweite Mähdruschregion (Nord-West-Deutschland)<br />

mit einer Anbaufläche von 2,2 Mio. ha dar. Durchschnittlich wurden in den Jahren 2003<br />

bis 2008 in der zweiten Mähdruschregion Körnerfrüchte mit einer Erntemenge von 13,2<br />

Mio. t geerntet. Von größter Bedeutung ist das Getreide mit einer Erntefläche von ca.<br />

1,8 Mio. ha und einer jährlichen Erntemenge von <strong>über</strong> 13 Mio. t. Daraus resultiert, dass<br />

<strong>über</strong> 27 % der deutschen Getreideerntemenge in diesen vier Bundesländern eingefahren<br />

wurde – mit Niedersachsen als bedeutendsten Agrarraum der Mähdruschregion 2. Für die<br />

Körnerfruchternte wurden in der Mähdruschregion 2 Mähdrescher mit einer Leistungsgröße<br />

von 275 kW, einem Korntankvolumen von 10 500 l und einem Schneidwerk von<br />

7,5 m genutzt (Tab. 3). Durchsatzleistungen von 30 t/h können mit dieser Mähdreschergröße<br />

auf den Betriebsflächen bedingt durch die größeren landwirtschaftlichen Strukturen<br />

erreicht werden.<br />

In den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern (MV), Sachsen-Anhalt (ST), Brandenburg<br />

(BB) und Thüringen (TH) wurden auf einer Anbaufläche von durchschnittlich 2,8<br />

Mio. ha (33,2 % der deutschen Körnerfruchtanbaufläche) im Mittel <strong>über</strong> 16 Mio. t geerntet.<br />

In der Mähdruschregion 3 (Mitte-Ost-Deutschland) hat der Anbau von Handelsfrüchten<br />

die größte Bedeutung <strong>für</strong> Deutschland. Über 47 % der Erntemenge von Handelsfrüchten<br />

werden in diesen vier Bundesländern geerntet. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche<br />

der Betriebe ist in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt mit <strong>über</strong> 150 ha LF<br />

je Betrieb im Vergleich zu den anderen Regionen am Größten. Die Körnerfruchternte<br />

werden in der Mähdruschregion 3 durch Mähdrescher der Motorleistungsklasse von <strong>über</strong><br />

375 kW, einem Korntankvolumen von 12 000 l und einem Schneidwerk von 9 m verrichtet<br />

Buel_3_11.indb 431 17.11.2011 08:13:22


432 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />

Tabelle 2. Einteilung der Druschregionen in Deutschland anhand der<br />

durchschnittlichen Betriebsgröße (ha LF)<br />

Region Bundesländer<br />

Region 1:<br />

Süddeutschland<br />

(


Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong> Mähdrescher in Deutschland<br />

Tabelle 3. Mähdreschergrößen in Relation zur betrieblichen Struktur in den<br />

Regionen<br />

Region in<br />

Deutschland<br />

Motorleistung<br />

Korntank Schneid<br />

werksbreite<br />

Mähdrescherkennzahlen<br />

Durchsatzleistung<br />

Zusatzausrüstung<br />

433<br />

Anschaffungskosten<br />

Region 1:<br />

Süden<br />

200 kW 8 500 l 5,0 m 15 t/h Rapstisch 217 100 €<br />

Region 2:<br />

Nord-West<br />

275 kW 10 500 l 7,5 m 30 t/h Rapstisch 295 100 €<br />

Region 3:<br />

Mitte-Ost<br />

375 kW 12 000 l 9,0 m 50 t/h Rapstisch 358 400 €<br />

Quelle: Maschinen und Anlagen, 2.15 Getreideernte (verändert nach KTBL, 2008); eigene Annahmen<br />

Im ersten Fall reicht eine geringe Anzahl an Mähdreschern aus, während im zweiten Fall<br />

eine maximale Anzahl an Erntemaschinen erforderlich wäre, um die Ernte einzubringen.<br />

Wie oft ungünstige, mittlere oder günstige Situationen auftreten, wird mit Dreiecksverteilungen<br />

vorgegeben, wobei extreme Werte, d. h. ungünstige oder günstige Situationen<br />

weniger oft vorkommen als mittlere Werte (Abb. 4).<br />

Beispielweise wird angenommen, dass die verfügbaren Druschstunden zwischen<br />

160 h/a als Minimalwert (kommt selten vor), 180 h/a im Mittel und bis zu 200 h/a als<br />

Maximalwert (kommt ebenfalls selten vor) variieren können. Regional unterschiedlich<br />

Abb. 4. Verfügbare Druschstunden pro Jahr in allen Mähdruschregionen<br />

Quelle: Palisade Decision Tool @RISK; eigene Berechnungen<br />

Buel_3_11.indb 433 17.11.2011 08:13:22


434 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />

Tabelle 4. Annahmen (Minimum, Mittel und Maximum der Dreiecksverteilungen)<br />

und Ergebnisse der Simulation (im 90%-Bereich)<br />

Region Kennzahl Einheit Minimum<br />

Region 1:<br />

Süden<br />

Region 2:<br />

Nord-West<br />

Region 3:<br />

Mitte-Ost<br />

Mittel Maximum<br />

Erntemenge Mio.<br />

t/p. a.<br />

18,43 22,02 24,12<br />

verfügbare Druschstunden h/p. a. 160 180 200<br />

Feldeffizienz 30 % 40% 70 %<br />

Druschkosten<br />

(90 %)<br />

notwendiger Mähdrescherbestand<br />

(90 %)<br />

€/t 17,83<br />

20,79<br />

Stück 10 011<br />

12 800<br />

26,40 38,63<br />

32,90<br />

18 068 30 891<br />

24 240<br />

Erntemenge Mio.<br />

t/p. a.<br />

11,94 13,60 15,63<br />

verfügbare Druschstunden h/p. a. 160 180 200<br />

Feldeffizienz 35 % 50% 70 %<br />

Druschkosten<br />

(90 %)<br />

notwendiger Mähdrescherbestand<br />

(90 %)<br />

€/t 14,26<br />

15,96<br />

Stück 3190<br />

3830<br />

18,66 25,57<br />

21,93<br />

4865 8627<br />

6440<br />

Erntemenge Mio.<br />

t/p.a.<br />

13,14 15,70 17,21<br />

verfügbare Druschstunden h/p. a. 160 180 200<br />

Feldeffizienz 40 % 60% 80 %<br />

Druschkosten<br />

(90 %)<br />

notwendiger Mähdrescherbestand<br />

(90 %)<br />

€/t 12,18<br />

13,18<br />

Stück 1877<br />

2289<br />

14,97 20,04<br />

17,29<br />

2804 4867<br />

3848<br />

Summe Mähdrescherbestand Stück 15 078 25 737 44 385<br />

(90 %) 18 919 34 528<br />

Quelle: Eigene Berechnungen<br />

variieren die Erntemengen sowie die Feldeffizienz, wobei letztere in der kleinstrukturierten<br />

Region Süden mit durchschnittlich 40%(30–70 %) am niedrigsten und in der<br />

großstrukturierten Region Mitte-Ost mit durchschnittlich 60%(40–80 %) am höchsten<br />

angenommen wird (Tab. 3).<br />

Die Ergebnisse aus den Simulationen weisen einen Mindestbestand an Mähdreschern<br />

aus, der erforderlich <strong>für</strong> die Einbringung der Erntemengen in allen simulierten Jahren ist.<br />

Aus diesen Werten können bei einer angenommenen durchschnittlichen Nutzungsdauer<br />

die jährlich neu abgesetzten Mähdreschereinheiten abgeleitet werden.<br />

Buel_3_11.indb 434 17.11.2011 08:13:23


Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong> Mähdrescher in Deutschland<br />

435<br />

In Tabelle 4 sind die Ergebnisse aus der Simulation der Mähdrescheranzahl zusammengefasst.<br />

Für die Sicherstellung, dass – mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 % bei<br />

10 000 Iterationen – die angebauten Flächen in allen Jahren vollständig gedroschen<br />

werden, ist ein Mähdrescherbestand von 44 385 Einheiten notwendig. Der Großteil der<br />

Mähdrescher (ca. 30 000 Einheiten) ist <strong>für</strong> die Mähdruschregion 1, bedingt durch die<br />

Leistungsklasse von 15 t/h, vorgesehen. In den beiden anderen Regionen werden mit ca.<br />

8600 (Region 2) und 4900 Stück (Region 3) deutlich weniger Einheiten benötigt (Abb. 5).<br />

Grenzt man die Schwankungsbreite der möglichen Ereignisse auf 90 % ein, d. h. schneidet<br />

man die 5 % günstigsten und die 5 % ungünstigste Fälle ab, verteuert sich am unteren Ende<br />

die Ernte bzw. es werden mehr Maschinen benötigt, während sich die Mindestanzahl an<br />

Mähdreschern und die Druschkosten am oberen Ende reduzieren.<br />

Die Frage, ob die 100%ige Erntesicherheit notwendig ist oder ob nicht auch eine<br />

95%ige Erntesicherheit reichen könnte, z. B. weil die Ernte der letzten 5 % des Bestandes<br />

sehr teuer wären, soll hier kurz aufgegriffen werden. Dazu werden die durchschnittlichen<br />

Kosten der Ernte mit den Grenzverlusten bei nicht erfolgter Ernte verglichen. Die Risikoabsicherung<br />

lässt die Druschkosten beispielsweise von 26,40 €/t bei mittlerem Bestand<br />

auf knapp unter 40 €/t ansteigen, sofern der gesamte Bestand sicher geerntet werden sollte.<br />

Der Grenzerlös von einer Tonne Getreide liegt dagegen weit <strong>über</strong> 100 €/t, sodass sich die<br />

Ernte immer lohnen würde. Die höchsten Druschkosten entstehen jedoch nur in Jahren<br />

mit extremer, ungünstiger Witterung. Ein <strong>für</strong> normale Jahre <strong>über</strong>höhter Bestand verursacht<br />

nicht so hohe Druschkosten, da infolge höherer Feldeffizienz bzw. geringerer Erntemenge<br />

die Mähdrescher länger genutzt werden könnten, wodurch die Durchschnittskostenanteile<br />

<strong>für</strong> Abschreibung sinken würden. Ein <strong>über</strong>durchschnittlicher Mähdrescherbestand ist<br />

demzufolge empfehlenswert. Bei allen folgenden Betrachtungen wird daher davon ausgegangen,<br />

dass ausreichende, d. h. maximale Mähdrescherkapazitäten vorgehalten werden.<br />

Abb. 5. Verteilung der notwendigen Mähdrescheranzahl in der Mähdruschregion 3<br />

Quelle: Palisade Decision Tool @RISK; eigene Berechnungen (10 000 Simulationen)<br />

Buel_3_11.indb 435 17.11.2011 08:13:23


436 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />

4.5 Zukünftige Mähdrescherbestandsentwicklung<br />

Historische Daten <strong>für</strong> den Bestand und den Absatz von Mähdreschern liegen <strong>für</strong> diese<br />

Untersuchung, wie bereits dargestellt, bis zum Jahr 2008 vor. Der aktuelle Bestand an<br />

Mähdreschern in Deutschland in Höhe von ca. 80 000 Maschinen ist fast doppelt so hoch<br />

wie der als notwendig berechnete Bestand mit ca. 44 000 Einheiten (Tab. 4). Damit lässt<br />

sich der verhältnismäßig geringe Inlandsabsatz in den letzten Jahren erklären. Wegen des<br />

Überhangs an Mähdreschern wird die jüngste Entwicklung des stärkeren Bestandsabbaus<br />

bei verhältnismäßig geringem Ersatz zunächst fortgeschrieben (obwohl noch nicht<br />

<strong>über</strong>all leistungsfähige moderne Mähdrescher im Einsatz sind) und zwar solange, bis der<br />

notwendige Bestand von ca. 44 000 Mähdreschern erreicht wird. Für die Zukunft wird<br />

zunächst angenommen, dass der Altbestand an Mähdreschern, wie <strong>für</strong> den Zeitraum 1990<br />

bis 2008 beobachtet, um jährlich 5 % sinkt. Dar<strong>über</strong> hinaus wird der Mähdrescherabsatz<br />

(Verkäufe pro Jahr) zunächst nach der im Zeitraum 1990 bis 2008 ermittelten Trendlinie<br />

(Abb. 2) begrenzt: y = -523,98Ln(x) + 2812,9 (R2 = 0,5823); mit y = Mähdrescherabsatz<br />

in Deutschland in Stück pro Jahr und x = Jahr ab 1990 fortlaufend.<br />

Wegen des hohen Altbestandes könnte der jährliche Mähdrescherabsatz von 1283 Einheiten<br />

im Jahr 2009 im Jahr 2019 auf 727 Einheiten absinken (Abb. 6). Im Durchschnitt<br />

der Jahre 2009 bis 2019 würde somit ein verhältnismäßig geringer Ersatz von durchschnittlich<br />

1005 Mähdreschern p. a. ausreichen.<br />

In den Berechnungen zu Abbildung 7 wurde unterstellt, dass bis zum Jahr 2009 bei<br />

den neu verkauften Mähdreschern von einer 10-jährigen Nutzungsdauer auszugehen ist.<br />

Nach dieser Zeit sollen dann jährlich 20 % der Altmaschinen ausscheiden, sodass spätestens<br />

nach 15 Jahren keine dieser Maschinen mehr vorhanden wäre. Denkbar wäre jedoch<br />

auch, dass diese neueren Mähdrescher z. T. noch ältere Maschinen, die vor 1990 beschafft<br />

wurden, ersetzen. In den darauf folgenden Jahren (ab 2019) ist bei den Berechnungen zur<br />

Abbildung 7 die Nutzungsdauer <strong>für</strong> die neuen Mähdrescher auf acht Jahre, auslaufend bis<br />

maximal 13 Jahre begrenzt worden.<br />

Ab 2019 wäre aufgrund dieser Annahme der Altbestand so weit abgebaut, dass ein größerer<br />

Ersatzbedarf in Höhe von ca. 3000 Mähdreschern pro Jahr besteht. Langfristig sind<br />

bei den getroffenen Annahmen jedoch jährlich ca. 4 400 neue Mähdrescher notwendig,<br />

Abb. 6. Absatz und Bestand an Mähdreschern (1990–2022)<br />

Quelle: Eigene Berechnungen nach FAOSTAT und Statistischen Jahrbüchern 2010<br />

Buel_3_11.indb 436 17.11.2011 08:13:23


Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong> Mähdrescher in Deutschland<br />

Abb. 7. Mähdrescherbestand kumuliert aus Altbestand und Absatz (2009–2030)<br />

Quelle: Eigene Berechnungen nach FAOSTAT und Statistischen Jahrbüchern 2010<br />

437<br />

wenn bei einem Gesamtbestand von 44 385 Einheiten mehrheitlich von einer Nutzungsdauer<br />

von acht Jahren ausgegangen wird.<br />

Aus den ermittelten Daten stellen sich die Mähdrescherbestände <strong>für</strong> den Zeitraum 2009<br />

bis 2030 mit einem gleichbleibenden Bestand ab 2019 dar (Abb. 7).<br />

Zusammenfassung<br />

Heutzutage werden Mähdrescher eingesetzt, die Durchsatzleistungen von <strong>über</strong> 70 Tonnen Getreide<br />

pro Stunde erzielen können, wobei deren technisches Leistungspotenzial längst noch nicht ausgeschöpft<br />

wird. In dieser Arbeit wird ein Überblick <strong>über</strong> bedeutende Mähdrescherhersteller und -modelle<br />

gegeben und Einflussfaktoren auf den Mähdrusch dargestellt.<br />

Ziel war dabei, die Komplexität der Einflussfaktoren Standort (Betriebsgröße und Schlaggröße),<br />

Leistungsfähigkeit der Mähdrescher, Umweltfaktoren (Witterung mit Auswirkung auf Erntemenge<br />

und verfügbare Druschsstunden) und Feldeffizienz in Simulationen zu berücksichtigen. Dazu wurde<br />

Deutschland in drei Mähdruschregionen unterteilt und entsprechend den Betriebsgrößen und Schlaggrößen<br />

bestimmte Mähdrescherleistungsklassen zugeordnet. Anschließend wurde die Mindestkapazität<br />

an Mähdreschern, die notwendig ist, um die Ernte sicher einbringen zu können, in Abhängigkeit<br />

von der Witterung simuliert. Dreiecksverteilungen mit Annahmen <strong>für</strong> Erntemenge, Feldeffizienz und<br />

Druschtage sind Basis <strong>für</strong> die durchgeführte Monte-Carlo–Simulation.<br />

Die Ergebnisse der Simulationen haben ergeben, dass in Deutschland ein Mähdrescherbestand<br />

von 44 385 Einheiten, differenziert in drei Leistungsklassen, notwendig ist. Die Berechnungen zeigen<br />

auch, dass die künftigen Inlandsabsätze von Mähdreschern von der Nutzungsdauer der Altbestände<br />

stark abhängig sind.<br />

Summary<br />

Development tendencies and potential of the market for combine harvesters in Germany<br />

Combine harvesters used today can achieve throughput rates of over 70 tons of grain per hour; however,<br />

their technical performance potential is currently not being exhausted by any means. In this<br />

paper, a survey of major harvester manufacturers and models is given and factors influencing the<br />

combine harvesting performance are presented.<br />

The objective was to reflect the complexity due to factors like size of farm and field size as well<br />

as combine performance, environmental factors (weather, with impact on yield and number of hours<br />

available for combine harvesting). Therefore, Germany was divided into three combine-harvesting<br />

regions . Certain performance categories of combine harvesters were assigned, according to farm<br />

size and regional field sizes. Triangle distributions with assumptions for harvest size, field efficiency<br />

Buel_3_11.indb 437 17.11.2011 08:13:24


438 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />

and harvest days are the basis for the applied Monte Carlo simulation, which shows the minimum<br />

capacity of combine harvesters necessary to reap the harvest safely.<br />

The simulation results show that in Germany 44,385 units of combine harvesters of the three<br />

performance categories are necessary.However,the calculations also show that future domestic sales<br />

of combine harvesters will depend greatly on the service life of the units currently in use.<br />

Résumé<br />

Tendances et potentiels du marché pour les moissonneuses-batteuses en Allemagne<br />

De nos jours, normalement, des moissonneuses-batteuses pouvant atteindre un débit de plus de 70<br />

tonnes de céréales par heure sont utilisées. Pourtant, on est toujours loin d’exploiter pleinement leur<br />

potentiel de performance. Ce rapport donne un aperçu sur d’importants fabricants et modèles de<br />

moissonneuses-batteuses et présente les facteurs d’influence sur le moissonnage-battage.<br />

L’objectif était de procéder àdes simulations qui prennent en compte la complexité des facteurs<br />

d’influence tels que le site (dimension de l’exploitation et taille du parcellaire), la performance des<br />

moissonneuses-batteuses, les facteurs environnementaux (conditions météorologiques et leur impact<br />

sur le volume de récolte et sur les heures disponibles pour le moissonnage-battage) et l’efficacité du<br />

champ. Acette fin, l’Allemagne aété divisée par type de moissonnage-battage en trois régions et en<br />

différentes classes de performance de moissonneuses-batteuses selon la dimension de l’exploitation<br />

et la taille du parcellaire.. Ensuite, on aprocédé àune simulation prenant en compte les conditions<br />

météorologiques pour calculer la capacité minimum de moissonneuses-batteuses nécessaire pour<br />

mener àbien la récolte. Cette simulation de Monte Carlo est basée sur des hypothèses pour le volume<br />

de récolte, l’efficacité du champ et les jours de moissonnage-battage.<br />

Les simulations ont montré que l’Allemagne nécessite un parc de moissonneuses-batteuses d’un<br />

volume de 44.385 unités distinguées en trois classes de performance. Cependant, les calculs montrent<br />

également que les futures ventes intérieures de moissonneuses-batteuses dépendront fortement de la<br />

durée de vie du stock actuel.<br />

Literatur<br />

1. FAO: Agricultural Production. 2009.<br />

2. FAO: Agricultural Production. 2009; URL: http://www.fao.org/fileadmin/templates/ess/documents/<br />

publications_studies/statistical_yearbook/yearbook2009/b01.xls.<br />

3. FAOSTAT URL: http://faostat.fao.org/site/576/DesktopDefault.aspx?PageID=576#ancor.<br />

4. FAOSTAT:Export Quantity of Combines in 2007.<br />

5. FAOSTAT:Germany -Combines and treshers in use 1965-2007. URL: http://faostat.fao.org/site/576/<br />

default.aspx#anco.<br />

6. FAOSTAT:ResourceSTAT-Machinery. 2007 URL: http://faostat.fao.org/site/576/default.aspx#ancor.<br />

7. feiffer,a.,2009: Druscheignung als zentrale Führungsgröße im Erntemanagement.<br />

8. FERGUSON; DEUTZ-FAHR; LAVERDA und SAMPO ROSELOW., 2010.<br />

9. HARVEST POOL: Spitzenleistung im HARVEST POOL. 2005 URL: feiffer-consult.de/dokumente/<br />

Prospekt_Harvest_Pool_06.pdf.<br />

10. John Deere Combines. 2009 URL: http://www.deere.de/de_DE/brochures/downloadcenter/index.html.<br />

11. KutsChenreiter, W., 2005 :Analyse Mähdreschermarkt: Weniger Maschinen, mehr Leistung.<br />

12. –, 2006: Mähdrescher: Markt, Möglichkeiten und Grenzen.<br />

13. –, 2005: Mähdrusch als technologische Herausforderung.<br />

14. NEW HOLLAND; CLAAS; JOHN DEERE; CASE IH; FENDT; MASSEY, Firmenschriften.<br />

15. singh, g., 2006: Agricultural Machinery Industry in India. URL: http://agricoop.nic.in/Farm%20<br />

Mech.%20PDF/05024-09.pdf.<br />

16. Statistisches Jahrbuch: 465. Bestand an Schleppern und Mähdreschern. 2009.<br />

17. Statistisches Jahrbuch: 104. Anbau, Ertrag und Ernte der Feldfrüchte. 2009.<br />

18. Statistisches Jahrbuch: Anbau auf dem Ackerland. 2009.<br />

19. Statistisches Jahrbuch: Inlandsabsatz der Landmaschinenindustrie. 2005 u. 2009.<br />

20. urbaneK, m., 2010: Entwicklungstendenzen amMähdreschermarkt. Master-Thesis, Hochschule Neubrandenburg.<br />

21. VDMA: Wirtschaftsbericht 2009.<br />

Buel_3_11.indb 438 17.11.2011 08:13:24


Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong>Mähdrescher in Deutschland<br />

Fußnoten<br />

1) Firmenschriften von CLAAS, JOHN DEERE, CASE IH, NEW HOLLAND, FENDT,MASSEY-<br />

FER, GUSON, DEUTZ-FAHR, LAVERDA und SAMPO ROSENLEW, 2010.<br />

439<br />

Autorenanschrift: Prof. Dr. Clemens fuChs, Dr. JOaChim Kasten, ChristOpher ströbele und<br />

mathias urbaneK, Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich Agrarwirtschaft<br />

und Lebensmittelwissenschaften, Fachgebiet <strong>Landwirtschaft</strong>liche<br />

Betriebslehre, Postfach 11 01 21, Deutschland<br />

cfuchs@hs-nb.de<br />

Buel_3_11.indb 439 17.11.2011 08:13:24


440<br />

BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels-<br />

und Steuerbilanz<br />

Auswirkungen des BilMoG <strong>für</strong> den BMELV –Jahresabschluss<br />

Von MAtthiAs MOser und ennO BAhrs, hOhenheiM<br />

1 Einleitung<br />

Die deutsche Bundesregierung ist gemäß <strong>Landwirtschaft</strong>sgesetz (vgl. §2LwG) dazu<br />

verpflichtet, regelmäßig aktuelle Informationen zur Lage der <strong>Landwirtschaft</strong> bereitzustellen.<br />

Vordiesem Hintergrund ist ein Testbetriebsnetz landwirtschaftlicher (aber auch<br />

forstwirtschaftlicher sowie garten- und weinbaulicher) Betriebe initiiertworden. Die Auswahl<br />

dieser Betriebe soll derart erfolgen, dass ihre Buchführungsabschlüsse repräsentativ<br />

alle deutschen Haupt- und Nebenerwerbsbetriebe gemäß Rechtsform- und Erwerbstyp,<br />

Betriebsformen, Betriebsgrößen und Gebieten abbilden. Sie ist damit die einzige repräsentative<br />

Quelle gesamtbetrieblicher mikroökonomischer Daten und Grundlage <strong>für</strong> die<br />

Buchführungsstatistiken von Bund und Ländern. Dar<strong>über</strong> hinaus ist das deutsche Testbetriebsnetz<br />

Teil des Informationsnetzes landwirtschaftlicher Buchführungen der Europäischen<br />

Union (INLB). Die Buchführung der Testbetriebe wird nach einheitlichen Regeln<br />

mit dem BMELV-Jahresabschluss (BMELV-JA) erstellt, der sich eng an die Vorgaben<br />

der deutschen Steuergesetzgebung sowie des Handelsgesetzbuches (HGB) orientiert<br />

(vgl. 19). Dieser rechtliche Rahmen bietet eine angemessene Gewährleistung, einer guten<br />

wirtschaftlichen Abbildung der Betriebe. Lediglich an den Stellen, an denen spezifische<br />

land- und forstwirtschaftliche Tatbestände eine Modifizierung oder Ergänzung erfordern,<br />

sind spezielle Regelungen <strong>für</strong> den BMELV-Jahresabschluss vorgesehen. Dabei ist Folgendes<br />

zuberücksichtigen: Der größte Teil der landwirtschaftlichen Unternehmer muss<br />

den Jahresabschluss lediglich nach steuerlichen Gesichtspunkten (§ 141 AO, §§ 4EStG)<br />

erstellen. Vonder Erstellung eines handelsrechtlichen Jahresabschluss sind in aller Regel<br />

landwirtschaftliche Unternehmer in Form natürlicher Personen befreit (vgl. §3HGB). Die<br />

steuerlichen und handelsrechtlichen Jahresabschlüsse haben jedoch jeweils unterschiedliche<br />

Zielsetzungen. Während der steuerliche Abschluss ein wesentliches fiskalisches<br />

Interesse aufweist, nämlich die Bemessungsgrundlage <strong>für</strong> die Ertragsteuern zu ermitteln,<br />

möchte der handelsrechtliche Jahresabschluss insbesondere nicht fiskalische Stakeholder<br />

wie z. B. Anteilseigner oder Gläubiger angemessen <strong>über</strong> die Ertrags-, Finanz- und<br />

Vermögenslage des Unternehmens informieren. Aus den unterschiedlichen Zielsetzungen<br />

des Steuer- und Handelsrechts ergeben sich somit unterschiedliche Handlungsweisen der<br />

Bilanzierenden. Während man aus handelsrechtlicher Perspektive, zumindest teilweise<br />

bzw.temporär einen höchst möglichen Gewinn anstreben möchte, ist das Ziel der steuerlichen<br />

Gewinnermittlung ein möglichst geringer Gewinnausweis, um die Steuerlast moderat<br />

zu halten. Somit könnte die Bundesregierung bei der Abbildung der Lage der <strong>Landwirtschaft</strong><br />

theoretisch vor einem Dilemma stehen. Insbesondere die Ziele des Handelsrechts<br />

konvergieren mit den Interessen der Initiatoren der Testbetriebsberichterstattung im Sinne<br />

von §2LwG. Es werden jedoch schwerpunktmäßig steuerrechtlich motivierte Jahresabschlüsse<br />

in der <strong>Landwirtschaft</strong> erstellt. Möchte die Bundesregierung aus Gründen möglichst<br />

geringer Erfassungs- und Aufbereitungskosten die sowieso vorhandenen Daten der<br />

U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0440 $2.50/0<br />

Buel_3_11.indb 440 17.11.2011 08:13:24


BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />

441<br />

steuerlichen Jahresabschlüsse nutzbar machen, sind die Informationen z.T.stark durch<br />

eine steuermindernde, d.h., erfolgsverzerrte Darstellung motiviert. Ein repräsentatives<br />

Bild zur Lage der <strong>Landwirtschaft</strong> könnte darunterleiden. Ist das Ziel, einen ausschließlich<br />

handelsrechtlichen Jahresabschluss zu nutzen, wären die Transaktionskosten sehr hoch,<br />

insbesondere wenn die steuer- und handelsrechtlichen Vorschriften der Jahresabschlusserstellung<br />

weit auseinander driften. Vordiesem Hintergrund ist es zum einen ein Vorteil,<br />

dass in der Vergangenheit durch die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz <strong>für</strong> die Steuerbilanz<br />

bzw. durch die umgekehrte Maßgeblichkeit der Steuerbilanz <strong>für</strong> die Handelsbilanz gemäß<br />

§5IEStG insbesondere <strong>für</strong> kleine und mittelständische Unternehmen eine Einheitsbilanz<br />

erstellt wurde, die die Transaktionskosten <strong>für</strong> viele Beteiligte gering hielt. Zum anderen<br />

wurden speziell <strong>für</strong> die Jahresabschlusserstellung von BMELV-Testbetrieben gesonderte<br />

Regelungen erlassen, die mit möglichst wenig Aufwand einen gleichzeitig möglichst<br />

hohen zusätzlichen Informationsgewinn aus dem steuerlichen Jahresabschluss generieren<br />

sollen, um einen aussagekräftigen Jahresabschluss <strong>für</strong> die Testbetriebsberichterstattung<br />

nach HGB-Grundsätzen zu ermöglichen. Somit ist zu konstatieren, dass der BMELV-<br />

Jahresabschluss hinsichtlich der Ansatz- und Bewertungsvorschriften insbesondere ein<br />

steuerlicher Abschluss ist. Er unterscheidet sich von dem, was der Fiskus fordert, z. B.<br />

durch eine detaillierte Gliederung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung sowie<br />

durch die ergänzenden Verzeichnisse.<br />

Aufbau des BMELV-Jahresabschlusses<br />

Auch wenn es sich im Kern um einen steuerlichen Abschluss handelt, werden die Anforderungen<br />

an das HGB erfüllt. Die Bilanz ist mehrspaltig und die Gewinn- und Verlustrechnung<br />

in Staffelform aufgebaut. Dies ist insbesondere <strong>für</strong> die Genossenschaften und<br />

Gesellschaften, die dem Handelsrecht unterliegen, von Bedeutung. Denn der BMELV-JA<br />

ist <strong>für</strong> Betriebe aller Rechtsformen der Branchen Land- und Forstwirtschaft, Weinbau,<br />

Gartenbau und Fischerei gedacht. Er dient als einheitliche Datengrundlage <strong>für</strong> Betriebsvergleiche,<br />

die Beratung, den Agrarbericht und die Statistik.<br />

Dabei sind folgende Abschnitte essenziell <strong>für</strong> die Erstellung des BMELV-JA: Zunächst<br />

ist ein Deckblatt mit allgemeinen Angaben zuerstellen. Dann folgen die Bilanz, die Darstellung<br />

der Einlagen und Entnahmen (nur <strong>für</strong> Einzelunternehmen) sowie die Gewinnund<br />

Verlustrechnung. Damit ist der Kern des Jahresabschlusses erstellt, der jedoch durch<br />

einen Anhang zur Bilanz mit dem Anlagenspiegel, der Bewertung des Tiervermögens und<br />

der Vorräte, dem Forderungen- sowie dem Verbindlichkeitenspiegel (nur <strong>für</strong> juristische<br />

Personen) und der Einzelaufstellung der Verbindlichkeiten (nur <strong>für</strong> Einzelunternehmen<br />

und Personengesellschaften) zu ergänzen ist. Dar<strong>über</strong> hinaus sollen die <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong><br />

essenziellen Ernteflächen, naturalen Erträge und Leistungen sowie Durchschnittspreise<br />

aufgeführt werden. Auch ein Naturalbericht ist zu ergänzen, der die Tiere und die<br />

Vorräte aufzeichnet. Weiterhin ist ein Abschnitt <strong>über</strong> die Betriebsfläche auszufüllen, der<br />

die Betriebsfläche am Ende des Geschäftsjahres sowie die Betriebsflächenveränderung<br />

im Geschäftsjahr aufzeigt. Schließlich sind noch die Arbeitskräfte aufzuzeichnen sowie<br />

ergänzende Angaben zum Unternehmen und persönliche Angaben (nur <strong>für</strong> Einzelunternehmen)<br />

zu fertigen. Die Gliederungstiefen in den einzelnen Abschnitten sind so beizubehalten,<br />

wie sie im Codekatalog <strong>für</strong> den BMELV-JA vorgesehensind. Zusammenfassungen<br />

von vorgeschriebenen Buchungspositionen (ohne den Ansatz der Einzelpositionen) sind<br />

nicht zulässig. Innerbetrieblich detailliertere Erfassungen sind dabei durch die Art der<br />

Codierung <strong>für</strong> einzelne Kennzahlen durchaus möglich. Damit bietet dieserBMELV-JA <strong>für</strong><br />

den Betrieb bzw.Betriebsleiter gute Voraussetzungen, eine Betriebsanalyse vorzunehmen,<br />

Schwachstellen zu erkennen und eine angemessene Planung durchzuführen, sofern die<br />

Daten in der vorgegebenen Datentiefe sorgfältig eingepflegt werden. Damit sind sowohl<br />

Buel_3_11.indb 441 17.11.2011 08:13:24


442 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />

vertikale als auch horizontale Betriebsvergleiche möglich, denn der BMELV-JA bietet<br />

einen vereinheitlichten Rahmen <strong>für</strong> alle Beteiligungsinteressierten.<br />

Obgleich die zuletzt genannten Abschnitte eine z. T. erhebliche Erweiterung steuerlicher<br />

Notwendigkeiten darstellen, schlagen die steuerlichen Ansatz- und Bewertungswahlrechte<br />

speziell <strong>für</strong> die in der <strong>Landwirtschaft</strong> bilanzierenden immer wieder im BMELV-JA<br />

durch. D. h., es besteht u. a. das Ansatzwahlrecht <strong>für</strong> Feldinventar. Auch die Viehbewertung<br />

nach steuerlichen Gesichtspunkten wird analog <strong>für</strong> den BMELV-JA <strong>über</strong>nommen.<br />

Allerdings sind auch Besonderheiten des BMELV-Jahresabschlusses zu nennen. Zum<br />

einen ist in der Bilanz beispielsweise eine Position Tiervermögen zu bilden, die zwischen<br />

Anlage- und Umlaufvermögen steht. Dabei werden alle Tiere erfasst, unabhängig von<br />

der Zuordnung zum Anlage- oder Umlaufvermögen. Damit wird auf die Besonderheit<br />

in der <strong>Landwirtschaft</strong> verwiesen, ohne gegen die Gliederungsvorschriften des HGB zu<br />

verstoßen.Zum anderen bietet das Steuerrecht das Wahlrecht, Sonderabschreibungen oder<br />

Investitionszuschüsse entweder als sofortigen Aufwand bzw. Ertrag zu verbuchen oder<br />

einen entsprechenden Passivposten zu bilden bzw. entsprechende Absetzungen von den<br />

Anschaffungs- oder Herstellungskosten vorzunehmen. Dies wird im BMELV-JA bislang<br />

eingeschränkt. Dabei ist zwingend ein Sonderposten mit Rücklageanteil zubilden, der in<br />

den folgenden Jahren gemäßAbschreibungszeitraum oder Nutzungsdauererfolgswirksam<br />

aufgelöst wird.<br />

2 Das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG)<br />

Mit dem BilMoG stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich Veränderungen <strong>für</strong> die Testbetriebsstatistik<br />

ergeben können und die bislang unterstellte repräsentative Aussagekraft<br />

hinsichtlich der Ertrags-, Finanz-und Vermögenslage von Unternehmen verändert werden<br />

könnte. Vordiesem Hintergrund soll im Folgenden zunächst aufgezeigt werden, was sich<br />

durch das BilMoG verändert, bevor im weiteren Diskussionsablauf auf die Auswirkungen<br />

<strong>für</strong> die Testbetriebsberichterstattung eingegangenwird. Dabei ist zu beachten, dass bislang<br />

vergleichsweise wenig landwirtschaftliche Unternehmen einen HGB-Abschluss erstellen<br />

(müssen). Es handelt sich dabei insbesondere um juristische Personen oder Personengesellschaften,<br />

<strong>für</strong> die die nachfolgenden Ausführungen schwerpunktmäßig zutreffen.<br />

2.1 Veränderungen des Maßgeblichkeitsprinzips<br />

Mit dem BilMoG soll die Informationsfunktion des handelsrechtlichen Jahresabschlusses<br />

verbessert werden, umnicht zuletzt eine einfachere bzw. kostengünstige Alternative zu<br />

den IAS/IFRS zu generieren, ohne die Kapitalerhaltungs- und Auszahlungsbemessungsfunktion<br />

als Zielsetzung des HGB-Abschlusses in Frage zu stellen (vgl. 9, S. 1f.). In<br />

diesem Zusammenhang wurde das gemäß §5IEStG a. F. bestehende Maßgeblichkeitsprinzip<br />

stark aufgeweicht. Steuerliche Wahlrechte können aufgrund des neuen Wahlrechtsvorbehaltes<br />

gemäß §5IS.1EStG unabhängig von den handelsrechtlichen Grundsätzen<br />

der ordnungsgemäßen Buchführung (GoB) ausgeübt werden. Dar<strong>über</strong> hinaus wurde die<br />

umgekehrte Maßgeblichkeit abgeschafft. Die Konsequenzen dieser neuen Rahmenbedingungen<br />

werden durch folgende Zusammenhänge zwischen Handels- und Steuerbilanz vor<br />

dem BilMoG deutlich (vgl. 11, S.14):<br />

a) Aufgrund der Maßgeblichkeit der Handels- <strong>für</strong> die Steuerbilanz nach §5Abs. 1S.1<br />

EStG a. F. bilden die Vorschriften des HGB die Grundlage der Steuerbilanz, soweit<br />

keine steuerlichen Vorschriften eine abweichende Bilanzierung oder Bewertung zwingend<br />

verlangen.<br />

Buel_3_11.indb 442 17.11.2011 08:13:24


BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />

443<br />

b) Im Rahmen der nun nicht mehr geltenden umgekehrten Maßgeblichkeit der Handels<strong>für</strong>die<br />

Steuerbilanz wurdensteuerliche Wahlrechte bei der Gewinnermittlung in Übereinstimmung<br />

mit dem handelsrechtlichen Einzelabschluss ausgeübt.<br />

Mit der durch das BilMoG abgeschafften umgekehrten Maßgeblichkeit ergeben sich<br />

unmittelbare Auswirkungen auf die Handelsbilanz (vgl. 13).<br />

Konsequenzen aus der Abschaffung der umgekehrten Maßgeblichkeit<br />

Bisher waren nach §5Abs. 1S.2EStG a. F. „steuerrechtliche Wahlrechte bei der Gewinnermittlung<br />

[…] in Übereinstimmung mit der handelsrechtlichen Jahresbilanz auszuüben“.<br />

Daher konnten Unternehmen bestimmte Steuervergünstigungen nur in Anspruch nehmen,<br />

wenn ein entsprechender Ausweis im handelsrechtlichen Jahresabschluss (z. B. durch die<br />

Bildung eines Sonderpostens mit Rücklageanteil) erfolgte (vgl. 26, S. 49).<br />

Die Streichung §5Abs. 1S.2EStG, löste somit den Wegfall der umgekehrten Maßgeblichkeit<br />

aus (vgl. 11, S.14). Ziel der Neuregelung ist die Vereinfachung der handelsrechtlichen<br />

Rechnungslegung sowie die Rückwirkung des fiskalisch oder wirtschaftspolitisch<br />

motivierten Steuerrechts im handelsrechtlichen Jahresabschluss zu vermeiden, und damit<br />

das Informationsniveau bzw. die Aussagekraft des handelsrechtlichen Jahresabschlusses<br />

zu verbessern (vgl. 26, S. 50). Bisher kam es in der Handelsbilanz zu „Verfälschungen“<br />

durch Vornahme von nicht GoB-adäquaten Abschreibungen oder den Nichtausweis von<br />

Gewinnen (vgl. 27, S. 23). VonExperten wurde diese Verzerrung des HGB´s oftmals<br />

kritisiert und ist nun deutlich reduziert worden (vgl. 17, S. 931).<br />

Schlussfolgerungen und Konsequenzen durch Abschaffung der umgekehrten Maßgeblichkeit<br />

(vgl. 15, S. 41 f.; 26, S. 51):<br />

I. Vereinheitlichung der Rechnungsregelung von Unternehmen. Der Grundsatz der Vergleichbarkeit<br />

wird tendenziell gestärkt.<br />

II. Verbesserte Anwendung des Periodisierungsgrundsatzes. Bisher wurden durch steuerliche<br />

Wahlrechte auch in der Handelsbilanz Gewinne in die Zukunft verlagert.<br />

III. Stärkung des Realisationsprinzips durch Streichung von Wahlrechten und somit geringere<br />

stille Reserven.<br />

IV. Umfangreiche Abweichungen führen gegebenenfallszueinem höheren Ausweis latenter<br />

Steuern (<strong>für</strong> einzelne Rechtsformen bzw. Unternehmensgrößen, vgl. §§ 274 und<br />

274a HGB i. V. m. §267 HGB).<br />

V. Durch die Abschaffung der Wahlrechte wird die intersubjektive Nachprüfbarkeit<br />

des Jahresabschlusses gesteigert, mit evtl. positiver Auswirkung auf den Grundsatz<br />

der Richtigkeit.<br />

VI. Bei unterschiedlichen Ansätzen zwischen Handels- und Steuerbilanz ist ein<br />

eigenständiges steuerliches Anlagenverzeichnis zu führen. Dadurch steigt der Aufwand<br />

<strong>für</strong> die Erstellung des Jahresabschlusses.<br />

Zur Erleichterung des Übergangs hat der Gesetzgeber folgende Regelung getroffen: Bisher<br />

in der HGB-Bilanz gebildete Sonderabschreibungen bzw. steuerliche Sonderposten<br />

können gemäß Art. 67 Abs. 4bzw. Abs. 3EHBG n. F. entweder beibehalten und fortgeführt<br />

oder aufgelöst und unmittelbar in die Gewinnrücklagen eingestellt werden. Letzteres<br />

führt demnach zu einer erfolgsneutralen Behandlung, wobei die Einstellung in die<br />

Gewinnrücklage im Falle der Sonderabschreibungen nach §254 und §279 Abs. 2HGB,<br />

die im letzten vor dem 1. Januar 2010 begonnenen Geschäftsjahr vorgenommen wurden,<br />

nicht möglich sind (vgl. 15, S. 42 f.).<br />

Neu zu bildende Sonderposten mit Rücklageanteil dürfen in die Handelsbilanz nicht<br />

mehr eingebucht werden. In der Folge werden die Werte des Sonderpostens mit ihrem<br />

Anteil in das Eigenkapital und ggf. die passiven latenten Steuern eingebucht (vgl. dazu<br />

§§ 274 und 274a HGB), wobei im Fall der passiven latenten Steuern dem temporary-Kon-<br />

Buel_3_11.indb 443 17.11.2011 08:13:24


444 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />

zept folgend mit den zukünftig anfallenden Steuersätzen zu arbeiten ist. Diese Sichtweise<br />

folgt der Vorgehensweise der International Financial Reporting Standards (IFRS), die bei<br />

der Bildung von Sonderposten nach altem HGB diese Werte auf Eigenkapital und passive<br />

latente Steuern aufgeteilt haben (vgl. 24, S. 16).<br />

Im Folgenden werden Beispiele mit Relevanz <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> aufgezeigt, mit<br />

deren Hilfe verdeutlicht werden soll, in welchem Umfang Abweichungen zwischen Handelsbilanz<br />

und Steuerbilanz auftreten können. Im Anschluss wird die Aussagekraft der auf<br />

diese Weise erstellten Abschlüsse diskutiert.<br />

2.2 BMELV-Jahresabschlusses und BilMoG -<br />

Besonders betroffene Bilanzpositionen<br />

2.2.1 Bildung steuerrechtlicher Rücklagen nach neuem HGB im<br />

Kontext des Sonderpostens mit Rücklageanteil<br />

Aus bewertungsrechtlicher Sicht enthält der Sonderposten einen Anteil an Rücklagen, der<br />

das Eigenkapital erhöht, da Rücklagen ein anders ausgewiesenes Eigenkapital darstellen.<br />

Allerdings enthält der Sonderposten auch einen Fremdkapitalanteil. Dieser ist mit der aufgeschobenen<br />

Steuerschuld entstanden und somit abhängig vom individuellen Steuersatz<br />

des Unternehmers bzw. des Unternehmens. Häufigste Anwendung <strong>für</strong> landwirtschaftliche<br />

Betriebe fand diese Regelung in der bis 2008 zulässigen Ansparrücklage. In der Unternehmenssteuerreform<br />

2008 wurde die Ansparrücklage abgeschafft und der „Nachfolger<br />

Investitionsabzugsbetrag“ kodifiziert, der nicht mehr in einem Sonderposten mit Rücklageanteil<br />

mündet, sondern außerhalb der Bilanz manifestiert wird. Allerdings sind immer<br />

noch die <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> bedeutenden Rücklagenpositionen wie z. B. gemäß §7g<br />

EStG (Sonderabschreibungen) oder §§ 6b und 6c EStG zu berücksichtigen.<br />

Werden steuerliche Sonderposten in der Steuerbilanz in Ansatz gebracht, nicht aber<br />

in der Handelsbilanz, sind <strong>für</strong> einzelne Rechtsformen und Unternehmensgrößen entsprechend<br />

der Höhe des steuerlich passivierten Postens in der Handelsbilanz nach dem Bil-<br />

MoG passive latente Steuern abzugrenzen. Allerdings dürfte dies <strong>für</strong> die wenigsten landwirtschaftlichen<br />

Unternehmen zutreffen. Die in der <strong>Landwirtschaft</strong> maßgeblichen Unternehmen<br />

mit der Pflicht zur Erstellung einer Handelsbilanz werden die Größengrenzen zur<br />

Erreichung einer mittelgroßen Kapitalgesellschaft (§ 274 aHGB im Kontext von §267<br />

HGB) vielfach nicht <strong>über</strong>schreiten.<br />

Dennoch ist zu berücksichtigen, dass die in der <strong>Landwirtschaft</strong> häufig genutzten Regelungen<br />

gemäß §§ 6b und 7g EStG steuerrechtlich weiterhin in gleicher Weise in Anspruch<br />

genommen werden. Dabei schlagen diese sich im Handelsrecht zukünftig anders nieder als<br />

in der Steuerbilanz. Mit der Auflösung des Sonderpostens erhöht sich, ggf. unter Berücksichtigung<br />

der abzugrenzenden passiven latenten Steuern, das Eigenkapital zum Zeitpunkt<br />

der Umstellung (vgl. 25, S. 80). Damit erreicht der Gesetzgeber das avisierte Ziel, die<br />

auf Wahlrechten basierenden steuerlichen Begünstigungsnormen weiterhin in Anspruch<br />

nehmen zu können, ohne sie in die Handelsbilanz zu <strong>über</strong>nehmen. Dar<strong>über</strong> hinaus ist eine<br />

handelsrechtliche Übernahme nicht mehr zulässig, wenn man von den Übergangsregelungen<br />

absieht (vgl. 27, S. 23).<br />

Beispiel:<br />

Landwirt Aweist aus einem Gebäudeverkauf in der Steuerbilanz zum 31.12.2010 eine<br />

Reinvestitionsrücklage gemäß §6bEStG in Höhe von 250 000 €aus. In 2011 erwirbt<br />

Landwirt Adas Reinvestitionsobjekt, auf das die Reinvestitionsrücklage gemäß §6bEStG<br />

<strong>über</strong>tragen werden kann. Die Anschaffungskosten des Reinvestitionsobjekts belaufen sich<br />

auf 500 000 €. Der Landwirt wird in aller Regel die Rücklage auf die Anschaffungs-<br />

Buel_3_11.indb 444 17.11.2011 08:13:24


BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />

445<br />

oder Herstellungskosten des Reinvestitionsobjektes <strong>über</strong>tragen, um die Steuerzahlungen<br />

weiter in die Zukunft zuverschieben. In diesem Zusammenhang wird der Landwirt das<br />

ersatzweise angeschaffte Wirtschaftsgut im Jahr der Anschaffung in Höhe des Sonderpostens<br />

mit Rücklageanteil abschreiben und zugleich den Sonderposten mit Rücklageanteil<br />

ausbuchen:<br />

Verrechnung des Sonderpostens mit Rücklageanteil mit dem Reinvestitionsobjekt.<br />

Buchungssätze inden Jahren 2010 und 2011 inder Steuerbilanz:<br />

Sonderposten mit Außerordentliche<br />

Rücklagenanteil 250 000 € an Erträge<br />

250 000 €<br />

Außerplanmäßige Gebäude<br />

Abschreibungen 250 000 € an (Reinvestitionsobjekt)<br />

250 000 €<br />

Während Landwirt Aden Vorgang in der Handelsbilanz in der Vergangenheit analog zur<br />

Steuerbilanz verbuchte und der neu angeschaffte Vermögensgegenstand einen entsprechend<br />

geringeren Wert als die Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten aufwies, erhöht<br />

sich zukünftig in der Handelsbilanz das Eigenkapital entsprechend des Buchgewinns. Auf<br />

diese Art fallen nun Handels- und Steuerbilanz z. T. signifikant auseinander. Dies führt<br />

jedochzur Verbesserung der betriebswirtschaftlichen Aussagekraft der handelsrechtlichen<br />

Bilanz, da diese stärker von fiskalischen Bilanzierungsregelungen befreit wird (vgl. 11,<br />

S. 15).<br />

Differenz zwischen Handels- und Steuerbilanz zum 01.01.2010:<br />

Beträge in der Handelsbilanz:<br />

Eigenkapital 250 000 €>als in der Steuerbilanz (sofern keine latente<br />

Steuern gebildet werden)<br />

Bilanzsumme 250 000 €>als in der Steuerbilanz<br />

Damit diese Diskrepanzen ausreichend dokumentiert werden können, müssen künftig<br />

besondere Verzeichnisse geführt werden, aus denen sich die vom Handelsrecht abweichenden<br />

Wertansätze der Wirtschaftsgüter ergeben. Mangels einer Übergangsvorschrift<br />

zum neu gefassten §5Abs. 1Satz 1EStG treten diese Rechtsfolgen bereits mit Inkrafttreten<br />

des BilMoG ein. Eine Übernahme nur steuerlich zulässiger Wertansätze dürfte damit<br />

letztmals in Jahresabschlüssen <strong>für</strong> Geschäftsjahre zulässig sein, die vor dem Tag des<br />

Inkrafttretens des BilMoG enden (vgl. 3, S. 5). Zu diesen nur steuerlich zulässigen Werten<br />

zählen die Reinvestitionsrücklage, die Rücklage <strong>für</strong> Ersatzbeschaffung gemäß R6.6.<br />

Abs. 4EStR, der Investitionsabzugsbetrag und steuerliche Sonderabschreibung gemäß<br />

§7gEStG; erhöhte Absetzungen bei Gebäuden in Sanierungsgebieten und städtebaulichen<br />

Entwicklungsbereichen (§ 7h EStG); erhöhte Absetzungen bei Baudenkmäler (§ 7i<br />

EStG); Teilwertabschreibung bei dauerhafter Wertminderung im Anlagevermögen gemäß<br />

§6Abs. 1Nr. 1S.2EStG (vgl. 15, S. 40 f.). Bezüglich der auftretenden Diskrepanzen<br />

zwischen Steuer- und Handelsrecht dürften die insbesondere <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> wichtigen<br />

Rücklagen gemäß §6bEStG sein, da sie bei der Investition in Grund und Boden<br />

zu dauerhaften Differenzen führen können. Dies gilt jedoch nicht <strong>für</strong> die nachfolgend<br />

dargestellten Sonderabschreibungen.<br />

Buel_3_11.indb 445 17.11.2011 08:13:24


446 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />

2.2.2 Bildung steuerrechtlicher Sonderabschreibungen nach neuem HGB<br />

Vonden zuvor skizzierten betroffenen Punkten bilden die Sonderabschreibungen eine der<br />

bedeutendsten Positionen. Steuerliche Mehrabschreibungen, in Form einer Wertkorrektur<br />

des Vermögensgegenstands, sind künftig analog der Bildung eines Sonderpostens mit<br />

Rücklageanteil ebenso wenig in der Handelsbilanz zu berücksichtigen wie unversteuerte<br />

Rücklagen (vgl. 3, S. 5). Die folgenden Vorschriften werden durch die Aufhebung der<br />

umgekehrten Maßgeblichkeit gegenstandslos (vgl. 8):<br />

I. §254 HGB-Alt: Steuerrechtliche Abschreibungen<br />

II. §279 Abs. 2HGB-Alt: Steuerrechtliche Abschreibungen<br />

III. §281 HGB-Alt: Steuerrechtliche Abschreibungen<br />

IV. § 285 Nr. 5HGB-Alt: Anhangsangaben im Zusammenhang mit steuerrechtlichen<br />

Abschreibungen<br />

Mit diesen Änderungen lassen sich steuerliche Gestaltungsspielräume nutzen, ohne<br />

dadurch die betriebswirtschaftliche Aussagefähigkeit der Handelsbilanz zu verringern<br />

und die Bemessungsgrundlage (von Kapitalgesellschaften) <strong>für</strong> Gewinnausschüttungen zu<br />

reduzieren.<br />

Innerhalb der <strong>Landwirtschaft</strong> haben die steuerliche Sonderabschreibung gemäß §7g<br />

Abs. 5EStG und der Investitionsabzugsbetrag die größte Bedeutung, der allein im Wirtschaftsjahr<br />

2008/2009 mehr als 110 Mio. Euro bei den gemäß §§ 4Abs. 1EStG Gewinn<br />

ermittelnden Betrieben ausgemacht hat (eigene Kalkulationen gemäß BMELV). Das Handelsrecht<br />

fordert, Vermögensgegenstände mit den Anschaffungskosten zu aktivieren und<br />

planmäßig abzuschreiben (§ 253 Abs. 1Satz 1und Abs. 3HGB). Allerdings gewährt der<br />

Gesetzgeber Wahlrechte bei der Abschreibungsmethode. Die steuerlichen Sonderabschreibungen<br />

mindern nicht die Ausschüttungsbemessungsgrundlage bei Kapitalgesellschaften.<br />

Im Ertragsteuerrecht können die Wahlrechte <strong>für</strong> Sonderabschreibungen, Investitionsabzugsbetrag<br />

und weitere erhöhte Absetzungen (§ 7c, g, h, i, kEStG) unabhängig von<br />

den Ansätzen innerhalb der Handelsbilanz gewählt werden. Bei Wahlrechtsausübung ist<br />

das Wirtschaftsgut in ein besonderes Verzeichnis aufzunehmen (vgl. 22, S. 14). Die damit<br />

zusammenhängenden Entwicklungen in der Handels- und Steuerbilanz werden mithilfe<br />

des folgenden Beispiels in der Tabelle 1anhand der Anschaffung eines Schleppers zum<br />

01.01.2012 mit Anschaffungskosten in Höhe von 100 000 €verdeutlicht. Gegen<strong>über</strong>gestellt<br />

werden zwei landwirtschaftliche Betriebe; der erste meldet <strong>für</strong> die Testbetriebsstatistik<br />

seine Handelsbilanz (vgl. 4) und der zweite Betrieb seine Steuerbilanz. Dabei kann<br />

es zu den in Tabelle 1ausgeführten signifikanten Abweichungen zwischen den Perioden<br />

kommen.<br />

Die Bildung des Investitionsabzugsbetrages nach §7gEStG findet außerbilanziell statt.<br />

In der Tabelle ist lediglich die mögliche Sonderabschreibung bei Auflösung des IABs<br />

ausgeführt. Der steuerliche Vorteil durch die Bildung des Investitionsabzugsbetrags wirkt<br />

sich formal erst in der Summe der Einkünfte in der Steuererklärung und nicht in der Steuerbilanz<br />

aus. Die Abschreibung fällt zwar <strong>über</strong> den gesamten Zeithorizont in Handels- und<br />

Steuerbilanz in identischer Höhe an, allerdings sind die Abweichungen zwischen den Perioden<br />

signifikant. Ausgehend von der Annahme, dass der tatsächliche Wertverlust linear<br />

entlang der Nutzungsdauer erfolgt, spiegelt die Handelsbilanz die Vermögensentwicklung<br />

korrekt wieder.Die Steuerbilanz erscheint unter diesem Gesichtspunkt zur Bewertung des<br />

betriebswirtschaftlichen Periodenerfolgs ungeeignet. Starke Ergebnisschwankungen wie<br />

sie z. B. durch Preisschwankungen und Witterungseinflüsseinsbesondere bei Marktfruchtbetrieben<br />

zukünftig wahrscheinlich noch häufiger der Fall sind, können durch die steuerlichen<br />

Gestaltungsspielräume wie Investitionsabzugsbetrag oder Sonderabschreibungen<br />

ausgeglichen oder gegebenenfalls sogar <strong>über</strong>zeichnet werden. Aus Abschlüssen der Steuerbilanz<br />

ist daher zukünftig noch weniger erkennbar, obausgewählte Wirtschaftsjahre<br />

betriebswirtschaftlich erfolgreich verlaufen sind oder nicht.<br />

Buel_3_11.indb 446 17.11.2011 08:13:24


BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />

447<br />

Tabelle 1. Differenzen des Gewinns/Jahres<strong>über</strong>schusses zwischen der Handelsbilanz<br />

eines landwirtschaftlichen Unternehmens 1mit der Steuerbilanz eines anderen<br />

Unternehmens 2-vor Ertragsteuern anhand der exemplarischen Anschaffung eines<br />

Schleppers im Kontext der Testbetriebsstatistik*<br />

31.12.2012 AfA Schlepper<br />

31.12.2013–<br />

31.12.2016<br />

31.12.2017–<br />

31.12.2019<br />

Verbuchung nach HGB<br />

beim Unternehmen 1<br />

Buchung Einfluss<br />

auf den<br />

Jahres<strong>über</strong>schuss<br />

AfA Schlepper<br />

AfA<br />

Schlepper<br />

Verbuchung in der Steuerbilanz<br />

beim Unternehmen 2<br />

Buchung Einfluss auf<br />

den Gewinn/<br />

Jahres<strong>über</strong>schuss<br />

-12 500 € AfA –Übertragung<br />

IAB<br />

(§ 7g EStG)<br />

Sonder –<br />

AfA<br />

Lineare –<br />

AfA<br />

jährlich (4x)<br />

-12 500 €<br />

x4Jahre =<br />

-50 000 €<br />

jährlich (3x)<br />

-12 500 €<br />

x3Jahre =<br />

-37 500 €<br />

Lineare –<br />

AfA<br />

Lineare –<br />

AfA<br />

AfA<br />

-40 000 €<br />

-12 000 €<br />

-7 500 €<br />

jährlich (4x)<br />

-7 500 €<br />

x4Jahre =<br />

-30 000 €<br />

jährlich (3x)<br />

-3 500 €<br />

x3Jahre =<br />

-10 500 €<br />

Summe 100 000 € 100 000 €<br />

Die Gegen<strong>über</strong>stellung der verschiedenen Bilanzen soll verdeutlichen, dass die Differenzen<br />

in der Erfassung der Vermögensgegenstände bzw.Wirtschaftsgüter signifikant ausfallen<br />

können. Insbesondere Gläubiger erhalten durch die neuen Vorgaben zur Erstellung<br />

der Handelsbilanz ein repräsentativeres Bild der tatsächlichen Vermögensverhältnisse.<br />

2.3 Sonstige durch das BilMoG betroffene Bilanzierungswahlrechte<br />

2.3.1 Streichung der Rückstellungswahlrechte gemäß<br />

§249 Abs. 1Satz 3und Abs. 2HGB a. F.<br />

Differenz<br />

Gewinn/<br />

Jahres<strong>über</strong>schuss<br />

im<br />

Kalenderjahr(e)<br />

47 000 €<br />

(höherer<br />

Ausweis<br />

Handelsbilanz)<br />

47 000 €<br />

(höherer<br />

Ausweis<br />

Steuerbilanz)<br />

*Diese Diskrepanzen können sich im gewählten Beispiel nur dann ergeben, wenn der IAB und die<br />

Sonderabschreibung gemäß §7gEStG in Anspruch genommen werden kann.<br />

Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung<br />

Neben der bedeutenden Veränderung bei den Pensionsrückstellungen, die <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong><br />

im Regelfall unbedeutend ist, werden auch andere Rückstellungen durch das<br />

BilMoG tangiert. Dazu zählen auch die Aufwandsrückstellungen, die im Unterschied zu<br />

anderen Rückstellungen mit keinen rechtlichen oder wirtschaftlichen Verpflichtungen<br />

Buel_3_11.indb 447 17.11.2011 08:13:24


448 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />

gegen<strong>über</strong> einem Dritten verbunden sind –Außenverpflichtung (vgl. 20, S. 90 f.). Daher<br />

werden diese auch als Innenverpflichtung bezeichnet (vgl. 2, S. 442).<br />

Diese, zu den oftmals kritisierten Passivierungswahlrechten zählende Rückstellungsoption<br />

wurde mit dem BilMoG gestrichen (vgl. 21, S. 139 f.): Im alten Geschäftsjahr<br />

notwendige aber noch nicht durchgeführte Instandhaltungen, welche nach dem dritten<br />

Monat aber bis zum Ende des zwölften Monats des Folgejahres nachgeholt wurden, durften<br />

nach bisheriger Rechtslage passiviert werden. Ebenso gestrichen wurde das Wahlrecht<br />

<strong>für</strong> Aufwendungen, die ihrer Eigenart nach genau umschrieben, dem aktuellen oder einem<br />

früheren Geschäftsjahr zuzuordnen und hinsichtlich der Höhe oder des Zeitpunkts ihres<br />

Eintritts unbestimmt waren. Mithilfe dieser Passivierungsmöglichkeit wurden vor allem<br />

Aufwendungen <strong>für</strong> regelmäßige General<strong>über</strong>holungen und Großreparaturen auf mehrere<br />

Geschäftsjahre verteilt (vgl. 26, S. 70).<br />

Mit Abschaffung der o. g. Passivierungswahlrechte nach §249 Abs. 1und 2HGB hat<br />

sich der deutsche Gesetzgeber weiter an die IFRS angepasst, wobei gemäß IFRS Innenverpflichtungen<br />

nicht zu Rückstellungen führen dürfen. Demnach wären auch Instandhaltungsrückstellungen<br />

bis zu drei Monaten und Rückstellungen <strong>für</strong> Abraumbeseitigung<br />

(als Innenverpflichtungen) nicht zu berücksichtigen. Dieser Vorschrift wurde wegen der<br />

steuerlichen Vorschriften nicht entsprochen, da sie steuerlich ausdrücklich gebildet werden<br />

dürfen (vgl. 24, S. 18). Mit Streichung der anderen ausgeführten Wahlrechte sollen<br />

Vermögens-, Finanz-, und Ertragslage besser dargestellt werden. Der Gesetzgeber argumentiert,<br />

dass die gestrichenen Aufwandsrückstellungen den Charakter einer Rücklage<br />

und nicht einer Rückstellung haben (vgl. 9, S. 108). Dar<strong>über</strong> hinaus erfolgt auch aus<br />

steuerrechtlicher Sicht eine Annäherung, da gemäß BFH Rechtsprechung handelsrechtliche<br />

Passivierungswahlrechte steuerlich zu Passivierungsverboten führen (vgl. 15, S. 56).<br />

2.2.2 Außerplanmäßige Abschreibungen und Wertaufholungswahlrechte<br />

nach neuem HGB<br />

Bislang waren in der Handelsbilanz außerplanmäßige Abschreibungen von Vermögensgegenständen<br />

des Anlagevermögens und des Umlaufvermögens nach §253 Abs. 2und<br />

3HGB a. F. vorzunehmen, um die Vermögensgegenstände mit dem niedrigeren beizulegenden<br />

Wert anzusetzen. Die Vorschriften des §253 Abs. 2, 3HGB sind Ausfluss des<br />

Vorsichtsprinzips und des daraus abgeleiteten Niederstwertprinzips nach §252 Abs. 1<br />

Nr. 4HGB (vgl. 15, S. 52 f.). Losgelöst vom Stichtagsprinzip hat das bisherige HGB<br />

auch Abschreibungen auf einen niedrigeren zukünftig erwarteten Wert zugelassen; sog.<br />

erweitertes Niederstwertprinzip (vgl. 11, S.72). Danach sind Verluste zu berücksichtigen,<br />

auch wenn diese noch nicht realisiert oder auch zu periodisieren sind.<br />

Nach dem BilMoG wurden nun auch <strong>für</strong> Personenunternehmen folgende Abschreibungswahlrechte<br />

bzw. Wertaufholungswahlrechte gestrichen (vgl. 26, S. 86; 15, S. 53 f.;<br />

11, S.72):<br />

I. Abschreibung auf Vermögensgegenstände des Umlaufvermögens, wenn eine künftige<br />

Wertschwankung erwartet wurde (§ 253 Abs. 3Satz 3HGB a. F. ).<br />

II. Wertaufholung -bei Wegfall des Grundes <strong>für</strong> die Wertaufholung galt die Pflicht zur<br />

Zuschreibung bisher gemäß §253 Abs. 5HGB a. F. nur <strong>für</strong> Kapitalgesellschaften.<br />

III. Abschreibung nach „vernünftiger kaufmännischer Beurteilung“ (sog. Willkürabschreibungen;<br />

§253 Abs. 5HGB a. F.).<br />

IV. Abschreibung bei vor<strong>über</strong>gehender Wertminderung des Anlagevermögens – galt<br />

bisher nach §253 Abs. 3Satz 4HGB nur <strong>für</strong> Nicht-Kapitalgesellschaften.<br />

Der Gesetzgeber hat sich mit diesen Reformpunkten an die IFRS angenähert, allerdings<br />

ohne signifikante Veränderungen <strong>für</strong> Kapitalgesellschaften. Damit wird eine bessere Vergleichbarkeit<br />

von handelsrechtlichen Bilanzen erreicht. Die Neuregelung führt auch zu<br />

Buel_3_11.indb 448 17.11.2011 08:13:25


BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />

449<br />

einerAnnäherung andie steuerlichen Vorschriften. Gemäß §6Abs. 1Nr. 1Satz 2, Nr. 2<br />

Satz 2EStG sind Teilwertabschreibungen nur aufgrund dauerhafter Wertminderungen<br />

möglich. Gemäß §6Abs. 1Nr. 1Satz 4und Nr. 2Satz 3EStG gilt steuerlich bereits nach<br />

altem Recht ein striktes Wertaufholungsgebot (vgl. 15, S. 53 f.).<br />

Für vor der Novellierung des HGB´s getroffene Abschreibungen hat der Gesetzgeber<br />

Übergangsregelungen getroffen. Gemäß Art. 67 Abs. 4EGHGB n. F. wird entweder die<br />

Beibehaltung und Fortführung der bisherigen Abschreibungen oder die Auflösung und<br />

Einstellung in die Gewinnrücklagen gewählt. Die Möglichkeit zur Einstellung in die<br />

Gewinnrücklagen gilt allerdings nicht <strong>für</strong> Abschreibungen, welche imletzten vor dem<br />

01.01.2010 begonnenen Geschäftsjahr vorgenommen wurden (vgl. 11, S.73).<br />

3 Schlussfolgerungen<br />

Das deutsche Testbetriebsnetz setzt innerhalb der EU-Testbetriebsnetze einen Benchmark<br />

(vgl. 29). Dennoch gibt es immer noch Weiterentwicklungsmöglichkeiten, wie z. B. die<br />

Erweiterungder Testbetriebsnetzinformationenhinsichtlich zu konsolidierender Jahresabschlüsse,die<br />

besonders <strong>für</strong> die Veredlung aber auch <strong>für</strong> die Energieproduktion von Bedeutung<br />

wären, sowie die Erweiterung <strong>über</strong> das Sonderbetriebsvermögenlandwirtschaftlicher<br />

Unternehmer (vgl. 7). Dar<strong>über</strong> hinaus ist im Kontext der zuvor skizzierten Kapitel die<br />

zunehmende Konkurrenz zwischen den verschiedenen Vorschriften zur Erstellung von<br />

Jahresabschlüssen deutlich geworden. Mehr denn je müssen Rechnungslegungsvorschriften<br />

Berechtigung und Aussagekraft nachweisen. Durch das BilMoG hat das HGB und<br />

infolge dessen auch die Handelsbilanz einen weiteren Schritt in die Richtung einer erhöhten<br />

betriebswirtschaftlichen Aussagekraft gemacht. Mithilfe von Vereinfachungen wurde<br />

der Anspruch eines „verhältnismäßig einfach zu erstellenden Jahresabschlusses“ gestärkt<br />

und die Daseinsberechtigung gegen<strong>über</strong> dem IFRS-Abschluss untermauert. Im Rahmen<br />

der Testbetriebsbuchführung erstellen allerdings lediglich ca. 10 %der beteiligten landwirtschaftlichen<br />

Betriebe eine Bilanz nach HGB. Die jüngsten Ausführungsanweisungen<br />

ermöglichen die Option, die Handelsbilanz <strong>für</strong> die Testbetriebsstatistik einzureichen. Vor<br />

dem Hintergrund der zuvor dargestellten Rahmenbedingungen ist diese Vorgehensweise<br />

zunächst zu begrüßen. Mit dem BilMoG erfährt die Handelsbilanz eine weiter zunehmende<br />

betriebswirtschaftliche Aussagekraft, die stärker losgelöst ist von steuerrechtlichen<br />

Vorgehensweisen. Dies könnte in Zukunft noch weiter an Bedeutung gewinnen, wenn <strong>für</strong><br />

den Sektor <strong>Landwirtschaft</strong> eine zunehmend volatile Ertragserwartung von Wirtschaftsjahr<br />

zu Wirtschaftsjahr zu erwarten ist (vgl. 23, S. 54). Die zukünftige Übernahme von<br />

Handelsbilanzergebnissen ist, soweit vorhanden, in das Testbetriebsnetz zu begrüßen.<br />

Für diese Betriebe erfolgt eine angemessenere betriebswirtschaftliche Abbildung. Diese<br />

zweigleisige Vorgehensweise, d. h. die Übernahme von Handelsbilanzen, soweit vorhanden<br />

und der ansonsten zu <strong>über</strong>nehmenden Steuerbilanzen, wirft jedoch auch Probleme<br />

auf. So entstehen durch diese Vorgehensweise auch Friktionen in der Interpretation der<br />

Testbetriebsergebnisse. Betriebsvergleiche bzw. zusammengefasste statistische Ergebnisse<br />

könnten zukünftig stärker fehlinterpretiert werden. So sind die zuvor beschriebenen<br />

steuerrechtlichen Rücklagen künftig ausschließlich in der Steuerbilanz anzusetzen.<br />

Nach HGB bilanzierende Betriebe haben somit bei gleichen Sachverhalten zumindest im<br />

Jahr der Rücklagenbildung einen geringeren Jahres<strong>über</strong>schuss. Theoretisch könnten sich<br />

Abweichungen im Zeitablauf sowie aufgrund der hohen Betriebsanzahl wieder ausgleichen.<br />

Allerdings sind z. B. Rücklagen gemäß §6bEStG, die auf Grundstücke <strong>über</strong>tragen<br />

werden, sehr lange in den Bilanzen und lösen sich meist erst bei Verkauf der betreffenden<br />

Grundstücke wieder auf. Gerade <strong>für</strong> diese Fälle, welche in der landwirtschaftlichen Buchführung<br />

z. T. bedeutend sein können, erscheint es angemessen, von größtenteils dauerhaft<br />

Buel_3_11.indb 449 17.11.2011 08:13:25


450 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />

abweichenden Ansätzen auszugehen. Dar<strong>über</strong> hinaus ergeben sich Interpretationsschwierigkeiten<br />

im Hinblick auf große Betriebe bzw. juristische Personen, die <strong>über</strong>durchschnittlich<br />

häufig eine Handelsbilanz anfertigen und somit deren Ergebnisse automatisch in das<br />

Testbetriebsnetz einfließen. Dagegen werden <strong>für</strong> kleinere und mittlere landwirtschaftliche<br />

Unternehmen bzw. natürliche Personen <strong>über</strong>durchschnittlich häufig die Ergebnisse der<br />

Steuerbilanz maßgeblich sein. Werden die Jahres<strong>über</strong>schüsse der verschiedenen Größenklassen<br />

bzw.Rechtsformen miteinanderverglichen, kann es somit zu Fehlinterpretationen<br />

kommen. Dies gilt auch im Hinblick auf regionale Vergleiche. Mit den in Ostdeutschland<br />

verstärkt anzutreffenden Handelsbilanzen erstellenden Betrieben bzw. Betriebsleitern<br />

könnten in Zukunft <strong>für</strong> die Betriebe inOstdeutschland verstärkt volatile Ergebnisse abgebildet<br />

werden. Dies könnte z. B. zu der Fehlinterpretation führen, dass die Bewirtschaftung<br />

in Ostdeutschland riskanter sei als in Westdeutschland (sofern höhere Standardabweichungender<br />

Jahres<strong>über</strong>schüsse als höheresRisiko gewertet werden), obwohl lediglichdie<br />

verstärkt steuerrechtlich genutzten Instrumente in Westdeutschland zu einer wirksameren<br />

Nivellierung der abgebildeten Ergebnisse führen würden.<br />

Theoretisch könnten die zuvor genannten Monita der BMELV-Testbetriebsberichterstattung<br />

reduziert werden. Sokönnten z.B.Steuerbilanzabschlüsse auf Handelsbilanzabschlüsse<br />

umgerechnet werden, umdaraus einen BMELV-Abschluss abzuleiten. Damit<br />

würde es sich aber wahrscheinlich nicht mehr um offiziell geprüfte Abschlüsse handeln.<br />

Bislang <strong>für</strong> die Testbetriebsstatistik genutzte Abschlüsse sind als Steuer- oder Handelsbilanz<br />

durch berechtigte Instanzen (Steuerberater/Wirtschaftsprüfer) geprüft. Eine aus der<br />

Steuerbilanz gesondert <strong>für</strong> die Testbetriebsstatistik abgeleitete Handelsbilanz hätte voraussichtlich<br />

keinen offiziellen Prüfstatus. Eine zusätzliche Prüfung durch die berechtigten<br />

Institutionen würde jedochwiederzusätzlichen (finanziellen) Aufwand erfordern. Vordiesem<br />

Hintergrund würden die eigentlichwünschenswerten Handelsbilanzen <strong>für</strong> alle Testbetriebe<br />

wahrscheinlich zu hohe Transaktionskosten auslösen,die nicht tragfähig erscheinen.<br />

Ggf. wäre zu <strong>über</strong>legen, ob nicht eine geringere Anzahl an Testbetriebenmit da<strong>für</strong> aussagekräftigerem<br />

Datenmaterial auf der Basis einer Handelsbilanz zu einer höheren Aussagekraft<br />

bei gleich bleibenden Transaktionskosten führen könnte. Dies wäre gesondert<br />

zu analysieren. Denn auch in diesem Zusammenhang gilt: Allein die Quantität erfasster<br />

Betriebe gewährleistet nicht die Qualität der daraus abzuleitenden Erkenntnisse. Gerade<br />

auch im Hinblick auf den Strukturwandel und ständig sinkender Betriebszahlen muss<br />

hinterfragt werden, ob nicht eine geringere Zahl von Testbetriebenebenfalls eine repräsentative<br />

Erhebung leisten kann, wenn gleichzeitig zunehmend handelsrechtliche Vorgaben<br />

Beachtung finden würden.<br />

Falls der Weg <strong>über</strong> eine umgestaltete Erhebung nicht möglich sein sollte, drängt<br />

sich die Frage nach einer modifizierten Erfolgsspaltung auf. Beispielsweise könnte das<br />

Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit und die Positionen betriebliche Erträge<br />

und betriebliche Aufwendungen neu gefasst werden. Denn „Die Gewinn- und Verlustrechnung<br />

(GuV) hat die Aufgabe, durch eine zweckmäßige Gliederung einzelner Erfolgskomponenten<br />

einen möglichst guten Einblick in die Ertragslage des Unternehmens zu<br />

ermöglichen.“ (vgl. 28, S. 802). Damit könnte die hoch aggregierte Größe „Jahreserfolg“<br />

exakter in die nachhaltigen und nicht nachhaltigen Erfolgsbestandteile aufgeschlüsselt<br />

werden (vgl. 1, S. 387 f.). Gelänge es, diese hochaggregierte Erfolgskennzahl von rein<br />

fiskalischen Einflüssen zu befreien, könnte der Informationswert im Sinne der Zielsetzung<br />

der Agrarberichterstattung möglicherweise erhöht werden. Interpretationsfriktionen<br />

z. B. durch Sonderabschreibungen oder anderen ausschließlich steuerrechtlich motivierten<br />

Regelungen, welche den betriebswirtschaftlichen Periodenerfolg verzerren, werden<br />

im „Begriffskatalog zum Jahresabschluss“ bislang zwar erkannt, aber in der Gliederung<br />

des Jahresabschlusses nicht adäquat berücksichtigt (vgl. 12, S. 99). Diese Aufwendungen<br />

und Erträge sollten im Sinne einer angemessenen betriebswirtschaftlichen Interpretation<br />

Buel_3_11.indb 450 17.11.2011 08:13:25


BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />

451<br />

von Gewinnen (die agrarpolitische Auswirkungen aufweisen) nicht den Positionen der<br />

„betrieblichen Aufwendungen und Erträgen“ zugerechnet werden und somit auch nicht<br />

in das Betriebsergebnis bzw. nicht in das Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit<br />

Eingang finden. Vielmehr sollte dar<strong>über</strong> nachgedacht werden, diese in einem zusätzlichen<br />

Gliederungspunkt auszuweisen, damit der BMELV-Jahresabschluss eine noch höhere<br />

Akzeptanz in der politischen Entscheidungsfindung aber auch in der betriebswirtschaftlichen<br />

Beratung erfahren kann.<br />

Zusammenfassung<br />

Durch das <strong>Landwirtschaft</strong>sgesetz ist die Bundesregierung verpflichtet, regelmäßig aktuelle Informationen<br />

zur Lage der <strong>Landwirtschaft</strong> bereitzustellen. Zudiesem Zweck bietet sich der Rückgriff auf<br />

Jahresabschlussdaten des Steuer- und Handelsrechtes an. Sie bieten einen rechtssicheren und nachvollziehbaren<br />

Ansatz mit vergleichsweise geringen Transaktionsaktionskosten. Dementsprechend<br />

besteht in Deutschland ein Testbetriebsnetz, das auf diese Daten zurückgreift. ImSinne der Zielsetzung<br />

des <strong>Landwirtschaft</strong>sgesetzes wäre insbesondere ein handelsrechtlicher Ansatz der Testbetriebsberichterstattungvorzüglich.<br />

Er gewährleisteteine höhere betriebswirtschaftliche Aussagekraft<br />

hinsichtlichder aktuellen Ertrags- und Vermögenslage als der steuerrechtliche Abschluss. Allerdings<br />

erstellen die meisten Landwirte nur einen steuerrechtlichen Abschluss, sodass im Rahmen der Testbetriebsberichterstattung<br />

in der Vergangenheit ein Kompromiss zwischen handelsrechtlichen und<br />

steuerrechtlichen Maßgaben vorgenommen wurde. Durch das jüngst verabschiedete Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz<br />

(BilMoG) wird dieser Kompromiss jedoch tangiert, weil sich diese Rechnungslegungsvorschriften<br />

weiter auseinander entwickelt haben. Führte in den vergangenen Jahren das<br />

(umgekehrte) Maßgeblichkeitsprinzip zu einer engen Verzahnung zwischen Handels- und Steuerbilanz,<br />

so kam es mit Streichung des §5Abs. 1EStG a. F. gemäß BilMoG zu einem Auseinanderfallen<br />

wesentlicher Posten von steuer- und handelsrechtlich motivierten Jahresabschlüssen. Dies liegt u. a.<br />

an wirtschaftspolitisch motivierten Regelungen des Steuerrechts, die einerseits z. B. Investitionen<br />

in Produktionsgüter fördern sollen (z. B. Sonderabschreibungen, Rücklagenbildungen, Investitionsabzugsbetrag),<br />

aber andererseits die betriebswirtschaftliche Aussagekraft des steuerlichen Jahresabschlusses<br />

einschränken. Die Regelungen <strong>für</strong> das Testbetriebsnetz konnten inder Vergangenheit,<br />

nicht zuletzt aufgrund des (umgekehrten) Maßgeblichkeitsprinzips, diesem Problem begegnen. Mit<br />

dem BilMoG wird dies jedoch erschwert. Eine Reaktion der Testbetriebsberichterstattung auf das<br />

BilMoG könnte u. a. dadurch gekennzeichnet sein, die handelsrechtlichen Jahresabschlussdaten der<br />

Unternehmen mit verpflichtender handelsrechtlicher Jahresabschlusserstellung zu <strong>über</strong>nehmen (insbesondere<br />

juristische Personen). Allerdings wird gezeigt, dass diese Vorgehensweise imHinblick<br />

auf die allgemeine Aussagefähigkeit tragfähig ist, aber im Hinblick auf interregionale sowie Rechtsformvergleiche<br />

problematisch sein kann. Eine weitere Alternative könnte in einer zukünftig modifizierten<br />

Erfolgsspaltung innerhalb des BMELV-Abschlusses bestehen, um die betriebswirtschaftliche<br />

Aussagefähigkeit der Testbetriebsberichterstattung noch weiter zuerhöhen.<br />

Summary<br />

BMELV annual accounts inthe face of the conflicting demands ofcommercial and<br />

tax accounting:<br />

Consequences of the German Accounting Law Modernisation Act on BMELV annual accounts<br />

The Agriculture Act requires the Federal Government to provide up-to-date information on the situation<br />

of agriculture at aregular basis. For this purpose it makes sense to use the data contained in<br />

the annual accounts that are drawn up under tax and commercial law. These offer alegally secure<br />

and comprehensible approach with comparably low transaction costs. Germany runs atest farm<br />

network which uses this data. In line with the Agriculture Act’s objective, it is preferable to take a<br />

commercial law approach to test farm reporting. The commercial accounts provide more meaningful<br />

data on the actual results of operation and net assets than tax law based annual accounts. However,<br />

most farmers only draw up an account under tax law so, in the past, acompromise had to be made<br />

between commercial and tax law requirements in the framework of test farm reporting. However,the<br />

recently adopted German Accounting Law Modernisation Act (BilMoG) has consequences for this<br />

compromise, as it has widened the gap between these two sets of accounting rules. In past years, the<br />

(reversed) authoritative principle, under which accounting choices made in the tax accounts had to<br />

be reflected on the commercial balance sheet, resulted in aclose coordination between commercial<br />

and tax balance sheet. Now, however, the deletion of Section 5Subsection 1German Income Tax<br />

Buel_3_11.indb 451 17.11.2011 08:13:25


452 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />

Code, amended version (EStG a. F.)isresulting in adivergence in the treatment of essential items<br />

in the two sets of accounts. This is partly due to tax law provisions motivated by economic policy,<br />

which were intended to promote e.g. investments into capital equipment (e.g. special depreciation<br />

allowances, creation of reserves, investment deduction amounts), but which also limit the economic<br />

value of the tax-bases annual accounts. In the past the provisions for the test farm network were<br />

able to deal with this problem, not least because of the (reversed) authoritative principle. However,<br />

this has become more difficult with the German Accounting Law Modernisation Act (BilMoG). A<br />

reaction to the BilMoG within the context of test farm reporting might include using the data from<br />

the commercial-law based annual accounts of companies obliged to prepare such accounts (especially<br />

legal persons). However, itisshown that though this procedure is viable with regard to the<br />

general value of the information it provides, itisproblematic with regard to interregional and legal<br />

form comparisons. Another alternative could be to modify the profit breakdown within the BMELV<br />

annual accounts in future, in order to further increase the analytical usefulnessoftest farm reporting.<br />

Résumé<br />

Les comptes annuels du Ministère fédéral allemand de l‘Alimentation, del‘Agriculture<br />

et de la Protection des Consommateurs (BMELV) prises entre les principes du bilan commercial<br />

et du bilan fiscal:<br />

Les effets de la loi relative àlamodernisation de la législation sur l’établissement de bilans<br />

(BilMoG) sur les comptes annuels du BMELV<br />

Conformément àlaloi relative àl’agriculture, le gouvernement fédéral allemand est obligé àmettre<br />

régulièrement àladisposition des informations actuelles sur la situation du secteur agricole. Àcette<br />

fin, il est utile d’exploiter les données des comptes annuels prélevées sur la base du droit commercial<br />

et du droit fiscal. Ces données permettent une approche juridiquement garantie et compréhensible<br />

avec des coûts de transaction relativement faibles. En Allemagne, il existe un réseau d’exploitations<br />

modèles utilisant ces données. Dans la ligne des objectifs visés par la loi relative àl’agriculture, il<br />

serait préférable d’établir les rapports sur ces exploitations modèles sur la base des principes du droit<br />

commercial ce qui assure un plus grand pouvoir explicatif du point de vue de l’économie d’entreprise<br />

en ce qui concerne la rentabilité et la situation patrimoniale que le bilan fiscal. Mais la plupart des<br />

agriculteurs établit uniquement un bilan fiscal de sorte que, dans le passé, les rapports sur les exploitations<br />

modèles ont toujours été un compromis entre les dispositions dudroit commercial et celles<br />

du droit fiscal. La loi relative àlamodernisation de la législation sur l’établissement de bilans (loi<br />

BilMoG) récemment adoptée abien des effets sur ce compromis parce que les normes comptables<br />

concernées divergent. Dans les années passées, le principe de la «dépendance (inversée) »avait<br />

garanti un lien étroit entre le bilan commercial et le bilan fiscal; maintenant, en supprimant l’article<br />

5alinéa 1delaloi relative àl’impôt sur les revenus, conformément àlaloi BilMoG, des postes<br />

fondamentaux dans les comptes annuels basés sur le droit fiscal se différencient de ceux dans les<br />

comptes annuels basés sur le droit commercial. Car le droit fiscal comprend des règles visant par<br />

exemple àpromouvoir les investissements dans les biens de production (amortissementexceptionnel,<br />

constitution de réserves, retenue d’investissement) mais qui limitent en même temps le pouvoir<br />

explicatif des comptes annuels fiscaux du point de vue de l’économie d’entreprise. Dans le passé, le<br />

système appliqué au réseau d’exploitations modèles apermis de répondre àceproblème, entre autre<br />

grâce au principe de la dépendance inversée, ce qui deviendra plus difficile sous la loi BilMoG. En<br />

ce qui concerne les rapports sur les exploitations modèles, il est envisageable d’utiliser les données<br />

des comptes annuels basés sur le droit commercial et établis obligatoirement par certaines entreprises<br />

(notamment par les personnes juridiques). Une telle approche apporterait la valeur informative<br />

nécessaire mais poserait des problèmes quant àlacomparaison des régions et des formes juridiques.<br />

Afin de renforcer encore plus le pouvoir explicatif des rapports sur les exploitations modèles du point<br />

de vue de l’économie d’entreprise, àl’avenir, dans les comptes annuels du BMELV, les résultats<br />

comptables pourraient être dégroupés autrement.<br />

Buel_3_11.indb 452 17.11.2011 08:13:25


BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />

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Buel_3_11.indb 453 17.11.2011 08:13:25


454 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />

Autorenanschrift: Int. Dipl. Vw. M.sc. Matthias mOser und Prof. Dr. ennO bahrs, Institut <strong>für</strong><br />

<strong>Landwirtschaft</strong>liche Betriebslehre der Universität Hohenheim, Schloß-Osthof-<br />

Südflügel, 70593 Stuttgart, Deutschland<br />

matthias_moser@uni-hohenheim.de<br />

Buel_3_11.indb 454 17.11.2011 08:13:25


Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und<br />

Agrarverbände in Ostdeutschland vor und nach der<br />

Wiedervereinigung<br />

Von Axel WOlz, Halle (Saale)<br />

1 Einleitung<br />

U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0455 $2.50/0<br />

455<br />

Mehr als 20 Jahre sind seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes sowie der<br />

Wiedervereinigung Deutschlands vergangen. Im Jahre 1989 waren weder Politiker noch<br />

Bürger beider deutscher Staaten auf diesen notwendigen Transformationsprozess vorbereitet,<br />

der dann in relativ kurzer Zeit ablief. Dieser Prozess leitete einen radikalen Wandel<br />

der bestehenden (sozialistischen) Organisationen und Institutionen in der ehemaligen<br />

DDR ein. Die Auflösung personeller und institutioneller Kontinuitäten zum alten System<br />

erfolgte in einem sohohen Maße, „wie das in der Vergangenheit nur bei tief greifenden<br />

revolutionären Umwälzungen –und meist unter erheblicher Gewaltanwendung –geschah“<br />

(23, S. 34). In aller Regel erfolgte eine fast lückenlose Übertragung des westdeutschen institutionellen<br />

Systems auf die ehemalige DDR, die mit „Institutionentransfer“ umschrieben<br />

wird (25, S. 88). Im Rückblick wird deutlich, dass dieser Prozess in Deutschlandeinmalig<br />

war und mit der Entwicklung in den anderen Transformationsländern Mittel- und Osteuropas<br />

(MOE) nur bedingt vergleichbar ist. Eher lassen sich wertvolle Hinweise <strong>für</strong> einen<br />

möglichen Transformationsprozess inKorea ableiten.<br />

Im Rahmen dieses Beitrags konzentrieren wir uns auf spezielle Teilbereiche der institutionellen<br />

Transformation und zwar den Wandel der Agrarverwaltung sowie der wichtigsten<br />

Organisationen der landwirtschaftlichen Bevölkerung in Ostdeutschland vor und nach<br />

der Wiedervereinigung. Dieser Wandel ist vor dem Hintergrund der Einführung der Wirtschafts-,<br />

Finanz- und Sozialunion zwischen den beiden deutschen Staaten sowie der Einführung<br />

der europäischen Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) zum 1. Juli 1990 zu sehen.<br />

Der gesamte landwirtschaftliche Sektor stand kurz vor dem finanziellen Zusammenbruch.<br />

Schon vor der Wiedervereinigung wurden Anpassungsbeihilfen an die landwirtschaftlichen<br />

Produzenten ausgezahlt, um die Betriebe zahlungsfähig zu halten. Insgesamt wurden<br />

1990 ca. 4,9 Mrd. DM und 1991 ca. 4,2 Mrd. DM den landwirtschaftlichen Produzenten<br />

zugeteilt (32 ). Die Bearbeitung dieser finanziellen Unterstützung wurde von der Agrarverwaltung<br />

geleistet, die selbst reorganisiert werden musste.<br />

In dieser Hinsicht ist es <strong>über</strong>raschend, dass nur verhältnismäßig wenige Arbeiten zur<br />

Transformation der Agrarverwaltung und Agrarverbänden in der Literatur vorhanden sind.<br />

In einer Analyse der führenden Wochenzeitung im Agrarbereich („Agra-Europe“) zu den<br />

Hauptthemen während der ersten fünf Jahre der Transformation (1990–1995) kommt<br />

thiele zu dem Ergebnis, dass sich gerade einmal 3%mit dieser Thematik befassten (31).<br />

Die wichtigsten Themen waren mit großem Abstand Fragen der Gemeinsamen Agrarpolitik,<br />

Privatisierung und Dekollektivierung. Es schien wohl keinen Anlass zu Klagen<br />

gegeben zu haben und die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben verlief anscheinend reibungslos.<br />

Wie diese Aufgaben wahrgenommen wurden, soll im weiteren Verlauf dieses<br />

Beitrages diskutiert werden. Aus Mangel an detaillierten Analysen basiert dieser Beitrag<br />

Buel_3_11.indb 455 17.11.2011 08:13:25


456 Axel Wolz<br />

primär auf den persönlichen Erfahrungsberichten von Personen, die selbst an dem Transformationsprozess<br />

beteiligt waren.<br />

Dieser Beitrag ist wie folgt strukturiert. Im nächsten Kapitel wird die Transformation<br />

der Agrarverwaltung diskutiert. Dies beinhaltet einen kurzen Überblick zum allgemeinen<br />

Verwaltungsaufbau in der alten Bundesrepublik und ehemaligen DDR, dem Aufbau der<br />

sozialistischen sowie transformierten Agrarverwaltung, den Hauptarbeitsbereichen sowie<br />

den Hauptproblemen nach der Etablierung der neuen Verwaltungsstruktur. Das dritte<br />

Kapitel befasst sich mit dem Aspekt, dass die Transformation der Agrarverwaltung nicht<br />

nur ihren Wandel, sondern auch den Aufbau spezieller Organisationen umfasste. Die staatlichen<br />

land- und forstwirtschaftlichen Flächen sollten im Rahmen der Systemtransformation<br />

von einer neugeschaffenen Behörde so schnell als möglich privatisiert werden. Das<br />

vierte Kapitel beinhaltet eine Analyse der Transformation der wichtigsten Agrarverbände,<br />

wobei der Schwerpunkt auf dem Deutschen Bauernverband liegt. In dem fünften Kapitel<br />

werden die wichtigsten Unterschiede des deutschen Weges im Vergleich zu anderen<br />

Transformationsländern herausgestellt. Abschließend werden Empfehlungen abgeleitet.<br />

2 Transformation der öffentlichen (Agrar-) Verwaltung<br />

2.1 Aufbau der (Agrar-) Verwaltung inder ehemaligen DDR<br />

Die Verwaltung inOstdeutschland wurde nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter der<br />

sowjetischen Besatzung neu strukturiert. Wie inWestdeutschland, d. h. den amerikanischen,<br />

britischen und französischen Besatzungszonen, wurden Länder etabliert, die –je<br />

nach Land –anmehr oder weniger starken historischen Wurzeln anknüpften. In der sowjetischen<br />

Besatzungszone entstanden fünf neue Länder, d.h.Mecklenburg-Vorpommern,<br />

Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Im Zuge einer stärkeren Zentalisierung<br />

der Verwaltung wurden am 25. Juli 1952 die Länder aufgelöst und in 14 Bezirke<br />

aufgeteilt, sowie Ostberlin als 15. Bezirk, welcher einen besonderen Status innehatte.<br />

Jeder Bezirk umfasste ca. 15 Kreise (Tab. 1). So gab es drei Entscheidungsebenen in<br />

der (Agrar-) Verwaltung: die nationale, Bezirks- sowie Kreisebene. Allerdings waren die<br />

Entscheidungsbefugnisse der beiden unteren Ebenen in einem hoch zentralisierten Staat<br />

wie der DDR verhältnismäßig gering. Unterhalb der Kreisebene agierten die Städte und<br />

Gemeinden, die jedoch im Hinblick auf Agrarthemen eine sehr marginale Rolle spielten.<br />

Vielmehr lag infolge der Kollektivierung der <strong>Landwirtschaft</strong> seit der zweiten Hälfte der<br />

1950er-Jahre die Entscheidungshoheit im ländlichen Raum eher bei den Vorsitzenden der<br />

landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) als bei den Ortsbürgermeistern<br />

(35). Sie waren der wichtigste Arbeitgeber, verfügten <strong>über</strong> Investitionsmittel und finanzierten<br />

soziale und kulturelle Einrichtungen in den ländlichen Regionen. Diese Verwaltungsstruktur<br />

bestand bis zur deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990.<br />

Dagegen umfasste der Verwaltungsaufbau in der alten Bundesrepublik vier Stufen<br />

oberhalb der Gemeindeebene. Unterhalb der Bundesebene gab es zehn Bundesländer<br />

sowie (West-) Berlin, welches ebenfalls einen besonderen Status innehatte. Die Länder<br />

verfügen <strong>über</strong> eigene Parlamente. Aufgrund der föderativen Verfassung sind die Entscheidungsbefugnisse<br />

der einzelnen Bundesländer auch im Hinblick auf die nationale Ebene<br />

sehr hoch. Im Allgemeinen umfassen die Länder mehrere Regierungsbezirke und diese<br />

wiederum mehrere Kreise. Nur die Stadtstaaten sowie Schleswig-Holstein verfügten <strong>über</strong><br />

keine Regierungsbezirke.<br />

Tabelle 1weist auch auf den Umstand hin, dass die Verwaltung der ehemaligen DDR<br />

sehr viel flächendeckender aufgebaut war als in der alten Bundesrepublik. Obwohl die<br />

DDR nur ca. die Hälfte der Fläche einnahm sowie <strong>über</strong> ca. ein Viertel der Bevölkerung<br />

Buel_3_11.indb 456 17.11.2011 08:13:25


Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />

457<br />

verfügte, wies sie eine verhältnismäßig hohe Anzahl an Kreisen und Kommunen aus. In<br />

der alten Bundesrepublik waren mehrere Gebietsreformen inden 1960er- und 1970er-<br />

Jahren durchgeführt worden, sodass die Zahl der Kreise und Kommunen stetig sank. In<br />

der DDR gab eskeine dieser Art von Reformen. Vielmehr wuchs die Zahl der Kreise im<br />

Laufe der 1950er-Jahre an. Daher war die Anzahl der Kommunen gegen<strong>über</strong> der alten<br />

Bundesrepublik vergleichsweise groß. Allerdings umfasste die Hälfte von ihnen eine Einwohnerzahl<br />

von bis zu 500 Personen.<br />

Entsprechend des territorialen Aufbaus war die öffentliche Agrarverwaltung dreistufig<br />

aufgebaut (Abb. 1). Auf der höchsten Stufe stand das Ministerium <strong>für</strong> Land-, Forst- und<br />

Abb. 1. Aufbau derAgrarverwaltung in der ehemaligen DDR, 1989<br />

Quelle: 28,S. 286; 10, S.1044<br />

Tabelle 1. Verwaltungsaufbau, BRD und DDR, 1989<br />

Verwaltungsebene Bundesrepublik<br />

Deutschland<br />

Deutsche Demokratische<br />

Republik<br />

Nationale 1 1<br />

Länder 10 (+1, Westberlin) -<br />

(Regierungs-) Bezirke 26* 14 (+1, Ostberlin)<br />

Kreise 328** 227***<br />

Städte und Gemeinden 8,505 7,616<br />

*keine in den Ländern: Schleswig-Holstein, Saarland, Bremen, Hamburg und (West-) Berlin;<br />

** davon 237 Landkreise und 91 kreisfreie Städte; *** davon 189 Landkreise und 38 kreisfreie<br />

Städte<br />

Quelle: 35, S. 235–236; 34, S. 16<br />

Buel_3_11.indb 457 17.11.2011 08:13:25


458 Axel Wolz<br />

Nahrungsgüterwirtschaft (MLFN). Seine Hauptaufgabe bestand darin, entsprechend der<br />

Vorgaben der zentralen Planwirtschaft, die nationale Versorgung mit Nahrungsmitteln<br />

sicherzustellen. Auf der Bezirksebene war das Bezirksbüro <strong>für</strong> Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft<br />

<strong>für</strong> diese Aufgaben verantwortlich. Sein Leiter war gleichzeitig stellvertretender<br />

Vorsitzender des jeweiligen Bezirksrates. Das Büro umfasste Abteilungen<br />

<strong>für</strong> Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft sowie <strong>für</strong> Veterinärwesen. Dar<strong>über</strong> hinaus<br />

waren ihm verschiedene nachgelagerte Behörden zugeordnet. Vonbesonderer Bedeutung<br />

waren die Wissenschaftlich-Technischen Zentren (WTZ), die besonders <strong>für</strong> die Agrartechnik,<br />

landwirtschaftliche Betriebsmittel sowie Beratung zuständig waren (28). Auf Kreisebene<br />

war der Aufbau relativ ähnlich. Im Besonderen waren sie <strong>für</strong> die landwirtschaftlichen<br />

und gärtnerischen Produktionsgenossenschaften (LPG, GPG) verantwortlich. Ebenso<br />

unterhielten sie enge Verbindungen zu den Kreisveterinärämtern sowie den Kreisstellen<br />

der nachgelagerten Behörden. In der ehemaligen DDR gab es ca. 230 Kreisämter. Jede<br />

Woche wurden von ihnen <strong>Berichte</strong> zur Lage der landwirtschaftlichen Produktion angefertigt,<br />

die <strong>über</strong> die Bezirksbüros an das Ministerium weitergeleitet wurden.<br />

Neben der öffentlichen (Agrar-) Verwaltung gab es in der ehemaligen DDR, wie in<br />

allen sozialistischenLändern nach sowjetischem Vorbild, eine parallele Verwaltungsstruktur<br />

der SED. Ein Mitglied des Politbüros der SED war als Sekretär <strong>für</strong> <strong>Landwirtschaft</strong> <strong>für</strong><br />

diesen Bereich verantwortlich. Ebenso gab es im Zentralkomitee eine Abteilung <strong>für</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>.<br />

Sowohl der Sekretär des Politbüros als auch der entsprechende Abteilungsleiter<br />

im Zentralkomitee standen inder Machthierarchie <strong>über</strong> dem Minister. Auf Bezirks- und<br />

Kreisebene war die Machtstruktur entsprechend. Im Regelfall befasste sich die Verwaltung<br />

mit den kurzfristigen Aufgaben, während die Partei sich mehr auf die Entwicklung<br />

von Strategien konzentrierte. ImNormalfall arbeiteten beide Behörden Hand in Hand.<br />

Aber, imFall von Unstimmigkeiten hatte die Partei das letzte Wort. Ende 1989 wurde<br />

diese parallele Verwaltungsstruktur <strong>über</strong>flüssig, nachdem der absolute Machtanspruch der<br />

SED gebrochen war. Dem polnischen Beispiel vom Frühjahr 1989 folgend wurden auf<br />

nationaler, Bezirks- und Kreisebene „runde Tische“ eingerichtet, auf denen u. a. auch<br />

Fragen der Verwaltung diskutiert wurden (9). Viele „runde Tische“ wählten provisorische<br />

Verwaltungsleiter, bis diese von demokratisch legitimierten Volksvertretern neu besetzt<br />

werden konnten (20).<br />

2.2 Veränderung der Verwaltungsstruktur in der ehemaligen DDR<br />

BereitsEnde1989gab es erste Gedanken innerhalb der oppositionellen Gruppen der DDR<br />

die ehemaligen Länder wiederherzustellen. Nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer<br />

am 18. März 1990 unterstütze die große Mehrheit der Abgeordneten diesen Vorschlag.<br />

Bei der Wiederherstellung der Ländergliederung handelte es sich in der oberflächlichen<br />

Betrachtung um eine Angleichung an den institutionellen Rahmen der alten Bundesrepublik<br />

sowie um den Bruch mit der zentralistischen Verwaltungsorganisation der DDR und<br />

die Rückkehr zur deutschen bundesstaatlichen Tradition (23). Somit gab es eine Anknüpfung<br />

an die deutsche Föderalismustradition seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,<br />

obwohl die Handlungshoheit der einzelnen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich<br />

umfangreicher ist.<br />

Die rechtliche Basis <strong>für</strong> den Aufbau der neuen Bundesländer war mit der Verabschiedung<br />

des Ländereinführungsgesetzes durch die Volkskammer am 22. Juli 1990 gegeben<br />

(17). Danach wurden die 14 Bezirke aufgelöst und in die fünf neuen Bundesländer <strong>über</strong>führt,<br />

während der Bezirk Ostberlin mit Westberlin zu einemBundesland vereinigt wurde.<br />

Mehrheitlich wurden mehrere Bezirke zu einem Bundesland zusammengefügt. Allerdings<br />

erfolgte diese Zusammenlegung nicht immerEins zu Eins, sondern es wurden auch Gebietsteileeinemangrenzenden<br />

Bundesland zugeordnet (Karte 1). Die Landesgrenzen stimmen<br />

Buel_3_11.indb 458 17.11.2011 08:13:25


Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />

Karte 1: Territoriale Struktur der neuen Bundesländer und der ehemaligen Bezirke in der DDR,<br />

1990<br />

Quelle: 26<br />

Buel_3_11.indb 459 17.11.2011 08:13:26<br />

459


460 Axel Wolz<br />

Tabelle 2. Länderpatenschaften zwischen westdeutschen und ostdeutschen<br />

Bundesländern<br />

Ostdeutschland Westdeutschland<br />

Mecklenburg-Vorpommern Schleswig-Holstein<br />

Brandenburg Nordrhein-Westfalen<br />

Sachsen-Anhalt Niedersachsen<br />

Thüringen Hessen, Rheinland-Pfalz (Bayern)<br />

Sachsen Bayern, Baden-Württemberg<br />

Quelle: 1, S12; 6, S. 21; 7,S.23–24; 36, S. 375<br />

nicht völlig mit denen der Länder aus den Jahren 1946–1952 <strong>über</strong>ein. Dennoch knüpfte<br />

die Struktur der Bundesländer unmittelbar anjene Ländergliederung an. Auch wenn viele<br />

Beobachter die Lebensfähigkeit dieser neuen Länder als gering eingeschätzten, hat sich<br />

die Bevölkerung doch offensichtlich sehr schnell mit diesen Einheiten identifiziert (24).<br />

Mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 begann ein reger Besucherverkehr<br />

zwischen den beiden deutschen Staaten; zuerst eher von Ost nach West, aber<br />

dann sehr schnell auch von West nach Ost. Verhältnismäßig frühzeitig entwickelte sich<br />

die Idee der Länderpatenschaften. Nachdem im Mai 1990 die Arbeitsgruppen zum Aufbau<br />

der neuen Bundesländer ihre Arbeit aufnahmen, erhielt jedes Land einen oder mehrere<br />

Paten aus der alten Bundesrepublik (Tab. 2). In der ersten Phase, d. h. vor der Wiedervereinigung,<br />

war diese Unterstützung verhältnismäßig bescheiden. Sie bestand primär<br />

in Form der Beratung, einer ersten Abordnung von unterstützendem Personal sowie der<br />

Durchführung von Trainingskursen. Die Unterstützung wurde jedoch besonders nach der<br />

Wiedervereinigung erheblich ausgeweitet. Nach lehmbruCh (23, S. 43) stellte das Konzept<br />

der Länderpatenschaften beim Aufbau der Verwaltung eine originelle und innovative<br />

Formel <strong>für</strong> den Institutionentransfer des westdeutschen Föderalismus dar. Dieses Modell<br />

war vermutlich bei der Freisetzung autonomer dezentraler Handlungspotenziale deutlich<br />

leistungsfähiger als eine zentralstaatlich gelenkte Rekonstruktion der Verwaltung.<br />

Im Prinzip wurde die Hauptunterstützung von den jeweiligen Nachbarländern geleistet.<br />

Ebenso sollte ein Land jeweils die Patenschaft <strong>über</strong>nehmen. Allerdings war dies<br />

nicht immer möglich. Zum Teil grenzten die betroffenen Länder nicht direkt aneinander,<br />

wie z. B. Nordrhein-Westfalen und Brandenburg. Zum Teil <strong>über</strong>nahmen auch zwei<br />

westdeutsche Bundesländer die Patenschaft <strong>für</strong> ein ostdeutsches Land, wie z. B. Hessen<br />

und Rheinland-Pfalz <strong>für</strong> Thüringen. Allerdings sollten in diesem Fall die westdeutschen<br />

Länder nicht miteinander konkurrieren, sondern sich die Aufgaben bei dem Aufbau der<br />

unterschiedlichen Ministerien teilen. So <strong>über</strong>nahm Rheinland-Pfalz die Federführung bei<br />

dem Aufbau des Agrarministeriums in Thüringen (7).<br />

2.3 Neuaufbau der Agrarverwaltung im Zuge der Wiedervereinigung<br />

Für den Neuaufbau der (Agrar-) Verwaltung ergaben sich zwei parallele Entwicklungen.<br />

Zum einen wurde mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes schnell deutlich,<br />

dass die Verwaltung inhaltlich völlig neu ausgerichtet werden musste. Die Agrarverwaltung<br />

war nicht mehr Teil eines Zentralverwaltungsapparates, der die Einhaltung der<br />

planwirtschaftlichen Vorgaben zu <strong>über</strong>wachen hatte, sondern sollte nun Produzenten und<br />

Verbraucher in einem marktwirtschaftlichen System und im Rahmen der GAP unterstützen,<br />

hochwertige Nahrungsmittel bereitzustellen bzw. zuerwerben (siehe Abschn. 2.4).<br />

Zum anderen implizierte der Beschluss zur Übernahme des föderalen Systems der Bun-<br />

Buel_3_11.indb 460 17.11.2011 08:13:26


Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />

Abb. 2. Aufbau derAgrarverwaltung in Mecklenburg-Vorpommern, 1991<br />

Quelle: 28 ,S.285; 17 ,S.70<br />

461<br />

desrepublikDeutschland –wie oben gezeigt–eineterritorialeNeuausrichtung. Nach dem<br />

Grundgesetz ist die Ausgestaltung der (Agrar-) Verwaltung Aufgabe der jeweiligen Länder<br />

(19, S. 172). Die Länder selbst mussten aber noch etabliert werden; eine Aufgabe, die<br />

nach der ersten freien Volkskammerwahl angegangen werden konnte. Während die neue<br />

Struktur aufgebaut wurde, musste gleichzeitig die DDR-Verwaltungsstruktur auf Bezirksebene<br />

aufgelöst werden.<br />

Die Kommunal- und Kreiswahlen am 6. Mai 1990 sicherten eine demokratisch legitimierte<br />

politische Struktur auf lokaler Ebene. In den folgenden Wochen wurden die Ausschüssezum<br />

Aufbau der neuen Länder und einer entsprechendneuen Verwaltungsstruktur<br />

einberufen. Alle Parteien, die auf lokaler und/oder nationaler Ebene in die Parlamente<br />

gewählt wurden, konnten Vertreter in diese Arbeitsgruppen benennen. Unterausschüsse<br />

<strong>für</strong> <strong>Landwirtschaft</strong> und Forsten wurden gebildet, die quasi die Keimzelle <strong>für</strong> die späteren<br />

Landesministerien bildeten (15 ). Bis Ende September 1990 hatten die (Unter-) Ausschüsse<br />

ihre Vorschläge erarbeitet (9). Vondem jeweiligen „Patenland“ wurden ein bis<br />

zwei Beamte zur Unterstützung der Arbeit abgeordnet.<br />

Die (Unter-) Ausschüsse unterbreiteten Vorschläge <strong>über</strong> die Aufgaben und Funktionen<br />

der neuen Ministerien, die natürlich später angepasst werden konnten, sobald die<br />

Ministerien arbeitsfähig waren. Eine wichtige Entscheidung betraf die Frage, ob die neue<br />

Agrarverwaltung auf zwei Ebenen, d. h. auf der des Bundeslandes sowie der Kreise, oder<br />

auf drei Ebenen, d. h. auf der des Bundeslandes, einer Zwischenebene und der Kreise<br />

agieren sollte. In dem föderalen System war jedes Bundesland frei, wie es sich entscheiden<br />

würde. So folgte der Verwaltungsaufbau in den fünf neuen Bundesländern keinem<br />

einheitlichen Muster; u. a. führte Mecklenburg-Vorpommern ein zweistufiges System ein<br />

(27), Thüringen optierte <strong>für</strong> ein dreistufiges System mit dem Landesverwaltungsamt als<br />

Zwischenstufe (9), während Sachsen-Anhalt ebenfalls ein dreistufiges System einführte,<br />

wobei hier jedoch die Verwaltung der drei Regierungsbezirke die Zwischenstufe bildete<br />

(1). Ein gewisser Einfluss des jeweiligen „Patenlandes“ war nicht zu <strong>über</strong>sehen.<br />

In Abbildung 2sind der Aufbau und Aufgaben der neu geschaffenen Agrarverwaltung<br />

mit Schwerpunkt auf das Land Mecklenburg-Vorpommern abgebildet. In aller Regel<br />

Buel_3_11.indb 461 17.11.2011 08:13:26


462 Axel Wolz<br />

bestand jedes Landesministerium <strong>für</strong> <strong>Landwirtschaft</strong> aus 4–5 Abteilungen und ca. 20<br />

Referaten. Jedem Land war es unbenommen, die eigenen Schwerpunkte zusetzen. So<br />

gab esinMecklenburg-Vorpommern keine eigene Abteilung <strong>für</strong> ländliche Entwicklung,<br />

während in Thüringen eine solche etabliert wurde, die sich u. a. mit Dorferneuerung, Flurbereinigung<br />

und Umweltthemen befasste (9). Die Ministerien hatten die Dienstaufsicht<br />

<strong>über</strong> die unteren Verwaltungsebenen sowie die nachgeordneten Behörden.<br />

Parallel zum Aufbau der neuen Ministerien wurden die Bezirksbüros stetig verkleinert.<br />

Seit Juni 1990 wurden ihre kommissarischen Leiter durch –ebenfalls auf Zeit eingesetzte<br />

–Personen ersetzt, die jedoch das Vertrauen der Parteien genossen, da sie durch Wahlen<br />

legitimiert waren. Einige wenige Mitarbeiter wurden den Ausschüssen zugeordnet,<br />

die das neue Verwaltungssystem ausarbeiteten. Aber im Allgemeinen konnten sich die<br />

Mitarbeiter erst wieder um eine Neuanstellung bewerben, wenn die neuen Ministerien<br />

arbeitsfähig waren. Die Bezirksbüros der ehemaligen DDR wurden schließlich zum 31.<br />

Dezember 1990 geschlossen (9). Auf Kreiseben war der Wandel nicht ganz so drastisch.<br />

Die Büroleiter wurden im Mai 1990 von den neu gewählten Landräten bzw. Kreisparlamenten<br />

bestätigt bzw. neu ernannt (9). Allerdings konnten nicht alle Kreisstellen aus der<br />

DDR-Zeit <strong>über</strong>nommen werden. Tatsächlich wurde ihre Zahl erheblich abgebaut, so z. B.<br />

in Mecklenburg-Vorpommern von 34 auf 10 (27 ), in Sachsen-Anhalt von 40 auf 8(1)<br />

oder in Thüringen von 36 auf 12 (9). Die Kreisbüros, die nicht mehr benötigt wurden,<br />

sind im Laufe des Jahres 1991 geschlossen worden. Nichtsdestotrotz nahmen diese Büros<br />

die wichtige Aufgabe wahr, indem sie die Anpassungsbeihilfen aber auch die betriebliche<br />

Fördermittel bearbeiteten und an die betreffenden Produzenten weiterleiteten (29).<br />

Die Wiedervereinigung konnte verhältnismäßig zügig auf nationaler Ebene durchgeführt<br />

werden. Alle Ministerien der ehemaligen DDR, so auch das Agrarministerium<br />

(MLFN)wurden geschlossen. In aller Regel wurden (einige) Mitarbeiter in die Bundesministerien<br />

<strong>über</strong>nommen. Bereits mit dem Hauptstadtbeschluss des Deutschen Bundestages<br />

am 20. Juni 1991 wurden erste Verbindungsbüros in Berlin eingerichtet.<br />

2.4 Aufgaben der „neuen“ Agrarverwaltung<br />

Mit dem Aufbau einer neuen Agrarverwaltung war eine Neuausrichtung ihrer Rolle, Funktionen<br />

und Aufgaben verbunden. Die primäre Aufgabe der Agrarverwaltung der ehemaligen<br />

DDR bestand darin, die Agrar- und Nahrungsmittelproduktion entsprechend den<br />

Vorgaben der zentralen Pläne sicherzustellen. Die Verwaltung konnte die Anbau- und<br />

Produktionspläne der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und Staatsgüter<br />

direkt beeinflussen. Seit 1990 waren die landwirtschaftlichen Produzenten völlig frei in<br />

ihren Betriebsplanungen und -entscheidungen. Die Aufgabe der Verwaltung war es nun,<br />

ihnen die bestmögliche Unterstützung zu geben.<br />

Mit der Etablierung der neuen Bundesländer konnte die Arbeit offiziell aufgenommen<br />

werden. Die ersten Aufgaben bestanden darin, einen Haushaltsentwurf <strong>für</strong> 1991 sowie<br />

Entwürfe <strong>für</strong> die Organisationsstruktur sowohl <strong>für</strong> die neuen Ministerien als auch <strong>für</strong><br />

die neuen Kreisstellen zu erstellen. Mehrheitlich stützten sich die abgeordneten Mitarbeiter<br />

dabei auf die jeweiligen Organisationsstrukturen ihrer „Heimatministerien“ (8).<br />

Allerdings waren alle Pläne erst einmal provisorisch, da die Wahlen zu den Länderparlamenten,<br />

die die letzte Entscheidung haben würden, erst am 14. Oktober 1990 erfolgten.<br />

Natürlich musste auch das ‚Tagesgeschäft’ (s. u.) erledigt werden. Da es zu diesem Zeitpunkt<br />

nicht viele Mitarbeiter gab, gab es auch noch keine hierarchische Struktur und fast<br />

jeder musste alles machen (15; 28). Alle Tätigkeiten wurden unter einem hohen Zeitdruck<br />

ausgeführt; in kürzester Zeit musste eine effiziente Agrarverwaltung aufgebaut werden.<br />

Ab dem 3. Oktober 1990 wurden sie als funktionsfähige Partner des <strong>Bundesministerium</strong>s<br />

sowie der Länderministerien anerkannt. Quasi <strong>über</strong> Nacht wurden sie mit allen Arten von<br />

Buel_3_11.indb 462 17.11.2011 08:13:26


Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />

463<br />

Unterlagen, wie Gesetzesänderungen, Richtlinien, Papieren <strong>für</strong> Bund-Ländergespräche<br />

oder Einladungen zu Sitzungen ‚<strong>über</strong>schwemmt‘ (8). Ebenso mussten die neuen Bundesländer<br />

schnell ihre eigenen Positionen entwickeln, z. B. <strong>für</strong> die Sitzung am 22. Oktober<br />

1990 zum Rahmenplan 1991 der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur<br />

und des Küstenschutzes (GAK) (22).<br />

Nachdem die Agrarministerien auf Länderebene von den jeweiligen Parlamenten<br />

bestätigt wurden, lassen sich die wichtigsten Aufgaben wie folgt zusammenfassen (9, S.<br />

72–73):<br />

● Einstellung von Mitarbeitern auf den verschiedenen Verwaltungsebenen,<br />

● Überprüfung der nachgeordneten Behörden; Begleitung bei deren Überführung in<br />

rechtsstaatliche Verwaltungsbehörden bzw. deren Auflösung,<br />

● Umsetzung des <strong>Landwirtschaft</strong>sanpassungsgesetzes vom 29. Juni 1990 mit allen seinen<br />

Problemen im Hinblick auf die Transformation der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften,<br />

Konfliktregelung bei Streitigkeiten bei der Privatisierung von<br />

landwirtschaftlichen Betriebsmitteln oder bei unterschiedlichen Eigentumstiteln bei<br />

Boden und Gebäuden,<br />

● Umsetzung der nationalen Agrarpolitik sowie der GAP (dies ohne Übergangszeiten)<br />

sowie<br />

● Vorbereitung von Gesetzen und Verordnungen im Agrar- und <strong>Ernährung</strong>ssektor <strong>für</strong><br />

die Länderparlamente sowie die Erstellung von Vorlagen <strong>für</strong> die Leitung der eigenen<br />

Häuser.<br />

Diese Aufgaben kann man in drei Gruppen einteilen: in kurzfristige, wie den Aufbau<br />

der Verwaltung; in kurz- bis mittelfristige, wie die Umsetzung der <strong>Landwirtschaft</strong>sanpassungsgesetzes<br />

und den Aufbau von privaten landwirtschaftlichen Betrieben sowie langfristigen<br />

bzw. permanenten Aufgaben, wie die Umsetzung und Steuerung der nationalen<br />

und EU Agrarpolitik sowie die aktive Teilnahme an nationalen agrarpolitischen Entscheidungsprozessen.<br />

2.5 Hauptprobleme beim Neuaufbau der Agrarverwaltung<br />

Obwohl inder Literatur die Transformation der Agrarverwaltung nicht intensiv behandelt<br />

wurde, war sie doch eine enorme Leistung. Zu jener Zeit gab es keine Erfahrungen, auf<br />

die man zurückgreifen konnte. Sobald sich abzeichnete, dass die ehemalige DDR sich<br />

dem marktwirtschaftlichen System sowie einer pluralistischen Demokratie öffnen würde,<br />

bestand kein Zweifel, dass diese Transformation nicht mit der bestehenden (Agrar-) Verwaltung<br />

zu schaffen sei. Dies implizierte einen vollständigen Austausch des Verwaltungspersonals,<br />

obwohl Neubewerbungen der ehemaligenDDR-Mitarbeiter möglich waren und<br />

z. T. diese auch wieder eingestellt wurden. Doch anders als in den nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg geschaffenen Ländern, die auf das Verwaltungspersonal der alten Länder (insbesondere<br />

Preußens) und auch der ehemaligen Reichsverwaltung zurückgreifen konnten,<br />

gab es dieses stabilisierende Element des „bürokratischen Rückhalts“ nicht. Somit gab es<br />

keine starke administrative Kontinuität. Vielmehr waren sich die politischen Eliten der<br />

alten Bundesrepublik mit den neuen Eliten der DDR einig, die Verwaltungsstrukturen<br />

der alten DDR zu zerschlagen, da die zentralistische „Kader“-Verwaltung der DDR ein<br />

Hindernis <strong>für</strong> einen marktwirtschaftlichen und rechtsstaatlich-demokratischen Umbruch<br />

darstellte. Ebenso war die Bürokratie der DDR nicht in jenem eigentümlich legalistischregelorientierten<br />

Stil trainiert, der die westdeutsche Verwaltung charakterisierte (23 ).<br />

Allerdings musste dieser Wandel unter einem extremen Zeitdruck durchgeführt werden.<br />

Auf der anderen Seite gab es erhebliche Amtshilfe –besonders nach der Wiedervereinigung<br />

-inForm der Abordnung von Beamten, Aus- und Fortbildungskursen, materieller<br />

Unterstützung durch die jeweiligen Patenländer. ImFolgenden sollen zwei Problemberei-<br />

Buel_3_11.indb 463 17.11.2011 08:13:26


464 Axel Wolz<br />

che diskutiert werden, die alle neuen Bundesländer bei dem Aufbau der Agrarverwaltung<br />

betrafen; zum einen logistische Probleme sowie zum anderen die Probleme bei der Personalbeschaffung.<br />

2.5.1 Logistische Probleme<br />

Die neue Agrarverwaltung, besonders die Länderministerien, mussten von Grund auf neu<br />

etabliert werden. In kommissarischer Funktion konnte sie ihre Arbeit im August/September<br />

1990 aufnehmen. Allerdings mussten sie offiziell von den Länderparlamenten bestätigt<br />

werden, die selbst erst am 14. Oktober 1990 gewählt wurden. So waren die Arbeitsstätten<br />

zuerst nur kommissarischer Art. Als die aus der ehemaligenBundesrepublik abgeordneten<br />

Beamten, die von Hause aus einen effizienten Verwaltungsapparat gewohnt waren, ihre<br />

Arbeit in den neuen Ländern aufnahmen, waren sie zuerst mit einer ganzen Reihe von<br />

logistischen Problemen konfrontiert. So konnten die eigentlichen Fachaufgaben zuerst<br />

z. T. nur am Rande wahrgenommen werden. Allerdings wurde die Agrarverwaltung von<br />

außen schon als voll funktionsfähig angesehen. Die logistischen Probleme lassen sich wie<br />

folgt zusammenfassen (8, S. 37-39; 6, S. 20; 27, S. 227; 28, S. 274):<br />

● keine bis einfache Arbeitsausstattung: Die zugewiesenen Gebäude wurden teilweise<br />

noch anderweitig genutzt. Ebenso war z. T. die technische Ausstattung gering bzw.<br />

noch nicht vorhanden. Technische Geräte waren Mangelware. Zu Beginn gab es keine<br />

Schreibmaschinen, Fax- und Kopiergeräte und auch keine Telefone. Nach der Erinnerung<br />

eines Beamten „erledigten wir unsere Kommunikation zuFuß“ (8, S. 38).<br />

● Fehlende Dienstinfrastruktur: Noch gab es keine Schreibkräfte, Botendienste oder<br />

Hausarbeiter.<br />

● Landesrechtlichen Grundlagen fehlten: So gab es noch kein allgemeines Verwaltungsrecht<br />

oder Haushaltsrecht, das angewandt werden konnte.<br />

● Unvollständige Stellenbeschreibungen: Für die neugeschaffenen Stellen mussten<br />

Arbeitsverträge und Stellenbeschreibungen erstellt werden. Das Bundes-Angestelltentarif-<br />

sowie Beamtenrecht galten aber noch nicht bzw. konnten noch nicht angewandt<br />

werden. Ebenso gab es noch kein Landesrecht.<br />

● Noch nicht etabliertes System der Finanzabwicklung: Die Wege <strong>für</strong> den Zahlungsverkehr<br />

bei den diversen Fördermaßnahmen mussten erst noch aufgebaut werden. Trotzdem<br />

wurden Bewilligungsbescheide in Millionenhöhe bei (noch) nicht funktionierender<br />

Kassenverwaltung an die Begünstigten ausgereicht.<br />

Allerdings brachte diese Situation auch gewisse Vorteile mit sich. So waren alle Beteiligten,<br />

sowohl das neu eingestellte Personal aus der ehemaligen DDR als auch die abgeordneten<br />

Beamten aus der alten Bundesrepublik, hoch motiviert. Die meisten waren sich<br />

bewusst, dass dies eine historische Gelegenheit war. Esherrschte eine „Aufbruchstimmung“<br />

unter den Mitarbeitern (28). Auch wenn die tägliche Arbeitszeit 12–14 Stunden<br />

betrug, gab es keine Klagen.<br />

Unter den abgeordneten Beamten herrschte eine Art „Pioniergeist“ (15 ). Sie waren<br />

es gewohnt, in einer hierarchisch-strukturierten Verwaltung zu arbeiten, wo jeder Schritt<br />

eine legale Grundlage hatte. Im Herbst 1990 gab es in den neuen Bundesländern keine<br />

derartigen Regeln. Diese mussten erst im Laufe der Zeit erstellt werden. So lautete denn<br />

das Arbeitsmotto „Pragmatismus und Improvisation“ (21 ,S.178). Die Mitarbeiter hatten<br />

einen erheblichen Freiheitsgrad in der Ausgestaltung ihrer täglichen Arbeit. Da ein Zahlungssystem<br />

erst im Aufbau begriffen war, mag diese Arbeitseinstellung ein Erklärungsgrund<br />

da<strong>für</strong> sein, warum Millionenbeträge zur Unterstützung der landwirtschaftlichen<br />

Produzenten effizient bearbeitet und ausgereicht wurden, ohne dass es zu nennenswerten<br />

Klagen kam.<br />

Zwar war die Lage wegen der bedrückenden Situation im Agrarsektor angespannt und<br />

die Politiker vermieden alle Aktionen, die zu sozialen Destabilisierungen führen könnten.<br />

Buel_3_11.indb 464 17.11.2011 08:13:26


Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />

465<br />

Den einzig größeren Protest gab esam15. August 1990 in Ostberlin. Hier demonstrierten<br />

ca. 250 000 Landwirte gegen den drohenden Zusammenbruch der Agrarproduktion,<br />

als die Auswirkungen der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sichtbar wurden und<br />

zugesagte Überbrückungsgelder ausblieben (30).<br />

Im Prinzip arbeitete die Agrarverwaltung in einem noch nicht legalisierten Raum und<br />

die Mitarbeiter wollten eine gute Arbeit leisten, da „die westdeutsche Verwaltungswirklichkeit<br />

mit ihren perfektionistischen und komplizierten Mechanismen uns früh genug<br />

einholen würde“ (8, S. 45). Es gab einen hohen Zwang, viele Maßnahmen schnell durchzuführen,<br />

sodass wenig Zeit <strong>für</strong> kritische Nachfragen blieb, wie dies in der westdeutschen<br />

Verwaltung üblich ist (17 ). In dieser Hinsicht erfreuten sich besonders die abgeordneten<br />

Beamten eines hohen Maßes an Entscheidungsfreiheit, die sie so in ihrem bisherigen<br />

Berufsleben nicht erfuhren.<br />

2.5.2 Einstellung von geeignetem Personal<br />

Sowohl die neugeschaffenen Ministerien, als auch Kreisstellen sowie nachgelagerten<br />

Behörden mussten ihr Personal neu auswählen und einstellen. Dieser Prozess begann<br />

nach der Arbeitsaufnahme der neuen Landesparlamente, d. h. im Regelfall ab November<br />

1990. Ein schneller Aufbau der Agrarverwaltung konnte nur gelingen, wenn genügend<br />

Fachpersonal zur Verfügung stand (6). Besonders solche Personen, die in der Agrarverwaltung<br />

der ehemaligenDDR gearbeitet hatten, konnten sich bewerben. Im Prinzip konnte<br />

sich allerdings jeder bewerben, der <strong>über</strong> das notwendige Wissen verfügte, d. h. aus den<br />

vor-und nachgelagertenBereichen, aber auch aus der altenBundesrepublik. Im Allgemeinen<br />

wurde verhältnismäßig viel Personal aus der Agrarverwaltung der ehemaligen DDR<br />

<strong>über</strong>nommen.Allerdings gab es dabei zwei spezielle Probleme: (1) fehlendes Fachwissen<br />

sowie (2) die persönliche Vergangenheit der Bewerber in der ehemaligen DDR.<br />

Wie bereits beschrieben, hatten sich die Aufgaben und Funktion der Agrarverwaltung<br />

mit der Übernahme der nationalen sowie EU Agrarpolitik völlig geändert. Nun wurde<br />

Personal gesucht, das mit den Inhalten und der Umsetzung dieser Politik vertraut war.<br />

Natürlich waren den ostdeutschen Kollegen diese Themen nicht geläufig. Begriffe wie<br />

„Prosperitätsklausel“, „Subsidiaritätsprinzip“ oder „Förderschwelle“ waren ihnen völlig<br />

unbekannt (22, S. 180). So wurden besonders die ökonomischen Aspekte, Verwaltungswissen<br />

sowie einfache und pragmatische Ansätze zu Programmumsetzungen entweder in<br />

praktischer Ausbildung am Arbeitsplatz oder in Form von Praktika an dem „Patenministerium“<br />

in der alten Bundesrepublik vermittelt(6). Im Laufe der Zeit konnte dieses Problem<br />

behoben werden.<br />

Das andere Personalproblem bezieht sich auf die spezielle Aufarbeitung der jüngeren<br />

Vergangenheit der DDR. Die neuen Eliten und die sie unterstützenden Gruppen wollten<br />

auf keinen Fall eine Rückkehr jener Personen, die das gestürzte Regime unterstützt hatten.<br />

Besonders zwei Gruppen wurde ein Eintritt in den öffentlichen Dienst verweigert. Zum<br />

einen waren dies Personen, die eine herausgehobene Funktion in der SED innegehabt hatten.<br />

Zum anderen waren dies Personen, die als (informelle) Mitarbeiter <strong>für</strong> den ehemaligen<br />

Staatssicherheitsdienst gearbeitet hatten. Während die erste Gruppe verhältnismäßig leicht<br />

zu identifizieren war,bereitete die zweite erhebliche Kopfschmerzen. Jeder Bewerber,der<br />

fachlich geeignet war, musste von der Zentralstelle <strong>für</strong> die Erfassung und Auswertung der<br />

Stasi-Unterlagen <strong>über</strong>prüft werden und brauchte deren Freigabe. Das war ein heikles und<br />

permanentes Problem, da aufgrund der Ermittlungen der Zentralstelle eine ganze Reihe<br />

von potenziellen Mitarbeitern und -innen sehr kurzfristig wieder entlassen werden musste<br />

(6; 7; 15).<br />

Die Einstellung von qualifiziertem und politisch nicht vorbelastetem Personal gestattete<br />

nur einen langsamen Personalaufbau. Dennoch expandierte der Personalbestand der<br />

einzelnen Agrarministerien stetig seit Ende 1990 bzw. Anfang 1991. Die Entwicklung<br />

<strong>für</strong> das <strong>Landwirtschaft</strong>sministerium von Thüringen ist in der Tabelle 3zusammengefasst.<br />

Buel_3_11.indb 465 17.11.2011 08:13:27


466 Axel Wolz<br />

Tabelle 3. Personalentwicklung im Ministerium <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong>, <strong>Landwirtschaft</strong>,<br />

und Forsten, Thüringen<br />

Datum Anzahl von Personen<br />

Sept./ Oktober 1990 ca. 30 (<strong>über</strong>nommen von den Bezirksverwaltungen)<br />

Ende 1990/<br />

Anfang 1991<br />

1991 90–100<br />

1992 178<br />

1993 183<br />

Quelle: 9, S. 72<br />

ca. 30 +weitere ca. 40, abgeordnet aus der alten<br />

Bundesrepublik (primär aus Rheinland-Pfalz und<br />

Hessen)<br />

Ebenso verstärkte sich schrittweise das <strong>Landwirtschaft</strong>sministerium in Mecklenburg-<br />

Vorpommern mit Fachpersonal. Anfang November 1990 umfasste das gesamte Personal,<br />

neben dem Minister, zwei Vorzimmerkräfte sowie 19 Mitarbeiter und -innen, von denen<br />

zwei aus Schleswig-Holstein abgeordnet waren. Zum Jahresende 1990 waren 60 Personen<br />

im Ministerium beschäftigt und zum 31. März 1991 schon 142 (6). Im Allgemeinen<br />

wurden größere Gruppen von Beamten erst nach der Wiedervereinigung in die jeweiligen<br />

Partnerländer abgeordnet, wenn die entsprechenden Bestätigungen durch die jeweiligen<br />

Landesparlamente absehbar waren. So wurden Mitte November weitere 13 Fachkräfte aus<br />

Schleswig-Holstein nach Schwerin abgeordnet. Die Zahl der abgeordneten Beamten aus<br />

Rheinland-Pfalz und Hessen nach Erfurt stieg von 12 Anfang November auf 40 Personen<br />

zum Jahresende an (7). Im Laufe des Jahres 1991 liefen alle Landesministerien nach<br />

Plan und das abgeordnete Fachpersonal kehrte nach und nach in seine Heimatministerien<br />

zurück. Einige jedoch bleiben und bewarben sich um eine Überführung in das neu aufgebaute<br />

Ministerium. Ab Ende 1992 wurde kein neues Personal mehr eingestellt, sondern<br />

nur noch ausscheidendes ersetzt.<br />

3 Aufbau einer neuen Spezialverwaltung im Agrarbereich<br />

Die Transformation der Agrarverwaltung umfasste jedoch nicht nur den Wandel des sozialistischen<br />

Modells in ein demokratisch legitimiertes, sondern auch den Aufbau neuer<br />

spezieller Behörden, um den Transformationsprozess inder <strong>Landwirtschaft</strong> zu begleiten.<br />

Für den Agrarbereich von besonderer Bedeutung war die Gründung der Treuhandanstalt<br />

(THA), die nicht nur alle volkseigenen Betriebe <strong>über</strong>nahm, sondern auch alle land- und<br />

forstwirtschaftlichen Flächen, die sich in Staatsbesitz befanden. Schon bei ihrer Gründung<br />

am 1. März 1990 war diese Behörde auf Zeit ausgelegt, d. h. sie sollte innerhalb von wenigen<br />

Jahren wieder geschlossen werden, wenn aller Staatsbesitz privatisiert worden ist. Die<br />

rechtliche Grundlage wurde mit der Verabschiedung des Treuhandgesetzes am 17. Juni<br />

1990 gelegt. Zu dieser Zeit hegte man noch hohe Erwartungen an den Verkaufswert der<br />

volkseigenen Betriebe, die einen hohen finanziellen Beitrag zur Umgestaltung der ehemaligen<br />

DDR leisten sollten. Es war vielmehr der landwirtschaftliche Sektor der neuen<br />

Länder, der dringend hohe staatliche finanzielle Unterstützung benötigte. Aber schon in<br />

den folgenden Wochen wurde deutlich, dass die staatlichen Betriebe nur mit hohen Subventionen<br />

verkauft werden konnten (18; 33).<br />

Buel_3_11.indb 466 17.11.2011 08:13:27


Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />

467<br />

Der staatliche Besitz anland- und forstwirtschaftlichen Flächen speiste sich primär<br />

aus zwei Quellen. Der Hauptteil umfasste jene Flächen, die mehrheitlich Großgrundbesitzern,<br />

Kriegsverbrechern und Nazi-Kollaborateuren gehörten und verstaatlicht wurden,<br />

als Ostdeutschland unter sowjetischer Verwaltung stand, d. h. im Zeitraum vom 8. Mai<br />

1945 bis 7. Oktober 1949. Der größte Teil dieser Flächen wurde damals an Kleinbauern<br />

sowie Flüchtlingen verteilt (Bodenreform zum Ende der 1940er-Jahre). Ein gewisser<br />

Teil wurde aber zurückgehalten, um landwirtschaftliche Staatsgüter aufzubauen. Dar<strong>über</strong><br />

hinaus ergab sich Staatsbesitz an Boden aus Flächen, die nach der Gründung der DDR<br />

am 7. Oktober 1949 verstaatlicht wurden. In aller Regel war dies das Land von Landwirten,<br />

die während der 1950er-Jahre aus der DDR geflohen waren. Im Einigungsvertrag<br />

vom 31. August 1990 sowie dem Zwei-Plus-Vier Abkommen der Alliierten vom 12. September<br />

1990 wurde festgelegt, dass alle Flächen, die während der sowjetischen Besatzungszeit<br />

enteignet wurden, nicht wieder an die ursprünglichen Eigentümer bzw. ihren<br />

Erben zurückgegeben werden. Insgesamt beliefen sich die landwirtschaftlichen Flächen<br />

im Staatseigentum auf ca. 1,5 Mio. ha; d. h. ein Viertel der gesamten landwirtschaftlichen<br />

Nutzflächen der ehemaligen DDR. Die staatlichen Forstflächen schlossen ca. eine weitere<br />

Millionen ha ein. Die landwirtschaftlichen Flächen, die nach dem 7. Oktober 1949 enteignet<br />

wurden und ca. 0,5 Mio. ha umfassten, wurden verhältnismäßig problemlos an die<br />

ursprünglichen Eigentümer bzw. Erben zurück<strong>über</strong>tragen. Die verbliebenen eine Mio. ha<br />

an staatlichen Flächen sollten so schnell als möglich privatisiert werden.<br />

Allerdings wurde sehr schnell deutlich, dass der „normale“ Privatisierungsprozess der<br />

THA dem landwirtschaftlichen Sektor nicht sehr dienlich wäre. Das ursprüngliche Ziel der<br />

THA war es, so schnell als möglich, ihren Besitz zum höchsten Preis zu verkaufen. Aber<br />

ein schneller Verkauf von einer Mio. ha hätte zu einem kompletten Kollaps der Bodenmärkte<br />

in Ostdeutschland geführt. Damit wären auch die Einnahmen marginal gewesen.<br />

So konnte schon 1990 erreicht werden, dass ein gesonderter Generalbevollmächtigter<br />

bestellt wurde, der nicht nur die optimale Verwertung der Flächen, sondern auch regionale<br />

und agrarstrukturelle Erfordernisse mit berücksichtigen sollte. Diese Person war direkt<br />

dem THA-Vorstand unterstellt (33). Am 1. Juli 1992 wurde die Verantwortung <strong>über</strong> die<br />

gesamten staatlichen Flächen von der THA an eine neu gegründete Behörde <strong>über</strong>tragen,<br />

der Bodenverwertungs- und Verwaltungsgesellschaft (BVVG).<br />

Da die ehemaligenEigentümer bzw.ihre Erben auf juristischem Wegversuchten, einen<br />

Zugang zu ihren enteigneten Flächen zu erhalten, war der Verkauf dieser Flächen von<br />

hoher politischer Brisanz. Daher wurden die Flächen erst einmal verpachtet (35).<br />

In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre wurden die Modalitäten <strong>für</strong> eine Privatisierung<br />

der staatlichenFlächen intensiv diskutiert. Wurden die Flächen erst kurzfristig verpachtet,<br />

setzten sich im Laufe der Zeit mittel- bis langfristige Verträge durch. Schließlich wurden<br />

die Bedingungen <strong>für</strong> eine Privatisierung in dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz<br />

(EALG) im September 1994 geregelt (16 ,S.70). Die Hauptkriterien sehen wie<br />

folgt aus:<br />

● Die ehemaligen Eigentümer bzw. ihre Nachkommen haben einen Anspruch auf eine<br />

geringe Entschädigungszahlung oder das Recht, einen kleinen Teil der ehemaligen<br />

Flächen zu einem Vorzugspreis zu kaufen.<br />

● Alle Betriebe, die staatliche Flächen gepachtet hatten, haben das Recht, diese Flächen<br />

zu kaufen.<br />

● Die Verkaufspreise sollten nur etwa die Hälfte der aktuellen Marktpreise <strong>für</strong> landwirtschaftlichen<br />

Boden in Ostdeutschland betragen.<br />

Die Privatisierung der staatlichen Flächen begann im Jahr 1994. Allerdings stellte sich<br />

heraus, das dies ein sehr langwieriger Prozess ist. Bis zur Jahresmitte 2010 waren ca.<br />

390 000 ha bzw. ca. 40 %der Flächen an die ehemaligen Eigentümer sowie den aktuellen<br />

Pächtern zu Vorzugspreisen verkauft worden. Weitere 255 000 ha wurden besonders<br />

Buel_3_11.indb 467 17.11.2011 08:13:27


468 Axel Wolz<br />

im Laufe der letzten Jahre zu Marktpreisen verkauft. Aber immer noch ca. 370 000 ha<br />

sind weiterhin verpachtet, in den meisten Fällen zu langfristigen Konditionen und sollen<br />

imLaufe der nächsten Jahre verkauft werden (5). Während der letzten Jahre konnte<br />

eine stetige Steigerung der Bodenpreise inOstdeutschland beobachtet werden. So wurden<br />

jene bestätigt, die<strong>für</strong> einen vorsichtigen Privatisierungsweg eingetreten waren. Allerdings<br />

zeigt diese Entwicklung auch, dass die Einrichtung einer Sonderbehörde der Agrarverwaltung<br />

keine kurzfristige Angelegenheit darstellt, wie ursprünglich geplant, sondern diese<br />

sich zu einer langfristig orientierten Organisation weiter entwickelte.<br />

4 Transformation der landwirtschaftlichen Verbände<br />

Nicht nur die Agrarverwaltung musste im Zuge des Systemwandels und Vereinigung<br />

transformiert werden, sondern auch die Organisationen, die die landwirtschaftliche Bevölkerung<br />

in der ehemaligen DDR repräsentierten. Grob gesagt lassen sich zwei Formen<br />

von Organisationen unterscheiden: politische auf der einen Seite sowie Verbände auf der<br />

anderen. Allerdings ist diese Unterscheidung von eher theoretischer Natur, daindem<br />

sozialistischen System alle offiziell zugelassenen Parteien und Verbände –dem leninistischen<br />

Prinzip entsprechend –als Transmissionsriemen der Partei zu dienen hatten. Alle<br />

Organisationen waren unter dem Dach der Massenorganisationen integriert, das von der<br />

SED dominiert wurden. In diesem Kapitel diskutieren wir die Transformation der politischen<br />

Parteien und Gewerkschaften, die <strong>für</strong> die landwirtschaftliche Bevölkerung von<br />

Bedeutung waren. Der Schwerpunkt liegt auf der Transformation der Bauernverbände. Die<br />

Transformation und spätere Vereinigung der wichtigsten Bauernverbände ist einmalig <strong>für</strong><br />

die Verbandsentwicklung in Deutschland in und nach 1990 (25).<br />

4.1 Politische Parteien und Gewerkschaften<br />

Die DDR war kein Einparteienstaat, sondern mehrere Parteien bestanden nebeneinander.<br />

Man wollte jene Bürger in das politische System integrieren, die sich mit den Zielen der<br />

SED nicht anfreunden konnten.Natürlich waren diese Parteien nicht frei und unabhängig,<br />

sondern unterstützten voll das politische System unter der Führung der SED (als sogenannte<br />

„Blockpartei“). Die Partei, die sich auf die landwirtschaftliche Bevölkerung ausrichtete,<br />

war die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD). Sie wurde im April<br />

1948 gegründet. Ihr Hauptziel war, die landwirtschaftliche Bevölkerung <strong>für</strong> den Aufbau<br />

einer sozialistischen Gesellschaft zu gewinnen.<br />

In der ehemaligen DDR verfügte die DBD <strong>über</strong> eine Quote von ca. 10 %aller Abgeordneten<br />

bzw. 52Vertreter/Innen in der Volkskammer. Nach dem Fall der Berliner Mauer<br />

gab es Bemühungen, sie in eine mitgliederorientierte und unabhängige Partei zu transformieren.<br />

Sie nahm an der ersten freien Wahl zur Volkskammer teil und erhielt 2,2 %der<br />

Stimmen, die sie zur Abordnung von 9Abgeordneten berechtigte. Im Juni 1990 entschieden<br />

die Mitglieder, die Partei auszulösen und der CDU (Ost) beizutreten. Seit jener Zeit<br />

scheint die landwirtschaftliche Bevölkerung, gleichwohl ihre Zahl erheblich abnahm, bei<br />

Wahlen ähnlich im Hinblick auf die Parteien abzustimmen wie der Rest der Bevölkerung.<br />

Alle Personen, die auf den Staatsgütern arbeiteten, galten als landwirtschaftliche Arbeiter<br />

(„Landarbeiter“). Ihre gesellschaftliche Vertretung war die Gewerkschaft Land-, Nahrungsgüterwirtschaft<br />

und Forsten (GLNF), in die (fast) alle eintraten. Die GLNF war Teil<br />

des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), dem Dachverband aller Gewerkschaften<br />

in der ehemaligen DDR. Die Gewerkschaften waren auch Teil der Massenorganisationen<br />

unter der Führungder SED. Ende 1989 hatte die GLNF ca. 600 000 Mitglieder.<br />

Anfang 1990 gab es innerhalb der GLNF Versuche, sie in eine mitgliederorientierte und<br />

Buel_3_11.indb 468 17.11.2011 08:13:27


Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />

469<br />

unabhängigeGewerkschaftzutransformieren. Nach derWiedervereinigung wurde jedoch<br />

beschlossen, die GLNF aufzulösen und den Mitgliedern geraten, in die (westdeutsche)<br />

Gewerkschaft <strong>für</strong> Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft (GGLF) einzutreten. Allerdings<br />

taten dies nur ein geringer Teil der ehemaligen Mitglieder (22).<br />

4.2 Bauernverbände<br />

Alle Mitglieder der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurden als arbeitende<br />

Bauern angesehen.Ihre gesellschaftliche Vertretung war die Vereinigung der gegenseitigen<br />

Bauernhilfe (VdgB), in die ebenfalls (fast) alle Mitglied waren. Sie wurde im<br />

Herbst 1945 zur Unterstützung der Bodenreform gegründet. Zu jener Zeit betrieb sie<br />

primär Maschinenstationen zur Unterstützung der Landreformbauern. Später war es ihr<br />

Hauptziel, die sozialistische <strong>Landwirtschaft</strong> zu stärken und den Kollektivierungsprozess<br />

voran zu treiben (2, S. 41). Zum Ende der 1980er-Jahre zählte sie ca. 650 000 Mitglieder.<br />

Als eine bedeutende Massenorganisation stand dem VdgB eine kleine Quote <strong>für</strong> Abgeordnete<br />

inder Volkskammer zu. In der Zeit von 1986–1990 waren dies 14 Abgeordnete.<br />

Nach dem Fall der Berliner Mauer unternahm der Verband große Anstrengungen, sich in<br />

einen mitgliederorientierten Verband zu transformieren. Allerdings sank die Mitgliederzahl<br />

sehr schnell; im Frühjahr 1990 auf ca. 400 000. Schon am 8. März 1990 benannte<br />

sich der Verband in „Bauernverband der DDR e.V.“ um. Ebenso wurde das gesamte Führungspersonal<br />

neu gewählt. Dar<strong>über</strong> hinaus errichtete der Verband regionale Verbände in<br />

Übereinstimmung mit den (noch zu gründenden) Bundesländer; in diesem Sinne kopierte<br />

er die föderative Organisationsstruktur des (westdeutschen) Deutschen Bauernverband<br />

(DBV). Der RegionalverbandThüringen wurde am 23. Juni 1990 gegründet. Ähnlich wie<br />

bei dem Modell der Patenschaften im Zuge des Aufbaus der (Agrar-) Verwaltung unterstützten<br />

westdeutsche Landesverbände des DBV den Neuaufbau; im Falle von Thüringen<br />

waren dies die Landesverbände aus Rheinland-Pfalz, Hessen und Bayern (9).<br />

Zu jener Zeit war die <strong>Landwirtschaft</strong> in der alten Bundesrepublik hochgradig korporativ<br />

verfasst. Ein Verbändenetzwerk unter der Führung des DBV hatte quasi ein Repräsentationsmonopol<br />

im landwirtschaftlichen Sektor.Eine recht enge Zusammenarbeitmit dem<br />

<strong>Landwirtschaft</strong>sministerium (BML) hatte sich im Laufe der Nachkriegszeit entwickelt.<br />

Dieses Repräsentationsmonopol hatte auch seine Bedeutung bei der Ausgestaltung und<br />

Anpassung des GAP. Sogab es Hinweise aus Brüssel, dass eine Verbändekonkurrenz vermieden<br />

werden und auch die ostdeutsche <strong>Landwirtschaft</strong> mit einer Stimme sprechen sollte<br />

(25). Diese Überlegungen müssen auch vor dem Hintergrund der äußerst schwierigen<br />

Lage des Agrarsektors zu jener Zeit gesehen werden. So reagierten die großen Bauernverbände<br />

auf beiden Seiten Deutschlands sehr flexibel in den folgenden Monaten im Hinblick<br />

auf ihre eigene Vereinigung. Allerdings repräsentierten sie ja zwei völlig gegensätzliche<br />

agrarpolitische Leitbilder, d. h. großflächige Kollektivbetriebe auf der einen Seite und<br />

eher kleinflächige bäuerliche Familienbetriebe auf der anderen. Erste Kontakte hatten sich<br />

schon in den 1980er-Jahren entwickelt. Im Jahre 1988 unterzeichneten beide Verbände<br />

eine Übereinkunft <strong>über</strong> ihre zukünftige, zu jener Zeit recht allgemeinen, Zusammenarbeit<br />

(3). Im Frühjahr 1990 besuchte der Vorsitzende des DBV Ostdeutschland. Nach seiner<br />

Rückkehr wurde der Beschluss gefasst, den ostdeutschen Verband zu „adoptieren“. Zu<br />

gleicher Zeit wurden die Landesverbände in Ostdeutschland gegründet.<br />

Rückblickend kann man die Vereinigung der beiden Bauernverband als großen Erfolg<br />

ansehen. Der DBV sicherte sich das Repräsentationsmonopol im landwirtschaftlichen<br />

Sektor. Allerdings musste er einen Wandel seines traditionellen ideologischen Leitbilds<br />

hinnehmen. Dieses Leitbild beinhaltete nicht mehr den bäuerlichen Familienbetrieb, sondern<br />

sehr viel allgemeiner eine auf Privateigentum basierenden Agrarordnung. In diesem<br />

Sinne standen nun die dekollektivierten Großbetriebe Ostdeutschlands als ‚Mehrfami-<br />

Buel_3_11.indb 469 17.11.2011 08:13:27


470 Axel Wolz<br />

lienbetriebe‘ gleichberechtigt neben den herkömmlichen Familienbetrieben (25). Ein<br />

Hauptgrund <strong>für</strong> diese erfolgreiche Vereinigung scheint in der Tatsache zu liegen, dass der<br />

DBV schon in der alten Bundesrepublik heterogene Gruppen von Landwirten integrierte.<br />

Um diese Gruppen ausreichend anEntscheidungsprozessen zu beteiligen, ist er föderativ<br />

strukturiert, sodass jeder Landesverband gleiches Stimmrecht im Vorstand hat. Die föderative<br />

Organisationsstruktur ließ ihn daher sehr viel flexibler auf Veränderungen reagieren<br />

als dies bei einer zentralisierten möglich gewesen wäre (25).<br />

Aber auch der ostdeutsche Verband musste sein traditionelles ideologisches Leitbild<br />

ändern. Auf dem Übergangskongress am 8. März 1990 wurde noch nach der Anerkennung<br />

des genossenschaftlichen Eigentums sowie einem massiven Importschutz vor (westdeutschen)<br />

Importen von Agrar- und <strong>Ernährung</strong>sgütern gerufen. Allerdings wurden auf dem<br />

Kongress Familienbetriebe als eine alternative Produktionsform akzeptiert. ImLaufe des<br />

Sommers erklärte der Verband das Privateigentum an Produktionsfaktoren zum Leitbild;<br />

eine Anpassung, die dem geänderten Leitbild des westdeutschen DBV ziemlich nahe<br />

kam (3). Als die Landesverbände in den neuen Ländern ihre Arbeit aufnahmen, traten sie<br />

jeweils als Landesverband dem DBV bei. Nachdem die fünf Landesverbände beigetreten<br />

waren, konnte der noch bestehende nationale (ostdeutsche) Verband am 21. Dezember<br />

1991 aufgelöst werden (9).<br />

Neben dem ostdeutschen DBV hatten sich noch weitere kleinere Bauernverbände<br />

gegründet. Sie repräsentierten besonders die Neu- und Wiedereinrichter; also das klassischen<br />

Klientel des DBV.Inaller Regel waren sie sich aber untereinander uneins und somit<br />

verhältnismäßig bedeutungslos. Im Laufe der Jahre schlossen sich einige dieser kleineren<br />

Bauernverbände dem DBV an. Zu den verbliebenen eigenständigen Verbänden zählen<br />

der Bundesverband Deutscher Landwirte (VDL) und der Deutsche Bauernbund (DBB).<br />

Der VDL wurde im Sommer 1990 gegründet. Er tritt <strong>für</strong> eine kompromisslose Dekollektivierung<br />

ein (3). Sich selbst versteht er als Vertreter der privaten Landwirte sowie der<br />

bäuerlichen Grundeigentümer in Ostdeutschland. Er sieht alle alternativen Betriebsformen<br />

äußerst kritisch, da diese Relikte der Zwangskollektivierung seien (12). Der im Jahr 1999<br />

gegründete DBB sieht sich als die berufsständische Interessenvertretung der bäuerlichen<br />

Familienbetriebe in den ostdeutschen Bundesländern (13). Beide Verbände tätigen keine<br />

Aussagen <strong>über</strong> die Anzahl ihrer Mitglieder.<br />

Zu anderen Sektoren steht die Vereinigung der Bauernverbände vergleichsweise einmalig<br />

da. So haben die westdeutschen Verbände z. B. im Gesundheitswesen oder im Wissenschaftsbereich<br />

die Übertragung des institutionellen Rahmens der altenBundesrepublik<br />

auf Ostdeutschland durchgesetzt. Allerdings hat in beiden Fällen der Osten nur bedingt<br />

davon profitiert. Das Anliegen, brauchbare und womöglich auch entwicklungsfähige<br />

Ansätze aus der DDR zu <strong>über</strong>nehmen, wurde nicht verfolgt. Im Allgemeinen wurden die<br />

ostdeutschen Verbände durch die westlichen Partner „<strong>über</strong>nommen“; so gab es häufig<br />

einen Export von westdeutschem Personal, um die entscheidenden Positionen zu besetzen<br />

bzw. umostdeutsche Außenstellen zu etablieren. In einigen Bereichen gab es jedoch<br />

<strong>über</strong>haupt keine Organisationen in der ehemaligen DDR, wie z. B. in der Wirtschaft,<br />

die dann von Grund auf neu aufgebaut wurden (25, S. 96–101). Im Agrarsektor jedoch<br />

hat der DBV sehr flexibel auf den Zusammenbruch des sozialistischen Systems und der<br />

Vereinigung reagiert. Er hat „als Verband eine höchst bemerkenswerte Integrations- und<br />

zugleich eine außerordentliche Anpassungsleistung vollbracht“ (25, S. 100). Er ist der<br />

einzig bedeutende Verband Deutschlands, in dem ostdeutsche Vertreter einen gewissen<br />

Einfluss auf die Vereinigung hatten. So ist er auch darin einmalig, dass die ostdeutschen<br />

Landesverbände nur von Ostdeutschen geführt werden und kein Import von Personal aus<br />

dem Westen stattfand.<br />

Die ostdeutschen Landesverbände konnten schnell ihre hohe Lernfähigkeit in der Nutzung<br />

des (westlichen) politischen Systems zum Vorteil ihrer Mitglieder zeigen. Sie nah-<br />

Buel_3_11.indb 470 17.11.2011 08:13:27


Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />

471<br />

men maßgeblich Einfluss auf die Ausgestaltung und Änderungen des <strong>Landwirtschaft</strong>sanpassungsgesetzes<br />

sowie des EALG. Sosahen die ersten Entwürfe zum EALG eher eine<br />

Bevorteilung derAlteigentümer vor, während die Pächter,imRegelfall die transformierten<br />

Nachfolgebetriebe der ehemaligen LPGen, nur bedingt Zugang zu den Flächen erhalten<br />

sollten. In dem abschließenden Kompromiss kamen die Alteigentümer nur noch zum Teil<br />

zum Zuge, während die Pächter die Hauptnutznießer des Privatisierungsprozesses wurden.<br />

Der Haupteinflussfaktor schien das Potenzial bzw. die Drohung der ostdeutschen<br />

Landesverbände des DBV zu sein, die öffentliche Meinung großflächig in ihrem Sinne<br />

beeinflussen zu können. In dieser Phase der Transformation, d. h. in der ersten Hälfte der<br />

1990er-Jahre, mit all ihren Enttäuschungen im Hinblick auf die hochgesteckten Erwartungen<br />

zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung, war <strong>für</strong> die Politiker die Bewahrung des<br />

sozialen Friedens eine der wichtigsten Voraussetzungen <strong>für</strong> einen erfolgreichen Entwicklungsprozess<br />

(4). Diese Lobbyarbeit war <strong>für</strong> die neu gegründeten landwirtschaftlichen<br />

Betriebe sehr erfolgreich. <strong>Landwirtschaft</strong>liche Produktion in Ostdeutschland würde heute<br />

wohl völlig anders organisiert, wenn die ostdeutschen Verbandsvertreter nicht so schnell<br />

gelernt hätten, das westdeutsche politische System <strong>für</strong> ihre Ziele zu nutzen.<br />

5 VergleichendeAnalyse zum Wandel der Agrarverwaltung in den<br />

Transformationsstaaten Mittel- und Osteuropas<br />

Die Transformation der Agrarverwaltung zeigt gewisse Parallelen zur Entwicklung in<br />

Mittel- und Osteuropa, allerdings <strong>über</strong>wiegen die Besonderheiten. So strebte auch dort<br />

eine breite Mehrheit der Bevölkerung westeuropäische Normen und Werte sowie eine<br />

Orientierung an die westlichen Demokratiemodelle und -standards an. Ebenso verlieh die<br />

Perspektive einer EU-Mitgliedschaft der EU Autorität in der Übertragung ihrer Normen<br />

und Regeln (11, S. 75–76). In diesem Sinne mussten sich die Inhalte und Funktionen der<br />

Agrarverwaltung sowohl in der ehemaligen DDR wie in den MOEL auf das „rationallegale“<br />

Modell im Sinne der westeuropäischen Tradition ändern (23, S. 33). Allerdings<br />

unterscheidet sich, wie lehmbruCh (24, S. 64–65) bemerkt, der Transformationsprozessin<br />

der ehemaligen DDR von den Veränderungen in Mittel- und Osteuropa am markantesten<br />

durch den radikalen Bruch sowohl im Bereich der administrativen als auch der ökonomischen<br />

Institutionen. In Gegensatz zu jenen Ländern war der Transformationsprozess von<br />

zwei getrennten, aber auch sich gegenseitig beeinflussenden Prozessen geprägt, einerseits<br />

die Transformation des real-sozialistischen Systems in eine pluralistische Demokratie<br />

und Marktwirtschaft, anderseits die Wiedervereinigung mit der alten Bundesrepublik.<br />

Ohne Zweifel war die alte Bundesrepublik zunächst unumstrittenes Vor- und Leitbild <strong>für</strong><br />

den Aufbau politisch-administrativer Institutionen. Sie hatten sich ja bewährt und war<br />

nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus legitimatorisch gestärkt<br />

(14, S. 40). Für die MOEL war die EU das Vorbild, allerdings musste die Anpassung nicht<br />

so radikal vollzogen werden und man konnte sich auf die eigene Verwaltungstradition<br />

stützen.<br />

Mit der Übernahme des föderativen Systems der Bundesrepublik Deutschlands musste<br />

in den neuen Bundesländern die Verwaltungsstruktur auch territorial völlig neu etabliert<br />

werden. Die ehemalige zentralistisch-orientierteBezirksverwaltung wurde komplett abgebaut,<br />

während eine Landesverwaltung parallel geschaffen wurde. Die Transformation der<br />

(Agrar-) Verwaltung implizierte eine komplette Neurekrutierung des Verwaltungspersonals.<br />

Ehemalige Mitarbeiter konnten sich neu bewerben und viele wurden auch <strong>über</strong>nommen.<br />

Allerdings bedeutete die Transformation einen erheblichen Abbau der Verwaltung<br />

besonders auf Kreisebene, sodass das Personal insgesamt stark reduziert wurde. In den<br />

anderen MOEL wurde das Personal zwar auch, wenn auch nicht so stark, abgebaut, aber es<br />

Buel_3_11.indb 471 17.11.2011 08:13:27


472 Axel Wolz<br />

gab keinen Prozess der Neurekrutierung des Personals. Ebenso gab es keine Überprüfung<br />

des Personals im Hinblick auf ihr Verhalten während der sozialistischen Periode.<br />

Bedingt durch den parallelen Prozess der Systemtransformation sowie der Wiedervereinigung<br />

blieb der ehemaligen DDR im Vergleich zu den MOEL wenig Zeit <strong>für</strong> den Institutionenwandel.<br />

Es herrschte ein extrem hoher Zeitdruck <strong>für</strong> Aufklärungs- und Anpassungsprozesse.<br />

Diese Kurzfristigkeit der Zeithorizonte wurde durch zwei Entwicklungen<br />

verstärkt. Zum einen erschien die innere Entwicklung der DDR in der ersten Jahreshälfte<br />

1990 zunehmend durch eine stabilitätsgefährdende Erosion institutioneller Autorität sowie<br />

einem wirtschaftlichen Verfall charakterisiert und zum anderen ließ die Entwicklung in<br />

der Sowjetunion gravierende Ordnungs- und Sukzessionsprobleme erwarten (24). Daher<br />

wurde auf eine schnelle Lösung gedrungen. Das westdeutsche „Erfolgsmodell“ diente als<br />

unumstrittenes Vorbild. Man setzte auf einen Transfer der westdeutschen Institutionen,<br />

mit der Folge, dass die Entscheidungssituation imVergleich zu den Ländern Mittel- und<br />

Osteuropas radikal vereinfacht wurde (24).<br />

Auf der anderen Seite erfuhr die ehemalige DDR eine sehr viel stärkere finanzielle<br />

und logistische Unterstützung von Seiten der alten Bundesrepublik als die anderen Transformationsländer.<br />

Diese mussten mit vergleichsweise bescheidenen EU-Unterstützungsprogrammen<br />

zurecht kommen. Das Konzept der Länderpatenschaften beim Aufbau der<br />

Verwaltung in den neuen Bundesländern stellte eine originelle und innovative Formel des<br />

Institutionentransfers dar (23, S. 43), dies wurde von der EU –auch in einer angepassten<br />

Form –<strong>für</strong> die MOEL nicht angewandt.<br />

6 Fazit und Empfehlungen<br />

Rückblickend spricht vieles da<strong>für</strong>, dass die Transformation der Agrarverwaltung sowie<br />

der landwirtschaftlichen Organisationen als Teil der politisch-administrativen Institutionen<br />

erfolgreich verlaufen ist und zu einer institutionellen Konsolidierung geführt hat<br />

(14). Die Institutionen der alten Bundesrepublik wurden auf die neuen Länder <strong>über</strong>tragen,<br />

wobei die <strong>über</strong>kommenden Institutionen der DDR zerstört wurden (11). Im Hinblick auf<br />

die Agrarverwaltung bedeutete dies, dass die sozialistische „Kader“-Verwaltung abgebaut,<br />

und parallel eine Verwaltung im „rational-legalen“ Sinne der westeuropäischen Tradition<br />

aufgebaut werden musste (23, S. 33). Hinzu kam mit der Wiedererrichtungder Bundesländer<br />

eine Reorganisation der territorialen Einteilung und Entscheidungsstrukturen. In dieser<br />

Zeit des radikalen Umbruchs musste die Agrarverwaltung ihre neuen Aufgaben bestmöglich<br />

ausführen, um kurzfristig den Fortbestand der landwirtschaftlichen Produktion<br />

<strong>über</strong>haupt zu sichern sowie generell die Wettbewerbsfähigkeit der landwirtschaftlichen<br />

Produktion zu steigern. Um diese Aufgaben zu erfüllen, wurde das gesamte Personal neu<br />

rekrutiert, im Zuge dessen sich ehemalige Mitarbeiter neu bewerben konnten. Folgende<br />

Lehren lassen aus der deutschen Erfahrung ziehen:<br />

● Motivierte Mitarbeiter/-Innen aus der ehemaligen DDR konnten eingestellt werden,<br />

die ein hohes Maß an Engagement und Arbeitseinsatz zeigten. Sie waren offen <strong>für</strong> die<br />

neuen Aufgaben und hatten verstanden, dass dieser Neuanfang eine historische Situation<br />

<strong>für</strong> sie selbst und das Land war. Obwohl den Ostdeutschen generell nachgesagt<br />

wurde, dass sie aufgrund des sozialistischen Systems lethargisch seien, legten diese<br />

Personen ein hohes Maß an Entscheidungsinitiative und Handlungskompetenz an den<br />

Tag. Sie konnten auch unter den bescheidenen logistischen Bedingungen improvisieren.<br />

● Die Einstellung von ostdeutschem Personal wurde immer wieder durch die Tatsache<br />

unterbrochen, dass kompetente Personen abrupt entlassen werden mussten, da ihnen<br />

eine informelle Mitarbeit bei der Staatssicherheit nachgewiesen wurde. Die neuen Eli-<br />

Buel_3_11.indb 472 17.11.2011 08:13:27


Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />

473<br />

ten inOstdeutschland lehnten indiesem Punkt jeden Kompromiss ab. Diesen Willen<br />

musste man respektieren.<br />

● Dieser erfolgreiche „Institutionentransfer“ wäre ohne die Abordnung von motivierten<br />

Beamten aus der alten Bundesrepublik unmöglich gewesen. Sie kannten das hierarchische<br />

Verwaltungssystem, mussten aber <strong>über</strong> die gleichen Eigenschaften wie ihre<br />

ostdeutschen Kollegen verfügen. Das Patenschaftmodell der Bundesländer erwies sich<br />

als sehr erfolgreich.<br />

● Ebenso wäre der Institutionentransfer bescheiden ausgefallen, wären nicht die vielen<br />

Fort- und Weiterbildungsprogramme <strong>für</strong> die ostdeutschen Kollegen angeboten worden.<br />

Diese beinhalteten: direkte Ausbildung am Arbeitsplatz, Fortbildungskurse und Schulungen<br />

im Haus sowie Ausbildungskurse an der jeweiligen „Patenbehörde“.<br />

Allerdings war man Anfangs bei der Planung der Struktur der Agrarverwaltung im Hinblick<br />

auf ihre Finanzierungzuoptimistisch.Obwohlz.B.die Zahl der landwirtschaftlichen<br />

Kreisstellen im Vergleich zu der Zeit vor 1990 reduziert wurde und nun jede Kreisstelle<br />

<strong>für</strong> mehrere Landkreise zuständig war, war ihre Zahl immer noch zu hoch. Im Laufe der<br />

folgenden Jahre wurde weitere Kreisstellen abgebaut und die Agrarverwaltung effizienter.<br />

Aus dieser Erfahrung kann man die Empfehlung ableiten, gleich zu Beginn verhältnismäßig<br />

konservativ zu planen.<br />

Um negative Auswirkungen des Transformationsprozess auf den landwirtschaftlichen<br />

Sektor abzufedern, können spezialisierte Agrarbehörden etabliert werden. In Deutschland<br />

wurde die Privatisierung des Staatseigentums an land- und forstwirtschaftlichen Flächen<br />

einer gesonderten, neugeschaffenen Behörde <strong>über</strong>tragen. Während bei ihrer Einsetzung<br />

davon ausgegangen wurde, dass die Privatisierung verhältnismäßig schnell durchgeführt<br />

und damit die Behörde wieder aufgelöst werden könnte, erwies sich diese Aufgabe als<br />

äußerst langwierig. Aus diesem Beispiel kann man die Empfehlung ableiten,dass gewisse<br />

Aufgaben mit dem notwendigen administrativen Fachwissen nur dann erfolgreich umgesetzt<br />

werden können, wenn gleich zu Beginn ein langfristiger Ansatz verfolgt wird.<br />

Auf der anderen Seite zeigt das deutsche Beispiel, dass der Institutionentransfer im<br />

Agrarbereich nicht nur eine Einbahnstraße darstellte. Der Vereinigungsprozess innerhalb<br />

des DBV zeigte, dass die ostdeutschen Landwirte, obwohl sie ein völlig konträres Leitbild<br />

repräsentierten, sehr wohl in einer gemeinsamen Organisation integriert werden konnten.<br />

Die Vertreter aus Ostdeutschland lernten sehr schnell das politische System zu nutzen, um<br />

ihre Ziele auch gegen<strong>über</strong> gut organisierten Gegnern durchzusetzen. Der Dekollektivierungsprozess,<br />

aber auch die Privatisierung der staatlichen Flächen hätte wohl einen völlig<br />

anderen Verlauf genommen, wenn die ostdeutschen Landwirte eine alternative Organisation<br />

zum DBV aufgebaut hätten. Aber auch die westdeutsche Seite profitierte von der Vereinigung,<br />

da so kein nennenswerter Konkurrenzverband etabliert wurde. In dieser Hinsicht<br />

kann man die Erfahrung ableiten: weil die ostdeutsche Seite als gleichwertiger Partner<br />

anerkannt wurde, entwickelte er sich zu einem aktiven Gestalter und nicht zu einem passiver<br />

Empfänger im politischen System.<br />

Die Analyse zeigt, dass der institutionelle Wandel in der Agrarverwaltung und den<br />

Agrarverbänden in Ostdeutschland vor und nach der Wiedervereinigung ein Sonderfall<br />

der Transformation aus dem sozialistischen System der zentralen Planwirtschaft in ein<br />

System des demokratischen Pluralismus und Marktwirtschaft darstellt. Die Lehren <strong>für</strong> die<br />

Transformationsländer Mittel- und Osteuropas oder gar der ehemaligen Sowjetunion sind<br />

gering. Allerdings kann die deutsche Erfahrung sehr wohl ein Beispiel <strong>für</strong> eine mögliche<br />

Entwicklung auf der koreanischen Halbinsel sein. Auch hier werden die beiden Prozesse,<br />

d. h. Systemtransformation und Wiedervereinigung, parallel verlaufen und sich nicht –<br />

ähnlich wie in Deutschland –trennen lassen.<br />

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474 Axel Wolz<br />

Zusammenfassung<br />

Die Transformation in Ostdeutschland war durch zwei getrennte, aber sich auch gegenseitig beeinflussende<br />

Prozesse geprägt. Einerseits die Transformation des real-sozialistischen Systems in eine<br />

pluralistische Demokratie und Marktwirtschaft, anderseits die Wiedervereinigungmit der alten Bundesrepublik.<br />

Gemeinsam bedingten sie einen schnellen und radikalen Bruch mit den bestehenden<br />

Institutionen; u. a. eine komplette Neuausrichtung der Agrarverwaltung. Sie führten nicht nur zu<br />

dem Abbau der sozialistischen „Kader“-Verwaltung und dem Aufbau einer Verwaltung im „rationallegalen“<br />

Sinne (23, S. 33), sondern –parallel –mit der Übernahme der föderativen Struktur der alten<br />

Bundesrepublik zu einem völlig neuen territorialen Aufbau. Die Transformation umfasste jedoch<br />

nicht nur eine komplette Neurichtung der Agrarverwaltung, sondern auch die Etablierung neuer<br />

spezialisierter Behörden. Waren sie zu Beginn nur auf befristete Zeit ausgelegt, erwiesen sie sich<br />

z. T. von permanenter Natur. Neben der Verwaltung mussten sich auch die landwirtschaftlichen<br />

Verbände neu organisieren. Vonbesonderer Bedeutung war die Vereinigung und Neuausrichtung<br />

des Deutschen Bauernverbandes, da beide Ursprungsverbände ein völlig konträres landwirtschaftliches<br />

Leitbild vertraten. Rückwirkend spricht vieles da<strong>für</strong>, dass der institutionelle Wandel in der<br />

Agrarverwaltung und den Agrarverbänden in Ostdeutschland erfolgreich verlaufen ist. Aber, erstellt<br />

einen Sonderfall der Systemtransformation dar. Die Lehren <strong>für</strong> die Transformationsländer Mittelund<br />

Osteuropas sind gering. Allerdings kann die deutsche Erfahrung sehr wohl ein Beispiel <strong>für</strong> eine<br />

mögliche Entwicklung auf der koreanischen Halbinsel sein. Auch hier werden die beiden Prozesse,<br />

d. h. Systemtransformation und Vereinigung, parallel verlaufen und sich nicht trennen lassen.<br />

Summary<br />

Institutional Change in Agricultural Administration and Agricultural Associations in East<br />

Germany Before and After Unification<br />

The transition process in East Germany has been dominated by two separate, but closely-linked<br />

developments, namely the transition of the socialist central planning system into amarket economy<br />

and pluralistic democracy on the one hand, and unification with West Germany onthe other. This<br />

entailed aquick and radical break of the existing institutions and organisations, including acomplete<br />

restructuring of the agricultural administration. This development not only led to adismantling of<br />

the socialist “cadre administration” and the development of an administration in a“rational-legal<br />

sense” (23, p. 33), but also –atthe same time –the adoption of the West German federal structure<br />

which required aterritorial re-organisation from scratch. Besides the restructuring of the “general”<br />

agricultural administration, specialised agencies had to be established, e.g. for the administration of<br />

state-owned agricultural assets. While originally set-up for alimited period only, they proved to be<br />

required on apermanent basis. Besides the agricultural administration, the associations representing<br />

the rural population had to be re-organised. The re-organisation and unification of the German Farmers’<br />

Union is of special significance as the two original associations represented completely different<br />

agricultural systems. Looking back, the transition of the agricultural administration and rural<br />

associations in East Germany seems to have been accomplished successfully. The lessons that can<br />

be derived for other countries in Central and Eastern Europe, however, are modest. The German<br />

experience seems to be of high relevance for the (potential) development on the Korean Peninsula.<br />

Here, both processes, i.e. transitional change and unification, will most probably take place simultaneously<br />

–like in Germany –and will not be able to be executed separately.<br />

Résumé<br />

Changement institutionnel dans l’administration agricole etles associations agricoles en Allemagne<br />

de l’Est avant et après la réunification allemande<br />

La transformation en Allemagne de l’Est s’est caractérisée par deux processus séparés mais<br />

s’influençant mutuellement :d’une part, la transformation du système du socialisme réel en une<br />

démocratie pluraliste et une économie de marché, et d’autrepart, l’unification avec l’ancienne République<br />

fédérale d’Allemagne. Ces deux processus ont provoqué la rupture radicale avec les institutions<br />

existantes àl’époque dont une réorientation totale del’administration agricole. Non seulement<br />

l’administration socialiste «decadres »aété dissoute pour établir une administration dans le sens<br />

légal et rationnel, mais en même temps, en adoptant la structure fédérale de l’ancienne République<br />

fédérale d’Allemagne, l’organisation territoriale acomplètement changé. Outre la réorganisation de<br />

l’administration agricole, des autorités publiques spécialisées sont créées. Initialement prévues pour<br />

une durée limitée, quelques-unes de ces autorités sont devenues des institutions permanentes. Les associations<br />

agricoles, elles-aussi ont dû se réorganiser. L’unification et la réorientation de l’association<br />

Buel_3_11.indb 474 17.11.2011 08:13:27


Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />

475<br />

allemande des agriculteurs «Deutscher Bauernverband »ont été d’une importance fondamentale<br />

étant donné que les deux anciennes associations représentaient des modèles du monde agricole<br />

complètement contraires. Avec du recul, on peut constater que le changement institutionnel dans<br />

l’administration agricole et les associations agricoles en Allemagne de l’Est s’est passé apparemment<br />

avec succès. Mais il s’agit bien d’un cas exceptionnel de transformation nepermettant pas de<br />

transposition directe àlasituation dans les pays en train de transformation enEurope centrale et orientale.<br />

Néanmoins, les expériences allemandes peuvent servir d’exemple àl’évolution possible dans<br />

la péninsule coréenne. Là-aussi, probablement, les deux processus, c’est-à-dire la transformation<br />

des systèmes et l’unification, se réaliseront parallèlement sans pouvoir être séparés l’un de l’autre.<br />

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Buel_3_11.indb 475 17.11.2011 08:13:27


476 Axel Wolz<br />

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Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen, Bd. 132),<br />

S. 177–184.<br />

23. lehmbruCh, g.,1992: Die deutsche Vereinigung: Strukturen der Politikentwicklung und strategische<br />

Anpassungsprozesse: In: KOhler-KOCh, b.(Hrsg.): Staat und Demokratie in Europa. Opladen, Leske<br />

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24. –, 1996: Die ostdeutsche Transformation als Strategie des Institutionentransfers: Überprüfung und<br />

Antikritik. In: eisen, a.; WOhlmann, h.(Hrsg.): Institutionenbildung in Ostdeutschland: Zwischen<br />

externer Steuerung und Eigendynamik. Opladen, Leske und Buderich, S. 63–78.<br />

25. –, 2000: Verbände im ostdeutschen Transformationsprozeß. In: bührer, W.; granDe, e.(Hrsg.): Unternehmerverbände<br />

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26. Mitteldeutscher Rundfunk (mDr), 2011: Übersichtskarten. Magdeburg, MDR (www.mdr.de/damals/<br />

archiv,Abruf: 25. Januar 2011).<br />

27. muus, J.,1999: Ein Pensionär wieder im Einsatz. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.): Zeitzeugen<br />

berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den neuen Bundesländern<br />

1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen, Bd. 132), S.<br />

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28. rOelOffs,b.C.,1999: Vier Jahre in Mecklenburg-Vorpommern. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.):<br />

Zeitzeugen berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den<br />

neuen Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen,<br />

Bd. 132), S. 271–286.<br />

29. sönniChsen, h.-th., 1999: Früher Start einer Landgesellschaft. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.):<br />

Zeitzeugen berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den<br />

neuen Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen,<br />

Bd. 132), S. 323–328.<br />

30. stuhler, e.,2010: Die letzten Monate der DDR. Die Regierung de Maizière und ihr Wegzur Deutschen<br />

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31. thiele, h.,1998: Dekollektivierung und Umstrukturierung des Agrarsektors in den neuen Bundesländern.<br />

Frankfurt, Alfred Strothe (Agrarwirtschaft Sonderheft 160).<br />

32. WarbeCK,J.,2001: Die Umwandlung der DDR-<strong>Landwirtschaft</strong> im Prozeß der Deutschen Wiedervereinigung.<br />

Frankfurt, Lang (Analysen zum Wandel politisch-ökonomischer Systeme, Bd. 14).<br />

33. Wegge, g.,1999: Eine nicht geprobte Welt-Uraufführung. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.): Zeitzeugen<br />

berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den neuen<br />

Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen, Bd. 132),<br />

S. 348–367.<br />

34. Wehling, h.-g., 1994: Unterschiedliche Kommunalverfassungen in den Ländern. In: Bundeszentrale<br />

<strong>für</strong> politische Bildung (Hrsg.): Kommunalpolitik. Bonn, 1994 (Informationen zur politischen Bildung,<br />

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35. WilsOn, g.a.; WilsOn, O.J., 2001: German Agriculture in Transition-Society, Politics and Environment<br />

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36. zillenbiller, e.,1999: Werben –Überzeugen –Mitgestalten. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.):<br />

Zeitzeugen berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den<br />

neuen Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen,<br />

Bd. 132), S. 373–381.<br />

Danksagung<br />

Der Autor dankt seinen ehemaligen und jetzigen Kolleginnen und Kollegen Dr. franzisKa sChaft,<br />

Dr. Jana fritzsCh, Dr. Klaus reinsberg, Dr. eberharD sChulze und Dr. martin petriCK <strong>für</strong> ihre<br />

Kommentare und Informationen bei der Erstellung dieses Beitrages. Ebenfalls dankt der Autor Dr.<br />

geralD thalheim <strong>für</strong> seine Hinweise zu einer früheren Fassung.<br />

Buel_3_11.indb 476 17.11.2011 08:13:27


Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />

Autorenanschrift: Dr. axel WOlz, Leibniz-Institut <strong>für</strong> Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa,<br />

Theodor-Lieser-Str. 2,06120 Halle (Saale), Deutschland<br />

wolz@iamo.de<br />

Buel_3_11.indb 477 17.11.2011 08:13:27<br />

477


478<br />

Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln –<br />

Verhaltensoptionen im Alltagskontext 1)<br />

Von Axel philipps, Hannover<br />

1 Einleitung<br />

Das Verbraucherverhalten bei Lebensmittelskandalen wird in der aktuellen Forschung<br />

häufig kausal erklärt. In den jeweiligen Modellen beeinflussen die Entwicklung von<br />

Lebensmittelpreisen, die Verunsicherung, das Informationsverhalten oder das Einkommen<br />

der Verbraucher deren Reaktionen. Problematisch an dieser Art der theoretischen und<br />

methodischen Vorgehensweisen ist, dass sie das Verbraucherverhalten nur unzureichend<br />

erklären können und die Situationsauslegungen der Verbraucher unberücksichtigt lassen.<br />

Insbesondere bei Lebensmittelskandalen ist relevant, wie sich die Verbraucher sinnhaft auf<br />

das Verhalten anderer beziehen und daran ihr weiteres Handeln ausrichten. Es ist demzufolge<br />

nicht nur eine Frage wie Verbraucher ihre Handlungsoptionen abwägen, sondern<br />

ebenso wie sie das Verhalten der Skandalisierten und die damit verbundenen Ereignisse<br />

deuten.<br />

Dieser Beitrag widmet sich daher den Verbrauchern und ihren Auslegungen von Skandalen<br />

im Lebensmittelbereich. Im Mittelpunkt stehen ihre Deutungen solcher Ereignisse,<br />

da sie Handlungsoptionen eröffnen bzw. einschränken. Die zentrale Frage lautet also:<br />

Woran orientieren sich Verbraucher in ihrem Handeln während eines Lebensmittelskandals?<br />

Dazu werden im nächsten Abschnitt die Genese und Struktur von Skandalen vorgestellt,<br />

um daran anschließend die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen zum Verbraucherverhalten<br />

bei Lebensmittelskandalen zu diskutieren. Da die bisherige Forschung<br />

nur unzureichend die Handlungen der betroffenen Verbraucher erklären kann, greife ich<br />

<strong>für</strong> ein Verständnis des alltäglichen Umgangs mit Lebensmittelskandalen auf die theoretischen<br />

Annahmen des Soziologen alfreD sChütz (57; 58) zurück. Das Konzept der Alltagsroutine<br />

fließt dabei in die Auswertung der Ergebnisse von offenen, leitfadengestützten<br />

Interviews mit Verbrauchern ein.<br />

Während der Auswertung konnten sechs Deutungsmuster <strong>für</strong> Lebensmittelskandale<br />

rekonstruiert werden, die jeweils unterschiedliche Handlungsoptionen eröffnen. Der Beitrag<br />

schließt mit einer Diskussion der Ergebnisse ab.<br />

2 Genese und Struktur von Skandalen<br />

Lebensmittelskandale gehören seit der Industrialisierung zur modernen Gesellschaft.<br />

Überspitzt könnte man auch sagen, dass die Skandale im Lebensmittelbereich geradezu<br />

die industrialisierte Gesellschaft prägen und kennzeichnen. Insbesondere die Veränderung<br />

von Produktionsweisen, als auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse boten den<br />

Konsumenten verstärkt Anlass, sich <strong>über</strong> die Herstellungs- und Verarbeitungsweisen von<br />

Lebensmitteln zu empören.<br />

Allgemein gehen Lebensmittelskandale auf zwei historische Veränderungen zurück.<br />

Erstens konnten lokale Gerüchte und Skandalisierungen mit der Herausbildung von Mas-<br />

U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0478 $2.50/0<br />

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Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />

479<br />

senmedien eine größere Öffentlichkeit erreichen. Mit der Möglichkeit einer <strong>über</strong>regionalen<br />

Informationsverbreitung vergrößerten sich somit die erregbare Öffentlichkeit und die<br />

Konsequenzen aus Skandalen (vgl. 42). Zweitens wird ebenfalls im 19. Jahrhundert, mit<br />

dem Übergang von der Selbstversorgung zur Verbraucherwirtschaft, eine weitere Voraussetzung<br />

<strong>für</strong> Skandale geschaffen. Gemeint sind vor allem die Prozesse der Industrialisierung<br />

und Technisierung (vgl. 1). Damit verbunden kam es zu einer Intensivierung und<br />

Rationalisierung der <strong>Landwirtschaft</strong>, einer industrialisierten Nahrungsmittelproduktion<br />

sowie der Entwicklung von Konservierungs- und Kühltechniken. Diese Prozesse wurden<br />

begleitet von bahnbrechenden Erkenntnissen in den wissenschaftlichen Disziplinen Biologie<br />

und Chemie hinsichtlich der Entdeckung von Parasiten und Bakterien sowie zu den<br />

Möglichkeiten ihrer Bekämpfung.<br />

Zugleich traten mit dieser Entwicklung zwei neue Phänomene auf. Einerseits wurden<br />

neue Kriterien und Anforderungen hinsichtlich der Qualität von Nahrungs- und Lebensmitteln<br />

parallel mit den wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden eingeführt. Anfänglich<br />

sprach man beispielsweise vom „Wert“ bestimmter Nahrungsmittel. Hier war und ist<br />

vor allem die Rede vom Nährwert, Kalorienwert oder <strong>Ernährung</strong>swert. Erst Jahrzehnte<br />

später wurde dann ein abstrakter, die Einzelqualitäten zusammenfassender Gesamtbegriff<br />

geprägt: Lebensmittelqualität (vgl. 60).<br />

Andererseits nahmen seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Ängste sowie Gegenströmungen<br />

zu, die die Intensivierung und Industrialisierung der <strong>Landwirtschaft</strong> und Lebensmittelproduktion<br />

begleiten. Insbesondere neue wissenschaftliche Erkenntnisse brachten<br />

alternative Vorstellungen und Sichtweisen in verschiedenen Phasen 2) hervor,die daraufhin<br />

den künftigen gesellschaftlichen Diskurs mitbestimmten.<br />

Neben den historischen Entwicklungen zeichnen sich Skandale durch eine bestimmte<br />

Struktur aus, in deren Zentrum der Skandal als „Ärgernis“ 3) steht.Ein Skandalist dabei ein<br />

Ärgernis <strong>für</strong> den Skandalisierten, dessen Verhalten zum Gegenstand des Skandals wird,<br />

sowie <strong>für</strong> die Skandalierer und die Skandalrezipienten, die sich <strong>über</strong> das Verhalten des<br />

Skandalisierten empören und dieses anprangern.<br />

Die Trias des Skandals aus Skandaliertem, Skandalierer und Skandalrezipient entspricht<br />

den grundlegenden Elementen des Skandals:moralische Verfehlungen, Enthüllung<br />

und Empörung (vgl. 29; 32). Daher möchte ich kurz auf diese Elemente eingehen.<br />

Es gilt als unbestritten, dass der Ausgang eines Skandals in einer Normverletzung<br />

bzw. „moralischen Verfehlung“ liegt. Dabei kann es sich um die Erschütterung sozial<br />

verbindlicher Wertesysteme oder um die Ahndung bzw. Verfestigung von Normen „aus<br />

der Grauzonedes Ungeregelten“ (47, S. 276) handeln. Die Einbeziehung des Moralischen<br />

hat zumindest zur Folge, dass es sich bei einem Skandal nicht nur einfach um eine Verfehlung<br />

jedweder Art handelt, sondern zugleich um einen Konflikt zwischen verschiedenen<br />

Interessen, zwischen Herrschenden und Beherrschten bzw. zwischen verschiedenen<br />

Wertegemeinschaften.<br />

Zusammenfassend kann festgestellt werden, ein Skandal ist kein einfacher Missstand,<br />

sondern verbindet damit zugleich eine moralische Infragestellung sozialer Werte und Normen.<br />

Die „Enthüllungen“ im heutigen Maßstab wären ohne die Veränderungen der medialen<br />

Vermittlung nicht möglich. Gerüchte und Klatsch würden den kleinen Kreis der Vertrauten<br />

kaum verlassen. Erst mit der Herausbildung von Massenmedien wie Tageszeitungen,<br />

Radio und Fernsehen erreichen Informationen ein breites Publikum, was somit auch die<br />

Skandalierung <strong>über</strong> das Private bzw. Regionale hinaus ermöglicht (42, S. 7). Die „Skandalierer“<br />

in Form des organisierten Publikums sind jedoch nicht nur die Massenmedien,<br />

sondern ebenso die sozialen Bewegungen oder die Staatsanwaltschaft. Deren Ziele sind<br />

die Entschleierung von Missständen. Eng damit verknüpft ist zumindest eine gewisse<br />

Kontrolle und Wachsamkeit.<br />

Buel_3_11.indb 479 17.11.2011 08:13:28


480 Axel Philipps<br />

Gegen die Vorstellung einer Aufklärung des Publikums lassen sich jedoch Bedenken<br />

anführen. So unterliegt die Verarbeitung und Selektion von Informationen der Logik der<br />

Massenmedien (vgl. 16; 34). In der Folge verhindern die Jagd nach neuen Informationen<br />

und die Konkurrenz untereinander zumeist gründliche Recherchen und produzieren<br />

schnelle Ergebnisse. Beispielsweise wird im Skandal ein Missstand aufgegriffen und mit<br />

einer moralischen Aufladung wiedergegeben. Dabei legt eine Kurzmeldung den Grundstein<br />

<strong>für</strong> eine Geschichte mit spekulativen Hintergründen und Vermutungen. Eine breite<br />

und kontinuierliche Präsentation des Vorfalls in den Medien bewirkt darauf seine Verstärkung.<br />

Die glaubhafte Übertreibung des Missstandes soll zwar Spekulatives beseitigen,<br />

zugleich ist aber eine frühzeitig gefestigte Sichtweise erforderlich. Schließlich bilden<br />

sich noch in der Phase der Unsicherheit aufgrund weniger Informationen selbst bestärkende<br />

Glaubensgemeinschaften heraus, die ihre eigenen Sichtweisen auf die Ereignisse<br />

verteidigen. Entgegen des Typus des Aufklärers spricht Kepplinger daher vielmehr von<br />

„Geschichtenerzählern“ (34, S. 142).<br />

Gegen eine Aufklärung und Einsicht durch Skandalisierungen sprechen also einerseits<br />

die Selektionsmechanismen und die Eigenlogik der Medienberichterstattung, aber auch<br />

die Beobachtung, dass andererseits Skandale kaum dauerhafte Verhaltensänderungen in<br />

der Bevölkerung auslösen.<br />

Ungeachtet dessen nimmt die Bevölkerung als erregbare Öffentlichkeit einen gewichtigen<br />

Platz in fast jeder Abhandlung <strong>über</strong> Skandale ein. Denn, erst durch das „Überspringen“<br />

der moralischen Anklage des Skandalierers auf den Skandalrezipienten kann aus<br />

einer Verfehlung ein Skandal werden (29, S. 18). Dieses Überspringen setzt jedoch zwei<br />

Bedingungen voraus. Erstens bleiben Missstände solange negative Kurzmeldungen <strong>über</strong><br />

Verfehlungen wie sie nicht zum Gegenstand moralischer Spekulationen und Übertreibungen<br />

gemacht werden. Der mediale Skandal braucht aber seine Geschichte, die visuell und<br />

verbal den Bericht verstärkt. Wahrheit und somit die Aufklärung im Skandal besitzt dann<br />

keine Chance. Sie gehen vielmehr in den <strong>über</strong>triebenen und teilweise gänzlich falschen<br />

Darstellungen unter. Erst mit dem Ende des Skandals können sich Fakten Geltung verschaffen;<br />

diese stoßen im Regelfall dann aber auf keine große öffentliche Resonanz mehr.<br />

Zweitens setzt eine Skandalierung Sensibilität in der Öffentlichkeit voraus. So müssen<br />

sich Wortführer einer Wertkrise bzw. Skandalierer an gleichgerichteten Haltungen in der<br />

Bevölkerung orientieren und diese ansprechen. Eine Skandalierung entsteht somit nicht<br />

spontan und unvorbereitet, sondern sie greift nur, wenn gewisse Wertdispositionen und<br />

Erwartungen in der Bevölkerung vorhanden sind.<br />

Die Betonung von gleichgerichteten Haltungen und Wertdispositionen in der Bevölkerung<br />

verweist darauf, dass bei einem Skandal nicht die gesamte Bevölkerung von der<br />

Erregung erfasst wird. Vielmehr gehört eine „fragmentierte Öffentlichkeit“ (48, S. 6) zu<br />

den Regelmäßigkeiten und Mustern von Skandalen.<br />

3 Stand der Forschung<br />

Der Zusammenhang von Skandalereignis, die damit verbundene <strong>Berichte</strong>rstattung in den<br />

Massenmedien und das Verbraucherverhalten waren Gegenstand verschiedener Untersuchungen<br />

(vgl. 8; 13; 15). Einige Untersuchungen haben sich mit ganz unterschiedlichen<br />

Skandalen beschäftigt. So liegen einzelne Studien zur Alar-Krise (26; 51), zum Nestlé-<br />

Milchpulverskandal (25) oder zum Nitrofen-Skandal (14) vor. Die Arbeit von linzmaier<br />

(40) sticht dabei durch ihren breiten Fokus auf die <strong>Berichte</strong>rstattung <strong>über</strong> Lebensmittelskandale<br />

unter Berücksichtigung der Verbraucherverunsicherung heraus. Zur Analyse<br />

medialer Risikoprofile baut die Studie auf Interviews in vier Fokusgruppen auf, in denen<br />

sich die Gesprächsteilnehmer zu Lebensmittelskandalen und ihren Umgangsweisen äußer-<br />

Buel_3_11.indb 480 17.11.2011 08:13:28


Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />

481<br />

ten. ZentralesAnliegen der Gruppengespräche war die Ausarbeitung von verbraucherspezifischen<br />

Risikoattributen. Damit sollten die Faktoren identifiziert werden, die die Risikowahrnehmungvon<br />

Lebensmittelskandalenbeeinflussen.Dabei zeigtsich, dass dieBefragten<br />

unterschiedliche Risikoattribute mit verschiedenen Lebensmittelskandalen verbinden.<br />

Unabhängig davon hat linzmaier inhaltsanalytisch untersucht, ob die <strong>Berichte</strong>rstattung<br />

die identifizierten Risikoattribute vermitteln. Aufgrund ihrer Ergebnisse ist anzunehmen,<br />

dass vor allem Verweise in der <strong>Berichte</strong>rstattung auf die räumliche Nähe, die Härte der<br />

politischen Maßnahmen, die räumliche Ausdehnung der Missstände die Risikowahrnehmung<br />

beeinflussen (40, S. 165). Weiterhin nennt sie neben den inhaltlichen Attributen als<br />

Verunsicherungspotenziale bei den Verbrauchern die Intensivierungen der <strong>Berichte</strong>rstattung<br />

und den Einsatz aufmerksamkeitsgenerierender Mittel (Platzierung, Layout, Foto<br />

etc.). Diese Faktoren hätten insbesondere in der BSE-Krise gewirkt.<br />

Die Dominanz des BSE-Themas spiegelt sich ebenfalls in der Zahl der Forschungsarbeiten<br />

zur BSE-Krise wider. Hier stechen vor allem Untersuchungen zum Verbraucherverhalten<br />

im Kontext der <strong>Berichte</strong>rstattung <strong>über</strong> BSE hervor (vgl. 11; 17; 24; 28; 31; 50;<br />

55; 68). Beispielsweise hat hagenhOff (24, S. 210) die <strong>Berichte</strong>rstattung <strong>über</strong> BSE in den<br />

deutschen Printmedien zwischen 1990 und 2002 untersucht und festgestellt, dass in diesem<br />

Zeitraum die Häufigkeit der Artikel zum Thema BSE schwanken. Es gibt Zeiten mit<br />

keinen bzw. verhältnismäßig wenigen Beiträgen und Zeiten mit markanten Spitzen, die in<br />

einem engen Zusammenhangmit bestimmten Ereignissen stehen. Artikelhäufungen finden<br />

sich 1996 mit der Meldung, dass eine mögliche Übertragungsgefahr auf den Menschen<br />

bestehe sowie 2001 nach Bekanntgabe des ersten BSE-erkrankten Rindes in Deutschland.<br />

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch WilDner (68). Sie hatte alle erschienenen Artikel<br />

aus einer Auswahl an <strong>über</strong>regionalen und regionalen Zeitungen und Zeitschriften <strong>für</strong><br />

den Zeitraum von 1990 bis 1998 in einen BSE-Index zusammengefasst. Auch hier lässt<br />

sich eine vergleichbare Häufigkeitsverteilung der Beiträge <strong>über</strong> die Zeit erkennen (vgl. 18<br />

<strong>für</strong> Großbritannien).<br />

Diese Entwicklungen in der <strong>Berichte</strong>rstattung stehen in einem signifikanten Zusammenhang<br />

mit der Abwanderung der Verbraucher zu anderen Fleischsorten und Nahrungsmitteln<br />

(z. B. Geflügelfleisch) in Deutschland.<br />

Die BSE-<strong>Berichte</strong>rstattung hatte demnach einen negativen Einfluss auf die Rind-,<br />

Kalbsfleisch- und Wurstwarennachfrage. Deutliche Auswirkungen traten beispielsweise<br />

im April 1996 auf, nachdem Wissenschaftler einen möglichen Zusammenhang zwischen<br />

BSE und den an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit erkrankten Menschen bekanntgaben<br />

(68, S. 49). Ebenso brach der Rindfleischabsatz auf dem deutschen Markt um 70 %Ende<br />

2000 mit der Nachricht von BSE-erkrankten Rindern in Deutschland spürbar ein (53; 50,<br />

S. 461). Aber auch hier erholte sich die Rindfleischnachfrage innerhalb weniger Monate.<br />

Es ist daher naheliegend, nach den Gründen <strong>für</strong> dieses Verbraucherverhalten zu fragen.<br />

Eine oft herangezogene Erklärung ist die Verunsicherung der Verbraucher (vgl. 7).<br />

Beispielsweise stellte das Institut <strong>für</strong> Demoskopie Allensbach im Januar 2001 nach<br />

Bekanntgabe des ersten BSE-Falles in Deutschland in einer repräsentativen Umfrage fest,<br />

dass sich in der Hochphase 87 %der deutschen Bevölkerung nicht ausreichend vor BSE<br />

geschützt fühlten (vgl. 49). Interessant ist dabei (vgl. Tab. 1), dass im Gegensatz zum<br />

hohen Anteil der Verunsicherten 32 %der Befragten aussagten, kein Rindfleisch mehr<br />

gegessen zu haben, 35 %hätten zeitweise weniger Rindfleisch konsumiert und <strong>für</strong> ca. ein<br />

Viertel der Befragten hätte sich nichts geändert (56, S. 197). Zugleich ist damit aber die<br />

Gruppe derjenigen, die auf Rindfleisch ganz bzw. teilweise verzichteten, größer als im<br />

Sommer 1996 bei Meldung der Übertragungsgefahr auf den Menschen und gleichzeitiger<br />

Verortung des BSE-Problems als rein britisches. Damals gaben 15 %der Befragten an,<br />

kein Rindfleisch mehr zu essen. 38 %aßen ihren Angaben zufolge weniger Rindfleisch<br />

und 41 %veränderten ihre Essgewohnheiten bezogen auf Rindfleisch nicht. Noch konkre-<br />

Buel_3_11.indb 481 17.11.2011 08:13:28


482 Axel Philipps<br />

Tabelle 1. <strong>Ernährung</strong>sgewohnheiten in der BSE-Krise (Angaben in %)<br />

Bevölkerung insgesamt<br />

Juli 1996 Januar 2001<br />

Esse kein Rindfleisch mehr 15 32<br />

Esse weniger Rindfleisch 38 35<br />

Hat sich nichts geändert 41 25<br />

Esse grundsätzlich kein Rindfleisch 5 4<br />

Esse vegetarisch - 3<br />

andere Antwort, keine Angabe 1 1<br />

Quelle: 49, S. 272; eigene Darstellung<br />

ter werden KafKa und vOn alvensleben (31) in ihrer Studie zu Verbraucherverunsicherung.<br />

In den Befragungen zur Verunsicherung bei Nahrungsmitteln 1988, 1994 und 1997<br />

kommen sie zu folgenden Ergebnissen: Erstens wäre zwischen diesen Zeitpunkten ein<br />

Rückgang der Verunsicherung festzustellen und zweitens konnte ein Zusammenhang zwischen<br />

der abnehmenden Häufigkeit des Fleischkonsums und der Zunahme an Unsicherheit<br />

nicht bestätigt werden. Sie gehen daher, zumindest <strong>für</strong> die 1990er–Jahre, von einer eher<br />

geringen Bedeutung der Verunsicherung auf den Fleischkonsum in der BSE-Krise aus.<br />

Generell zeigen die Zahlen deutlich, dass der Verzicht auf Rindfleisch mit einer möglichen<br />

Gefährdung in unmittelbare Nähe (1996: britisches Problem, 2000: auch in Deutschland)<br />

zunahm. Ungeachtet dessen decken sich die Zahlen der Verunsicherten nicht mit<br />

dem Anteil derjenigen, die zeitweise oder auf Dauer verzichteten. Aus der Verunsicherung<br />

der Verbraucher ergibt sich also nicht zwangsläufig eine nachhaltige und grundlegende<br />

Verhaltensveränderung.<br />

Wie steht es dann mit einem zumindest gesteigerten Problembewusstsein der Bevölkerung?<br />

hagenhOff hatte ebenfalls den Einfluss der <strong>Berichte</strong>rstattung <strong>über</strong> BSE auf das<br />

Problembewusstsein der Bevölkerung untersucht. Sie vermutete einen Zusammenhang<br />

zwischen einer Sensibilisierung und dem Gefühl der Betroffenheit, welches die Massenmedien<br />

erzeugen. Demnach würde das Problembewusstsein der Laien durch Dramatisierungen,<br />

Emotionalisierungen, Diskreditierungen aus polarisierenden Einschätzungen<br />

und dem Zurückhalten widersprüchlicher Informationen geweckt. Aus ihrem Vergleich<br />

der Medienberichterstattung und der Bevölkerungsmeinung schlussfolgert sie schließlich,<br />

„dass das Problembewusstsein der Bevölkerung <strong>über</strong> BSE immer dann besonders hoch<br />

war, wenn die Printmedien-<strong>Berichte</strong>rstattung sehr intensiv ausgefallen ist“ (24, S. 210).<br />

Ein gesteigertes Problembewusstsein muss jedoch kein allgemein erhöhtes, aktives<br />

Informationsverhalten bedeuten. Zu diesem Ergebnis kommt meyer-hullmann (46) in<br />

ihrer Untersuchung des Informationsverhaltens der Konsumenten zwischen 1993 und<br />

1995. Trotz der Angst vor gesundheitlichem Schaden durch erkrankte Rinder, einer ausführlichen<br />

Darstellung der Ereignisse um BSE in der Tagespresse und einer hohen Nutzung<br />

der Massenmedien stellt sie in ihrer Studie fest, dass ein „Mangel an Informiertheit“<br />

bei den Verbrauchern zu beobachten sei. Allein die anteilsmäßig kleine Gruppe der<br />

„<strong>Ernährung</strong>sbewussten“ zeichnete sich durch eine gesteigerte, aktive Informationssuche<br />

aus. Der weit größere Teil der Befragten teilte dagegen ein eher passives Informationsverhalten<br />

und geringe Kenntnisse zu BSE.<br />

Weiteren Aufschluss <strong>über</strong> das Verbraucherverhalten geben ebenfalls Untersuchungen<br />

zu Kaufentscheidungen bei Lebensmittelskandalen. Einerseits verweisen Studien zur<br />

Reaktion auf die Gefährdung durch BSE auf eine allgemeine Tendenz zur Präferenz <strong>für</strong><br />

Buel_3_11.indb 482 17.11.2011 08:13:28


Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />

483<br />

die Lokalität bei den Konsumenten. Die „garantierte Herkunft“ sowie der Einzelfachhandel<br />

wurden inverschiedenen europäischen Ländern verstärkt als Einkaufskriterium <strong>für</strong><br />

Frischfleisch angeführt [z. B. <strong>für</strong> Schweden (36), <strong>für</strong> Schottland (44) und <strong>für</strong> Deutschland<br />

(54)]. Andererseits können Realeinkommen, Verbraucherpreise <strong>für</strong> Rindfleisch und <strong>für</strong><br />

Substitutionsgüter das Kaufverhalten nur unzureichend erklären (vgl. 17; 28).<br />

Qualitative Studien haben schließlich verstärkt typische Konsummuster und Kontextzusammenhänge<br />

bei der Bewältigung der BSE-Krise in Deutschland (2; 10) und Großbritannien<br />

(12) untersucht. Ziel der Studien war jeweils, bestimmte Ess- bzw. Konsumgewohnheiten<br />

bei unterschiedlichen Verbrauchergruppen (regionale bzw. milieuspezifische<br />

Differenzen) zu rekonstruieren. Bei keiner dieser Studien stand eine systematische<br />

Rekonstruktion der Umgangsweisen im Vordergrund, sondern diese war ein Teilaspekt<br />

anderer Forschungsfragen oder nachträglich an das Material gerichtet. Dennoch haben die<br />

Untersuchungen verschiedene Umgangs- und Sichtweisen identifiziert. Diese reichen von<br />

reinen Verzichtleistungen <strong>über</strong> Abwanderungen zu Substitutionsgütern und Vertrauen in<br />

regionale oder ökologisch erzeugte Produkte bis zu kritischen Distanzierungen von den<br />

Medienberichterstattungen <strong>über</strong> Lebensmittelskandale. Weiterhin deuten sich im Rahmen<br />

dieser Studien Beziehungen zwischen bestimmten Haltungen und Umgangsweisen an.<br />

Beispielsweise wird auf Relationen zwischen erhöhter Aufmerksamkeit <strong>für</strong> Lebensmittelskandale<br />

und alternativen Konsumverhalten oder negativen Einstellungen gegen<strong>über</strong><br />

der konventionellen <strong>Landwirtschaft</strong> hingewiesen (vgl. 31). Solche Beziehungen legen<br />

nahe, dass unterschiedliche soziale Gruppen verschiedene Umgangsweisen mit Lebensmittelskandalen<br />

hervorbringen.<br />

In der BSE-Krise haben die Verbraucher also durchaus Kenntnis von dem berichteten<br />

Ereignis inden Massenmedien genommen. Sie haben sich aber nicht zwingend eingehender<br />

mit dem BSE-Phänomen beschäftigt. Zugleich stehen die Häufigkeiten der <strong>Berichte</strong>rstattung<br />

<strong>über</strong> die BSE-Krise in einem engen Zusammenhang mit den Einbrüchen der<br />

Rind-, Kalbsfleisch-, Wurst- und Wurstwarennachfrage. Wie lässt sich daher das Verbraucherverhaltenverstehen?<br />

Bei der BSE-Krise haben die hervorgerufenen Verunsicherungen<br />

weder bei allen verunsicherten Verbrauchern zu einem Verzicht auf Rindfleisch geführt,<br />

noch haben die Verzichterklärungen lange vorgehalten. Aufschlussreich dürfte daher die<br />

Betrachtung von alltäglichen Deutungen der Verbraucher sein und mit welchen Strategien<br />

und Praktiken sie auf Lebensmittelskandale reagieren.<br />

Zentrale Ergebnisse der Verbraucherforschung<br />

Skandale im Lebensmittelbereich lösen unterschiedliche Reaktionen bei den Verbrauchern<br />

aus: dauerhafter, zeitweiliger oder gar kein Verzicht von skandalisierten<br />

Lebensmitteln.<br />

Die Relevanz solcher Skandale hängt <strong>für</strong> die Verbraucher von verschiedenen Faktoren<br />

ab: von der räumlichen Nähe, der räumlichen Ausdehnung von Missständen, der Härte<br />

politischer Maßnahmen, der Aufbereitungsweise in den Massenmedien sowie den<br />

Konsumpräferenzen und Wertdispositionen der Verbraucher.<br />

Eine vermehrte <strong>Berichte</strong>rstattung während eines Lebensmittelskandals hat einen<br />

negativen Einfluss auf die Verbrauchernachfrage des skandalisierten Lebensmittels. Es<br />

besteht jedoch kein Zusammenhang zwischen dem Grad von Verbraucherverunsicherung<br />

und der Art des Verbraucherverhaltens.<br />

Eine intensive Printmedien-<strong>Berichte</strong>rstattung <strong>über</strong> einen Lebensmittelskandal erhöht<br />

das Problembewusstsein der Bevölkerung. Die erhöhte Sensibilisierung löst aber keine<br />

gesteigerte, aktive Informationssuche bei allen Verbrauchern aus.<br />

Buel_3_11.indb 483 17.11.2011 08:13:28


484 Axel Philipps<br />

4 Verbraucherverhalten verstehen<br />

Um das Verbraucherverhalten im Gegensatz zu objektiv kausalen Erklärungsmodellen<br />

(Einfluss von Preisen, Einkommen etc.) verstehend zu erklären, sind die subjektiven<br />

Sinnzusammenhänge der Handelnden zu rekonstruieren (67, S. 4). Im Anschluss an die<br />

Wissenssoziologie agieren und handeln die Individuen intersubjektiv miteinander in einer<br />

gemeinsam geteilten Sinnwelt (vgl. 6; 57; 58). Diese ausgezeichnete Wirklichkeit ist die<br />

Alltagssphäre. Sie zeichnet sich gegen<strong>über</strong> anderen Sinnsphären (Kunst, Wissenschaft,<br />

Religion etc.) dadurch aus, dass sie <strong>für</strong> jedermann selbstverständlich, fraglos und bis auf<br />

Weiteres unproblematisch ist. „Sie ist die Welt der vertrauten Themen, der vertrauten<br />

Auslegungen und sogar meine Motivsysteme, die mein Handeln beherrschen, sind habituelle<br />

Besitze von früheren Erfahrungen und bisher erfüllten Erwartungen.“ (57, S. 184 f.).<br />

Die Alltagswelt bildet dabei die grundlegende Sphäre, in der die Menschen mit anderen<br />

Menschen leben und agieren. Im Alltag agieren heißt, Routinetätigkeiten auszuführen. Im<br />

Alltag wenden wir erprobte Handlungsrezepte in vertrauten Situationen und <strong>für</strong> bekannte<br />

Probleme an. Der Grund <strong>für</strong> das vertraute Agieren im Alltag liegt darin, dass frühere<br />

Erfahrungen als erworbenes Wissen <strong>über</strong> typische Merkmale einer Situation oder eines<br />

Gegenstandes in einem Wissensvorrat abgelegt sind. Vertrautheit erwächst dann aus der<br />

Möglichkeit, neue Erfahrungen hinsichtlichihrer typischen Aspekte auf den bereits erworbenen<br />

Wissensvorrat zu beziehen (vgl. 58, S. 25).<br />

Erst wenn die Erwartungen im routinierten Alltagsvollzug von etwas Unvertrautem<br />

durchkreuzt werden, wird uns ein Aufmerksamkeitswechsel auferlegt. Wir müssen uns<br />

dem Problem zuwenden, um uns Gewissheit im Sinne von Vertrautheit zu verschaffen.<br />

Wie und in welchem Ausmaß das Problem aber relevant ist, hängt von dem biografisch<br />

geprägten und abgelegten Wissens- und Erfahrungsvorrat ab. Individuen können daher<br />

ein Ereignis unterschiedlich erleben. Für den einen erwächst daraus kein Problem –er<br />

steht der Situation indifferent gegen<strong>über</strong> und seine Alltagsroutine bleibt unverändert. Für<br />

jemand anderen mag diese Situation ungewohnt erscheinen und wird daher zum Auslöser,<br />

das Ereignisneu auszulegen und die neuartige Erfahrung im Wissensvorrat einzubetten. In<br />

der neuartigen Situation sucht der Verunsicherte nach Ähnlichkeiten mit früheren Erfahrungen,<br />

um auf diesem Wege die Situation einzuordnen und typische Problemlösungen <strong>für</strong><br />

ähnliche Situationen zu aktivieren (57, S. 65; 58, S. 137 ff.). 4)<br />

In diesem Sinne bedeutet der Normbruch im Skandal <strong>für</strong> manche Verbraucher eine<br />

Infragestellung der Erwartungshorizonte an ein Geschehnis. Er steht vor der Frage: „Wie<br />

ist die Situation zu verstehen und wie ist damit umzugehen?“ Die Erwartungen werden<br />

erschüttert und nötigen zueiner Neudefinition der Situation. Diese Neudefinition kann<br />

Zeit in Anspruch nehmen, wenn man die Geschehnisse nicht gleich im Lichte früherer<br />

Erfahrungen deuten und einordnen kann (2, S. 38).<br />

Frühere Skandale können zum Beispiel helfen, neue Skandale einzuordnen und<br />

bestimmte Verhaltensweisen zu aktivieren. In diesem Sinne sind dann Skandale in der Vergangenheit<br />

Schablonen <strong>für</strong> die Bewältigung der gegenwärtigen Situation (35). Der Rückgriffauf<br />

solche Schablonen eröffnet aber in aller Regel keinen Spielraum <strong>für</strong> Reflexionen,<br />

sondern ermöglicht vor allem die Verknüpfung mit anderen Ereignissen. Der Umgang mit<br />

dem neuen Skandal wird durch die Vereinfachung, Verzerrung sowie Verringerung alternativer<br />

Deutungsweisen vielmehr erleichtert.<br />

Um das Verbraucherhandeln bei Lebensmittelskandalen zu verstehen, werden alltägliche<br />

Situationsauslegungen von Skandalereignissen rekonstruiert. Insbesondere bei Verbrauchern,<br />

deren routinierte Handlungen durch Lebensmittelskandale durchkreuzt wurden,<br />

wäre zu erwarten, dass solche Ereignisse zu einem Aufmerksamkeitswechsel und<br />

einer Auseinandersetzung mit der Situation führen. Im Unterschied zur Indifferenz gegen-<br />

Buel_3_11.indb 484 17.11.2011 08:13:28


Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />

485<br />

<strong>über</strong> einer Situation bedeutet ein Aufmerksamkeitswechsel, dass die jeweilige Situation<br />

vom Individuum vor dem Hintergrund früherer Erfahrungen gedeutet und eingeordnet<br />

wird. Bei veränderten Situationsdeutungen eröffnen sich schließlich sogar alternative<br />

Handlungsoptionen bzw. andere werden unwahrscheinlicher. Weiterhin lassen milieuspezifische<br />

Erfahrungen und Ressourcen erwarten, dass diese einen Einfluss auf die Situationsauslegungen<br />

und damit auf den Umgang mit Lebensmittelskandalen haben.<br />

5 Deutungsmuster der Verbraucher<br />

Die Rekonstruktion von Situationsauslegungen der Verbraucher im Kontext von Lebensmittelskandalen<br />

beruht auf 50 Leitfadeninterviews, die der Autor in einem Zeitraum von<br />

Februar 2004 bis April 2005 an verschiedenen Orten in Deutschland durchführte. Die<br />

Auswahl der Interviewpersonen war von der Annahme geleitet, dass verschiedene soziale<br />

Milieus unterschiedliche Alltagsroutinen und damit differierende Orientierungen und<br />

Handlungsoptionen hervorbringen (vgl. 9; 66). Dazu wurden Gesprächspersonen einerseits<br />

in stark kontrastierenden sozialen Milieus und andererseits <strong>für</strong> minimale Kontrastierungen<br />

innerhalb der gleichen Milieus gesucht. Sobald ein Zugang zu einem sozialen Milieu hergestellt<br />

werden konnte, wurden die Interviews <strong>über</strong> das Schneeballverfahren rekrutiert.<br />

Eine weitere Differenzierung der Interviewauswahl erfolgte entlang der Unterscheidung<br />

Ost- und Westdeutschland, da aufgrund historisch bedingter Verhältnisse unterschiedliche<br />

Ausrichtungen der Milieuverteilungen zuerwarten waren. Für Westdeutschland wurden<br />

Personen aus folgenden Milieus interviewt: das postmoderne Milieu, das konservativtechnokratische<br />

Milieu, das unangepasste traditionslose Arbeitnehmermilieu und das<br />

statusorientierte traditionslose Arbeitnehmermilieu (vgl. 66). Die Verteilung der sozialen<br />

Milieus in Westdeutschland unterscheidet sich von Ostdeutschland. Dort entsprechenjene<br />

Milieus dem links-intellektuell-alternativen Milieu, das DDR-verwurzelte Milieu sowie<br />

das undifferenzierte traditionslose Arbeitnehmermilieu. Eine kontrastierende Differenzierung<br />

in den unteren Milieus ergibt sich erst auf der untersten Ebene der „respektablen“<br />

Volksmilieus: das hedonistische Milieu und das kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu<br />

(vgl. 65). 5)<br />

Die qualitativen Interviews wurden leitfadengestützt durchgeführt. Dies gestattet eine<br />

fokussierte Thematisierung relevanterFragestellungen und lässt zugleich den interviewten<br />

Personendie Möglichkeit,ihre Sichtweisen und Darstellungen eigenständig zu strukturieren<br />

(vgl. 20; 38; 45). In den Gesprächen wurden die Interviewten gebeten, ihre Erfahrungen<br />

und Erlebnisse mit Lebensmittelskandalen zu schildern. Wiesie Lebensmittelskandale<br />

erlebt haben und was sie mit den jeweiligen Ereignissen verbinden. Den befragten Personen<br />

wurden keine Skandale vorgegeben, sodass sie sich auf jene beziehen konnten, die<br />

auch eine Resonanz bei ihnen ausgelöst haben und in Erinnerung geblieben sind. Aus den<br />

individuellen Schilderungen der erlebten Situationen hinsichtlich der Lebensmittelskandale<br />

wurden in der Auswertung die individuellen Deutungen der Ereignisse rekonstruiert.<br />

Aus den Situationsauslegungen lassen sich Handlungsoptionen ableiten und in einen Sinnzusammenhang<br />

mit den beschriebenen Verhaltensweisen bringen.<br />

Die Audioaufzeichnungen wurden protokolliert und teilweise transkribiert. Bei besonders<br />

anschaulichen und aufschlussreichen Fällen erfolgte eine vollständige Transkription<br />

(n =29). Das dadurch gewonnene Interviewmaterial wurde anschließend in thematisch<br />

untergliederten Dossiers verdichtet, d. h. die Interviewaussagen wurden paraphrasiert und<br />

mit Belegzitaten gestützt. Die Dossiers bildeten die Grundlage<strong>für</strong> den Auswertungsschritt<br />

Rekonstruktion distinkter Deutungsmuster (vgl. 27; 33). Die Typenbildung basierte auf<br />

jenen Kategorien, die die individuellen Einordnungen der Ereignisse, die angeführten<br />

Gegenbilder und die genannten Reaktionen umfassen. Die anderen thematischen Kate-<br />

Buel_3_11.indb 485 17.11.2011 08:13:28


486 Axel Philipps<br />

gorien wie Informationsverhalten, Medienwahrnehmung, Aufforderungen an andere,<br />

Essgewohnheiten, richtige Mahlzeit und soziokultureller Kontext wurden nachgeordnet<br />

einbezogen.<br />

Innerhalb des Interviewmaterials ist auffällig, dass mit der Frage nach Lebensmittelskandalen<br />

die Befragten Skandale in einer unterschiedlichen Bandbreite nennen. Die<br />

BSE-Krise ist immer noch vor allen anderen in Erinnerung. Zumeist wird der BSE-Skandal<br />

von den Befragten als Erstes genannt oder sie stellen dessen Besonderheit wie folgt<br />

heraus: „BSE war ja auch ein großer Skandal“, „der große zentrale Hammer“ oder BSE<br />

war „wirklich der größte Skandal“. Insbesondere die medial vermittelten Bilder von Massenschlachtungen<br />

sind in konkreter Erinnerung geblieben (40, S. 98; 46, S. 102). Zugleich<br />

macht das Ergebnis deutlich, dass sie ebenso negative Meldungen <strong>über</strong> die Maul- und<br />

Klauenseuche (MKS) oder die Vogelgrippe zu den Lebensmittelskandalen zählen, die<br />

streng genommen gar keine Lebensmittelskandale waren, da sie auf keine moralischen<br />

Verfehlungen zurückgehen. Diese Nennungen gehen möglicherweise auf zwei Gründe<br />

zurück. Entweder drückt sich in diesen Nennungen von MKS oder Vogelgrippe die Zuversicht<br />

aus, dass solche Phänomene kontrollierbar wären und es daher eine institutionelle<br />

Verantwortlichkeit da<strong>für</strong> geben muss. Oder,diese Ereignisse haben sich in das Gedächtnis<br />

eingegraben, weil sie mit Horror-Etiketten, in Katastrophen-Collagen oder mittels optischer<br />

Übertreibungen medial skandalisiert wurden (34, S. 36 f.).<br />

Die Interviewten haben also zumindest von Lebensmittelskandalen gehört und können<br />

sich daran erinnern. Manche dieser Skandale liegen bereits zeitlichweit zurück (z. B. Glykol<br />

in Wein, Maschinenöl in Speiseöl), sodass nur ein kleiner Teil der Befragten sich darauf<br />

bezieht, während andere Skandale, insbesondere der jüngeren Zeit, vermehrt genannt<br />

werden und teilweise den Alltag und die Essgewohnheiten der Interviewtendurchkreuzten.<br />

Im Folgenden werden sechs Deutungsmuster im Zusammenhang mit Lebensmittelskandalen<br />

beschrieben. Die Situationsauslegungen wurden aus den Interviews rekonstruiert.<br />

Die Interviews fanden im aller Regel nicht zeitgleich mit einem Lebensmittelskandal<br />

statt. In der Folge beziehen sich die Interviewaussagen reflexiv auf bereits zurückliegende<br />

Ereignisse.<br />

5.1 Indifferent bleiben<br />

Ungeachtet vom Auftreten und der Kenntnis von Lebensmittelskandalen wird nicht jedem<br />

Skandaldie gleiche Aufmerksamkeit zuteil. In manchen Fällen schenken Verbraucher solchen<br />

Ereignissen in ihrem Alltag keine Beachtung. Sie bleiben gegen<strong>über</strong> den negativen<br />

Meldungen und <strong>Berichte</strong>n indifferent. Aus dem Rückblick dieser Verbrauchergruppe haben<br />

die Skandale nach eigener Aussage keine Verunsicherungen ausgelöst, da bestimmte Speisen<br />

oder Versorgungsprobleme generell nicht zur Alltagsroutine gehören. Die BSE-Krise<br />

löste beispielsweise bei jüngeren Konsumenten keinen Aufmerksamkeitswechsel aus, da<br />

andere (Familie, Gemeinschaftsverpflegung) <strong>für</strong> ihre Versorgung zuständig waren oder<br />

sind.<br />

Ich habe mich persönlich bis jetzt relativ wenig damit auseinandergesetzt, weil<br />

ich es einfach so hingenommen hab […] als jetzt BSE war [...] da war ich ja<br />

noch ein ganzes Eck jünger und da hat die Mutter sowieso noch viel mehr<br />

bestimmt, was es zu Essen gibt [...] da wurde dann schon so von der Familie<br />

aus, dadurch, dass die Mutter das plant, Rindfleisch ein bisschen gemieden<br />

(Herr pOhl, Berufsschüler). 6)<br />

Die BSE-Krise hatte die Alltagsroutine dieser Gruppe von Befragten nicht erschüttert.<br />

Zwar registrieren sie solche Ereignisse, diese führen aber nicht dazu, dass man die Aufmerksamkeit<br />

darauf richtet, die Situation im Alltagskontext auslegt und Handlungsoptionen<br />

gegeneinander abwiegt.<br />

Buel_3_11.indb 486 17.11.2011 08:13:28


Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />

5.2 Regionale Produkte kaufen<br />

487<br />

In Deutschland blieb der Konsum von Rindfleisch während der BSE-Krise konstant,<br />

sobald das Fleisch aus einer gesicherten Region kam. In dieser Situationsauslegung gelten<br />

die Produkte und Menschen der unmittelbaren Region als „sicher“. Die Zuversicht in<br />

die Produkte der näheren Umgebung ist zugleich mit einer Skepsis und Abwertung der<br />

Fremde oder des Auslands gekoppelt, wobei das Gegensatzpaar Region und Fremde vor<br />

allem zwischen Transparenz und Undurchsichtigkeit unterscheidet. Mit einer größeren<br />

räumlichen Nähe scheinen dagegen die Zuversicht und das Vertrauen zu wachsen. Die<br />

Auslegung dürfte mit der Hoffnung des Individuums zusammenhängen, dass man die<br />

Möglichkeit einer persönlichen Situationskontrollevor Ort habe. Natürlich gibt es Gegenbeispiele,<br />

welche die Befragten kennen. Es kommt jedoch nicht nur auf dieses räumliche<br />

Verhältnis an, ebenso muss man die Identifikation und Sympathie mit der Region sowie<br />

das „Elefantengedächtnis“ (19, S. 223) sedimentierter Erfahrungen gegen<strong>über</strong> einer sich<br />

schnell verändernden Welt einbeziehen. So vertraut eine Gesprächsperson auf die Produkte<br />

und Menschen aus ihrer Region, weil „da weiß ich wo sie her sind –mehr oder<br />

weniger, ich bin eigentlich bis jetzt gut (damit) gefahren“ (Frau Ott, Rentnerin). Eine<br />

andere Gesprächsperson sagt aus:<br />

Na, wie gesagt, wenn es aus der heimischen Produktion kommt, dann weiß<br />

ich, das ist von hier, das ist hier aufgewachsen, gefüttert worden oder ist hier<br />

geerntet worden. Dann sage ich, kann ich (davon) ausgehen, dass es sicher ist,<br />

sage ich es mal so. Ich meine, hundertprozentig wahrscheinlich auch nicht, aber<br />

zumindest hat man ein anderes Gefühl, als wenn es von außerhalb kommt (Herr<br />

lehmann, Polier auf einer Baustelle).<br />

Die Region erhält also einen Vertrauensvorschuss, welcher auch bei Gegensätzlichem<br />

aufrecht erhalten wird, da Unsicheres mit dem Fremden und Sicheres mit dem Vertrauten<br />

–die unmittelbare Region –verbunden wird. Mit der Kaufentscheidung <strong>für</strong> Produkte aus<br />

der Region lässt sich somit die gewohnte Alltagsroutine aufrecht erhalten.<br />

5.3 Alternative Produkte konsumieren<br />

Für eine andere Gruppe von Verbrauchern bestätigen und bestärken Lebensmittelskandale<br />

die Sichtweise, dass solche Phänomene eng mit der systematischen Entfremdung der konventionell<br />

produzierenden <strong>Landwirtschaft</strong> und <strong>Ernährung</strong>sindustrie von den »natürlichen«<br />

Kreisläufen und Prozessen zusammenhängen. Gesunde und unproblematische Lebensmittel<br />

könnten im Gegensatz nur erzeugt werden, wenn sich die Produktionsweise an den<br />

„natürlichen“ Verhältnissen orientiere.<br />

Einen solchen Zusammenhang zwischen der konventionell produzierenden <strong>Landwirtschaft</strong><br />

und Lebensmittelskandalen beschreibt beispielsweise Frau heiner in ihrem Interview<br />

wie folgt:<br />

Na, völlig ungesunde Bedingungen eigentlich indieser Tierhaltung, da stimmt<br />

ja irgendwie was nicht. […] Na, ungesund ist <strong>für</strong> mich aus dem Gleichgewicht.<br />

Völlig aus dem Gleichgewicht […] diese Massentierhaltungen, was die <strong>für</strong> Futter<br />

kriegen, in was <strong>für</strong> Zeiten die schlachtreif sein müssen, dies ist völlig aus<br />

dem natürlichen Rhythmus (Frau heiner, erwerbslos).<br />

Dementsprechend konsumieren Verbraucher mit dieser Sichtweise bewusst frische, unbehandelte<br />

bzw. inihrem Verständnis natürliche Waren („Frisches, was auch wirklich so<br />

wächst“). Da diese Personengruppe Lebensmittelskandale zumeist als Folge der konventionellen<br />

<strong>Landwirtschaft</strong> beobachtet, bieten Lebensmittel aus alternativen Erzeugungsprozessen<br />

aus ihrer Sicht eine gewisse Distanz zu der mutmaßlichen Gefahrenquelle. Wenn<br />

man bis dahin noch teilweise konventionell erzeugte Produkte erworben hat, fühlt man<br />

Buel_3_11.indb 487 17.11.2011 08:13:28


488 Axel Philipps<br />

sich schließlich mit der Abwanderung zu alternativerzeugten Lebensmitteln auf der sicheren<br />

Seite.<br />

5.4 Vertrauen in institutionelle Kontrollen<br />

In einem anderen Kontext ist eine Umstellung der zu konsumierenden Lebensmittel nicht<br />

nötig, daaus Sicht der Befragten ein Skandal bereits den Nachweis liefert, dass jemand<br />

kontrolliert und damit dem Problem nachgeht. Zwar mögen die Erzeuger und Händler<br />

durch ihre Gewinnorientierung Fehlverhalten und Abweichungen verursachen; die relevanten<br />

Institutionen, Einrichtungen oder Behörden zur Kontrolle erweisen aber gerade<br />

dadurch ihreHandlungsfähigkeit,dasssie solcheMissstände aufzeigen undandie Öffentlichkeit<br />

bringen.<br />

Ja, man muss sich einfach wirklich drauf verlassen, dass das schon in Ordnung<br />

geht und jemand das kontrolliert und dass die Firmen, die das herstellen, auch<br />

daran interessiert sind, saubere und ordentliche Produktezuliefern, weil, das in<br />

ihrem Interesse ist, […] weil <strong>für</strong> mich auch solche Geschichten immer deutlich<br />

machen, dass jemand da ist, der das kontrolliert. Weil sonst, ja, wenn so was<br />

entdeckt wird, dann hat ja jemand vorher nachgekuckt. Das finde ich dann auch<br />

schon ein beruhigendes Gefühl (Herr faber, Student).<br />

So vermitteln unternehmerisches Eigeninteresse und durchgeführte Kontrollen <strong>für</strong> diese<br />

Befragten die Gewissheit, dass mit den Skandalen im Lebensmittelbereich eine Ursachenbekämpfung<br />

einsetzt und Sorgen ausgeblendet werden können. Solange also dieses Vertrauen<br />

in die staatliche, wissenschaftliche oder technische Beherrschbarkeit des Problems<br />

besteht, werden Lebensmittelskandale kaum wahrgenommen und haben keinen Einfluss<br />

auf die Handlungen und <strong>Ernährung</strong>sgewohnheiten der Verbraucher.<br />

5.5 Expertenwissen beschaffen<br />

Für eine andere Gruppe ist die Deutung von Lebensmittelskandalen nicht so unvermittelt<br />

klar.Sie suchen Experten als unabhängige Autoritäten auf, um sich an deren Situationsauslegung<br />

zu orientieren. Man sichert sich also die eigenen Handlungen durch bereitgestellte<br />

Risikoeinschätzungen ab. Zu dieser Kategorie von Experten zählen vor allem Ärzte und<br />

Naturwissenschaftler.<br />

Informieren. Nicht alles glauben, was in der Zeitung steht. Das ist vielleicht<br />

die wichtigste Message, die man da geben kann. Und am besten natürlich mit<br />

Leuten, die sich auch ein bisschen auskennen, wobei wir es ja nicht so schwer<br />

haben, da im medizinischen Bereich. Wirhaben <strong>Ernährung</strong>swissenschaftler hier<br />

<strong>über</strong>all und die, das denke ich schon, dass die einem kompetente Informationen<br />

geben. (Herr thOm, Psychotherapeut).<br />

Insofern kann sich die Umgangsweise mit einem Lebensmittelskandal vor und nach der<br />

Konsultation eines Experten unterscheiden. Ein kurzfristiger Verzicht kann durch eine<br />

andere Reaktion abgelöst werden, sobald eine „sachkundige“ Situationseinschätzung vorliegt.<br />

5.6 Selektiver Verzicht als Reaktion auf die mediale <strong>Berichte</strong>rstattung<br />

Andere sind durch die Nachrichten und Bilder <strong>über</strong> Lebensmittelskandale sensibilisiert<br />

und beunruhigt. Die Verunsicherung führt jedoch nicht dazu, dass sie sich mit möglichen<br />

Zusammenhängen eingehender beschäftigen oder die eigenen <strong>Ernährung</strong>sgewohnheiten<br />

nachhaltig ändern. Vielmehr stellt der Verzicht auf ein skandalisiertes Lebensmittel <strong>für</strong><br />

die Befragten keine große Einschränkung dar, weil die Nahrungsaufnahme nur zum<br />

Buel_3_11.indb 488 17.11.2011 08:13:28


Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />

489<br />

Erhalt derArbeits- und Lebenskraft dient. Eswerden also keine bestimmten Präferenzen<br />

oder Vorstellungen (z. B. gesundes, unbehandeltes oder lokal verankertes Essen) durchkreuzt,<br />

wenn man den möglichen Konsequenzen aus einem Lebensmittelskandal durch<br />

Ausweichen auf andere Lebensmittel begegnet. Letztendlich verblassen die Beunruhigung<br />

und die damit verbundene Verzichtleistung, sobald der Skandal aus den Massenmedien<br />

verschwindet, weil es kein weiterführendes Interesse an dem Thema gibt.<br />

Was einem natürlich immer einfällt ist diese konjunkturelle Sache, dass sich<br />

ja möglicherweise objektiv wenig verändert hat, aber es trotzdem nicht mehr<br />

medial diskutiert wird. Was auch bei mir Wirkungen hat. Also wenn es nicht<br />

mehr diskutiert wird, ist es auch erst mal <strong>für</strong> mich irgendwie weg vom Fenster.<br />

Also ich denke jetzt nicht an das Ozonloch, obwohl es noch da ist (Herr tamme,<br />

Doktorand).<br />

6 Diskussion der Ergebnisse<br />

Bei den verschiedenen Deutungsmustern haben Lebensmittelskandale auf unterschiedliche<br />

Art und Weise Irritationen ausgelöst. Diejenigen, die bei solchen Skandalen indifferent<br />

blieben, nahmen zwar die Ereignisse wahr, legten sie aber nicht mit früheren Erfahrungen<br />

aus. Es kam also zu keinem Aufmerksamkeitswechsel. In den anderen Fällen lösten<br />

Skandalmeldungen <strong>über</strong> Lebensmittel Irritationen im Alltag aus. In diesen Fällen setzten<br />

die Befragten Lebensmittelskandale in der einen oder anderen Form in einen Kontext mit<br />

früheren Erfahrungen und damit verbundenen Erwartungen. In der Folge haben sie sich<br />

mal mehr oder mal weniger eingehend mit der Situation beschäftigt und Handlungsoptionen<br />

bewusst ineinen Situationszusammenhang gebracht.<br />

Die Deutungsmuster derjenigen, die sich irritieren ließen und sich um eine Auslegung<br />

der Skandalsituation bemühten, unterscheiden sich weiterhin hinsichtlich ihrer reflektierten<br />

Handlungsoptionen.Demnach sind in einem Teil der Situationsauslegung Möglichkeiten<br />

einer individuellen Einflussnahme angelegt und im anderen nicht.<br />

Insbesondere die Auslegungen von Lebensmittelskandalen, die diese als Folgen der<br />

konventionellen <strong>Landwirtschaft</strong> und aufgrund räumlicher Ferne einordnen, eröffnen Optionen<br />

der individuellen Einflussnahme. ImRahmen dieser Deutungen lassen sich solche<br />

Skandale durch Handlungsoptionen begegnen, die das Gegenteil bedeuten: Produkte<br />

einer alternativen landwirtschaftlichen Erzeugungsweise (z. B. ökologischer Landbau)<br />

oder aus der Region konsumieren. Die Einzelnen können somit im Rahmen von Kaufentscheidungen<br />

individuell zwischen verschiedenen Produkten wählen. Ebenso verschaffen<br />

sich diejenigen Voraussetzungen <strong>für</strong> individuell kontrollierbare Handlungsoptionen, die<br />

Experten konsultieren. Auf Basis des Expertenwissens lassen sich Ereignisse, wie Lebensmittelskandale,<br />

individuell danach beurteilen, welches Verhalten riskant ist und welches<br />

nicht.<br />

Im Fall von Situationsauslegungen, die sich bei Lebensmittelskandalen an der <strong>Berichte</strong>rstattung<br />

orientieren oder auf die institutionellen Kontrollmechanismen vertrauen, bleiben<br />

die Handlungsoptionen außerhalb der individuellen Einflussnahme. Die Einzelnen<br />

können auf solche Skandale nur reagieren, indem sie sich an den Gegebenheiten orientieren.<br />

Ihre Verhaltensmöglichkeiten hängen von den Handlungen anderer (z. B. Staat,<br />

Unternehmen, Massenmedien) ab.<br />

Die Möglichkeiten, auf einen Lebensmittelskandal individuell Einfluss nehmen zu<br />

können oder nicht, wirken sich auf das Beschaffen von Informationen aus. Im Fall von<br />

individuell kontrollierbaren Handlungsoptionen (alternative bzw. regionale Produkte<br />

konsumieren, Experten konsultieren) sichern weitere Informationen die Entscheidungsmöglichkeiten<br />

ab. Beispielsweise lassen sich die gewählten Handlungsoptionen durch<br />

Buel_3_11.indb 489 17.11.2011 08:13:28


490 Axel Philipps<br />

Hintergrundinformationen prüfen und bestätigen. Eröffnen Situationsauslegungen jedoch<br />

keine individuellen Einflussoptionen (z. B. bei Orientierung an der <strong>Berichte</strong>rstattung oder<br />

Vertrauen in institutionelle Kontrollmechanismen), sondern machen die Handlungsmöglichkeiten<br />

von externen Gegebenheiten abhängig, sind weiterführenden Informationen<br />

<strong>für</strong> die Handlungsausrichtung nicht relevant. Für die individuelle Reaktion ist nur von<br />

Bedeutung, ob der Lebensmittelskandal (noch) ein Thema in der medialen Öffentlichkeit<br />

(Printmedien, Fernsehen, Radio) ist oder nicht.<br />

Diese Beobachtungen lassen sich auf die Erkenntnisse <strong>über</strong> das Verhalten von Verbrauchern<br />

bei Lebensmittelskandale <strong>über</strong>tragen. Teilweise waren Erklärungen <strong>für</strong> Zusammenhänge<br />

von <strong>Berichte</strong>rstattungen <strong>über</strong> solche Ereignisse und individuelle Verhaltensweisen<br />

offen geblieben.<br />

Beispielsweise hatten die Verbraucher durchgehend von solchen Ereignissen Kenntnis<br />

und waren verunsichert, ohne sich weitere Informationen zu beschaffen. Trotz Verbraucherverunsicherung<br />

eignete sich nur ein geringer Teil der Verbraucher Hintergrundwissen<br />

an (46, S. 242). Berücksichtigt man die Situationsauslegungen, sind Hintergrundinformationen<br />

nur <strong>für</strong> diejenigen relevant, die alternative bzw. regionale Produkte konsumieren<br />

oder Experten konsultieren, da mit diesen Handlungsoptionen Möglichkeiten einer<br />

individuellen Einflussnahme auf Ereignisse verbunden sind, die durch weiteres Wissen<br />

abgesichert und bestätigt werden. Inden Fällen von Indifferenz, Vertrauen in institutionelle<br />

Kontrollen und der Orientierung an der <strong>Berichte</strong>rstattung haben die Verbraucher<br />

zwar Kenntnis von den Ereignissen, sie rufen aber keine weiterführenden Informationen<br />

ab. Orientieren sich die Verbraucher an der <strong>Berichte</strong>rstattung, dann ist nur relevant, ob die<br />

Ereignisse (noch) in der medialen Öffentlichkeit sind oder nicht. Die anderen Deutungsmuster<br />

schließen keine Verhaltensänderung ein, sodass kein Bedarf an weiterführendem<br />

Orientierungswissen besteht.<br />

Weiterhin wurde beobachtet, dass Verzichtserklärungenkaum von Dauer sind (vgl. 31;<br />

49). Anfänglich formulierte Verzichtserklärungen auf unbestimmte Zeit ändern sich mit<br />

den Situationsauslegungen. Verzicht als Verhaltensoption verliert beispielsweise bei einer<br />

Orientierung an der Berichtserstattung mit dem Verschwinden der Ereignisse aus der<br />

medialen Öffentlichkeit an Bedeutung. Ebenso eröffnen sich individuelle Handlungsoptionen<br />

im Verlauf von Situationsauslegungen, die Lebensmittelskandale als Konsequenzen<br />

der konventionellen <strong>Landwirtschaft</strong>, als Folgen von undurchsichtigen Ereignissen in<br />

der Fremde einordnen oder wenn Experten konsultiert werden. Mit dem Abschluss der<br />

Situationsdeutung können dann neben den Verzichtshandlungen weitere Möglichkeiten<br />

bereitstehen. barlösius und philipps hatten zum Beispiel beobachtet, dass mit einigen<br />

Situationsauslegungen der BSE-Krise Orientierungsphasen verbunden waren. Demnach<br />

wurden anfängliche Verzichtsleistungen durch andere Verhaltensmuster abgelöst, sobald<br />

die Befragten den BSE-Skandal gedeutet hatten (2, S. 38).<br />

Schließlich zeigen Studien zur BSE-Krise, dass zwischen der Häufigkeit der <strong>Berichte</strong>rstattung<br />

<strong>über</strong> den BSE-Skandal und dem Verzehr von Fleisch und Wurstwaren ein umgekehrt<br />

proportionaler Zusammenhang bestand. Demnach verzichteten Verbraucher besonders<br />

häufig auf Fleisch und Wurstwaren, wenn in den Printmedien vermehrt <strong>über</strong> die<br />

BSE-Krise berichtet wurde (50, S. 461; 68, S. 49). Diese Beziehung deckt sich vor allem<br />

mit der Orientierung an der <strong>Berichte</strong>rstattung. Die Befragten verzichteten auf betroffene<br />

Lebensmittel, solange die Ereignisse ein Thema in der medialen Öffentlichkeit waren.<br />

Mit der abnehmenden Häufigkeit von <strong>Berichte</strong>rstattungen <strong>über</strong> einen Lebensmittelskandal<br />

verringerte sich auch die Relevanz der Ereignisse <strong>für</strong> die Verbraucher. Des Weiteren dürften<br />

besonders intensive <strong>Berichte</strong>rstattungen bei Situationsauslegungen mit individuellen<br />

Einflussmöglichkeiten anfänglich zu einem Verzicht geführt haben, der jedoch durch alternative<br />

Verhaltensweisen abgelöst wurde, sobald die Deutung der Situation abgeschlossen<br />

war.<br />

Buel_3_11.indb 490 17.11.2011 08:13:28


Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />

491<br />

Weiterhin bestätigen die beschriebenen Auslegungen von Lebensmittelskandalen und<br />

die individuellen Umgangsweisen der Befragten die identifizierten Kontextualisierungen<br />

und Wissensformen (vgl. 2; 10). Frühere Untersuchungen hatten sich hauptsächlich den<br />

Essgewohnheiten bestimmter sozialer Gruppen (10) oder in unterschiedlichen regionalen<br />

Räumen (2; 12) gewidmet und sich nur in Teilfragen mit dem alltäglichen Umgang mit<br />

Lebensmittelskandalen beschäftigt. Ungeachtet dessen bewegen sich die rekonstruierten<br />

Deutungsmuster und damit verbundene Handlungsoptionen im Rahmen der von giDDens<br />

postulierten Optionen (21), wie in der Spätmoderne dem Mangel an Kontrolle in kritischen<br />

Situationen zu begegnen sei. Nach giDDens könne das Vertrauen entweder durch<br />

den Rückgriff auf Expertenwissen oder durch Abwägungen der Handlungsrisiken wieder<br />

hergestellt werden. Diese Muster lassen sich empirisch wiederfinden im Vertrauen in<br />

Expertenwissen, dem Systemvertrauen in die Kontrollmechanismen zur Einhaltung vorgegebener<br />

Richtlinien in Erzeugungs- und Herstellungsprozessen, der Zuversicht in die<br />

Region mit ihren Produkten und Erzeugern oder in alternative Erzeugungsweisen sowie<br />

den Abwägungen der Wahrscheinlichkeit bzw. der räumlichen Distanz zu Gefahren.<br />

Die Optionen giDDen’s zur Wiederherstellung von Vertrauen in der Spätmoderne<br />

müssen jedoch empirisch um die (teilweise skeptischen) Orientierungen an der medialen<br />

<strong>Berichte</strong>rstattung erweitert werden. Neben der empirischen Rekonstruktion dieser<br />

Option sprechen drei weitere Gründe <strong>für</strong> eine Berücksichtigung. Erstens werden Lebensmittelskandale<br />

vor allem durch die mediale <strong>Berichte</strong>rstattung vermittelt und unterliegen<br />

damit den dort operierenden Selektionsmechanismen (40, S. 102; 63). Zweitens scheint<br />

eine Beziehung zwischen der Fernsehnutzungsdauer und der Bereitschaft zur Umstellung<br />

der Essgewohnheiten infolge eines Lebensmittelskandals zu bestehen. Ergebnisse<br />

zeigen, dass die Befragten, die tendenziell täglich mehr Fernsehen schauen als andere,<br />

ihre Essgewohnheiten häufiger vor<strong>über</strong>gehend umstellen (56, S. 199). Möglicherweise<br />

orientiert sich diese Verbrauchergruppe stärker an der medialen <strong>Berichte</strong>rstattung <strong>über</strong><br />

Lebensmittelskandale und folgt dabei in ihrem Verbraucherverhalten der Kurzlebigkeit<br />

des Nachrichtenwerts. Drittens nehmen virtuelle Risiken (vgl. 41) stärker zu. Die digitale<br />

Reproduzierbarkeit ermöglicht uneingeschränkte Verwandlungen und Veränderungen<br />

bereitgestellter Informationen, die die Trennung zwischen realen und postulierten Risiken<br />

verwischen. Mittels der digitalen Form der massenmedialen Darstellung der Wirklichkeit<br />

gehe es schließlich weniger um die Erfassung der Realität, sondern vermehrt um die<br />

zeitweise Erzeugung einer Aufmerksamkeit <strong>für</strong> bestimmte Ereignisse. Vordiesem Hintergrund<br />

ist eine Zurückhaltung bei der Durchdringung der massenmedialen <strong>Berichte</strong>rstattung<br />

im Alltag geradezu sinnvoll, um ein gewisses Maß an Situationskontrolle aufrecht<br />

zu erhalten.<br />

Der distanzierte Umgang mit der Informationsbereitstellung der Massenmedien stellt<br />

auch die Relevanz der unabhängigen Variable Informationsbeschaffung <strong>für</strong> die Erklärung<br />

von Verbraucherverhalten bei Lebensmittelskandalen infrage. Bereits in den quantitativen<br />

Erklärungsmodellen konnte diese Einflussgröße die Handlungen der Verbraucher nur<br />

unzureichend erklären. Dieser Umstand mag damit zusammenhängen, dass die Informationen<br />

der medialen <strong>Berichte</strong>rstattung nur selektiv (Thema/kein Thema) herangezogen<br />

werden.<br />

Wenig aufschlussreich <strong>für</strong> die Rekonstruktion der Deutungsmuster bei Lebensmittelskandalen<br />

waren die milieuspezifischen Differenzierungen. Während das Beschaffen<br />

von Expertenwissen oder die Orientierung am alternativen Konsum zwar Beziehungen zu<br />

höheren Bildungsabschlüssen aufweisen, ergeben sich zwischen den anderen Deutungsmustern<br />

und den sozialen Herkunftsmilieus keine klaren Relationen. Demnach scheinen<br />

die einzelnen sozialen Milieus keine spezifischen Erfahrungen oder Wissensformen <strong>für</strong><br />

den Umgang mit Lebensmittelskandalen zu vermitteln. 7) Hinsichtlich der Ost-West-Differenz<br />

konnten ebenfalls keine markanten Unterschiede festgestellt werden. Indiesem<br />

Buel_3_11.indb 491 17.11.2011 08:13:28


492 Axel Philipps<br />

Zusammenhang existierte unter den ostdeutschen Gesprächspersonen jedoch eine Erklärung<br />

<strong>für</strong> das Entstehen von Lebensmittelskandalen, die nur im historischen Kontext der<br />

DDR-Vergangenheit verständlich wird. So führten sie unabhängig voneinander die „Seuchenmatten“<br />

in den Stallanlagen der ehemaligen DDR ins Feld. Diese seien ein Ausdruck<br />

<strong>für</strong> die Sicherheit und Ordnung gewesen, die heute fehlt und somit den Gefahren von<br />

außen „Tür und Toröffnet“.<br />

Dennoch sind Lebensmittelskandale keine Ereignisse, die alle Verbraucher gleichermaßen<br />

beschäftigen. Ein Teil der Verbraucher bleibt solchen Skandalen indifferent gegen<strong>über</strong>,<br />

während sie bei anderen Verbrauchern die alltägliche Routine und die Essgewohnheiten<br />

durchkreuzen und damit die Aufmerksamkeit auf die irritierende Situation lenken. In der<br />

Folge gibt es Versuche, Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Weiterhin muss beachtet<br />

werden, dass es keinen spezifischen Typus von Lebensmittelskandalen gibt, der exemplarisch<br />

<strong>für</strong> alle anderen Skandale steht. Zwar dürften sich die Deutungen vieler Skandale<br />

nach der BSE-Krise an diesem Ereignis orientiert haben; letztlich löst jeder Skandal aber<br />

andere Irritationen aus und beschränkt damit das Überspringen der Empörung auf einzelne<br />

und oft verschiedenartige Verbrauchergruppen.<br />

7 Fazit<br />

Generell darf die Relevanz von Lebensmittelskandalen im Alltag vermutlich nicht <strong>über</strong>schätzt<br />

werden. Bereits tullOCh und luptOn hatten in ihrer Studie zu Risiken im Alltag<br />

darauf hingewiesen, dass persönliche Veränderungen durch Migration, Flucht oder Alterung<br />

eine größere Bedeutung <strong>für</strong> die Menschen haben als BSE, Tschernobyl oder die<br />

Umwelt allgemein (64, S. 41 f.).<br />

Es ist zu erwarten, dass kommende Skandale von den Individuen im Horizont ihrer<br />

früheren Erfahrungen gedeutet werden. Daraus ergibt sich <strong>für</strong> die Lebensmittelskandalforschung<br />

die Frage, ob sich möglicherweise bestimmte Deutungen und Handlungsoptionen<br />

verfestigt haben. Dieses Phänomen würde nicht nur Unsicherheitsabsorption durch<br />

Reduzierung von Komplexität <strong>für</strong> die Alltagspraxis bedeuten, sondern damit wären auch<br />

bestimmte Verhaltensmuster bei Lebensmittelskandalen erwartbar.Diese These muss aber<br />

dem Sachverhalt Rechnung tragen, dass der Begriff Lebensmittelskandal zu unspezifisch<br />

ist, da er sehr unterschiedliche Bereiche der Erzeugung, Herstellung, Verarbeitung und<br />

Verbreitung von Lebensmitteln einschließt und in diesen Zusammenhängen vieles zum<br />

Skandal werden kann. Die Anlässe <strong>für</strong> Irritationen der Alltagsroutine sind zu verschieden,<br />

um von <strong>über</strong>tragbaren Situationsauslegungenauszugehen. Hier könnte eine Spezifizierung<br />

von Lebensmittelskandalen durch Differenzierung den Erkenntnisbeitrag erhöhen.<br />

Zusammenfassung<br />

Lebensmittelskandale lassen sich in drei Elemente zerlegen. AmAnfang steht eine moralische Verfehlung<br />

von Menschen oder Unternehmen beim Umgang mit Lebensmitteln. Aus diesem Missstand<br />

wird ein Skandal, wenn Skandalierer das Thema öffentlich machen und ein empörtes Publikum finden.<br />

In diesem Skandal-Dreieck beschäftigt sich der Beitrag mit den Verbrauchern und ihren Reaktionen.<br />

Während die bisherigen Untersuchungen nur begrenzt das Verbraucherverhaltenbei Skandalen<br />

<strong>über</strong> die Verunsicherung, das Informationsverhalten, das Einkommen oder die Preise erklären können,<br />

wird hier versucht, die Handlungsoptionen (dauerhafter, zeitweiser bzw. kein Verzicht) aus den<br />

alltäglichen Situationsauslegungen der Verbraucher zu verstehen. Dazu wurden Leitfadeninterviews<br />

zu den Erfahrungen mit Lebensmittelskandalen geführt. Anhand der Aussagen wurde eine Typologie<br />

von sechs Deutungsmustern rekonstruiert.<br />

Buel_3_11.indb 492 17.11.2011 08:13:28


Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />

Summary<br />

Food scandals and consumer behaviour options in everyday situations<br />

493<br />

Food scandals consist of three elements. At the beginning of food scandals there is human or<br />

organizational misconduct concerning food. Such events become scandals if scandalmongers make<br />

such an event public and find an audience. The article focuses on the audience and their reactions<br />

as consumers. Past research has provided little explanation for consumer reactions regarding insecurity,<br />

information behaviour, income or prices. However, based on consumers’ interpretations of<br />

food scandals, consumer options such as total, temporary or no abstinence of food at the centre of<br />

scandals are reconstructed in the article. Fifty open interviews were conducted and analysed in order<br />

to determine patterns in respect of consumer interpretation. In the study,six patterns of interpretation<br />

were identified.<br />

Résumé<br />

Scandales alimentaires et les possibilités d’agir des consommateurs dans la vie quotidienne<br />

Les scandales alimentaires peuvent être divisés en trois éléments. Àl’origine du scandale se trouve<br />

une faute morale commise par des personnes ou des entreprises concernant le traitement de denrées<br />

alimentaires. La faute devient un scandale au moment où elle soulève l’indignation publique après<br />

avoir été rendue publique par les scandalisateurs. Analysant cette relation triangulaire, la présente<br />

étude met l’accent sur les consommateurs et leurs réactions. Alors que les études précédentes n’ont<br />

expliqué qu’en partie le comportement des consommateurs en étudiant des facteurs tels que le manque<br />

de confiance au moment d’un scandale, le comportement d’information, les revenus ou les prix,<br />

l’objectif de cette étude est de comprendre les possibilités d’agir des consommateurs (abstention<br />

permanente, temporaire ou aucune abstention) en se basant sur les interprétations des consommateurs<br />

dans la vie quotidienne. Dans ce but, des entretiens guidés sur les expériences lors de scandales alimentaires<br />

ont été menés. Les réponses ont permis d’identifier six patrons d’interprétation.<br />

Literatur<br />

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Buel_3_11.indb 493 17.11.2011 08:13:28


494 Axel Philipps<br />

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(Transcript).<br />

Buel_3_11.indb 494 17.11.2011 08:13:29


Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />

495<br />

53. Pressemitteilung der Gesellschaft <strong>für</strong> Konsumforschung (GfK), 2001: Ein Jahr danach –Rindfleisch<br />

ist wieder angesagt. GfK-Studie zum häuslichen Konsum von Fleisch und anderen Lebensmittelnnach<br />

BSE, Pressemitteilung der GfK. http://gfk.com/group/press_information/press_releases/00309/index.<br />

de.html, Zugriff am01.03.2003.<br />

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In: <strong>Berichte</strong> <strong>über</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>, Heft 1/2002, Bd. 80, 40–52.<br />

Fußnoten<br />

1 Für Diskussionen und Kommentare zum Gegenstand des Beitrags möchte ich eva barlösius,<br />

helena flam, alex theile und den anonymen Gutachtern danken. Die Verantwortung <strong>für</strong> den<br />

Inhalt liegt natürlich allein beim Autor.<br />

2) spieKermann (61) unterscheidet zwischen fünf Phasen. Dabei fällt die erste Phase in die Zeit<br />

zwischen ca. 1925 und 1940. Unter dem Eindruck der 1911 entdeckten Vitamine hätte sich<br />

beispielsweise die Wertigkeit konservierter und gewerblich hergestellter Produkte geändert.<br />

Diese erschienen nun als »entwertete« Nahrung. Dagegen erhielten insbesondere Frischkost und<br />

pflanzliche Lebensmittel seitdem gerade in den bürgerlichen Haushalten eine gesteigerte Wertschätzung.<br />

Eine neue Phase setzte in den späten 1950er-Jahren mit der öffentlichen Thematisierung<br />

von Chemie im Haushalt, in der Nahrung, <strong>Landwirtschaft</strong> und Produktion ein. Der Einsatz<br />

von Chemie galt nicht mehr als Problemlösung, sondern ihr vermehrter Einsatz wurde nun als<br />

Gesundheitsgefahr wahrgenommen. Zwischen 1965 bis 1975 hätten vor allem der Einsatz von<br />

DDT (Insektizid Dichlordiphenyltrichlorethan) und die Massentierhaltung in neuer Form Empörungen<br />

und Diskussionen in der Öffentlichkeit ausgelöst. Ähnlich wie beim intensiven Einsatz<br />

von Chemie wurde ab diesem Zeitpunkt die industrialisierte <strong>Landwirtschaft</strong> problematisiert und<br />

negativ belegt. Seit den 1980er-Jahren würde sich aufgrund von Umweltgefahren (Tschernobyl,<br />

Luft- und Gewässerverschmutzung), die die nationalen Grenzen <strong>über</strong>schreiten,die Aufmerksamkeit<br />

verstärkt auf die Lebensmittelqualität richten. Die Wahrnehmung globaler Gefahren (insbesondere<br />

durch die Umweltbewegung geprägt) hätte damit auch die Einschätzung von Qualitätskriterien<br />

verändert. Schließlich speise sich seit den Anfängen der 1990er Jahre die Empörung<br />

<strong>über</strong> den systematischen (und vielfach illegalen) Einsatz von Medikamenten und Mastmitteln in<br />

der Tierproduktion aus der Diskrepanz zwischen einer arbeitsteiligen, billigen Produktion und<br />

dem Wunsch nach »Natur« bzw. einem Tierleben in Würde. Weiterhin beobachtet imhOf (30)<br />

<strong>für</strong> die Jahrtausendwende eine ununterbrochene Skandalierung ökonomischer Akteure. Neben<br />

Debatten <strong>über</strong> Fusionen, Managergehälter und Steuerflucht begünstige diese Entwicklung auch<br />

die moralische Aufladung des Konsums. Sowürden sich die Firmen in Marketingkampagnen<br />

zur umweltschonenden Produktion, zur Gleichberechtigung und Frauenförderung bekennen. Die<br />

Unternehmen verbinden somit nicht nur die Werte Qualität und Sicherheit mit ihren Produkten,<br />

sondern die Moral ist allgemein zueinem Bestandteil des Konsums geworden.<br />

Buel_3_11.indb 495 17.11.2011 08:13:29


496 Axel Philipps<br />

3) Seinen Ursprung hat der Begriff Skandal im Griechischen »skandalon«. Dort steht er <strong>für</strong> das<br />

Stellholz an der Falle, die zuschnappt, wenn sie berührt wird. In neuerer Zeit ist der gebräuchlichste<br />

Sinn von „skandalon“ bzw. lateinisch „scandalum“ das »Ärgernis« (59).<br />

4) Aktuelle Ansätze betonen ebenfalls die Relevanz früherer Erfahrungen und des erworbenen<br />

Wissens. Zwar verweisen jüngere Gesellschaftsanalysen darauf, dass sich die verfügbaren Gewissheiten<br />

tendenziell auflösen (3) bzw. die Grenzen des Expertenwissens sichtbar werden (4;<br />

5; 21; 23), zugleich ändert sich nach giDDens nur die Praxis der alltäglichen Routinen. In der<br />

Spätmoderne werden die Praktiken, die zuvor als routinisierteHandlungen stillschweigend, fraglos<br />

und selbstverständlich angewendet wurden, auf der Grundlage permanent neu einlaufender<br />

Informationen ständig <strong>über</strong>prüft und verbessert (23; S. 54). Im Fall eines Scheiterns dieser praktiziertenRoutinen<br />

kann ein Mangel an Handlungskontrolle entstehen. Nach giDDens haben Laien<br />

in der Spätmoderne die Option, in unpersönliche Prinzipien und Expertenwissen (Statistiken,<br />

Therapien, Grenzwerte) zu vertrauen oder auf eigene Abwägungen der Risiken zu setzen (21,<br />

S. 129 f.). Wie Laien Risiken konkret wahrnehmen und beurteilen, hängt jedoch von lokalen,<br />

privaten, alltäglichen und intimen Umständen und Kontexten ab (vgl. 43; 64). lash und Wynne<br />

reservieren daher <strong>für</strong> die Risikoeinschätzungen von Laien und Nicht-Experten den Begriff der<br />

„private reflexivity“ (39, S. 8).<br />

5) Aus Platzgründen verweise ich <strong>für</strong> weitere Ausführungen zu den ausgewählten sozialen Milieus<br />

auf philipps [52].<br />

6) Die Namen aller Interviewpersonen wurden geändert. Weiterhin wurde die mündliche Sprache<br />

in den Interviewpassagen geglättet, um die Lesbarkeit zu verbessern.<br />

7) Für eine ausführliche Diskussion dieser Ergebnisse siehe philipps [52].<br />

Autorenanschrift: Dr. axel philipps, Leibniz Universität Hannover, Institut <strong>für</strong> Soziologie,<br />

Schneiderberg 50, 30167 Hannover, Deutschland<br />

a.philipps@ish.uni-hannover.de<br />

Buel_3_11.indb 496 17.11.2011 08:13:29


Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in<br />

Aserbaidschan<br />

Von elMAn MurAdOv, Berlin<br />

1 Einführung<br />

U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0497 $ 2.50/0<br />

497<br />

Der <strong>Landwirtschaft</strong>s- und Viehsektor ist neben dem Erdölsektor einer der wichtigsten<br />

Bereiche <strong>für</strong> die sozial-ökonomische Entwicklung Aserbaidschans. Aserbaidschan hat<br />

seine große Vielfalt an hochwertigen landwirtschaftlichen Produkten, dem reichhaltigen<br />

Boden und den verschiedenen regionalen Klimabedingungen zu verdanken. So trifft<br />

man in Aserbaidschan auf neun von elf weltweit vorhandenen Klimaarten. Diese Vielfalt<br />

reicht von den Subtropen bis hin zur Tundra. Das heißt, dass es in manchen Regionen<br />

innerhalb einer Saison möglich ist, mehr als eine Ernte zu erzielen. Zusammengefasst ist<br />

festzustellen, dass das aserbaidschanische Klima <strong>für</strong> eine vielfältige landwirtschaftliche<br />

Produktion geeignet ist. Es wird eine große Vielfalt an Produkten, insbesondere Weizen,<br />

Baumwolle, Tabak, Tee, Oliven, Obst und Gemüse erzeugt. Die Agrarproduktion reicht<br />

<strong>für</strong> den Inlandsbedarf vollkommen aus.<br />

Nach der Besetzung durch die Sowjetunion im Jahre 1920 wurde auch in Aserbaidschan<br />

der Privatbesitz an Grund und Boden abgeschafft. Im <strong>Landwirtschaft</strong>ssektor wurden<br />

die Betriebsformen der Kolchosen (kollektive Betriebe) und Sowchosen (staatliche<br />

Betriebe) eingeführt. Diese waren zwar grundsätzlich in staatlichem Besitz, wurden aber<br />

als Genossenschaften geführt. Während dieser Periode wurde von der Zentralregierung<br />

geplant, welche Waren wo und von wem hergestellt und wohin diese zu transportieren<br />

sind.<br />

Die Region Lenkeran, im südlichen Teil des Landes, unweit des Iran, ist <strong>für</strong> Gemüseanbau<br />

wie, Tomaten, Paprika, Kohl und weitere Gemüsearten besonders geeignet. Sie<br />

erhielt den Ruf des „Gemüsegartens der gesamten Sowjetunion“. Gemüse wurde auch in<br />

den Kolchosen und Sowchosen der Regionen Guba, Hacmaz und Masalli angebaut. Für<br />

den sowjetischen Markt lieferte Aserbaidschan pro Jahr 500 000–600 000 t Gemüse (23).<br />

Tabelle 1. <strong>Landwirtschaft</strong>liche Fläche in Aserbaidschan (2010)<br />

Fläche <strong>Landwirtschaft</strong>liche Fläche<br />

in 1 000 ha<br />

Anteil<br />

Gesamtfläche 8 641 100 %<br />

Ackerland 4 588 53,1 %<br />

bewässerte Fläche 3 200 37 %<br />

Saatfläche 1 622 18,8 %<br />

Forst 1 037 12 %<br />

erodierte Fläche<br />

Quelle: 19<br />

3 610 41,8 %<br />

Buel_3_11.indb 497 17.11.2011 08:13:29


498 Elman Muradov<br />

Im Jahr 2010 exportierte Aserbaidschan landwirtschaftliche Produkte und Lebensmittel<br />

im Wert von 42,3 Mio. € . Die wichtigsten Importländer waren und sind Russland, die<br />

Ukraine, die Türkei und Kasachstan. Zu den Hauptexportprodukten zählten 2010 Gemüse<br />

mit rd. 54 300 t, 64 000 t Kartoffeln und 187 200 t Obst (22).<br />

Seit 1995 haben die Entwicklungen in der landwirtschaftlichen Produktion zahlreiche<br />

Veränderungen in der Produktionsstruktur mit sich gebracht. So ist der Anbau von Baumwolle,<br />

Tabak und Nutzpflanzen bis 2010 zurückgegangen, während die Produktion von<br />

Zuckerrüben um das 7,7-Fache, die Produktion von Gemüse um das 10,3-Fache und die<br />

Produktion von Kartoffeln um das 6,1-Fache anstieg (15).<br />

In den 1970er- und 1980er-Jahren wurden jedes Jahr fast 0,6 Mio. t Baumwolle produziert<br />

(4). In der darauf folgenden Übergangsphase der landwirtschaftlichen Produktion<br />

zur Marktwirtschaft und der darauf folgenden Globalisierung der Märkte zwangen<br />

die niedrigen Weltmarktpreise Aserbaidschan dazu, seine Baumwollproduktion erheblich<br />

zurückzufahren.<br />

Die Produktionsmenge bei Getreide stieg in der Sowjetzeit rapide an. Pro Jahr erreichte<br />

man in den 1970er- und 1980er-Jahren 1 Mio. t. Zwischen 1913 und 1970 erhöhte sich die<br />

erzielte Erntemenge je ha um das Dreifache. Anstatt jedoch das Ernteergebnis weiter zu<br />

verbessern, hat die sowjetische Zentralregierung ihren Kurs gewechselt und der Getreideerzeugung<br />

keinen Wert mehr beigemessen. Moskau beauftragte vielmehr die Kolchosen<br />

und Sowchosen, den Weinanbau <strong>für</strong> die Weinindustrie voranzutreiben.<br />

Ein schrumpfender Produktionsbereich war auch der Reisanbau. Traditionell wurde<br />

Reis in den südlichen Regionen, aber auch in den Ausläufern des Gagavuz Gebirges im<br />

Norden angebaut. Während der Sowjetzeit wurde jedoch in anderen Republiken der ehemaligen<br />

Sowjetunion ausreichend Reis produziert, sodass der Anbau in Aserbaidschan<br />

gestoppt wurde.<br />

In den 1970er-Jahren wurde in der <strong>Landwirtschaft</strong> speziell auf den Weinanbau und<br />

die Produktion hochwertigen Weins Wert gelegt. Deshalb wurden ca. 70 000–80 000 ha<br />

landwirtschaftliche Nutzfläche <strong>für</strong> die Rekultivierung von Weinanbauflächen reserviert.<br />

Das damalige Ziel bestand darin, jährlich <strong>über</strong> 3 Mio. t Weintrauben zu ernten (5).<br />

Während der Zeit des sowjetischen Regimes gab es infolge der zentralistischen Agrarpolitik<br />

Moskaus in Aserbaidschan drei landwirtschaftliche Entwicklungsschwerpunkte:<br />

die Erschließung von Baumwollplantagen, Weinplantagen und Gemüseplantagen. Die<br />

erzeugten Produkte wurden <strong>über</strong>wiegend exportiert. Nur ein ganz kleiner Anteil wurde<br />

<strong>für</strong> den Eigenbedarf Aserbaidschans zurückbehalten. Auf diese Weise hat Moskau immer<br />

versucht, Aserbaidschan unter seiner Kontrolle zu halten.<br />

Im Ausgleich da<strong>für</strong> hat Aserbaidschan jedes Jahr rund 1 200 000 t Milch- und 35 000–<br />

40 000 t Fleischerzeugnisse aus dem sowjetischen Unionsfonds erhalten. Normaler Weise<br />

hätte <strong>für</strong> die Viehzucht zur Sicherung der Selbstversorgung Aserbaidschans Tierfutter<br />

erzeugt werden müssen. Dies wurde von der sowjetischen Verwaltung jedoch nicht<br />

genehmigt. Das war ein Grund da<strong>für</strong>, dass in Aserbaidschan, verglichen mit der gesamten<br />

UdSSR, sehr wenig Fleisch- und Milchwaren konsumiert wurde: während der jährliche<br />

durchschnittliche Fleischverbrauch in der Sowjetunion bei etwa 65 kg/Kopf lag, betrug<br />

dieser Anteil in Aserbaidschan nur rund 37 kg/Kopf (23).<br />

Nachdem die Ära der UdSSR zu Ende gegangen und die makroökonomische und politische<br />

Stabilität wiederhergestellt worden war, beschleunigte die Regierung Reformen<br />

in der <strong>Landwirtschaft</strong>. 1995 wurde da<strong>für</strong> die entsprechende gesetzliche Grundlage, das<br />

<strong>Landwirtschaft</strong>sreformgesetz beschlossen. Zu den Reformen zählten unter anderem ein<br />

Landgesetz, ein Besitzzuweisungsgesetz sowie ein Dorfbetriebsgesetz. Nach der Unabhängigkeit<br />

hat Aserbaidschan als einziger GUS-Staat die Privatisierung auch in der <strong>Landwirtschaft</strong><br />

vollzogen, während in Kasachstan, Usbekistan und anderen Republiken die<br />

Buel_3_11.indb 498 17.11.2011 08:13:29


Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />

Tabelle 2. Anteil der <strong>Landwirtschaft</strong> am BIP (in %)<br />

Jahr % Jahr %<br />

1993 28,4 2002 14,2<br />

1994 32,9 2003 13,1<br />

1995 27,2 2004 11<br />

1996 27,5 2005 9<br />

1997 21,6 2006 6,9<br />

1998 18,7 2007 6,5<br />

1999 18,4 2008 5,6<br />

2000 16,1 2009 6,7<br />

2001<br />

Quelle: 19<br />

14,7 2010 5,4<br />

499<br />

Ländereien per Pacht-, Miet- oder Leasingverträgen <strong>für</strong> die individuelle Nutzung zur Verfügung<br />

gestellt wurden.<br />

Zu Beginn der Reformen zählte die aserbaidschanische <strong>Landwirtschaft</strong> 983 Kolchosen<br />

sowie 820 Sowchosen mit einer durchschnittlichen Flächenausstattung von 1780 ha (15).<br />

Diese Ländereien sind heute größtenteils vom Staatsbesitz in den Privat- oder Kollektivbesitz<br />

<strong>über</strong>gegangen. Nach den Angaben des aserbaidschanischen <strong>Landwirtschaft</strong>sministeriums<br />

sind bereits <strong>über</strong> eine Mio. Menschen in den Besitz von landwirtschaftlichen<br />

Nutzflächen gekommen und die Anzahl der Bauernhöfe mit einer durchschnittlichen Flächenausstattung<br />

von 1,5–2 ha ist auf 40 000 gestiegen. Die kleinen privaten Hauswirtschaften<br />

prägen die Betriebsstruktur. Sie bewirtschaften 19 % der landwirtschaftlichen<br />

Nutzfläche und bauen vorwiegend Obst, Gemüse, Kartoffeln an und erzeugen Milch zur<br />

Selbstversorgung. Überschüsse werden auf dem lokalen Markt verkauft. Allerdings entstanden<br />

auch große Agrarbetriebe, die inzwischen 100 000 ha bewirtschaften.<br />

Nach dem Ende der UdSSR hatte Aserbaidschan seinen Marktanteil in den GUS-<br />

Staaten größtenteils verloren und geriet deshalb in Produktionsschwierigkeiten. Die landwirtschaftliche<br />

Produktivität ging in den Jahren 1990–1995 um 48 % zurück, so auch<br />

der Anteil der <strong>Landwirtschaft</strong> am Bruttoinlandsprodukt in den Jahren 1993–2005 (vgl.<br />

Tab. 2). Dieser Rückgang konnte jedoch durch die <strong>Landwirtschaft</strong>sreformen gestoppt werden.<br />

Die Reformen führten ab 1996 wieder zu einer Steigerung der landwirtschaftlichen<br />

Produktivität.<br />

Durch die Privatisierung der <strong>Landwirtschaft</strong> werden heute 99,8 % der Agrarprodukte<br />

von der Privatwirtschaft hergestellt. Um die Produktivität der <strong>Landwirtschaft</strong> weiter anzukurbeln,<br />

hat das aserbaidschanische <strong>Landwirtschaft</strong>sministerium eine neue Politik nach<br />

den Empfehlungen der Weltbank, Islamischen Fortschrittsbank und Europäischen Bank<br />

<strong>für</strong> Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) sowie anderen internationalen Finanzinstitutionen<br />

in Angriff genommen. Einige landwirtschaftliche Erzeugnisse, deren Produktion<br />

während des Sowjetregimes eingeschränkt worden war, wurden nun wieder verstärkt<br />

angebaut. So sind die Anbauflächen <strong>für</strong> Getreide, Hülsenfrüchte, Gemüse, Kartoffeln und<br />

Wassermelonen in den vergangenen zehn Jahren stark erweitert worden und die Ernteerträge<br />

stiegen dementsprechend. Im Jahr 2009 wurde beispielsweise im Vergleich zu 1995<br />

die 2,7-fache Menge Weizen geerntet. Gleichzeitig ist die Gemüseproduktion fast um das<br />

Dreifache erhöht worden. Bei Rüben, Kartoffeln und Wassermelonen gab es Ertragssteigerungen<br />

um das 6,9-, 6,8- beziehungsweise das 9,7-Fache. Gleichzeitig konnte die Qualität<br />

Buel_3_11.indb 499 17.11.2011 08:13:29


500 Elman Muradov<br />

der landwirtschaftlichen Erzeugnisse erhöht und die Produktivität des Sektors gesteigert<br />

werden. Bei Getreide und Hülsenfrüchten ist eine Steigerung um das 1,7-Fache, bei Kartoffeln<br />

um das 1,4-Fache erzielt worden und im Obstanbau wurde die Produktivität sogar<br />

mehr als verdoppelt. Auch die Verbesserung der Exportmöglichkeiten <strong>für</strong> Agrarprodukte<br />

und weiter verarbeitete Erzeugnisse trugen zur Produktionssteigerung im Agrarsektor und<br />

zur Erhöhung der Qualität bei. Im Vergleich zu 2003 stieg die Agrarproduktion im Jahr<br />

2009 um das 3,5-Fache (1).<br />

2 Erzeugung ausgewählter pflanzlicher Produkte<br />

Weintrauben: Bis 1985 war der Weintraubenanbau einer der am Weitesten entwickelten<br />

Agrarbereiche in Aserbaidschan. Zu dieser Zeit waren der Weinanbau (zur Fruchtversorgung<br />

der Bevölkerung) und die Weinherstellung einer der wichtigsten und ertragreichsten<br />

<strong>Landwirtschaft</strong>ssektoren. Während der Sowjetzeit (bis 1990) gab es 275 000 ha Weinanbaufläche<br />

im Land. Damit produzierte Aserbaidschan pro Jahr bis zu 2 Mio. t Weintrauben.<br />

Während der Gorbatschow-Periode wurde dem Alkoholismus der Kampf angesagt, weshalb<br />

in Aserbaidschan 150 000 ha der Weinanbaufläche stillgelegt wurden (14). Nach dem<br />

Untergang der Sowjetunion wurden die Weinanbauflächen umgenutzt; auf diesen Flächen<br />

wurde zusätzlich Getreide angebaut. Während der Zeit der UdSSR war die Agrarwirtschaft<br />

Aserbaidschans von großer Bedeutung. Doch durch die instabile politische Lage nach dem<br />

Niedergang der Sowjetunion und die Besetzung der Berg-Karabach-Region durch Armenien<br />

im Jahr 1993 gingen 20 % der Agrarflächen verloren und damit bedeutende Anbauflächen<br />

<strong>für</strong> Gemüse, Obst und Wein. Da sich mit dem Verkauf von Weintrauben bzw. von<br />

Wein nicht viel Geld verdienen lässt, ist das Interesse an der Weinproduktion erloschen.<br />

So sind heute in Aserbaidschan nur noch 7700 ha Weinanbaufläche vorhanden. Damit der<br />

Weinanbau wieder attraktiver wird, wurde dieser in das staatliche Förderprogramm einbezogen.<br />

Inzwischen konnte der Weinbau u. a. in den Regionen Celilabad, Tovuz, Schamkir,<br />

Agstafa, Kazakh, Schamakhi und Samukh wiederbelebt werden.<br />

Haselnüsse: Von den in Aserbaidschan erzeugten Agrarprodukten ist unter anderem die<br />

Haselnuss besonders hervorzuheben. Die Anbauflächen <strong>für</strong> Nüsse und Haselnüsse umfassen<br />

<strong>über</strong> 27 000 ha. Jedes Jahr werden in Aserbaidschan weitere 410 bis 580 ha <strong>für</strong> die<br />

Nuss- und Haselnussproduktion erschlossen. Wirtschaftlich bedeutsam ist der Nussanbau<br />

in der Zagatala-Region. Nüsse und Haselnüsse werden aber auch in der Nähe von Baku<br />

sowie in Guba und Khacmaz angebaut. Die Nuss- und Haselnussernte deckt die Binnennachfrage.<br />

Dar<strong>über</strong> hinaus werden rund 7000 bis 10 000 t exportiert; 65 % der Ernte in die<br />

EU. Aserbaidschan belegt hinsichtlich der Produktionsmenge von Haselnüssen weltweit<br />

den 5. Platz (6). Die ersten drei Plätze gehen an die Türkei, Italien und Spanien. 3 % der<br />

weltweiten Haselnussproduktion entfällt auf Aserbaidschan.<br />

Zuckerrüben: Vor dem Sowjetregime war der Zuckerrübenanbau in Aserbaidschan<br />

weit verbreitet. Da jedoch die Ukraine im großen Stil Zuckerrüben anbaute und damit<br />

den gesamten Markt der UdSSR belieferte, wurde der Zuckerrübenanbau in Aserbaidschan<br />

so gut wie eingestellt. Inzwischen ist die Zuckerrübe wieder zu einem beliebten<br />

Anbauprodukt geworden. So steigerte Aserbaidschan seine Zuckerrübenproduktion sei<br />

2006 kontinuierlich (vgl. Tab. 3) . Die Zuckerrübe wird vorwiegend in den Regionen<br />

Nachitschewan, Beylagan, Sabirabad, Imischli und Salyan angebaut.<br />

Im Jahr 2003 hat die „Azersun Holding“ den Bau der ersten Zuckerfabrik in Aserbaidschan<br />

im Bezirk Imischli eingeleitet. 2006 konnte der Bau fertiggestellt werden. Heute<br />

werden in Imischli täglich rd. 1000 t Zucker produziert. Die Bezirksverwaltung hat <strong>für</strong><br />

den Zuckerrübenanbau 300 ha zur Verfügung gestellt. 70 % der <strong>für</strong> die Zuckerproduktion<br />

benötigten Rohstoffe werden derzeit in Imischli selbst produziert, die restlichen 30 %<br />

Buel_3_11.indb 500 17.11.2011 08:13:29


Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />

Tabelle 3. Zuckerrübeproduktion in Aserbaidschan<br />

Jahr Anbaufläche durchschnittlicher<br />

Ertrag/ha<br />

Gesamtproduktion<br />

ha in t in t<br />

2006 6 000 12 72 000<br />

2007 6 000 25 150 000<br />

2008 6 600 27,5 181 500<br />

2009 8 000 24 191 500<br />

2010<br />

Quelle: 19<br />

8 500 30 256 500<br />

501<br />

werden aus Brasilien importiert. Die inländische Zuckernachfrage beträgt 180 000 t pro<br />

Jahr. Der Produktions<strong>über</strong>schuss von rd. 140 000 t wird in die GUS-Länder exportiert.<br />

Schwarztee: In den 1930er-Jahren wurde im Land der Grundstein <strong>für</strong> die Produktion<br />

von Schwarztee gelegt, da in den Regionen Lenkeran-Astara ein optimales subtropisches<br />

Klima herrscht. Ende der 1960er-Jahre bzw. Anfang 1970er-Jahre erreichte die Produktion<br />

von Schwarztee ihren höchsten Stand (3). Nachdem Aserbaidschans Schwarzteeproduktion<br />

in den 1970er-Jahren bei ca. 34 000 t gelegen hatte, fiel die Produktion im Laufe<br />

der Zeit bis auf 400 t (s. Tab. 4). Der Grund <strong>für</strong> diesen enormen Rückgang lag an den<br />

fehlenden gut funktionierenden Verarbeitungs- und Fermentierungsfabriken <strong>für</strong> Tee in<br />

Aserbaidschan.<br />

Durch den Verkauf der Teefabriken an türkische Firmen wurden die notwendigen Voraussetzungen<br />

<strong>für</strong> die Verarbeitung von Tee schrittweise geschaffen; die Bauern begannen<br />

wieder Tee anzubauen. In diesen Fabriken wird Schwarztee aus Aserbaidschan, der Türkei<br />

und Indien gemischt und auf den Markt gebracht. Im Rahmen des Staatsprogramms <strong>für</strong><br />

den sozioökonomischen Fortschritt der Regionen ist vorgesehen, dass der Teeanbau und<br />

die -produktion um Lenkeran und Astara in den südlichen Teilen des Landes entwickelt<br />

und mit Subventionen gefördert wird. Dies ist notwendig, weil nach der Unabhängigkeit<br />

Aserbaidschans die Schwarzteeerzeugung wegen Vernachlässigung nicht mehr wettbewerbsfähig<br />

war. Allein in Lenkeran werden <strong>für</strong> den Teeanbau 1000 ha Fläche rekultiviert.<br />

Damit die Teefabriken um Lenkeran und Astara ihren Betrieb wieder aufnehmen konnten,<br />

wurde ihnen ausreichend Investitionsvermögen zu Verfügung gestellt. Dabei spielt <strong>für</strong> das<br />

Wachstum der Teeproduktion die „Azersun Holding“ eine sehr wichtige Rolle.<br />

Baumwolle: Aserbaidschan gehört zu den Ländern, in denen schon seit Jahrhunderten<br />

Baumwolle angebaut und verarbeitet wird. In den Jahrzehnten der Sowjetherrschaft wurde<br />

ein Großteil der Stickstoff-Düngemittel sowie Erntemaschinen samt ihrer Ersatzteile aus<br />

dem Ausland, wie z. B. Russland und Usbekistan importiert. Diese Importe waren nach<br />

dem Zusammenbruch der Sowjetunion jedoch nicht mehr leistbar, sodass die Baumwollproduktion<br />

stark zurückging.<br />

Die potenzielle Baumwollproduktion liegt jährlich bei 830 000 t. Obwohl zahlreiche<br />

Baumwollplantagen vorhanden sind, gibt es wenige Verarbeitungsstätten. So werden 70 %<br />

der Baumwollernte als Rohstoff, exportiert. Bei der Baumwollproduktion gibt es verschiedene<br />

Probleme. Beispielsweise wird die Baumwolle bis zu 35 % in Handarbeit auf den<br />

Feldern gepflückt. Außerdem kann der Parasitenbefall nicht ausreichend unter Kontrolle<br />

gehalten werden, wie es bei fast allen Monokulturen weltweit vorkommt. Dieselben Probleme<br />

gibt es auch bei der Schwarztee- und bei der Tabakproduktion.<br />

Buel_3_11.indb 501 17.11.2011 08:13:29


502 Elman Muradov<br />

Tabak: Aserbaidschan ist ein traditionelles Tabakanbauland. Während der Sowjetära<br />

wurden jährlich 45 000 bis 65 000 t Tabak produziert, wovon 35 000 bis 40 000 Tonnen<br />

exportiert wurden (3). Die Produktion von Tabak verringerte sich bis zum Jahr 2009 auf<br />

2500 t und steigt danach nur sehr langsam an (s. Tab. 4). Innerhalb des Landes wird die<br />

Tabakwirtschaft hauptsächlich in der Region Scheki-Zagatala betrieben. Aserbaidschan<br />

kann dieses Produkt aufgrund der hohen Binnennachfrage bisher jedoch nicht ins Ausland<br />

exportieren. Hierzu müssten rd. 20 000–25 000 t Tabak im Land hergestellt werden.<br />

Die Binnennachfrage beläuft sich auf 10 Mrd. Zigaretten jährlich. Aserbaidschan kann<br />

hingegen nur 2600 t Tabak pro Jahr (in 2009) erzeugen – eine Menge die lediglich 30 %<br />

der Binnennachfrage deckt. 70 % der Nachfrage nach Tabak müssen aus Importen gedeckt<br />

werden.<br />

Es gibt zzt. sechs Tabakfermentierungsfabriken, die <strong>über</strong> eine Outputkapazität von<br />

48 000 t verfügen. Da die Tabakblattqualität der aserbaidschanischen Ernte jedoch als<br />

minderwertig eingestuft wird, führen die inländischen Zigarettenproduzenten den gesamten<br />

Rohstoff aus dem Ausland ein.<br />

Kartoffeln: Die Anbaufläche <strong>für</strong> Kartoffeln stark ausgeweitet, so dass die Produktion<br />

bis zum Jahr 2009 gegen<strong>über</strong> 1990 um das 5,3-Fache gesteigert werden konnte. Als Ausfuhrländer<br />

sind insbesondere Russland und andere Nachbarstaaten zu nennen.<br />

Oliven: Bei der Olivenproduktion besteht das Problem, dass das Ernten und die Weiterverarbeitung<br />

der Frucht nicht auf einem zufriedenstellenden Niveau betrieben wird. Es<br />

ist jedoch zu erwarten, dass der inländische Olivenölbedarf gedeckt werden kann, sobald<br />

Tabelle 4. <strong>Landwirtschaft</strong>liche Produktion (in 1000 t)<br />

Jahr Getreide Baum- Tabak Wein- Tee ZuckerKartof- Gemüse Obst<br />

wolletraubenrübenfeln<br />

1990 1 413,6 542,9 52,9 1 196,4 30,7 - 185,2 856,2 367,4<br />

1991 1 346,4 539,7 57,3 1 125,6 26,6 - 179,9 805,3 498,3<br />

1992 1 337,2 336,3 52,3 607,0 22,6 19,8 156,0 555,1 400,9<br />

1993 1 147,9 284,5 44,9 411,3 24,0 11,6 152,2 487,8 346,4<br />

1994 1 039,2 283,7 20,8 313,8 19,4 17,8 150,3 482,9 323,5<br />

1995 921,4 274,1 11,7 308,7 9,4 28,1 155,5 424,1 324,4<br />

1996 1 018,3 274,4 11,2 275,0 3,0 40,1 214,6 570,0 321,2<br />

1997 1 127,1 124,6 15,1 145,3 1,6 33,7 223,4 495,4 330,9<br />

1998 950,3 112,9 14,6 144,2 0,9 41,4 312,5 502,3 390,6<br />

1999 1 098,3 96,8 8,6 112,5 2,7 42,2 394,1 670,8 436,5<br />

2000 1 540,2 91,5 17,3 76,9 1,1 46,7 469,0 780,8 477,0<br />

2001 2 016,1 83,6 12,7 68,1 1,4 41,3 605,8 916,4 497,5<br />

2002 2 195,7 80,4 3,3 62,1 1,4 115,8 694,9 974,6 516,8<br />

2003 2 057,8 99,6 4,7 65,0 0,9 84,6 769,0 1 046,3 572,1<br />

2004 2 158,2 135,7 6,5 54,9 1,0 156,8 930,4 1 076,2 420,4<br />

2005 2 126,9 196,4 7,1 79,7 0,7 186,5 1 083,1 1 126,6 625,1<br />

2006 2 078,3 130,1 4,8 94,1 0,6 169,3 999,3 1 185,8 661,4<br />

2007 2 004,4 98,9 2,9 103,4 0,4 141,9 1 037,3 1 227,3 417,6<br />

2008 2 498,3 55,4 2,5 115,2 0,3 190,7 1 077,1 1 228,3 407,7<br />

2009 2 988,3 30,9 2,6 128,4 0,4 182,3 983 1 177,9 410,8<br />

Quelle: 19<br />

Buel_3_11.indb 502 17.11.2011 08:13:29


Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />

503<br />

gut ausgestattete Betriebe <strong>für</strong> die Ernte und das Verwerten entstehen. Zusätzlich müsste<br />

verhindert werden, dass Olivenbaum-Plantagen weiterhin geschädigt oder gar gerodet<br />

werden.<br />

In den Regionen von Kobustan, Sirvan, Mugan und Abscheron sind einige Gebiete <strong>für</strong><br />

Olivehaine geeignet. Für die kommenden 10 bis 15 Jahre hat Aserbaidschan das Potenzial,<br />

die Olivenproduktion weiter zu entwickeln. Im Rahmen des „Staatlichen Programms <strong>über</strong><br />

die zuverlässige Lebensmittelversorgung der Republik Aserbaidschan 2008–2015“ ist eine<br />

neue Olivenanbaufläche von 50 ha vorgesehen.<br />

Das größte Problem der Olivenbauern und -produzenten besteht darin, dass es kaum<br />

verfügbares Kapital gibt. So versucht das <strong>Landwirtschaft</strong>sministerium, in jeder Region<br />

Kreditvereine zu gründen. Nur so können die in der <strong>Landwirtschaft</strong> nötigen Einkäufe<br />

gedeckt werden.<br />

2.1 Entwicklungspotenziale<br />

Im Rahmen des regionalen Entwicklungsprogramms (2009–2013) werden speziell <strong>für</strong><br />

Bauern angepasste Kredite gewährt, mit denen die Einführung des technischen Fortschritts<br />

in der <strong>Landwirtschaft</strong> unterstützt wird. 2010 wurden 1303 Investitionsprojekte <strong>für</strong> die<br />

<strong>Landwirtschaft</strong>sproduktion in Höhe von 55,6 Mio. AZN (Aserbaidschan-Manat), ca. 69,5<br />

Mio. US $ und 43 Investitionsprojekte <strong>für</strong> die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte<br />

in Höhe von 15,8 Mio. AZN, rd. 19,7 Mio. US $ finanziert (22).<br />

Die <strong>Landwirtschaft</strong> Aserbaidschans verfügt <strong>über</strong> enorme Entwicklungsmöglichkeiten,<br />

sofern in die gegenwärtigen Probleme bewältigen werden. Die Klimaverhältnisse und der<br />

Boden sind <strong>für</strong> die Erzeugung von hochwertigen Agrarprodukten gut geeignet. Sobald die<br />

noch spürbare Übergangsphase bewältigt ist, wird auch die Produktivität steigen. Wenn<br />

zusätzlich noch der Bedarf an Getreide, Dünge- Pflanzenschutzmitteln, und technische<br />

Ausrüstung gedeckt und die Marktfähigkeit der Erzeugnisse erreicht wird, ist im Agrarsektor<br />

ein großer Fortschritt zu erwarten. Obwohl fast 40 % der Bevölkerung in der<br />

<strong>Landwirtschaft</strong> tätig sind, sinkt der Beitrag zum BIP (vgl. Tab. 2).<br />

Während das durchschnittliche monatliche Einkommen eines Arbeiter bei 372 US $<br />

liegt, ein Produktionsmitarbeiter in der Industrie 667 US $ und ein Bauarbeiter 453 US $<br />

verdient, erhält ein Beschäftigter in der <strong>Landwirtschaft</strong> nur 67 US $. Das Einkommen<br />

eines Bauern/Landarbeiters liegt somit bei nur etwa 18 % eines Arbeiters, rd. 15 % eines<br />

Bauarbeiters und rd. 10 % eines Produktionsmitarbeiters. Der durchschnittliche Gewinn<br />

eines kleinen landwirtschaftlichen Betriebs beträgt nur rund 120 AZN (150 US $ ) monatlich.<br />

Ein in der <strong>Landwirtschaft</strong> beschäftigter Aserbaidschaner kann kaum seine eigene<br />

Familie ernähren, während ein deutscher Landwirt 133 Personen ernähren kann (13).<br />

Nachdem der Beitrag des Agrarsektors zur Gesamtwirtschaft abnimmt, zugleich jedoch<br />

noch immer den größten Anteil an Beschäftigten innehat, sind verschiedene Reformen<br />

angestoßen worden. So wird die Infrastruktur <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> verbessert und<br />

Forschungs- und Bildungsaktivitäten sowie privatwirtschaftliche Investitionen werden<br />

gefördert. Daneben werden die Bauern mit Maschinen und Ausrüstung unterstützt. Die<br />

aserbaidschanische Regierung stellt jährlich 100 Mio. US $ <strong>für</strong> die Förderung der privaten<br />

<strong>Landwirtschaft</strong> bereit. 50 % der landwirtschaftlichen Betriebsmittel wie Benzin,<br />

Schmiermittel und Dünger werden von der Regierung subventioniert. Weizenproduzenten<br />

erhalten 49 US $ pro ha. Das <strong>Landwirtschaft</strong>sministerium wurde neu strukturiert, damit<br />

eine bessere und effektivere Politik betrieben werden kann.<br />

Der konjunkturelle Aufschwung, den 1996 die Industrie erfuhr, erreichte die <strong>Landwirtschaft</strong><br />

erst 1998. Hier setzte sich der Aufwärtstrend jedoch bis zum Jahr 2010 fort. Diese<br />

positive Entwicklung ist zum Teil auch den internationalen Investitionen geschuldet.<br />

Buel_3_11.indb 503 17.11.2011 08:13:29


504 Elman Muradov<br />

Um die ökonomische Unabhängigkeit und das Vertrauen im Lande zu festigen, ist der<br />

Agrarsektor von größter Bedeutung, weshalb dieser Bereich seit 2001 – mit Ausnahme<br />

der Bodensteuer – von jeglichen Abgaben befreit ist. Diese Befreiung ist auch Bestandteil<br />

des regionalen Staatsprogramms <strong>für</strong> den Zeitraum von 2009–2013.<br />

Die neu entstandenen <strong>Landwirtschaft</strong>sbetriebe produzieren vermehrt Erzeugnisse in<br />

verbesserter Qualität und im größeren Umfang. Dies ermöglicht Arbeitsplätze in neuen<br />

und modernen Verarbeitungstrieben und auch im Dienstleistungssektor zu schaffen. Das<br />

Ministerium <strong>für</strong> <strong>Landwirtschaft</strong> wird dabei durch eine moderne Gesetzgebung unterstützt,<br />

die die politischen Rahmenbedingungen auch <strong>für</strong> Familienbetriebe und die Exportmöglichkeiten<br />

<strong>für</strong> landwirtschaftliche Produkte verbessern soll. Bäuerliche Familienbetriebe<br />

werden durch verschiedene Beratungsmaßnahmen und kleine Investitionszuschüsse unterstützt,<br />

um so das Bewusstsein da<strong>für</strong> zu stärken, dass auch Kleinbetriebe bei entsprechender<br />

Unterstützung ein ausreichendes Einkommen erzielen können und gute Entwicklungschancen<br />

haben.<br />

Die Strategie <strong>für</strong> die Entwicklung der <strong>Landwirtschaft</strong> ist unter anderem im „Staatlichen<br />

Programm <strong>über</strong> die zuverlässige Lebensmittelversorgung der Republik Aserbaidschan<br />

2008–2015“ sowie im „Staatlichen Programm zur sozioökonomischen Entwicklung der<br />

Rayons der Republik Aserbaidschan 2009–2013“ abgefasst. Demnach liegt der Fokus der<br />

Programme auf die Produktion von Nutzpflanzen (Weizen, Gemüse, Baumwolle, Wein,<br />

Tee, Obst, Tabak etc.), die Entwicklung und Ausweitung der Schaf-, Ziegen- und Geflügelzucht<br />

sowie die Steigerung der Produktion und Verbesserung der Qualität von Milcherzeugnissen.<br />

Die Flurbereinigung und Förderung von größeren landwirtschaftlichen<br />

Betrieben durch staatliche Fonds werden in den Programmen als wichtige Instrumente<br />

<strong>für</strong> die Steigerung der Effizienz der landwirtschaftlichen Produktion hervorgehoben. Die<br />

Betriebe sollen u. a. auch mit ausreichend hochwertigen Saatgut beliefert werden, um die<br />

kontinuierliche Brotversorgung der Menschen in Aserbaidschan zu verbessern.<br />

Die Auswirkungen der Reformen sind bereits spürbar. Dennoch ist festzuhalten, dass<br />

Aserbaidschan bisher nur 80–85 % des <strong>für</strong> den Eigenbedarf benötigten Getreides selbst<br />

produziert und den Rest importiert. Dennoch konnte Aserbaidschan im Jahr 2002 zum<br />

ersten Mal Weizen (640 000 t) exportieren (23). Obst und Gemüse werden im größeren<br />

Umfang exportiert.<br />

Die Produktivität der aserbaidschanischen Agrarproduktion ist durch die Reformen in<br />

den letzten Jahren stetig gestiegen ist. Bei einem Vergleich der erzeugten Agrargüter im<br />

Jahr 2009 mit dem Jahr 1995 ist zu beobachten, dass mengenmäßig ein bemerkenswerter<br />

prozentualer Zuwachs erreicht wurde. Die Produktion von Zuckerrüben ist bspw. um das<br />

7,7-Fache, die Produktion von Gartenpflanzen um das 10,3-Fache und die Produktion von<br />

Kartoffeln um das 6,1-Fache gewachsen (vgl. Tab. 4). 2010 hat die Nutzpflanzen- und<br />

Obstproduktion im Vergleich zu 1995 um das 2,8- bzw. 2,2-Fache zugenommen. Seit<br />

1996 wurde die Qualität der landwirtschaftlichen Erzeugnisse ständig verbessert und das<br />

Produktionsvolumen stetig erhöht. Aktuell ist der Anstieg in der Weizenproduktion von<br />

besonderer Bedeutung. So wurden im Jahre 2010 656 500 Hektar (rd. 41 % des gesamten<br />

Saatfläche, vgl. Tab. 1) <strong>für</strong> den Weizenanbau genutzt (9).<br />

3 Schwachstellen und Problembereiche sowie Reformaktivitäten im<br />

<strong>Landwirtschaft</strong>ssektor<br />

Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, die bisherige Entwicklung des Agrarsektors in Aserbaidschan<br />

zu analysieren und deren Schwachstellen und Problembereiche zu identifizieren.<br />

Des Weiteren sollen passende Verbesserungsvorschläge sowie Entwicklungsstrategien<br />

zur Optimierung der Produktionsmöglichkeiten herausgearbeitet werden.<br />

Buel_3_11.indb 504 17.11.2011 08:13:29


Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />

505<br />

Nahezu der gesamte Viehbestand des Landes wurde bis zum Jahr 1996 an die Privatwirtschaft<br />

verteilt (99,8 % des Großviehs und 98 % des Kleinviehs). Der Rest wurde <strong>für</strong><br />

die Zucht einbehalten.<br />

Nach der Unabhängigkeit war die Großviehhaltung sehr lukrativ. Derzeit ist die Viehwirtschaft<br />

so weit entwickelt, dass die Inlandsnachfrage weitgehend gedeckt werden<br />

kann, obwohl der Markt bis einschließlich 1998 sehr instabil war. Bei dem Vergleich<br />

des Zeitraums von der Sowjetära bis zu dem Jahr 1998 ist zu erkennen, dass die Fleisch-<br />

und Milchwarenerzeugung wesentlich gestiegen ist (Tab. 5). Die Erzeugung erfolgt zum<br />

größten Teil von privaten Bauern. Seit 1998 steigt die Großtierhaltung stetig. Außerdem<br />

wurde die Qualität der Milchprodukte laufend verbessert. So produzieren aserbaidschanische<br />

Firmen mehr als 15 verschiedene Milchprodukte (z. B. Joghurt, Käsesorten, Sahne,<br />

Butter, usw.).<br />

Tabelle 5 zeigt die Entwicklung der Erzeugung von ausgewählten Produkten der Tierproduktion<br />

in Aserbaidschan. Danach hat sich im dargestellten Zeitraum der Viehbestand<br />

vom Umfang her beachtlich entwickelt. Die Agrarreformen haben auch die Entwicklung<br />

der Nutztierhaltung positiv beeinflusst, d. h. einen Produktionswandel in der Viehwirtschaft<br />

herbeigeführt. So betrug die Zahl der Rinder im Jahr 2010 2 637 400. Sie ist damit<br />

um das 1,6-Fache gegen<strong>über</strong> 1995 gestiegen. Die Anzahl der Schafe und Ziegen ist im<br />

Tabelle 5. Entwicklung der Erzeugung von Produkten der Tierproduktion<br />

Jahr Fleisch Milch Eier<br />

(in 1 000 t) (in 1 000 t) (in Mio. Stück)<br />

1190 175,5 970,4 985,3<br />

1991 153,5 947,7 958,2<br />

1992 112,7 850,4 812,2<br />

1993 92,5 798,5 584,5<br />

1994 84,4 783,7 494,0<br />

1995 82,0 826,5 455,8<br />

1996 85,7 843,3 477,3<br />

1997 90,5 881,5 492,4<br />

1998 99,9 946,5 509,0<br />

1999 104,6 993,4 526,3<br />

2000 108,7 1 031,1 542,6<br />

2001 114,1 1 073,7 555,5<br />

2002 124,6 1 119,9 561,6<br />

2003 134,4 1 167,8 670,6<br />

2004 154,5 1 167,8 670,6<br />

2005 262,8 1 251,9 874,6<br />

2006 273,6 1 299,5 760,9<br />

2007 293,9 1 201,3 979,3<br />

2008 302,8 1 381,6 1 008,7<br />

2009<br />

Quelle: 19<br />

305,1 1 433,1 1 209,4<br />

Buel_3_11.indb 505 17.11.2011 08:13:30


506 Elman Muradov<br />

selben Zeitraum um das 1,8-Fache angewachsen und beträgt nunmehr 8 463 100. Neben<br />

dem zahlenmäßigen Anstieg sind auch Output und Produktivität in der Viehzucht verbessert<br />

worden. Bis 2010 stieg im Vergleich zu 1995 die Produktion von Fleischerzeugnissen<br />

um das 2,9-Fache, Wolle um das 1,7-Fache und Eier um das 2,6-Fache gestiegen<br />

(24). Aserbaidschan führt kein Rotfleisch ein, da<strong>für</strong> aber Hühnerfleisch. Importiert werden<br />

24 % des Fleischgutes und insgesamt und 35 % der Eier, die im Lande konsumiert werden.<br />

Die Entwicklung der Fleischproduktion war bis zum Jahr 1995 negativ, was auch <strong>für</strong> die<br />

Produktion von Eiern zutraf. Hauptursachen dieser Verringerung waren:<br />

● Der Abbau der planwirtschaftlichen Lenkung ohne gleichzeitigen Aufbau marktwirtschaftlicher<br />

Institutionen,<br />

● der Abbruch von Lieferbeziehungen zwischen den Betrieben innerhalb der aus der<br />

ehemaligen UdSSR hervorgegangenen Staaten sowie im zwischenstaatlichen Handel,<br />

● hoher Importdruck durch Wegfall der außenwirtschaftlichen Abschottung,<br />

● der immer deutlicher werdende Rentabilitätsmangel von breiten Teilen der Produktion<br />

beim Übergang zu Weltmarktpreisen.<br />

Ab 1996 kam es wieder zu einer positiven Entwicklung bei der Erzeugung dieser Produkte.<br />

Bei Milchprodukten ist zu erkennen, dass nach 1997 bereits eine Wachstumsphase eintrat.<br />

Zwischen 1997–2009 nahm die produzierte Menge stetig zu und 1999 wurde bereits das<br />

Niveau von 1990 <strong>über</strong>schritten. Wachstumsmotor waren die 1995 durchgeführten Agrarreformen,<br />

die 1996 eingeführten Einfuhrzölle <strong>für</strong> Lebensmittelprodukte und die Regelung,<br />

dass es keine Erwerbsmöglichkeiten in ländlichen Räumen ohne <strong>Landwirtschaft</strong> gibt.<br />

3.1 Probleme im <strong>Landwirtschaft</strong>ssektor<br />

Obwohl die Klimabedingungen <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> günstig sind und eine ganzjährige<br />

Bewirtschaftung ermöglichen, sind nur 53,1 % des Bodens <strong>für</strong> die Agrarwirtschaft geeignet.<br />

Die Analysen zeigen, dass von Jahr zu Jahr immer weniger Ackerfläche zur Verfügung<br />

steht – derzeit 0,20 ha pro Kopf. In manchen Regionen wie Lenkeran, Astara, Abseran und<br />

der Autonomen Republik Nahcivan stehen pro Kopf gar nur 0,04–0,12 ha zur Verfügung.<br />

Da sich der Großteil der <strong>für</strong> Ackerbau geeigneten Böden in einer kontinental-trockenen<br />

Zone befindet, ist es schwierig, wettbewerbsfähige Güter herzustellen, ohne Bewässerungssysteme<br />

zu errichten. Zur Erfüllung der agrarpolitischen Ziele einer entwickelten<br />

<strong>Landwirtschaft</strong> werden moderne Bewässerungs- und Drainagetechniken benötigt.<br />

Moderne Bewässerungsverfahren werden in Aserbaidschan zurzeit noch nicht verwendet,<br />

sodass der Salzgehalt im Boden stetig steigt. Hinzu kommt die Erosion des Bodens. Dies<br />

trifft besonders <strong>für</strong> die Tiefebene zum Kaspischen Meer sowie <strong>für</strong> das Gebiet zwischen<br />

Kür und Araz zu, wo der Boden immer salzhaltiger wird bzw. unter Wasser und demzufolge<br />

landwirtschaftlich nicht mehr genutzt werden kann.<br />

Obwohl in Aserbaidschan eine Fläche von 3,2 Mio. ha bewässert werden kann, werden<br />

gegenwärtig lediglich 1,45 Mio. ha bewässert. Da der Meeresspiegel des Kaspischen<br />

Meeres im Steigen begriffen ist (er stieg allein im Jahr 2004 um 8 cm), wurden von<br />

den 1,45 Mio. ha bewässerter Flächen 47 % unterschiedlich stark geschädigt. 385 000 ha<br />

(26,5 %) sind so stark geschädigt, dass eine Rekultivierung unmöglich ist. Und es ist<br />

damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren weitere Ackerflächen durch das Ansteigen<br />

des Meeresspiegels unbrauchbar werden. Ein weiteres Problem stellt die fortschreitende<br />

Versalzung der Böden dar. Aktuell sind davon 115 000 ha bedroht. Der jährliche Schaden<br />

durch Versalzung wird mit 3 Mio. US $ beziffert. Aufgrund der aufgezeigten Probleme<br />

liegen 150 000 ha Tabak- und Baumwollplantagen sowie 170 000 ha Weinplantagen brach<br />

(23).<br />

Ein wesentliches Problem der aserbaidschanischen <strong>Landwirtschaft</strong> besteht darin, dass<br />

ihre technische Infrastruktur in den letzten Jahren geschwächt wurde. Zahlreiche Land-<br />

Buel_3_11.indb 506 17.11.2011 08:13:30


Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />

507<br />

maschinen sind inzwischen stark veraltet. Ersatzteile sind schwierig zu beschaffen, sodass<br />

die Landtechnik nicht mehr ausreichend gewartet und instand gesetzt werden kann. Ein<br />

Umstand, der sich negativ auf die Ernte auswirkt. Wie bereits beschrieben, ist Aserbaidschan<br />

<strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> besonders geeignet. Der Mangel an modernen Landmaschinen<br />

und andere Technik, eine mangelhafte Verwaltung sowie die die unzureichende<br />

Verwendung von Qualitätssaatgut, Dünge- und Pflanzenschutzmittel (der Bedarf an Düngemittel<br />

wird etwa nur zu 4–5 % gedeckt) führen dazu, dass die Potenziale des Landes<br />

nicht ausreichend genutzt werden können.<br />

Um die <strong>Landwirtschaft</strong> weiter zu stärken, ist es notwendig, den Bauern finanzielle<br />

Unterstützung zu gewähren und bei Erzeugung und Verkauf der Produkte behilflich sein.<br />

Dabei muss auf die weltweit bereits angewandten Problemlösungsverfahren zurückgegriffen<br />

werden (5). Ziel dieser Problemlösungsverfahren sollte es sein, kleine und mittlere<br />

landwirtschaftliche Betriebe dabei zu unterstützen, ihre Marktchancen zu verbessern und<br />

die Wertschöpfung im ländlichen Raum zu steigern.<br />

3.2 Reformaktivitäten in der <strong>Landwirtschaft</strong><br />

Im Rahmen der aserbaidschanischen <strong>Landwirtschaft</strong>sreformen wurden u. a. folgende<br />

Maßnahmen durchgesetzt:<br />

● Die Landreform, d. h. die Schließung der Kolchosen und Sowchosen,<br />

● kostenlose Verteilung des Bodens an die Dorfbewohner,<br />

● Liberalisierung der Preise und<br />

● Privatisierung der Betriebe, die die Produkte der <strong>Landwirtschaft</strong> verarbeiten.<br />

Ferner wurden Maßnahmen beschlossen, die den Fortschritt in der <strong>Landwirtschaft</strong><br />

beschleunigen.<br />

Dazu gehört, dass von Jahr zu Jahr ein immer größerer Anteil des Staatsbudgets <strong>für</strong><br />

die Entwicklung der Land- und Viehwirtschaft zur Verfügung gestellt wird. Diese zunehmende<br />

Unterstützung hat den positiven Effekt, dass sich der Sektor schneller erholt (1).<br />

So betrug der Anteil des <strong>Landwirtschaft</strong>sbudgets am Staatshaushalt im Jahre 2006 3,4 %<br />

und im Jahre 2011 3,5 %.<br />

Um aus den verfügbaren natürlichen Ressourcen des Bodens effektiven und langfristigen<br />

Nutzen zu ziehen, werden folgende Maßnahmen umgesetzt:<br />

a) die Verbesserung der Bewirtschaftung sowie der Qualität der Agrarflächen und<br />

b) die Verminderung der Erzeugungs- und Produktionskosten.<br />

Die Bereitstellung und der Einsatz moderner Agrartechnik soll vor allem die hohe Arbeitsbelastung<br />

der Landwirte verringern und die Produktionskosten senken. Laut Beschluß<br />

des Ministerkabinetts ist deshalb der Import von Agrartechnik von Einfuhrzöllen befreit<br />

(8).<br />

Um die Effizienz der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte zu verbessern, werden<br />

auf dem Land Bauernverbände gegründet, und ein situationsspezifischer Beratungsservice<br />

vor Ort angeboten. Auch Mikrokreditsysteme werden organisiert und funktionsfähig<br />

gemacht damit die Kanalisations-, Bewässerungs- und Drainagesysteme modernisiert<br />

werden können. Dies alles wurde und soll mit verschiedenen Programmen und Projekten<br />

verwirklicht werden.<br />

Das „Projekt <strong>für</strong> die Privatisierung der Betriebe in sechs Regionen von Aserbaidschan“,<br />

das 1996 von der Regierung initiiert wurde, ist im Jahr 2003 erfolgreich beendet<br />

worden. Im Rahmen des Projekts wurden insgesamt 28,82 Mio. US $ <strong>für</strong> die Umwandlung<br />

der Betriebe verwendet. Die Weltbank und der Internationale <strong>Landwirtschaft</strong>sabwicklungsfonds<br />

(IFAD) waren die Kreditgeber des Projektes. Die Kredite wurden in 113<br />

Regionsdörfern des Projekts an private Bauern und die neu gegründeten Bauernverbände<br />

ausgereicht.<br />

Buel_3_11.indb 507 17.11.2011 08:13:30


508 Elman Muradov<br />

Vom Ministerrat Aserbaidschans wurde <strong>für</strong> den Zeitraum von 2002–2006 das Programm<br />

<strong>für</strong> „den Fortschritt des <strong>Landwirtschaft</strong>sektors in Aserbaidschan“ (State Program<br />

of Development of Agrarian Sector in Azerbaijan) beschlossen, dessen erfolgreiche Ausführung<br />

einen dynamischen Fortschritt der Land- und Viehwirtschaft gewährleisten sollte<br />

(11). Ziel des Programms war die Förderung einer wettbewerbsfähigen <strong>Landwirtschaft</strong>,<br />

die Qualitätssteigerung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und die Verbesserung der<br />

Exportmöglichkeiten <strong>für</strong> landwirtschaftliche Produkte.<br />

Im August 2004 wurde zwischen der aserbaidschanischen Regierung und der Weltbank<br />

ein „Projekt <strong>für</strong> Agrarinvestitionen“ unterschrieben. Dieses Projekt ist <strong>für</strong> die Verbesserung<br />

der sozioökonomischen Situation der Landbevölkerung von wesentlicher Bedeutung.<br />

Das Projekt dient zur Initiierung und Finanzierung von Mikroprojekten in den Agrarbetrieben.<br />

Diese Mikroprojekte können mit bis zu max. 10 000 US $ gefördert werden.<br />

In den letzten Jahren wurden zusätzliche Finanzdienstleistungen <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong>sregionen<br />

geschaffen. So wurde die Errichtung von 78 Bankfilialen in den Regionen<br />

genehmigt. Gleichzeitig wurde <strong>für</strong> andere Institutionen in den ländlichen Regionen<br />

finanzielle Hilfestellung geleistet.<br />

Zur Verbesserung der Viehwirtschaft, wurde aus den Niederlanden das Verfahren der<br />

künstlichen Befruchtung mit den dazugehörigen Geräten und Anlagen eingeführt. Durch<br />

Impfungen des Viehs sowie Veredelung der Rassen sind der landesweite Viehbestand sowie<br />

die Produktivität der Viehwirtschaft in den letzten Jahren stabiler geworden. Parallel dazu<br />

hat der Verwaltungsapparat die Kontrolle <strong>über</strong> die staatlichen Laboratorien verbessert<br />

und die Quarantäne-Kontrolle an den Grenz<strong>über</strong>gängen verstärkt, um die Nahrungsmittelsicherheit<br />

zu gewährleisten und die gesunde <strong>Ernährung</strong> der Bevölkerung zu verbessern.<br />

Dennoch muss eingeschätzt werden, dass trotz der vielfältigen Unterstützungsmaßnahmen<br />

im Rahmen der Programme, die landwirtschaftlichen Betriebe noch immer nicht<br />

Ihre mögliche potenzielle Produktionskapazität erreicht haben. Gründe da<strong>für</strong> sind in der<br />

Hauptsache die mangelhaften Produktionsbedingungen und die ineffektive Nutzung der<br />

Produktionsmöglichkeiten.<br />

Im Staatsprogramm <strong>für</strong> die Jahre 2009–2013 wurden davon ausgehend <strong>für</strong> den Land-<br />

und Viehwirtschaftssektor folgende Ziele definiert (21):<br />

● Durch ausländisches Kapital sollen in allen Großstädten des Landes Großmärkte entstehen<br />

und daneben soll das ausländische Kapital <strong>für</strong> den Bau von Stickstoffdüngemittelfabriken<br />

genutzt werden.<br />

● Die Verbesserung der Standort-Attraktivität <strong>für</strong> ausländisches Kapital, um dringend<br />

benötigte <strong>Landwirtschaft</strong>smaschinen anzuschaffen und Ersatzteile herstellen zu können.<br />

● Die Heranziehung von Fremdkapital <strong>für</strong> die Errichtung der elf wichtigsten Bodenbewässerungssysteme<br />

bzw. deren Sanierung.<br />

● Der Aufbau von Produktionseinrichtungen <strong>für</strong> Kleinbauern in den Dörfern, damit die<br />

Kleinbetriebe mit der Erzeugung von Fleisch, Milch, Obst und Gemüse zur besseren<br />

Versorgung der Bevölkerung beitragen können.<br />

● Die Errichtung von Betrieben, <strong>für</strong> die Herstellung von Verpackungsmaterial (wie z. B.<br />

Flaschen, Plastik, Schachteln, u. a.) <strong>für</strong> die landwirtschaftliche Produkte verarbeitende<br />

Industrie.<br />

● Die Lenkung des ausländischen Kapitals auf den Bau von Zuckerfabriken, damit der<br />

Bedarf der Bevölkerung wie auch der Nahrungsmittelindustrie an Zucker gedeckt werden<br />

kann.<br />

● Die Erhöhung der Zahl der regionalen Bildungsanstalten und Forschungsinstitute <strong>für</strong><br />

die <strong>Landwirtschaft</strong>, der Produktionseinrichtungen <strong>für</strong> hochwertiges Saatgut und <strong>für</strong> die<br />

Bereitstellung genetisch hochwertiger Zuchttiere; die Modernisierung bzw. der Ausbau<br />

der Infrastruktur, sowie der technischen Produktion – auch durch entsprechende<br />

Buel_3_11.indb 508 17.11.2011 08:13:30


Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />

509<br />

Forschungsprojekte (Verbesserung der Saatgutbasis, Modernisierung der Infrastruktur<br />

im Bereich Tierzüchtung).<br />

● Erzielung von Fortschritten in der sozioökonomischen Situation der Regionen sowie<br />

der Sozialstruktur; wobei die Finanzierung der Renovierung und des Neubaus von<br />

Wohnungen und Stallungen mit eingeschlossen ist.<br />

● Die Neuanlage von Weinanbauflächen und die Errichtung von Weinfabriken.<br />

● Die Verbesserung der Infrastruktur <strong>für</strong> den Pflanzenschutz.<br />

● Die Förderung der Tiergesundheitseinrichtungen.<br />

● Die Gründung von agrartechnischen Stationen (Agroservices), wobei die Dienstleistungen<br />

auf eine Größenordnung von 500–700 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche zugeschnitten<br />

sein soll.<br />

● Die Gründung von Betrieben <strong>für</strong> die Erzeugung von Kartoffelstärke.<br />

● Die Lenkung von Auslandskapital an Futtermittelfabriken, um die Eier- und Geflügelfleischproduktion<br />

zu entwickeln.<br />

Mit dem „Land- und Viehwirtschaftsprogramms“ sollte grundsätzlich, eine positive Investitionsatmosphäre<br />

geschaffen werden.<br />

Um die Produktivität der <strong>Landwirtschaft</strong> zu erhöhen sowie die Betriebsanzahl in diesem<br />

Sektor zu steigern, wurden Erzeuger von <strong>Landwirtschaft</strong>sprodukten bis 2008 von<br />

jeglichen Steuern, mit Ausnahme der Grundsteuer, befreit.<br />

Die staatlichen Subventionen <strong>für</strong> den Agrarsektor und die Lebensmittel verarbeitende<br />

Industrie werden jährlich aufgestockt. In den Jahren 2007–2009 wurde den Weizen- und<br />

Reisproduzenten 205,8 Mio. AZN (247 Mio. US $ ) als Finanzhilfe <strong>für</strong> den Kauf von<br />

Kraft- und Schmierstoffen zur Verfügung gestellt. Einheimische Düngemittelproduzenten<br />

wurden mit 17 Mio. US $ unterstützt. Diese Summe entspricht 50 % ihres Absatzvolumens.<br />

Außerdem wurden in den Jahren 2007–2009 die privaten und staatlichen Saatgutunternehmen<br />

<strong>für</strong> den Verkauf von Saatweizen und Setzlingen mit 5,6 Mio. US $ subventioniert.<br />

Die staatliche Agroleasing AG stellte den Agrarproduzenten in den Jahren<br />

2007–2009 115,2 Mio. US $ <strong>für</strong> den Kauf von Mineraldünger und 1,8 Mio. US $ <strong>für</strong> den<br />

Kauf von Zuchttieren zur Verfügung.<br />

4 Probleme und Entwicklungspotenziale im Fischereisektor<br />

Die Bedeutung des Kaspischen Meeres <strong>für</strong> den Weltmarkt ist zum Teil auf die Fischerei<br />

zurückzuführen. Neben den Erdöl- und Erdgasreserven verfügt das Kaspische Meer <strong>über</strong><br />

hochwertige und reichlich vorhandene Fischarten. Die wertvollste Fischart ist der Stör<br />

von dem der Kaviar gewonnen wird. Am Kaspischen Meer wird der Stör am häufigsten<br />

des Kaviars wegen gefangen, der <strong>für</strong> die Fischer der Region eine wichtige Einnahmequelle<br />

darstellt. Die GUS-Staaten beziehen aus dem Kaspischen Meer ca. 55–56 % des<br />

frisch gefischten Fisches, 40–42 % aller zum Verzehr bearbeiteten Fische sowie 50 % aller<br />

Fischkonserven (8).<br />

Bis 1980 war das Kaspische Meer weltbekannt <strong>für</strong> seine reichen Fischgründe. Speziell<br />

der Kaviar des Störs machte 90 % des Exportes aus, den die UdSSR in den Westen<br />

exportierte. Vor 1980 wurden jährlich rd. 65 000 t Stör gefangen, während diese Menge<br />

bald auf ca. 25 000 t fiel. Im Jahr 1994 betrug die Fangmenge nur noch rd. 7000 t. An der<br />

Wolga waren vor 1980 rd. 120 000 Fischer mit dem Fang von Stör beschäftigt: Allmählich<br />

verringerte sich ihre Zahl auf etwa 2000 (12). Auch bei anderen Fischarten ging der Fang<br />

kontinuierlich zurück. Im aserbaidschanischen Teil des Kaspischen Meeres wurden noch<br />

bis 1992 jährlich etwa 550 t Mersin-Fisch gefangen. In den letzten Jahren verringerte sich<br />

die Fangmenge auf jährlich 90 t.<br />

Buel_3_11.indb 509 17.11.2011 08:13:30


510 Elman Muradov<br />

In den Jahren nach 1990 ist der Fangmenge dieser wichtigen Fischarten auch deshalb<br />

zurückgegangen, weil durch verbotene Fangmethoden massenweise Jungfische getötet<br />

wurden. Das ist auch ein wichtiger Grund da<strong>für</strong>, dass die Fangmengen von Jahr zu Jahr um<br />

10 % geringer wurden. Einer Veröffentlichung des russischen Innenministeriums zufolge<br />

wurden im Jahr 2004 Störe im Wert von 500 Mio. $ gefangen, offiziell wird im Bericht<br />

allerdings nur von 40 Mio. $ gesprochen. Das bedeutet, dass allein in Russland der illegale<br />

Fischfang um das Zehnfache höher als der legale Fischfang ist. Einige internationalen<br />

Quellen berichte dar<strong>über</strong>, dass von allen Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres Kaviar<br />

im Wert von mehr als 1 Mrd. US $ illegal in die westlichen Länder exportiert wird.<br />

Ein weiteres Problem ist die Verschmutzung Kaspischen Meeres mit Erdöl. Den Forschungen<br />

der Weltbank zufolge werden jedes Jahr 1 Mio. t Erdölabfall in das Kaspische<br />

Meer eingeleitet (7). Verstärkt wird bei Untersuchungen festgestellt, dass frisch gefangene<br />

Fische mit Dioxin vergiftet sind. In diesen Fällen spricht alles da<strong>für</strong>, dass die Ursache<br />

da<strong>für</strong> hauptsächlich in der Erdölverschmutzung liegt. Zwischen 1959 und 1985 wurde<br />

aus den angegebenen Gründen, allein durch die Verschmutzung und das Anstauen der<br />

Wolga, ein Fischverlust in Höhe von 5 Mio. t verursacht. Davon entfallen etwa 750 000 t<br />

auf den Stör.<br />

Im Rahmen einer Vereinbarung der Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres wurde<br />

nach dem fast völligen Zusammenbruch der Störaufzucht 1998 ein Programm zur Restauration<br />

der Bestände erarbeitet, das ständig erweitert, jedoch wegen spezifischer Interessen<br />

der Anrainerstaaten nur punktuell erfüllt wird. Die Anstrengungen Aserbaidschans gelten<br />

vor allem der Wiederherstellung der Laichgebiete im Fluss Kür und der künstlichen Aufzucht<br />

von Jungfischen.<br />

Obwohl die Fischerei in Aserbaidschan <strong>über</strong> ein hohes Entwicklungspotenzial besitzt,<br />

ist die Versorgung der Bevölkerung mit Fisch und Fischprodukten auf Minimalniveau<br />

gesunken. Sofern man das Bevölkerungswachstum mit einkalkuliert, liegt der Bedarf <strong>für</strong><br />

Fisch und -Fischprodukte bei 100 000 t im Jahr. Von dieser Menge können tatsächlich aber<br />

nur 10–20 % des Bedarfs abgedeckt werden.<br />

Statistisch betrachtet nimmt der Fischfang an wertvollen Fischen stetig ab. Von 1990–<br />

1997 hat sich in Aserbaidschan der Fischfang um das Sechsfache verringert. Zwischen<br />

1997 und 2004 stieg er jedoch leicht; so wurden im Jahr 2009 fast 21 000 t gefischt.<br />

In den letzten Jahren wurde der Fischbestand mit finanzieller Hilfe der Weltbank und<br />

anderen internationalen Finanzinstituten sowie mit Unterstützung von ausländischen<br />

Investoren vermehrt. Die zum Umweltministerium gehörenden Anlagen in Nefttschala<br />

und Ali Bayram konnten so im Rahmen der geförderten Projekte im Kaspischen Meer<br />

15,5 Mio. Jungstöre aussetzten.<br />

Insgesamt wurden im Jahr 2009 von zehn Fischzuchtbetrieben, die aus diesem Programm<br />

finanziell gefördert wurden, 456,3 Mio. Stück verschiedene Jungfischarten zum<br />

Aussetzen im Kaspischen Meer, im Kür-Fluss und den dazu gehörenden Wasserreservoirs<br />

bereitgestellt. Sofern auch in den kommenden Jahren ausreichend Finanzmittel <strong>für</strong> die<br />

Aufzucht und das Aussetzen von Jungfischen bereitgestellt werden, kann sich der Fischfang<br />

zu einer wichtigen Einnahmequelle in der Region entwickeln.<br />

Der Stör ist als Kaviarlieferant vor allem wegen des völkerrechtlichen Status des Kaspischen<br />

Meeres vom Aussterben bedroht. Bevor die Sowjetunion zerfiel, wurde der Fischfang<br />

streng kontrolliert (12), was jedoch nach der Sowjetära nicht mehr möglich war.<br />

Deshalb wurde der illegale Fischfang umso attraktiver. Obwohl die Nachfolgestaaten die<br />

jährliche Fischfangquote geregelt hatten, konnten sie dem illegalen Fischfang kein Einhalt<br />

gebieten.<br />

Aufgrund der Festlegung der jährlichen Fischfangquoten wurde die Anzahl der Fischfangbetriebe<br />

entsprechend den ökonomischen Kräfteverhältnissen der Länder verringert,<br />

was dazu führte, dass immer häufiger versucht wird, die entstandene Marktdifferenz durch<br />

Buel_3_11.indb 510 17.11.2011 08:13:30


Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />

511<br />

den illegalen Fang zu decken. Der illegale Fischfang ist die Hauptursache da<strong>für</strong>, dass die<br />

zwischen den Anrainerstaaten vereinbarten Fangmengen nicht eingehalten werden können.<br />

Abgesehen von den Hydrokarbonreserven sind auch die biologischen Reserven des<br />

Kaspischen Meeres <strong>für</strong> Aserbaidschan von wesentlicher wirtschaftlicher Bedeutung.<br />

Neben Erdöl- und Erdgas wurden einst auch 90 % aller Rotfische von hier bezogen. Jedoch<br />

hat sich, wie oben bereits erwähnt, dies wegen der Umweltverschmutzung und der <strong>über</strong>mäßigen<br />

Ausbeutung der Fischbestände rapide verändert (12).<br />

Beugt man der Verschmutzung des Kaspischen Meeres nicht vor, werden früher oder<br />

später dessen wertvolle biologische Ressourcen verloren gehen. Letztendlich sind die<br />

Küsten der Anrainer Turkmenistan und Aserbaidschan am meisten betroffen sein. Cava-<br />

DOv ging bereits 1999 davon aus, dass in 15 Jahren im Kaspischen Meer in bis zu 50 m<br />

Tiefe und in einer Ausdehnung von 30 000 km² Fischzucht aller Art nicht mehr möglich<br />

sein wird (11).<br />

Damit diese Umweltkatastrophe verhindert wird, müssten die Erdöl und Erdgas fördernden<br />

Anlagen im Kaspischen Gebiet – ebenso wie alle anderen Industrieanlagen – bessere<br />

Destillations- und Filtersysteme verwenden, um so den Schadstoffausstoß drastisch<br />

zu verringern. Des Weiteren müssen die Mülldeponien gesichert, der Schadstoffausstoß<br />

der Tanker und Fährschiffe vermindert sowie die Abwässer der Städte der Anrainerstaaten<br />

mit ihren rd. 150 Mio. Einwohnern umweltgerecht aufbereitet werden (8).<br />

Der Fischfang trägt wesentlich zum Handel bei, weshalb in diesem Bereich wegen des<br />

stark verminderten Fischbestandes große Verluste entstanden. Dazu beigetragen hat, dass<br />

ab 1950 an den Zuflüssen des Kaspischen Meeres zahlreiche Staudämme <strong>für</strong> die Bewässerung<br />

und Stromerzeugung errichtet wurden. Gleichzeitig stieg der Meeresspiegel, sodass<br />

die Reviere der Störe unter Hochwasser standen. Wegen der Staudämme konnte der Stör<br />

weder seine Paarungsgewässer erreichen, noch die Laichreviere nutzen, was ein Grund<br />

da<strong>für</strong> ist, das der Stör vom Aussterben bedroht ist. Genauso ergeht es dem wertvollen<br />

Kaspischen Rotfisch. Andere Fischarten, wie z. B. Aal, Semayı und Aggöz sind bereits<br />

fast ausgestorben.<br />

Wenn man das biologische Potenzial des Kaspischen Meeres wieder herstellen will,<br />

ist es notwendig, dass die Küstenstaaten eine intensive Zusammenarbeit betreiben, damit<br />

sich die Fischbestände wieder erholen können (8).<br />

5 Ein kurzer Einblick in die Imkerei Aserbaidschans<br />

Das wichtigste Produkt der aserbaidschanischen Imker ist Honig, ebenso werden Pollen,<br />

Bienenmilch, Wachs, Blumenstaub etc. produziert. Die Bienenzucht, die Haltungsmethoden<br />

und der Bienenschutz sind jedoch in jeder Hinsicht sehr rückständig. Die gesamte<br />

jährliche Honigproduktion beträgt 1200 t. Etwa 126 000 Bienenvölker werden von den<br />

aserbaidschanischen Imkern gehalten. 2010 waren insgesamt 3000 Personen in diesem<br />

Bereich beschäftigt.<br />

Um den Bedarf an Honigprodukten durch die inländische Produktion decken zu können,<br />

müsste die Honigerzeugung um das Achtfache gesteigert werden. Die klimatischen<br />

Bedingungen, die Vielfalt der Pflanzen sowie die vielen Bienenarten bieten <strong>für</strong> eine solche<br />

Steigerung gute Bedingungen. Im Staatsprogramm <strong>für</strong> die Regionale Entwicklung wird<br />

der Imkerei ein hoher Wert beigemessen. Um diesen Bereich weiterzuentwickeln, ist im<br />

Programm vorgesehen, in den kommenden Jahren die fünffache Anzahl an Familienbetrieben<br />

<strong>für</strong> die Imkerei zu gewinnen.<br />

Buel_3_11.indb 511 17.11.2011 08:13:30


512 Elman Muradov<br />

6 Fazit und Ausblick<br />

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die landwirtschaftliche Produktion in<br />

Aserbaidschan stark zurück gegangen. Der Anteil der Land- und Forstwirtschaft an der<br />

gesamten Bruttoinlandsproduktion nahm seit Anfang der Neunziger Jahre stetig ab. So<br />

sank ihr Anteil von 16,1 % im Jahr 2000 auf 6,7 % im Jahr 2009 (15). Der Anteil der<br />

in der <strong>Landwirtschaft</strong> Beschäftigten betrug 38,5 % des Gesamtarbeitskräftepotenzial des<br />

Landes. Dieser hohe Prozentsatz wird durch eine gewisse Unterbeschäftigung und latente<br />

Arbeitslosigkeit in ländlichen Gebieten künstlich aufrecht erhalten.<br />

Die aserbaidschanische Regierung hat zur Entwicklung des Agrarsektors zahlreiche<br />

Maßnahmen eingeleitet. Als Ergebnis der Agrarreformen, die 1995 begannen, wurden<br />

Land und Besitz von Kollektiven (Kolchosen) und sowjetischen <strong>Landwirtschaft</strong>sbetrieben<br />

(Sowchosen) unentgeltlich unter den Bewohnern der ländlichen Gebiete verteilt. Die<br />

Mehrzahl der neuen Landeigentümer haben jedoch keine ausreichenden Kenntnisse, um<br />

ihren Kleinbetrieb unter privatwirtschaftlichen Bedingungen erfolgreich zu führen. Die<br />

große Diskrepanz zwischen BIP-Anteil und landwirtschaftlicher Erwerbsbevölkerung<br />

zeugt von geringer Arbeitsproduktivität und reflektiert die Bedeutung landwirtschaftlicher<br />

Nebenerwerbstätigkeit. Zusammen mit anderen Faktoren führt dies zu einer ausgeprägten<br />

Abwanderung, vor allem der jüngeren Bevölkerung, in die Hauptstadt Baku<br />

oder ins Ausland. Eine bleibende Herausforderung in Aserbaidschan sind Investitionen in<br />

das Humankapital (Agrarfachkräfte) und in die Infrastruktur der ländlichen Räume, um<br />

Abwanderungstendenzen entgegenzuwirken.<br />

Es ist offensichtlich, dass die landwirtschaftlichen Betriebe im unteren Bereich der<br />

Produktionsfunktion wirtschaften, d. h. mit geringem Kapitaleinsatz und veralteten Produktionstechnologien.<br />

Obwohl die rechtlichen Rahmenbedingungen <strong>für</strong> ein marktwirtschaftliches<br />

Umfeld deutlich verbessert wurden, sind die alten „sozialistischen Denkstrukturen“<br />

bestehen geblieben. Die zukünftige Entwicklung der <strong>Landwirtschaft</strong> hängt von der<br />

Schaffung und Ausgestaltung der entsprechenden institutionellen Rahmenbedingungen<br />

ab. Das Ziel der künftigen Agrarpolitik muss darin liegen, die Rahmenbedingungen <strong>für</strong><br />

ein marktwirtschaftliches Handeln zu verbessern und effiziente Förderungen zu gewähren.<br />

Zusammenfassung<br />

Der Agrarsektor hat eine wichtige Funktion <strong>für</strong> den Arbeitsmarkt im ländlichen Raum; hier sind mehr<br />

als 38 % der Erwerbstätigen Aserbaidschans tätig. Er ist zugleich von beträchtlicher Bedeutung <strong>für</strong><br />

die wirtschaftliche Stabilität des Landes. Aufgrund der hohen Bodenfruchtbarkeit, der natürlichen<br />

Bedingungen und geografischen Lage hat Aserbaidschan komparative Vorteile <strong>für</strong> die landwirtschaftliche<br />

Produktion. Trotz dieser Vorteile ist die wirtschaftliche Situation der <strong>Landwirtschaft</strong> nicht<br />

zufriedenstellend.<br />

Die Entwicklungsphasen der aserbaidschanischen <strong>Landwirtschaft</strong> waren sehr unterschiedlich.<br />

Diese lassen sich vor allem auf die engen Wechselwirkungen zwischen den agrarpolitischen Zielen<br />

und dem gesellschaftlichen Wandel zurückführen. Die gegenwärtige Entwicklung der <strong>Landwirtschaft</strong><br />

Aserbaidschans wird vor dem Hintergrund der veränderten Marktverhältnisse untersucht und die daraus<br />

resultierenden Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion und Struktur dargestellt.<br />

Summary<br />

Analysis and development opportunities for the agricultural sector in Azerbaijan<br />

The agricultural sector plays a vital role in the labour market in rural areas; more than 38% of the<br />

total workforce of Azerbaijan is employed in such rural areas. At the same time, the agricultural<br />

sector also contributes significantly to the country’s economic stability. Azerbaijan has a comparative<br />

edge in agricultural production due to its high soil fertility, its natural conditions and its geographic<br />

location. These advantages notwithstanding, the economic situation of the agricultural sector is not<br />

satisfactory.<br />

Buel_3_11.indb 512 17.11.2011 08:13:30


Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />

513<br />

Azerbaijan’s agricultural sector has undergone very different stages of development. These are<br />

mainly due to the close interaction between agriculture policy objectives and social change. This<br />

study analyses the current developments taking place within Azerbaijan’s agricultural sector in the<br />

context of changed market conditions and explains the resulting changes in agricultural production<br />

structures.<br />

Résumé<br />

Analyse et perspectives de l‘agriculture de l’Azerbaïdjan<br />

Le secteur agricole joue un rôle important pour le marché du travail en milieu rural où travaillent<br />

plus de 38 % de la population en Azerbaïdjan. Il joue également un rôle significatif pour la stabilité<br />

économique du pays. Grâce à la grande fertilité de son sol, à ses conditions naturelles et à sa situation<br />

géographique, l’Azerbaïdjan bénéficie d’avantages comparatifs pour la production agricole. Malgré<br />

ces avantages, la situation économique dans laquelle se trouve l’agriculture n’est pas satisfaisante.<br />

En ce qui concerne l’évolution de l’agriculture, l’Azerbaïdjan a vécu des phases très différentes.<br />

Cela s’explique notamment par les étroites interactions entre les objectifs de la politique agricole<br />

et les changements au niveau de la société. La présente étude analyse le développement actuel de<br />

l’agriculture de l’Azerbaïdjan dans le contexte des conditions de marché modifiées. L’analyse montre<br />

également quels changements en résultent pour la production et les structures agricoles.<br />

Literatur<br />

1. abasOv i., 2010: „Mehr Fläche und Ertrag“, In: Ost-West Contact, 1/2010, S. 70.<br />

2. abbasOv, v., 2005: „Rising Caspian Waters Pose Flood Threat“. In: Azernews No: 19 (409), Mai 11–<br />

Mai 17, 2005, S. 3, http://www.azernews.net/view.php?d=5705 (Zugriff 15.05.2005).<br />

3. aliyev, i., 2004: „Agrar saheye Investisiya Imkanlari“ (Investionsmöglichkeiten und Investitionen in<br />

die aserbaidschanische Agrarwirtschaft). In: Diyalog Azerbaycan, Nr.16, S. 12–13.<br />

4. –, 2002: Azerbaycan Iqtisadiyyati (Wirtschaft Aserbaidschans). Baku: Maarif.<br />

5. aras., O. n., 2005: Azerbaycan Ekonomisi ve yatirim imkanlari (Wirtschaft Aserbaidschans und Investitionsmöglichkeiten),<br />

Baku: TÜSIAB, S. 87–111.<br />

6. bayramOglu, z.; Ozer, O.; gunDOgmus, e., 2010: The impact of changes in Turkey’s hazelnut policy<br />

on world markets, African Journal of Agricultural Research Vol. 5 (1), pp. 007–015, 4 January, 2010,<br />

S. 1.<br />

7. Bericht <strong>über</strong> die menschliche Entwicklung, 1997: UN, Baku, S. 64.<br />

8. Beschluss des Ministerkabinett Aserbaidschans vom 24.12.2010 No 243.<br />

9. Botschaft der Republik Aserbaidschan in Deutschland, Kurz<strong>über</strong>sicht <strong>über</strong> den agrarseKtOr<br />

(27.06.2011).<br />

10. buDaqOv-buDaq, y. q., 1996: Azerbaycan Respublikasinin FizikiCografiyasi (Physische Geographie<br />

Aserbaidschans). Baku: Muallim.<br />

11. CavaDOv, e., 1999: Azerbaycanin aqrar iqtisadiyyati müsteqillik dövründe (Aserbaidschanische Agrarwirstchaft<br />

in der Unabhängigkeit). Baku: Azerneshr.<br />

12. Cemenzeminli, Y. V., 1993: Tarixi Cografi ve Iqtisadi Azerbaycan (Das historische, geografische und<br />

ökonomische Aserbaidschan). Baku: Baki Universiteti Nesriyyati.<br />

13. Deutscher <strong>Landwirtschaft</strong>sverlag GmbH „Jeder deutsche Landwirt ernährt heute 133 Menschen“ http://<br />

www.agrarheute.com/jeder-deutsche-landwirt-ernaehrt-heute-133-menschen (Zugriff 21.06.2011).<br />

14. ehmeDOv, e.; haCiyev, m., 2004: Azerbaycan Iqtisadiyyati (Aserbaidschanische Wirtschaft). Baku:<br />

Seda Yayinlari.<br />

15. guliyev, r., 2002: „Agrar bazarlarin tenzimlenmesi üzre dünya tecrübesi“ (Internationale Erfahrung<br />

im Bereich der Regulierung der Agrarmärkte), In: Meshveret Nr. 12 (48), S. 39.<br />

16. memmeDOv, s., 1998: Inflyasiya ve Maliyye Bazari (Inflation und Finanzmarkt). Baku: Elm, S. 71–75.<br />

17. Ministerium <strong>für</strong> wirtschaftliche Entwicklung der Republik Aserbaidschan, Durchführungsbericht 2010<br />

zum Staatlichen Programm <strong>über</strong> die zuverlässige Lebensmittelversorgung der Republik Aserbaidschan<br />

2008–2015.<br />

18. nebiyev, N., 2000: Iqtisadi Cemiyyetve Ekoloji Muhiti (Wirtschaftliche Gesellschaft und ökologische<br />

Umgebung). Baku: Agridag Nesriyati. S. 205-225.<br />

19. Staatliches Komitee Aserbaidschans <strong>für</strong> Statistik , „Aserbaidschan in Zahlen 2010“.<br />

20. Staatliches Programm <strong>für</strong> die sozial-wirtschaftliche Entwicklung der Regionen von 2004–2008, Dekret<br />

des Präsidenten der Republik Aserbaidschan Nr. 24 vom 11.02.2004.<br />

21. Staatliches Programm <strong>für</strong> die sozial-wirtschaftliche Entwicklung der Regionen von 2009–2013, Dekret<br />

des Präsidenten der Republik Aserbaidschan Nr. 80 vom 14.04.2009.<br />

Buel_3_11.indb 513 17.11.2011 08:13:30


514 Elman Muradov<br />

22. Staatliches Programm <strong>über</strong> die zuverlässige Lebensmittelversorgung der Republik Aserbaidschan von<br />

2008–2015“, Beschluss Nr. 3004 des Präsidenten der Republik Aserbaidschan vom 25.08.2008.<br />

23. Staatliches Programme zur landwirtschaftlichen Entwicklung von 2002–2006, Beschluss des Ministerkabinetts<br />

Nr. 219s vom 17.10.2002.<br />

24. Umweltschutzbericht der Umweltministerium der Republik Aserbaidschan, Baku, 1998, S. 39–40.<br />

Autorenanschrift: elman muraDOv, Agrarattaché der Botschaft der Republik Aserbaidschan,<br />

Hubertusallee 43, 14193 Berlin, Deutschland<br />

economy@azembassy.de<br />

Buel_3_11.indb 514 17.11.2011 08:13:30


Berichtigung<br />

<strong>Berichte</strong> <strong>über</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>, Heft 2/2011, Bd. 89, S. 218–231<br />

Identifizierung peripherer Regionen mit strukturellen und<br />

wirtschaftlichen Problemen in Deutschland<br />

Tabelle 2, Seite 224<br />

Von anne margarian und patriCK Küpper, Braunschweig<br />

Tabelle 2. Berechnete Faktoren und Faktorladungen<br />

1 z=z-transformiert, Bezeichnungen s. Tabelle 1; *Ladungen zur Berechnung der Zwischenindizes<br />

Quelle: Eigene Berechnung<br />

Buel_3_11.indb 515 17.11.2011 08:13:30<br />

515


516 Berichtigung<br />

Tabelle 3, Seite 225<br />

Tabelle 3. Berechnete Gewichte von Indikatoren und Faktoren<br />

*Dargestellt sind alle Gewichte aus einer quadrierten Faktorladung >0,35<br />

Quelle: Eigene Berechnung<br />

Buel_3_11.indb 516 17.11.2011 08:13:31


KTBL-Veröffentlichung: „Direktvermarktung<br />

- Kalkulationsdaten <strong>für</strong> die Direktvermarktung“,<br />

Darmstadt, 2011,<br />

4. <strong>über</strong>arbeitete Aufl., 112 S., 24 Euro,<br />

ISBN 978-3-941583-47-4, Best.-Nr.<br />

19504. Bestellservice: Kuratorium <strong>für</strong><br />

Technik und Bauwesen in der <strong>Landwirtschaft</strong><br />

(KTBL), Bartningstr. 49, 64289<br />

Darmstadt, Tel 06151 /7001189 Fax<br />

06151/ 70 01 123, E-Mail: vertrieb@<br />

ktbl.de oder im Online-Shop unter<br />

www.ktbl.de.<br />

Die Verbraucherinnen und Verbraucher in<br />

Deutschland entwickeln zunehmend ein großes<br />

Interesse an der Qualität und der Herkunft ihrer<br />

Lebensmittel. Mit den steigenden Ansprüchen<br />

an die Lebensmittelqualität werden auch immer<br />

mehr Lebensmittel direkt vom Bauernhof nachgefragt.<br />

Als wichtige Form der regionalen Vermarktung<br />

hat sich die Direktvermarktung z. Bauf Bauernmärkten<br />

und Hofläden fest etabliert. Inallen<br />

Regionen Deutschlands gibt es eine Vielzahl von<br />

Erzeugern, die regionale Produkte von Qualität<br />

anbieten und somit dazu beitragen, Arbeitsplätze<br />

in ländlichen Regionen zu schaffen bzw. zuerhalten<br />

und die ländliche Wirtschaftskraft zu stärken.<br />

In der jetzt vorliegenden 4. <strong>über</strong>arbeiteten Broschüre<br />

zur Direktvermarktung gibt das KTBL<br />

anhand einer Datensammlung zur Planung und<br />

individuellen Kalkulation wertvolle Informationen,<br />

Orientierungshilfen und Handlungstipps<br />

wie die bäuerlichen Betriebe ihre Produkte<br />

wirtschaftlicher und effizienter vermarkten können.<br />

Es werden sämtliche Bereiche, die bei der<br />

Direktvermarktung zu beachten sind, detailliert<br />

behandelt. Auch <strong>für</strong> „Neueinsteiger“ in die Direktvermarktung<br />

ist diese Broschüre ein sehr<br />

nützlicher Ratgeber.<br />

Dr. ursel binzel, bOnn<br />

KTBL-Schrift 486, sChrOers, Jan Ole;<br />

sauer, nOrbert: Die Leistungs-Kostenrechnung<br />

in der landwirtschaftlichen<br />

Betriebsplanung. Darmstadt,<br />

2011, 96 S., 24 Euro, ISBN 978-3-<br />

941583-50-4, Best.-Nr. 11486. Bestellservice:<br />

Kuratorium <strong>für</strong> Technik<br />

Bücherschau<br />

517<br />

und Bauwesen in der <strong>Landwirtschaft</strong><br />

(KTBL), Bartningstr. 49, 64289 Darmstadt,<br />

Tel06151 /7001189 Fax 06151/<br />

70 01 123, E-Mail: vertrieb@ktbl.de<br />

oder im Online-Shop unter www.ktbl.<br />

de<br />

<strong>Landwirtschaft</strong>liche Betriebe müssen häufig<br />

Entscheidungen treffen. Lohnen sich die Investitionen<br />

in eine schlagkräftigere Maschine, die<br />

Erweiterung der Tierhaltung oder der Einstieg<br />

in die Erzeugung erneuerbarer Energien? Unterstützung<br />

bieten verlässliche Daten und ein<br />

sicherer Umgang mit den Methoden der Leistungs-Kostenrechnung.<br />

Die Schrift „Die Leistungs-Kostenrechnung<br />

in der landwirtschaftlichen Betriebsplanung“<br />

gibt umfassende Einblicke in die vielfältigen<br />

Planungs- und Entscheidungsanlässe im landwirtschaftlichen<br />

Betrieb. Kennzahlen zur<br />

Bewertung von Arbeits- und Produktionsverfahren,<br />

Methoden zur Stückkostenkalkulation<br />

und zur Rentabilität von Investitionen werden<br />

allgemeingültig <strong>für</strong> alle landwirtschaftlichen<br />

Produktionsrichtungen und Betriebsformen definiert<br />

und erklärt. Konkrete Fragestellungen<br />

werden in praxisnahen Bespielen beantwortet.<br />

Ktbl<br />

Buel_3_11.indb 517 17.11.2011 08:13:31

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