Berichte über Landwirtschaft - Bundesministerium für Ernährung ...
Berichte über Landwirtschaft - Bundesministerium für Ernährung ...
Berichte über Landwirtschaft - Bundesministerium für Ernährung ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Band 89 (3) ·351–518 ·Dezember 2011 ISSN 0005-9080<br />
<strong>Berichte</strong> <strong>über</strong><br />
<strong>Landwirtschaft</strong><br />
Zeitschrift <strong>für</strong> Agrarpolitik und <strong>Landwirtschaft</strong><br />
Herausgegeben vom <strong>Bundesministerium</strong> <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong>,<br />
<strong>Landwirtschaft</strong> und Verbraucherschutz<br />
00_Titelei.indd 351 17.11.2011 15:13:08
Herausgeber: Die „<strong>Berichte</strong> <strong>über</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>“ und „Sonderhefte der <strong>Berichte</strong> <strong>über</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>“<br />
werden vom <strong>Bundesministerium</strong> <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong>, <strong>Landwirtschaft</strong> und Verbraucherschutz, Postfach<br />
14 02 70, D-53107 Bonn, Deutschland (Tel.: +49(0)30 18529-48 23 oder -32 29), herausgegeben. Die<br />
Beiträge geben die persönliche Auffassung der Verfasser wieder, ihre Veröffentlichung bedeutet keine<br />
Stellungnahme des Herausgebers. Manuskripte senden die Verfasser an die Schriftleitung.<br />
Schriftleitung: Hauptschriftleiter, MinDir Clemens neumann,Leiter der Abteilung „Biobasierte Wirtschaft,<br />
Nachhaltige Land- und Forstwirtschaft“. Verantwortlicher Schriftleiter: MinR Dr. Jürgen OhlhOff.<br />
Vorbehalt aller Rechte: Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt.<br />
Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, des Vortrages,<br />
der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funk- und Fernsehsendung, der Mikroverfilmung<br />
oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.<br />
Das Vervielfältigen dieser Zeitschrift ist auch im Einzelfall grundsätzlich verboten. Die Herstellung<br />
einer Kopie eines einzelnen Beitrages oder von Teilen eines Beitrages ist auch im Einzelfall<br />
nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik<br />
Deutschland vom 9. September 1965 in der Fassung vom 24. Juni 1985 zulässig. Sie ist grundsätzlich<br />
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.<br />
Gesetzlich zulässige Vervielfältigungen sind mit einem Vermerk <strong>über</strong> die Quelle und den<br />
Vervielfältiger zukennzeichnen.<br />
Copyright-mosthead-statement (valid for users in the USA): The appearance of the code at the<br />
bottom of the first page an article in this journal indicates the copyright owner‘s consent that copies<br />
of the article may be made for personal orinternal use, or for the personal orinternal use of specific<br />
clients. This consent is given on the condition, however, that the copier pay the stated percopy free<br />
throug the Copyright Clearance CenterInc., 21 Congress Street, Salem, MA01970/USA, Tel.: (617)<br />
744-3350 for copying beyond that permitted by Sections 107 or 108 of the U.S. Copyright Law.This<br />
consent does not extend to other kinds of copying, such as copying for general distribution, for advertising<br />
or promotional purposes, for creating new collective, or for resale. For copying from back<br />
volumes of this journal see Permissions to Photo-Copy: Publisher‘s Fee List‘ of the CCC.<br />
Verlag und Anzeigenverwaltung: Kohlhammer Verlag, D-70549 Stuttgart (Postfach), Heßbrühlstraße 69,<br />
D-70565 Stuttgart, Tel. 07 11/78 63-0, Telefax 07 11/78 63-82 88, E-Mail: landwirtschaft@kohlhammer.de,<br />
Baden-Württembergische Bank Kto. 1002 583 100, BLZ 600 200 30).<br />
Geschäftsführung: Dr. Jürgen gutbrOD, leOpOlD freiherr vOn unD zu Weiler.<br />
Erscheinungsweise und Bezugspreis 2011: Es erscheint Band 89 mit 3Heften. Jahresabonnement 225,00 €/<br />
SFr 313,00 einschl. 7%Mehrwertsteuer und Versandkosten.<br />
Das Abonnement wird zum Jahresanfang berechnet und zur Zahlung fällig. Es verlängert sich stillschweigend,<br />
wenn nicht spätestens 6Wochen vor Jahresende eine Abbestellung beim Verlag vorliegt.<br />
Die Zeitschrift kann in jeder Buchhandlung oder beim Kohlhammer Verlag, D-70549 Stuttgart, Deutschland,<br />
bestellt werden. Internet: http://www.kohlhammer.de, E-Mail: landwirtschaft@kohlhammer.de<br />
This journal is covered by Biosciences Information Service ofBiological Abstracts, by Current Contents (Series<br />
Agriculture, Biologyand Environmental Sciences) of Institute for Scientific Information, and by World Agricultural<br />
Economics and Rural Sociology Abstracts (WAERSA) Bureau of the Commonwealth of Agriculture Economics.<br />
©2011 W.Kohlhammer GmbH Stuttgart<br />
Gesamtherstellung: Druckerei W. Kohlhammer GmbH &Co. KG, Stuttgart<br />
Printed inGermany<br />
Ber. Ldw. 89(2011), H. 3, S. 351–514<br />
ISSN 0005-9080<br />
Buel_3_11.indb 352 17.11.2011 08:13:01
Inhalt<br />
Initiativen <strong>für</strong> „faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />
Von agnes Klein und Klaus menraD, Weihenstephan-Triesdorf ........................ 355<br />
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität –<br />
Ergebnisse einer europaweiten Befragung von Milcherzeugern<br />
Von birthe lassen, Braunschweig. ............................................... 376<br />
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter besonderer Berücksichtigung<br />
von Transportkosten<br />
Von gerD eberharDt, Potsdam, martin ODening, Berlin,<br />
hermann lOtze-Campen, Potsdam, berit erlaCh, Berlin, susanne rOlinsKi, Potsdam,<br />
pia rOthe, Potsdam, benJamin Wirth, Berlin ....................................... 400<br />
Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong> Mähdrescher in Deutschland<br />
Von Clemens fuChs, JOaChim Kasten, ChristOpher ströbele und mathias urbaneK,<br />
Neubrandenburg.............................................................. 425<br />
BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />
Auswirkungen des BilMoG <strong>für</strong> den BMELV –Jahresabschluss<br />
Von matthias mOser und ennO bahrs, hOhenheim .................................. 440<br />
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland vor<br />
und nach der Wiedervereinigung<br />
Von axel WOlz, Halle (Saale) ................................................... 455<br />
Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln –Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />
Von axel philipps, Hannover .................................................... 478<br />
Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />
Von elman muraDOv, Berlin .................................................... 497<br />
Berichtigung: <strong>Berichte</strong> <strong>über</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>, Heft 2/2011, Bd. 89, S. 218–231<br />
Identifizierung peripherer Regionen mit strukturellen und wirtschaftlichen Problemen in<br />
Deutschland<br />
Von anne margarian und patriCK Küpper, Braunschweig ............................. 515<br />
Bücherschauen<br />
sChrOers, Jan Ole; sauer, nOrbert: Leistungs-Kostenrechnung in der landwirtschaftlichen<br />
Betriebsplanung<br />
KTBL-Datensammlung: „Direktvermarktung Kalkulationsdaten <strong>für</strong> die Direktvermarktung“,<br />
Darmstadt................................................................... 517<br />
Buel_3_11.indb 353 17.11.2011 08:13:01
Buel_3_11.indb 354 17.11.2011 08:13:01
Initiativen <strong>für</strong> „faire“ Milchpreise: Neue Wege in der<br />
(regionalen) Milchvermarktung?<br />
Von Agnes Klein und KlAus MenrAd, Weihenstephan-Triesdorf<br />
1 Einleitung<br />
U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0355 $2.50/0<br />
355<br />
Die Situation der Milcherzeuger und die Entwicklung der Milcherzeugerpreise wurden<br />
in den letzten Jahren immer wieder öffentlichkeitswirksam thematisiert. Dies geschah<br />
z. B. durch die Milchlieferboykotte 2008 und 2009, diverse Protestaktionen von verschiedenen<br />
landwirtschaftlichen Gruppierungen sowie die medialen <strong>Berichte</strong>rstattungen <strong>über</strong><br />
aktuelle Verbraucherpreisentwicklungen bei Milchprodukten. Vordem Hintergrund dieser<br />
Entwicklungen entstanden diverse Initiativen zur Vermarktung von Milch und Milchprodukten<br />
aus der Region in Kombination mit einer „fairen“ Milchpreisgestaltung. Beispiele<br />
hier<strong>für</strong> sind die „Bayerische Bauernmilch“, das „Erzeugerfair-Milch-Projekt“ der Upländer<br />
Bauernmolkerei,die „Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger“-Linie vom Netto Marken-Discount oder<br />
„A faire Milch“ in Österreich. Vielfach ist es das erklärte Ziel dieser Projekte, eine höhere<br />
Wertschöpfung <strong>für</strong> die Produkte zu erreichen und dadurch einen Beitrag zur Einkommenssicherung<br />
der beteiligten Erzeuger zu leisten. Im Zuge der Kommunikation <strong>für</strong> die<br />
Projekte wird oftmals ex- oder implizit mit einer (direkten) Unterstützung der beteiligten<br />
Milcherzeuger geworben. Dabei werden neben der garantiertenHerkunft aus einer Region<br />
verschiedene weitere Argumente vorgebracht, die eine Unterstützung der Erzeuger rechtfertigen.<br />
So wird z. B. argumentiert, dass Milcherzeuger qualitativ hochwertige, unbelastete<br />
Produkte <strong>für</strong> eine gesunde <strong>Ernährung</strong> erzeugen. Außerdem prägen sie den ländlichen<br />
Raum, leisten einen Beitrag zum Erhalt der Kulturlandschaft oder stehen <strong>für</strong> Arbeitsplätze<br />
in Familienbetrieben (1; 16; 29; 44).<br />
Obwohl in den letzten Jahren eine ganze Reihe dieser Projekte entstanden ist, fehlt<br />
bislang eine umfassende Bestandsaufnahme, Systematisierung und wissenschaftliche<br />
Auseinandersetzung mit dieser Form der Regional „fairen“ und <strong>über</strong>wiegend konventionellen<br />
Milchvermarktung. Zwar gibt es einige Arbeiten oder Beiträge, die sich mit dem<br />
Thema auseinandersetzen. Diese fokussieren sich in aller Regel aber auf die Biobewegung<br />
(z. B. 35; 6) oder beschränken sich auf eine rein inhaltliche Beschreibung der Projekte in<br />
landwirtschaftlichen Fachzeitschriften (20). Ziel des vorliegenden Beitrags ist es daher,<br />
eine Bestandsaufnahme und Systematisierung solcher Projekte zuerreichen und auf der<br />
Basis von identifizierten Hemmnissen und Problemen notwendige Handlungsfelder und<br />
Anpassungsmaßnahmen aufzuzeigen. Dadurch soll die aufgezeigte Lücke in der wissenschaftlichen<br />
Literatur geschlossen werden. Hierzu wird zunächst beschrieben, auf welcher<br />
Datengrundlage der vorliegende Beitrag beruht. Im Anschluss erfolgt eine Bestandsaufnahme<br />
und Systematisierung von bestehenden (regionalen) Vermarktungsinitiativen <strong>für</strong><br />
einen „fairen“ Milchpreis. Im weiteren Verlauf werden identifizierte Hemmnisse und Barrieren<br />
sowie Stärken und Schwächen solcher Projekte aufgezeigt. Abschließend erfolgt<br />
eine Diskussion notwendiger Handlungsfelder und Anpassungsmaßnahmen.<br />
Buel_3_11.indb 355 17.11.2011 08:13:01
356 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />
2 Methodik und Datengrundlage<br />
Der vorliegende Beitrag beruht auf den Ergebnissen eines Forschungsprojektes, das von<br />
Frühjahr 2009 bis Frühjahr 2010 im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums <strong>für</strong><br />
<strong>Ernährung</strong>, <strong>Landwirtschaft</strong> und Forsten durchgeführt wurde. Ziel des Projekts war eine<br />
Bestandsaufnahme von am Markt existierenden (regionalen) Milchvermarktungsprojekten,<br />
die mit einer (direkten) Unterstützung der beteiligen Landwirte werben. Im Zuge des<br />
Projekts fand zunächst eine umfangreiche Literaturrecherche statt, um einen Überblick<br />
<strong>über</strong> relevante Projekte am Markt zu erhalten. Basierend auf diesen Ergebnissen, wurden<br />
in einem zweiten Schritt Fallstudien mit den folgenden Projekten durchgeführt:<br />
● Bayerische Bauernmilch (Träger: Milchproduktenhandel Oberland eG) und Bauernmilch<br />
(Träger: Milchproduktenhandel Oberland eG, Vertrieb <strong>über</strong>: Real)<br />
● Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger (Träger: Netto Marken-Discount)<br />
● Erzeugerfair-Milch (Träger: Upländer Bauernmolkerei)<br />
● Unser Land-Milch (Träger: Unser Land)<br />
● Afaire Milch (Träger: IG-Milch, Österreich).<br />
Im Rahmen der Fallstudien wurden vierzehn, <strong>über</strong>wiegend persönliche, leitfadengestützte<br />
Interviews mit verschiedenen Akteuren der Projekte geführt. Unter den Gesprächspartnern<br />
befanden sich Vertreter der Erzeuger-, Verarbeitungs- und Vermarktungsstufe sowie sonstige<br />
Partner der Projekte. Bei den Gesprächen wurden allgemeine Informationen zur Entstehung<br />
und Organisation der Initiativen erfasst. Dar<strong>über</strong> hinaus wurden bisherige Erfahrungen<br />
mit den Projekten, Hemmnisse und Barrieren, Stärken und Schwächen sowie notwendige<br />
Anpassungsmaßnahmen diskutiert. Die Interviews wurden anschließend mithilfe<br />
einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. In einem nächsten Schritt wurden diese<br />
Ergebnisse aus den Fallstudien im Zuge von verschiedenen Expertengesprächen sowie<br />
in einem Workshop diskutiert, validiert und generalisiert. Die am Workshop teilnehmenden<br />
Experten waren <strong>über</strong>wiegend Vertreter von Verbänden, Wissenschaftler, Vertreter von<br />
Handelsunternehmen oder von NGOs.<br />
Im Folgenden wird zunächst ein Überblick <strong>über</strong> relevante, am Markt existierende Konzepte<br />
gegeben.<br />
3 Übersicht <strong>über</strong> und Systematisierung von bestehenden (regionalen)<br />
Vermarktungsinitiativen <strong>für</strong> einen „fairen“ Milchpreis<br />
3.1 Darstellung und Beschreibung der (regionalen) Initiativen<br />
<strong>für</strong> einen „fairen“ Milchpreis<br />
AlsErgebnis der Literatursichtung wurden in Deutschland undÖsterreich zwölf,<strong>über</strong>wiegend<br />
regionale Milchvermarktungsinitiativen identifiziert, die mit einer (direkten) Unterstützung<br />
der beteiligten Erzeuger bzw. „fairen“ Erzeugerpreisen werben oder geworben<br />
haben. Tabelle 1gibt einen Überblick <strong>über</strong> diese Projekte, deren Startzeitpunkt und Produktsortiment<br />
sowie <strong>über</strong> die verfolgte Preis(setzungs-)strategie. Im Folgenden werden<br />
die Projekte zunächst kurz charakterisiert.<br />
Eine der ersten Initiativen, die mit einer Unterstützung der beteiligten Bio-Milcherzeuger<br />
geworben hat, ist das „Erzeugerfair-Milch“-Projekt der Upländer Bauernmolkerei.<br />
Das Projekt wurde bereits im Januar 2005 mit der Kampagne „Aktiv <strong>für</strong> heimische<br />
Bio-Bäuerinnen –denn faire Preise bieten Zukunft“ gestartet. Zunächst wurde nur Bio-<br />
Frischmilch im Naturkosthandel verkauft. Jedoch folgten im weiteren Verlauf eine Sortimentsausdehnung<br />
auf Schmand und der Verkauf <strong>über</strong> den Lebensmitteleinzelhandel. Zu<br />
Beginn des Projekts wurde die Ein-Liter-Packung Milch mit einem direkten Preisauf-<br />
Buel_3_11.indb 356 17.11.2011 08:13:01
Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />
357<br />
schlag von5Centverkauft. Dieser wurdenur fällig,wennder Konsumenteinen Aufkleber<br />
(„Fair-Marke“) auf das Produkt geklebt hatte. Da sich der organisatorische Aufwand <strong>für</strong><br />
dieses Vorgehen mit der Zeit als impraktikabel erwies, wurde die Strategie im weiteren<br />
Verlauf verändert. Ab Juni 2007 zahlte die Upländer Bauernmolkerei daher ihren Lieferanten<br />
einen Auszahlungspreis von 40 Cent. Im November desselben Jahres wurde dieser<br />
nochmals um 10 Cent auf 50 Cent angehoben (24).<br />
Auch das österreichische Projekt „A faire Milch“ ist schon verhältnismäßig lange am<br />
Markt. Dieses Konzept wurde im Juli 2006 auf Initiative der IG-Milch, einem Zusammenschluss<br />
österreichischer Rinder- und Grünlandbauern, gegründet. Die „A faire Milch“ ist<br />
eine Ein-Liter-ESL-Milch, die zu einem Preis von 1,09 €vertrieben wird. 10 Cent pro<br />
Liter aus dem Verkauf der Produkte fließen an IG-Milch-Mitglieder, die einen „Fairness“-<br />
Vertrag mit der Organisation abgeschlossen haben. Dieser Zuschlag ist allerdings an<br />
bestimmte Auflagen gebunden (z. B. Einhaltung der Betriebsquote) und wird nur bis zu<br />
einer Jahresliefermenge von 50 000 kg Milch gewährt (8; 9).<br />
In Bayern existiert in und um München das Netzwerk „Unser Land“. Dieses Netzwerk<br />
ist ein ganzheitlicher Ansatz zur Regionalvermarktung, dessen erklärtes Ziel es ist, die<br />
natürlichen Lebensgrundlagen von Menschen, Tieren und Pflanzen zu erhalten und zu verbessern.Neben<br />
40 verschiedenen Lebensmitteln wurde zunächst auch eine konventionelle<br />
Frischmilch verkauft. Bei Einhaltung der von „Unser Land“ festgelegten Erzeugungsrichtlinien<br />
erhielten die beteiligten Erzeuger dabei einen Zuschlag von 2,6 Cent /Liter Milch.<br />
Seitdem aber die <strong>für</strong> das Netzwerk abfüllende Molkerei ihre Produktion vollständig auf<br />
„biologische Erzeugung“ umgestellt hat, wird auch die „Unser Land-Milch“ nur noch als<br />
biologische Variante vertrieben. Nach der Produktionsumstellung konnte allerdings die<br />
Bezahlung des Zuschlags nicht aufrecht erhalten werden, obwohl die Produkte im Hochpreissegment<br />
verkauft werden (43).<br />
Auch die Initiative„Bayerische Bauernmilch“ stammt aus Bayern. Sie ist infolge eines<br />
Konfliktes einer Molkerei mit ehemaligen Lieferanten dieser Molkerei im Februar 2008<br />
durch die MilchproduktenhandelOberland eG ins Leben gerufen worden. Zunächst wurde<br />
nur eine Ein-Liter-H-Milch <strong>über</strong> Lidl zu einem Preis von 0,89 €(1,5 %Fett) bzw. 0,99 €<br />
(3,8 %Fett) unter diesem Markennamen vertrieben. 2009 erfolgte eine Sortimentserweiterung<br />
um Frischmilch. Außerdem nahmen auch Tengelmann und Norma die Produkte in<br />
ihr Sortiment auf. Jedoch stieg Lidl Anfang des Jahres 2010 aus dem Vertrieb der Produkte<br />
aus und startete eine eigene Initiative (12; 13).<br />
Ein weiteres Beispiel bildet das „Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger“-Projekt, das im Sommer<br />
2008 vom Netto Marken-Discount ins Leben gerufen worden ist. Zunächst wurde unter<br />
der Dachmarke nur H-Milch verkauft. Später erfolgte eine Erweiterung des Sortiments<br />
um weitere Produktgruppen, wie Kartoffeln oder Schinken. Die H-Milch wird mit einem<br />
Preisaufschlag von 10 Cent vertrieben, der an die Lieferanten der abfüllenden Molkereien<br />
fließen soll. Das Unternehmen hat gleichzeitig zu den „Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger“-Produkten<br />
je ein vergleichbares Handelsmarkenprodukt im Sortiment, das bei gleicher Qualität<br />
10 Cent günstiger ist. Unter „vergleichbar“ wird dabei verstanden, dass das Produkt von<br />
dem gleichen Verarbeitungsbetrieb produziert wurde. So wurde z. B. die 1,5%ige „Ein<br />
Herz <strong>für</strong> Erzeuger“-H-Milch bei Projektstart 2008 <strong>für</strong> 71 Cent/Literverkauft, während das<br />
Handelsmarken-Pendant (1,5%ige H-Milch der Eigenmarke „Gutes Land“) <strong>für</strong> 61 Cent/<br />
Liter <strong>über</strong> den Ladentisch ging (30).<br />
Ein weiteres Konzept stellt die „Bauernmilch“-Linie dar.Diese „MoPro“-Linie kann in<br />
gewisser Weise als räumliche Erweiterung und Sortimentsausdehnung der „Bayerischen<br />
Bauernmilch“ verstanden werden. Auch diese Linie wurde von der Milchproduktenhandel<br />
Oberland eGangestoßen. Der Vertrieb der Produkte erfolgt deutschlandweit und ausschließlich<br />
<strong>über</strong> das Handelsunternehmen Real. Die Produktaufmachung ähnelt der der<br />
bayerischen Linie. Im Sortiment befinden sich neben verschiedenen Produkten der weißen<br />
Buel_3_11.indb 357 17.11.2011 08:13:01
358 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />
Tabelle 1. (Regionale) Initiativen <strong>für</strong> einen „fairen“ Milchpreis in Deutschland und Österreich<br />
Projekt Start der Produkt/ Sortiment Preisstrategie Auflagen/ Quali-<br />
Initiative<br />
tätskriterien<br />
Erzeugerfairmilch der 2005, Januar Bio-Frischmilch, Zunächst 5Cent direkter Preisaufschlag, später 40 Ökologische Erzeu-<br />
Upländer Bauernmolkerei<br />
Schmand<br />
dann 50 Cent Auszahlungspreis<br />
gung<br />
Afaire Milch (IG-Milch, 2006, Juli ESL-Milch, Natur- 1,09 €/Liter, davon 10 Cent an IG-Milch-Mitglieder Gentechnikfreie<br />
Österreich)<br />
joghurt<br />
mit Vertrag<br />
Futtermittel<br />
Unser Land Bio-Milch 2007, Sep- Bio-Frischmilch 1,09 €/Liter (1,5 %Fett), 1,19 €/Liter (mind. 3,8 % Unser Land Richttember<br />
Fett); vor Umstellung auf Bio: 2,6 Cent Zuschlag linien/ Ökologische<br />
bei Einhaltung der Erzeugungsrichtlinien<br />
Erzeugung<br />
Bayerische Bauernmilch 2008, Juli H-Milch, Frisch- Verbraucherpreise: 0,89 €/Liter (1,5 %Fett), S-Klasse<br />
(Milchproduktenhandel<br />
milch<br />
0,99 €/Liter (3,8 %Fett)<br />
Oberland eG)<br />
Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger 2008, Juli H-Milch, andere 10 Cent direkter Preisaufschlag (Verbraucherpreis /<br />
(Netto Marken-Discount)<br />
Produktgruppen Projektstart 2008: 0,71 €/Liter (1,5 %Fett)<br />
S-Klasse<br />
Verbraucherpreise: 0,89 €/Liter (1,5 %Fett) H- und<br />
ESL-Milch; 0,99 €/Liter (3,8 %Fett) H- und ESL-<br />
Milch<br />
MoPro-Linie, u. a.<br />
H-Milch und ESL-<br />
Milch<br />
2009, Januar<br />
Bauernmilch (Vertrieb<br />
<strong>über</strong> Real)<br />
/<br />
7Cent vom Verkaufspreis der günstigsten Trinkmilch<br />
(0,55 €/Liter) fließen in Fonds<br />
2009, Mai Trinkmilch<br />
tegut-Projekt <strong>für</strong> Trinkmilch<br />
„Zeichen setzen <strong>für</strong><br />
faire Milchpreise“<br />
Verbraucher zahlt an Kasse 10 Cent mehr /<br />
Aufkleber kann<br />
auf alle MoPro aus<br />
Kühlregal geklebt<br />
werden<br />
Milchzehnerl (Chiemgau) 2009, Juli<br />
Auszahlungspreis wird um 10 %bei Auszahlung<br />
<strong>über</strong> Molkerei erhöht (Verbraucherpreis: 0,59 €/<br />
Liter Vollmilch)<br />
H-Milch und ESL-<br />
Milch<br />
2009, Sommer<br />
„Faire Milch“ unter der<br />
Marke „Unsere Heimat“<br />
(Edeka Südwest)<br />
Buel_3_11.indb 358 17.11.2011 08:13:01
Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />
Projekt Start der Produkt/ Sortiment Preisstrategie Auflagen/ Quali-<br />
Initiative<br />
tätskriterien<br />
BUBI faire Milch von 2009, Sep- Frischmilch 10 Cent pro verkauften Liter fließen <strong>über</strong> Milch- Traditionell herge-<br />
REWE Dortmund tembergeldauszahlung<br />
an Lieferanten (Verbraucherpreis: stellte Frischmilch<br />
0,59 €/Liter Vollmilch)<br />
„Ein gutes Stück Heimat“ 2010, Januar MoPro-Linie, u. a. Verbraucherpreis zu Projektstart: 0,99 €/Liter QM-Milch, Geprüfte<br />
von Lidl<br />
H-Milch und Frisch- (3,8 %Fett)<br />
Qualität Bayern,<br />
milch<br />
Gentechnikfreie<br />
Fütterung, Laufstall<br />
bzw. Weidehaltung,<br />
S-Klasse<br />
Die Faire Milch der 2010, Januar H-Milch Verbraucherpreise zu Projektstart: 0,99 €/Liter Gentechnikfreie<br />
Milchvermarktungs mbH<br />
(3,8 %Fett) (40 Cent Auszahlungspreis soll ge- Fütterung, kein Imwährleistet<br />
werden)<br />
portfuttermittel aus<br />
Übersee, Beteiligung<br />
an Umweltprogrammen<br />
Buel_3_11.indb 359 17.11.2011 08:13:01<br />
Quelle: Eigene Zusammenstellung 2010 und (20)<br />
359
360 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />
Linie sowohl eine H- als auch eine ESL-Milch. Diese sind preislich auf dem gleichen<br />
Niveau wie die „Bayerische Bauernmilch“ angesiedelt (40; 42).<br />
Auch das Lebensmitteleinzelhandelsunternehmen tegut ist in diesem Bereich aktiv.<br />
Mitte Mai 2009 rief es die Initiative „Zeichen setzen <strong>für</strong> faire Milchpreise“ ins Leben. Im<br />
Zuge dessen hob das Unternehmen die Preise <strong>für</strong> die günstigste 3,5%ige Trinkmilch um<br />
7Cent auf 55 Cent pro Liter an. Kurz zuvor hatte tegut die Preise parallel mit den starken<br />
Preissenkungen der Discounter auf 48 Cent pro Liter gesenkt. Der Preisaufschlag von<br />
7Cent <strong>für</strong> die Trinkmilch fließt in einen Fonds. Mit dem Geld aus dem Fonds sollen regionale<br />
Projekte in der <strong>Landwirtschaft</strong> unterstützt werden, um damit zu einer Verbesserung<br />
der Situation konventioneller Milchbauern beizutragen (38).<br />
Das Projekt „Milchzehnerl“ ist eine Idee eines Supermarkt-Inhabers aus dem Chiemgau.<br />
Dieser startete im Juli 2009 in sieben Märkten der Fa. Edeka Pfeilstetter diese Aktion.<br />
Dabei haben die Verbraucher die Möglichkeit, beim Kauf von Milchprodukten aus dem<br />
Kühlregal einen Aufkleber auf die Produkte zu kleben. Befindet sich ein Aufkleber auf<br />
einem Produkt, zahlt der Kunde freiwillig einen Aufpreis von 10 Cent <strong>für</strong> das Produkt,<br />
der an der Kasse separat erfasst wird. Der auf diese Weise erzielte Mehrerlös soll jeden<br />
Monat an die Bauern des jeweiligen Ortes ausbezahlt werden (12).<br />
Auch die Edeka Südwest hat mit der Marke „Unsere Heimat –echt und gut“ im Sommer<br />
2009 eine regionale Initiative ins Leben gerufen. Unter dieser Marke vermarktet<br />
das Unternehmen neben verschiedenen regionalen Lebensmitteln aus dem Südwesten<br />
Deutschlands eine „faire“ H- und ESL-Milch. Über das Projekt sollen Milcherzeuger der<br />
beteiligten Molkereien aus dem Absatzgebiet der Edeka Südwestzusätzlich zum regulären<br />
Milchpreis eine Vergütung von 10 %des Auszahlungspreises der Molkerei erhalten. Die<br />
Produkte wurden zum Verbraucherpreis von 0,59 €/Liter (Vollmilch) bzw. 0,49 €/Liter<br />
(teilentrahmt) in den Markt eingeführt (13).<br />
Auch die REWE Dortmund vertreibt seit September 2009 eine „faire“ Frischmilch<br />
unter dem Markenname „BUBI“. Vonjedem verkauften Liter fließen <strong>über</strong> die Milchgeldauszahlung<br />
10 Cent an die Milcherzeuger aus dem Münsterland. Dies soll von der<br />
Landesvereinigung der Milchwirtschaft NRW <strong>über</strong>wacht werden. Neben einer Vollmilchvariante<br />
zum Einführungspreis von 59 Cent gibt es auch eine fettarme Version, die <strong>für</strong><br />
55 Cent/Liter<strong>über</strong> den Ladentisch geht. Demnach lag der Preis bei Einführung um 13 bzw.<br />
11 Cent/Liter höher als bei der Discount-Variante des Unternehmens (34).<br />
Seit Januar 2010 vermarktet auch Lidl unter der Eigenmarke „Ein gutes Stück Heimat<br />
–Ursprung ist Heimat“ und dem Slogan „Das Gute liegt so nah“ eine Molkereiprodukte-<br />
Linie. Die 3,8%ige Heimat-Milch wurde zu Projektstart zu einem Preis von 99 Cent/<br />
Liter verkauft. Zur gleichen Zeit kostete die 3,5%ige Milch der Lidl-Eigenmarke „Milbona“<br />
59 Cent/Liter. Zunächst werden die Produkte nur in Bayern vertrieben. Es ist jedoch<br />
geplant, die Linie auch auf andere Regionen und Produktgruppen auszudehnen. (21).<br />
Relativ zeitgleich mit dem Start des Lidl-Projektes wurde im Januar 2010 von der MVS<br />
Milchvermarktungsgesellschaft mbH eine Trinkmilch unter dem Markennamen„Die faire<br />
Milch“ auf dem Markt eingeführt. Die H-Milch mit 1,8 %bzw. 3,8 %Fettgehalt wurde<br />
zunächst in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg <strong>über</strong> REWE (ca. 1200 Filialen) und<br />
tegut (ca. 300 Filialen) zu einem Preis von 89 bzw.99Cent/Liter verkauft. Diese Verbraucherpreise<br />
ergeben sich laut Verantwortlichen aus einer Vorwärtskalkulation ausgehend<br />
von einem Auszahlungspreis von 40 Cent pro Liter, der den beteiligten Erzeugern zugesichert<br />
wird (41; 27)<br />
Diese am Markt existierenden Projekte unterscheiden sich hinsichtlich der verfolgten<br />
Produkt-, Preis-, Distributions- und Kommunikationsstrategie. Beispielsweise werden<br />
<strong>über</strong> manche Projekte nur ein bis zwei Produkte vermarktet und eine Einzelmarkenstrategie<br />
verfolgt. Bei anderen Initiativen existiert dagegen eine ganze Molkereiproduktlinie,<br />
wobei eine Dachmarkenstrategie verfolgt wird. Bei wiederum anderen Projekten werden<br />
Buel_3_11.indb 360 17.11.2011 08:13:01
Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />
361<br />
verschiedene Produktgruppen <strong>über</strong> eine Dachmarke vermarktet. Hierbei besteht das Sortiment<br />
entweder nur aus Lebensmitteln oder aus Lebensmitteln und Non-Food-Artikeln.<br />
Des Weiteren unterscheiden sich die Konzepte auch in der Produktionsrichtung (konventionell<br />
bzw. biologisch) und im (Nicht-)Vorhandensein von bestimmten, zusätzlichen<br />
Erzeugungsrichtlinien (z. B. Bio-Zertifizierung, spezielle Erzeugungsrichtlinien) (18).<br />
Aus Tabelle 1wird außerdem deutlich, dass viele der Projekte erst im Jahr 2009 und<br />
Anfang des Jahres 2010 ins Leben gerufen worden sind. Auffällig ist dabei, dass gerade<br />
die noch verhältnismäßig „jungen“ Initiativen vielfach vom Handel aufgebaut wurden<br />
und unter einer Eigenmarke des betreffenden Handelsunternehmens vermarktet werden.<br />
3.2 Systematisierung hinsichtlich des Verständnisses von „regional“ und<br />
„fairen Erzeugerpreisen“<br />
Die vorgestellten Vermarktungskonzepte fokussieren sich <strong>über</strong>wiegend auf zwei Schlüsselmotive:<br />
„Fair zum Erzeuger/Unterstützung der beteiligten Erzeuger“ und „Herkunft/<br />
Regionalität“. Dabei unterscheiden sich die Projekte jedoch im zugrunde gelegten Verständnis<br />
von „regionaler Herkunft“. Beispielsweise existieren Projekte mit einem sehr<br />
engen lokalen Fokus, mit Bundeslandbezug oder mit nationalem Charakter. Auch das<br />
Verständnis bzw. die Handhabung von „Fairness/Unterstützung der beteiligten Erzeuger“<br />
unterscheidet sich zum Teil erheblich. Beispielsweise gibt es Initiativen, bei denen die<br />
„Fairness“darin besteht, zu versprechen, „einfach“ einen bestimmten Betrag pro verkaufte<br />
Einheit an die Erzeuger weiterzureichen oder bei denen die Produkte zu einem vergleichsweise<br />
hohen Preis verkauft werden. Bei anderen Initiativen existieren dagegen zusätzliche<br />
Erzeugungsrichtlinien und/oder höhere Qualitätsstandards, mit denen die höheren Preise<br />
gerechtfertigtwerden sollen. Nur bei einem Projekt existiert ein „Fair-Kriterien-Katalog“,<br />
in dem definiert ist, was unter „Fairness“verstandenwird. In diesem Fall stellen die Erzeugerpreise<br />
nur einen Teilaspekt der Idee „Fairness/fairer Umgang“ dar (19).<br />
In Abbildung 1wird eine Positionierung verschiedener existierender Projekte anhand<br />
der Art und Weise vorgenommen, wie die beiden Schlüsselmotive „Fair zum Erzeuger/<br />
Unterstützung der beteiligten Erzeuger“ und „Herkunft/Regionalität“ verstanden bzw.<br />
umgesetzt werden. Auf der Abszisse ist die verwendete regionale Abgrenzung von eng<br />
lokal <strong>über</strong> die Bundeslandebene bis hin zur Bundesebene abgetragen. Die Ordinate ist in<br />
vier Kategorien unterteilt,die die „Handhabung“ bzw.das Verständnis von „Fairness/eines<br />
fairen Umgangs“ beschrieben. Diese Kategorien wurden auf der Grundlage der Literaturanalyse<br />
und der durchgeführten Fallstudien abgeleitet. Im Einzelnen sind dies:<br />
(1) Fairness beinhaltet allein eine monetäre Unterstützung der Erzeuger.<br />
(2) Im Zuge der Kommunikation <strong>für</strong> die Projekte werden auch andere Stufen der Wertschöpfungskette<br />
in das Fairness-Konzept mit einbezogen. Es gibt aber keine zusätzlichen<br />
Erzeugungsrichtlinien/Qualitätsstandards oder einen Kriterienkatalog <strong>für</strong> „fair“.<br />
(3) Im Projekt sind zusätzliche Erzeugungsrichtlinien/Qualitätsstandards vorhanden, die<br />
entweder <strong>über</strong> das Projekt oder extern kontrolliert werden. Es gibt aber keinen Kriterienkatalog<br />
<strong>für</strong> „fair“.<br />
(4) Es gibt einen Kriterienkatalog <strong>für</strong> „fair“ bzw. ein umfassendes Verständnis des Motivs<br />
„Fairness“<br />
Aus Abbildung 1wird ersichtlich, dass z. B. das Milchzehnerl-Projekt aus dem Chiemgau<br />
lokal sehr eng begrenzt ist und fair <strong>über</strong>wiegend mit der freiwilligen monetären Unterstützung<br />
der Erzeuger gleichsetzt.Die Projekte Bauernmilch und Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger haben<br />
dagegen nationalen Charakter.Bei beiden wird Fairness <strong>für</strong> die verschiedenen Wertschöpfungsstufen<br />
kommuniziert, sie besitzen jedoch keine zusätzlichen Richtlinien und Standards.<br />
Im Fall der österreichischen Afaire Milch wird dagegen GVO-frei produziert. Die<br />
Buel_3_11.indb 361 17.11.2011 08:13:02
362 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />
Abb. 1. Positionierung ausgewählter Projekte nach ihrer regionalenAbgrenzung und der Behandlung<br />
von „fair“<br />
Quelle: Eigene Darstellung<br />
Milchvermarktungsgesellschaft mbH, Lidl sowie die Bayerische-Bauernmilch-Linie verfolgen<br />
eine Bundesland-Strategie. Während aber bei den ersten beiden Projekten zusätzliche<br />
Standards/Richtlinien (z. B. Geprüfte Qualität Bayern, bestimmtes Fütterungsregime)<br />
existieren, ist dies beim letzteren nicht der Fall. Auch das Unser-Land-Projekt<br />
besitzt eigene (Produkt-)Richtlinien und hat einen verhältnismäßig engen lokalen Fokus<br />
(München plus darum liegende Landkreise). Das einzige Projekt mit echten Fair-Kriterien<br />
ist die Initiative der Upländer Bauernmolkerei.Die Molkerei hat ihre Warengruppen Milch<br />
und Schmand mit dem Bestes Bio Fair <strong>für</strong> alle-Label zertifizieren lassen (36). Die Nutzungsgenehmigung<br />
dieses Labels erteilt die Qualitätskommission des Vereins „Bestes Bio<br />
–Fair <strong>für</strong> alle“. Der Verein setzt „Fairness“ nicht nur mit „fairen Preisen“ gleich, sondern<br />
versteht darunter auch Transparenz, Qualität, Regionalität und Nachhaltigkeit. Mit der<br />
Arbeit des Vereins sollen Standards geschaffen werden, um „Fairness“ vom „Acker bis<br />
zum Teller“ zu garantieren (45). Zur Überprüfung der Grundsätze des Vereins wurden<br />
eigene Prüfkriterien entwickelt, die beispielsweise im Rahmen der EU-Öko-Kontrolle<br />
oder Verbandskontrolle mit geprüft werden können (45; 3).<br />
4 Beurteilung bestehender Projekte<br />
Das vorangegangene Kapitel hat gezeigt, dass in den letzten Jahren am Milchsektor vermehrt<br />
regionale Vermarktungsinitiativen entstanden sind, die mit einer (direkten) Unterstützung<br />
der beteiligten Erzeuger bzw. „fairen Erzeugerpreisen“ werben. Viele dieser Initiativen<br />
weisen jedoch in verschiedenen Bereichen Schwachstellen und Handlungsbedarf<br />
auf. Im Folgenden wird daher zunächst näher auf die im Rahmen des Forschungsprojekts<br />
identifizierten Hemmnisse und Barrieren der Projekte eingegangen.<br />
Buel_3_11.indb 362 17.11.2011 08:13:08
Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />
4.1 Hemmnisse und Barrieren <strong>für</strong> bestehende Projekte<br />
363<br />
Im Zuge des Forschungsprojekts wurden u.a.potenzielle Hemmnisse <strong>für</strong> solche Projekte<br />
identifiziert. Es hat sich gezeigt, dass bei vielen Initiativen Interessenskonflikte zwischen<br />
den verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette (insbesondere mit dem Handel) sowie<br />
Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit der Akteure der Stufen als bedeutende Hemmfaktoren<br />
wirken. Dies wurde sowohl in den Fallstudien als auch bei den durchgeführten<br />
Expertengesprächen und im Workshop deutlich.<br />
Weitere Barrieren hängen damit zusammen, dass die Projekte in aller Regel Nischenstrategien<br />
auf einem ansonsten verhältnismäßig preissensitivem und konzentriertem<br />
Konsummilchmarkt (v. a.H-Milch) verfolgen. Dabei zielen diese Konzepte weitgehend<br />
auf ähnliche Zielgruppen ab, wie z. B. Bio-Produkte oder etablierte regionale Markenkonzepte<br />
von Molkereien. Daher müssen sich „Fairness“-orientierte Projekte auf einem<br />
verhältnismäßig kleinen, weitgehend gesättigten Markt mit z. T. bereits lang etablierten<br />
Mitbewerbern messen. Auf diesem Markt ist Wachstum hauptsächlich im Wege des<br />
Verdrängungswettbewerbs möglich (46). Hinzu kommt, dass gerade in den letzten zwei<br />
Jahren eine verhältnismäßig große Anzahl „Fairness“-orientierter Projekte entstanden ist,<br />
sodass hierdurch nochmals ein verstärkter Konkurrenzdruck und zeitverzögert „Kannibalisierung“<br />
wahrscheinlich sind.<br />
Hemmend wirkt sich weiterhin aus, dass bei diesen Projekten im Regelfall mit zusätzlichen<br />
Kosten in der Erfassung und Verarbeitung (z. B. separate Abfüllung) zu rechnen ist.<br />
Die Erfassungskosten setzen sich aus den Kosten <strong>für</strong> Hin- und Rückfahrt ins bzw.aus dem<br />
Erfassungsgebiet zusammen. Weiterhin sind sie von der Erfassungsdichte 1) ,der Struktur<br />
der Milcherzeugerbetriebe sowie dem zeitlichen Abholungsmodus (eintägige/zweitägige<br />
Abholung) abhängig (7). Die Entstehung von Mehrkosten im Erfassungsbereich ist bei<br />
„Fairness“-orientierten Projekten unter bestimmten Voraussetzungen wahrscheinlich. So<br />
gibt es Projekte, an denen sich nur bestimmte Erzeuger aus unterschiedlichen Gebieten<br />
beteiligen. Dies ist z. B. der Fall, wenn nicht alle die bestehenden Auflagen erfüllen<br />
können (z. B. Laufstallhaltung) und geht in aller Regel mit einer Vergrößerung des<br />
Erfassungsgebiets einher. Dies macht eine Verringerung der Erfassungsdichte und damit<br />
eine Erhöhung des Fahrtstreckenaufwands zwischen den Abholstellen wahrscheinlich. Mit<br />
einer Ausweitung des Erfassungsgebietes steigt gleichzeitig die Entfernung zum Verarbeitungsgebiet<br />
und damit der Streckenaufwand <strong>für</strong> Hin- und Rückfahrt von der Molkerei<br />
ins Erfassungsgebiet. Auch hier gibt es bei den bestehenden Projektkonzepten durchaus<br />
ungünstige Konstellationen (z. B. nur ein Verarbeitungsbetrieb in einem anderen Bundesland).<br />
Ein weiterer Punkt, der im Zusammenhang mit den Erfassungskosten eine Rolle<br />
spielt, ist, dass die Projekte oftmals mit <strong>Landwirtschaft</strong> in Familienbetrieben bzw. klein<br />
strukturierter <strong>Landwirtschaft</strong> werben. Dies impliziert häufig eine ungünstigere Haltestellenstruktur,<br />
dadies oft eher kleinere Betriebe mit geringeren Anlieferungsmengen pro<br />
Betrieb bedeutet. Werden diese Betriebe direkt angefahren (d. h. es liegen keine Straßenhaltestellen<br />
vor), geht dies mit einer Erhöhung des relativen Saugzeitverbrauchs und<br />
einer Reduzierung der Durchschnittsgeschwindigkeit einher (31). Auch dies hat negative<br />
Auswirkungen auf die Erfassungskosten. Wird wirklich nur Milch von ausgewählten<br />
Betrieben verarbeitet, muss außerdem eine getrennte Erfassung erfolgen. Dadurch wird<br />
eventuell <strong>für</strong> eine Molkerei ein zusätzlicher eigener Tanksammelwagen oder ein Trennsystem<br />
im Fahrzeug notwendig. Ein solches Trennsystem verwenden beispielsweise auch<br />
Molkereien, die gleichzeitig konventionelle und Bio-Milch verarbeiten. Ist dagegen ein<br />
betriebsfremder Tanksammelwagen im Einsatz, entstehen erhöhte Kosten durch das Speditionsunternehmen(48).<br />
Auf Basis des durchgeführten Forschungsprojekts kann nicht im<br />
Detail abgeschätzt werden, in welchem Umfang erhöhte Erfassungskosten bei den untersuchten<br />
Projekten auftreten. Dass dieser Punkt aber nicht zu vernachlässigen ist, wurde<br />
Buel_3_11.indb 363 17.11.2011 08:13:08
364 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />
zum einen im durchgeführten Experten-Workshop mehrmals angesprochen. Zum anderen<br />
weisen auch Studien aus dem Biomilchsektor sowie die grundsätzliche Bedeutung von<br />
Erfassungskosten <strong>für</strong> Molkereien (durchschnittlich3–5 %der Gesamtkosten einer Molkerei)<br />
auf diesen Sachverhalt hin (32; 39). 2) Wenn bei den Projekten nur Milch der beteiligten<br />
Erzeuger verwendet wird, wäre auch in der Produktion mit erhöhten Kosten zu rechnen.<br />
Höhere Kosten würden <strong>über</strong>wiegend aufgrund geringerer Chargengrößen entstehen, die<br />
zu höheren Stückkosten in der Verarbeitung führen (39, S. 24 ff.). Diese erhöhten Kosten<br />
wirken sich möglicherweise negativ auf das Projektergebnis aus. Dies ist insbesondere<br />
dann problematisch, wenn dadurch erzielte Mehrerlöse aus höheren Verbraucherpreisen<br />
ganz oder teilweise kompensiert werden.<br />
Eine weitere Barriere <strong>für</strong> den ökonomischen Erfolg solcher Produkte können außerdem<br />
Kosten darstellen, die infolge von zusätzlichenKontrollen und Zertifizierungenentstehen.<br />
Ein Beispiel hier<strong>für</strong> wäre die „Heimat“-Marke von Lidl. Das Produkt ist im Milchbereich<br />
eines der ersten, das mit dem Siegel „Geprüfte Qualität (GQ)-Bayern“ zertifiziert<br />
ist. Jeder landwirtschaftliche Erzeugerbetrieb, der <strong>für</strong> dieses Programm Produkte liefert,<br />
muss sich da<strong>für</strong> zertifizieren lassen. Da<strong>für</strong> entstehen zunächst Kosten <strong>für</strong> die Erstzertifizierung<br />
und später <strong>für</strong> die Folgezertifizierungen (2). Nicht zu vergessen ist außerdem<br />
ein zusätzlicher Arbeitsaufwand im Erzeugerbetrieb <strong>für</strong> die Dokumentation. Dieser wird<br />
umso größer, jemehr Anforderungen dokumentiert werden müssen. Einige der initiierten<br />
Projekte verlangen außerdem eine GVO-freie Fütterung (z. B. „Die faire Milch“, „A<br />
faire Milch“). In einer Studie aus Österreich konnte dazu gezeigt werden, dass aufgrund<br />
einer GVO-freien Fütterung im landwirtschaftlichen Betrieb und in der Futtermittelerzeugung<br />
an verschiedenen Stellen Mehrkosten entstehen. Dies sind beispielsweise Kontroll-<br />
und Untersuchungskosten <strong>für</strong> die Eigenkontrolle und die externe Kontrolle des<br />
Betriebs, zusätzliche Kosten <strong>für</strong> die Verwaltung und Dokumentation bzw. <strong>für</strong> Qualitätssicherungsmaßnahmen<br />
sowie möglicherweise Kosten <strong>für</strong> Haftungs<strong>über</strong>nahmen aufgrund<br />
von eventuellen Verunreinigungen und Verschleppungen in der Wertschöpfungskette. Für<br />
österreichische Verhältnisse wurden in der Untersuchung, je nach Anzahl der zu kontrollierenden<br />
Betriebe einer Kontrollstelle,Kontrollkosten zwischen 0,30 und 0,28 Cent je kg<br />
Milch und Jahr bzw. reduzierte Kontrollkosten zwischen 0,24 und 0,22 Cent je kg Milch<br />
und Jahr im Milchviehbetrieb errechnet (33). 3) Auch wenn diese Berechnungen aufgrund<br />
unterschiedlicher Gegebenheiten (z. B. sehr klein strukturierte Betriebe in Österreich)<br />
nicht eins zu eins auf Deutschland zu <strong>über</strong>tragen sind, wird trotzdem deutlich, dass bei<br />
einer Gewährleistung von GVO-freier Fütterung zusätzliche Kontrollkosten <strong>für</strong> die Produktion<br />
eines Kilogramms Milch auftreten. Bei anderen Projekten wird außerdem z. B.<br />
ein erhöhter Gehalt anOmega-3-Fettsäuren ausgelobt. Da die Untersuchung des Omega-<br />
3-Fettsäuregehalts nicht zu den standardmäßigen Routineuntersuchungen gehört, fallen<br />
auch hier höhere Kontroll- und Analysekosten an. Weitere Hinweise <strong>für</strong> möglicherweise<br />
erhöhte Kontrollkosten <strong>für</strong> die Projekte liefert auch die bereits zitierte Studie von thiele<br />
et al. (39, S. 27 f.). Darin wurde gezeigt, dass bei der Produktion von Bio-Milchprodukten<br />
durchschnittliche Mehrkosten von etwa zwei Cent pro kg Endprodukt in der Qualitätskontrolle<br />
und -sicherung entstehen (ausschließlich des Mitgliedsbeitrages bei den Bioanbauverbänden).<br />
Insgesamt wird deutlich, dass eine größere Zahl zu <strong>über</strong>prüfender Merkmale<br />
die Kosten <strong>für</strong> solche Projekte erhöhen. Dies kann sich negativ auf die ökonomische<br />
Leistungsfähigkeit der Initiativen auswirken.<br />
Ein weiterer hemmender Faktor können außerdem die Markteinführungskosten darstellen.<br />
Das Gros der beschriebenen Projekte muss seine Produkte zunächst am Markt etablieren.<br />
Gerade in der Einführungsphase ist jedoch mit erhöhten Kosten <strong>für</strong> die Bekanntmachung<br />
und gleichzeitig geringen Marktanteilen bzw. Absatzmengen zu rechnen. Die<br />
Markteinführung eines Produkts erfolgt, wenn das neue Produkt das erste Mal in die<br />
Warenverteilung aufgenommen wird und auf dem Markt erhältlich ist. In dieser Phase ist<br />
Buel_3_11.indb 364 17.11.2011 08:13:08
Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />
365<br />
es notwendig, das Produkt bekannt zumachen und Erstkäufe herbeizuführen (37). Hier<br />
gibt es generell die höchsten Marktinvestitionen. Eine entscheidende Rolle spielen dabei<br />
vor allem Werbe- und Verkaufsförderungsmaßnahmen. Gerade diese Marktinvestitionen<br />
führen dazu, dass in der Einführungsphase neuer Produkte Verluste in Kauf genommen<br />
werden müssen. Das Ausmaß der Anfangsverluste hängt dabei u. a. auch von der verfolgten<br />
preispolitischenStrategie ab. Verlust erhöhend wirken sich in der Anlaufphase oftmals<br />
auch auftretende „Anfangs“-Schwierigkeiten aus, wie z. B. Mangel an Produktionserfahrung<br />
oder fehlende Erfahrung der Verkäufer. Indieser Phase geringer Umsätze und<br />
gleichzeitig hoher Aufwendungen <strong>für</strong> Kommunikation und Distribution scheiden viele<br />
Neueinführungen wieder vom Markt aus, wenn die erwartete Nachfrage ausbleibt (22). Es<br />
wird deutlich, dass diese Phase bei den meisten Produktneueinführungen kritisch ist. Ferner<br />
kommt hinzu, dass diejenigen, die das Produkt am Markt einführen, verhältnismäßig<br />
unerfahren bei der Einführung eines neuen Produktes (z. B. bei ausschließlich Erzeugerinitiierten<br />
Projekten) bzw. imMarktumfeld sind, wodurch diese Phase doppelt kritisch zu<br />
bewerten ist. Dies ist vor allem problematisch, weil durch die Projekte höhere Erlöse und<br />
damit höhere Milchpreise erzielt werden sollen. Da aber in der Einführungsphase in aller<br />
Regel negative Gewinne entstehen, werden vermutlich keine spürbaren (positiven) Auswirkungen<br />
auf den Milchpreis erzielt. Dies wiederum wirkt sich einerseits kontraproduktiv<br />
auf die Unterstützung des Projekts durch die beteiligten Landwirte aus. Andererseits<br />
kann sich dies aber auch negativ auf die Glaubwürdigkeit des Projekts auswirken, da mit<br />
einer Unterstützung der Erzeuger geworben wird. Im Zusammenhang mit der Markteinführungsphase<br />
ist außerdem zu bedenken, dass zunächst Marktanteile aufgebaut werden<br />
müssen und u. U. nur begrenzte Rohstoffmengen in ein solches Projekt fließen können.<br />
Dieses Phänomen trat in der Vergangenheit bei einigen Projekten auf. Auch dies kann die<br />
Glaubwürdigkeit u. U. erheblich schwächen.<br />
Diese Darstellung zeigt, dass die am Markt entstandenen „fair“-Initiativen einer Vielzahl<br />
an Hemmnissen und Barrieren gegen<strong>über</strong> stehen. Gleichzeitig weisen die Projekte<br />
selbst aber auch Stärken und Schwächen auf, die es erleichtern bzw. erschweren, den<br />
aufgezeigten Hemmnissen und Barrieren zu begegnen. Im Folgenden wird auf die identifizierten<br />
Stärken und Schwächen näher eingegangen.<br />
4.2 Stärken und Schwächen bestehender Projekte<br />
4.2.1 Identifizierte Stärken der Projekte<br />
Viele der untersuchten Projekte leben vom Engagement der beteiligtenAkteure. Dies wurde<br />
insbesondere in den durchgeführten Fallstudien deutlich. In diesem Zusammenhang sind<br />
zunächst beteiligte Erzeuger zu nennen, wenn diese sich selbst intensiv <strong>für</strong> „ihr“ Projekt<br />
engagieren. In der Praxis geschieht dies häufig vor allem bei PR-Maßnahmen oder durch<br />
diverse Aktionen, wie z. B. einen selbstorganisierten Staffellauf quer durch Deutschland<br />
oder verschiedenste Verkostungsaktionen. Ein persönlicher Einsatz der Erzeuger ist vor<br />
allem insofern wichtig, als dies die Gruppe ist, die „fair“ behandelt werden soll. Treten<br />
diese selbst in Aktion, erhält der „Erzeuger ein Gesicht“ und die Projekte treten aus<br />
der Anonymität. In einer weiteren Fallstudie wird dagegen vor allem das Engagement<br />
der beteiligten Molkerei unterstrichen. Insgesamt hat sich im Zuge des durchgeführten<br />
Forschungsprojekts gezeigt, dass in vielen Projekten gerade die Verarbeitungsstufe eine<br />
untergeordnete Rolle spielt und vielfach „nur“ als Abfüllbetrieb eingeschaltet ist. Gerade<br />
wenn sich aber die Molkerei als Schnittstelle zwischen Erzeuger und Handel intensiv <strong>für</strong><br />
ein solches Projekt einsetzt, scheinen diese Projekte eher eine langfristige Perspektive zu<br />
haben.<br />
Buel_3_11.indb 365 17.11.2011 08:13:08
366 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />
Dar<strong>über</strong> hinaus haben die Fallstudien auch gezeigt, dass bei einigen der schon verhältnismäßig<br />
lange erfolgreichen Projekte, ein/wenige Schlüssel-Akteur(e) (z. B. Projektverantwortlicher)<br />
existiert/en. Ein solcher Schlüssel-Akteur ist in den meisten Fällen eine<br />
Person, die sich intensiv <strong>für</strong> das Projekt einsetzt und es vorantreibt und entscheidend zum<br />
langfristigen Erfolg beiträgt.<br />
Auch der Lebensmitteleinzelhandel (LEH) als Projektträger kann <strong>für</strong> ein solches Projekt<br />
eine Stärke darstellen. Obwohl dies gerade in den Fallstudien häufig als kritisch beurteilt<br />
wurde, bietet eine solche Konstellation auch Vorteile. Gerade die Entstehung einer<br />
verhältnismäßig großen Anzahl an Projekten, die durch den Handel initiiert wurden, und<br />
das zunehmende Engagement von Handelsunternehmen imBereiche regionaler Eigenmarken<br />
machen deutlich, dass der LEH durchaus Interesse an solchen Konzepten hat.<br />
Insbesondere wenn ein Handelsunternehmen mithilfe eines solchen Projekts eine Eigenmarke<br />
aufbaut, ist weiterhin zu vermuten, dass dem Unternehmen auch am langfristigen<br />
Erfolg des Konzepts gelegen ist, da mit dem Aufbau auch nicht zu vernachlässigende<br />
Investitionen verbunden sind. Für die beteiligten Partner kann dies eine Sicherung des<br />
Absatzes bedeuten. Außerdem fallen keine Listungsgebühren an. Unter Umständen sind<br />
auch Einsparungen in der Lagerhaltung und Logistik möglich. Außerdem werden in aller<br />
Regel der Markenaufbau und die Markenkommunikation vom erfahrenen Handelsunternehmen<br />
<strong>über</strong>nommen.<br />
Eine weitere Stärke kann es <strong>für</strong> ein „Fairness“-orientiertes Projekt darstellen, wenn<br />
eine Veröffentlichung der Rohstoffproduzenten erfolgt. Sogibt es beispielsweise Hinweise<br />
darauf, dass Lebensmittel aus der Region <strong>für</strong> viele Verbraucher eine verhältnismäßig<br />
preiswerte Alternative darstellen, um subjektiv eine höhere Kontrolle <strong>über</strong> Produktionsbedingungen<br />
zu haben. Regionale Lebensmittel sind <strong>für</strong> viele Konsumenten<br />
greifbarer, weil der Konsument z. B. den Bauernhof aus dem Nachbarort vor Augen hat<br />
(49). Durch eine Veröffentlichung der beteiligten Erzeuger und deren Geschichte kann<br />
man bei solchen Projekten noch einen Schritt weiter gehen. So existieren beispielsweise<br />
Projekte, bei denen man alle beteiligten Erzeuger auf der Homepage der Initiative samt<br />
Adressdaten, Geschichte des Hofes und im Falle einer biologischen Erzeugung auch den<br />
Anbauverband, nach dem der jeweilige Landwirt produziert, nachlesen kann. Auf diese<br />
Weise hat der interessierte Konsument die Möglichkeit, genau nachzuvollziehen, woher<br />
der Rohstoff stammt und welchen Betrieb er mit seinem Kauf gegebenenfalls unterstützt.<br />
Falls dies dem Konsument nicht ausreicht, kann er sich sogar selbst vor Ort ein Bild <strong>über</strong><br />
die Produktionsbedingungen machen. Auf diese Weise entsteht eine Transparenz <strong>über</strong> die<br />
Rohstoffherkunft und die Produktionsbedingungen, die Glaubwürdigkeit schafft. Durch<br />
ein solches Vorgehen werden daher insbesondere zwei Ziele erreicht: Zum einen gibt man<br />
dem Konsumenten das Gefühl, dass er selbst eine Art „Kontrolle <strong>über</strong> den Produktionsprozess“<br />
hat bzw. dass die Produktion <strong>für</strong> ihn transparent ist. Da er die Wertschöpfungskette<br />
mit diesen Informationen selbst zurückverfolgen kann, schafft diese Vorgehensweise eine<br />
gewisse Sicherheit <strong>für</strong> den Konsumenten. Zum anderen kommen hier aber auch emotionale<br />
Aspekte zum Tragen, da durch die Darstellung „‚echter’ Landwirte/‚echter’ Höfe“<br />
bestimmte Vorstellungen in den Köpfen der Konsumenten verankert werden und somit<br />
eine emotionale Positionierung der Produkte einfacher erreicht werden kann.<br />
Andere Projekte punkten außerdem durch intensive „Guerilla-Marketing-Strategien“<br />
und verwenden dabei eingängige Key-Visuals. Solche Schlüsselbilder eignen sich bei<br />
der herrschenden Kommunikationsflut vor allem dazu, Markenbotschaften schnell und<br />
unmissverständlich zu transportieren. Dabei kann immer wieder in die gleiche „kommunikative<br />
Kerbe“ geschlagen werden. Das ist vor allem dann wichtig, wenn das Kommunikationsbudget<br />
verhältnismäßig klein ist, wie dies häufig gerade bei Erzeuger-initiierten<br />
Projekten der Fall ist (40).<br />
Buel_3_11.indb 366 17.11.2011 08:13:08
Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />
367<br />
Eine weitereStärkestelltes<strong>für</strong> dieuntersuchtenProjektedar,wenn sie eine Definition<br />
und Zertifizierung der „Fairness“ besitzen. Beispielsweise kommunizieren viele der existierenden<br />
Projekte „Fairness“. Lediglichineinemder näher untersuchtenProjekte existiert<br />
aber tatsächlich ein Kriterienkatalog, in dem festgehalten ist, was unter „Fairness“ verstanden<br />
wird. Mithilfe einer solchen Zertifizierung ist es möglich, dass ein Unternehmen<br />
Verbindlichkeiten schafft. Dadurch wird der Grundstein <strong>für</strong> die Glaubwürdigkeit eines<br />
Projekts geschaffen.<br />
Neben diesen aufgezeigten Stärken konnten aber auch eine ganze Reihe von Schwächen<br />
bei „Fairness“-orientierten Projekten identifiziert werden. Auf diese wird im Folgenden<br />
näher eingegangen.<br />
4.3 Identifizierte Schwächen der Projekte<br />
Bei mehreren der untersuchten Projekte hat sich gezeigt, dass die Verarbeitungsstufe nur<br />
verhältnismäßig schwach eingebunden bzw. nur als Abfüller im Werkslohn beteiligt ist<br />
und damit austauschbar wird. Die durchgeführten Fallstudien haben außerdem deutlich<br />
gezeigt, dass Molkereien häufig wenig Interesse an solchen Projekten haben. Andererseits<br />
gibt es aber auch den Fall, dass von Erzeugerseite aus kaum Interesse an einer starken<br />
Zusammenarbeit mit einem Verarbeitungsbetrieb besteht oder dass sogar versucht wird,<br />
diese Stufe weitestgehend zu umgehen. Eine schwache Einbindung einer Molkerei ist<br />
jedoch aus verschiedenen Gründen problematisch. Die Molkerei als Schnittstelle zwischen<br />
Erzeuger und Handelsstufe kennt die Gepflogenheiten des Marktes und besitzt die<br />
organisatorischen, administrativen und operativen Voraussetzungen <strong>für</strong> die Geschäftsbeziehungen<br />
mit der vor- und nachgelagerten Stufe. Sie besitzt etablierte Informations- und<br />
Kommunikationswege zu den Rohstofflieferanten und der Absatzstufe, die genutzt werden<br />
können. Bei einer „Ausschaltung“ der Molkerei in einem „Fairness“-orientierten Projekt<br />
müssten diese erst aufgebaut werden und es entsteht ein erheblicher „Lernbedarf“ der<br />
anderen Akteure, der die (ökonomische) Leistungsfähigkeit eines solchen Projekts u. U.<br />
erheblich schwächt. Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang relevant ist, ist<br />
das bestehende Machtverhältnis bzw. das Marktungleichgewicht in der Wertschöpfungskette<br />
„Milch“. Dies ist erheblich zugunsten des stark konzentrierten Lebensmitteleinzelhandels<br />
und zuungunsten der Hersteller verschoben. Aufgrund des größenbedingten<br />
Marktunterschiedes ist eine gleichberechtigte Partnerschaft schon zwischen diesen beiden<br />
Stufen kaum möglich (31). Dieses Ungleichgewicht verstärkt sich im Fall der untersuchten<br />
„Fairness“-orientierten Projekte z. T. erheblich, da diese aufgrund ihres geringen<br />
Volumens oft eine noch schwächere Position am Markt besitzen. Eine Umgehung der<br />
Molkerei schwächt also die Verhandlungsposition einer solchen Initiative u. U. zusätzlich.<br />
Außerdem besitzen die Molkereien das technische Know-how und die technischen<br />
Möglichkeiten zur Herstellung der Produkte, welches fehlt, wenn die Molkereien nicht<br />
integriert sind. Eine fehlende Integration der Molkerei führt teilweise auch zu erheblichen<br />
Distanzen zwischen Rohstofferzeugern und dem Verarbeitungsbetrieb. Dies schadet u. U.<br />
auch der argumentativen Basis der Konzepte, da das Argument „Regionalität“ aufgrund<br />
langer Transport- und Distributionswege eigentlich kaum vertretbar ist. Noch schwieriger<br />
ist es, gegebenenfalls dieses Motiv aufrechtzuerhalten, wenn es zu einem Wechsel des<br />
Abfüllers kommen sollte und kein neuer Betrieb gefunden wird bzw. wenn dieser in einer<br />
völlig anderen Region lokalisiert ist. Gerade wenn die beteiligte Molkerei kein großes<br />
Interesse andem Projekt hat bzw. keinen wirklichen Vorteil <strong>für</strong> sich darin sieht (z. B.<br />
stärkere Lieferantenbindung), ist die Gefahr einer fehlenden Einigung und eines Wechsels<br />
des Abfüllbetriebs groß.<br />
Problematisch ist bei vielen Projekten auch das verhältnismäßig unscharfe Profil des<br />
Motivs „Regionalität/regionale Herkunft“ bzw. wird dieses Motiv nicht <strong>über</strong>zeugend<br />
Buel_3_11.indb 367 17.11.2011 08:13:08
368 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />
umgesetzt oder kommuniziert. Dies liegt zum einen daran, dass es weder eine allgemein<br />
geltende, eindeutige Definition noch ein allgemein akzeptiertes Verständnis des Begriffs<br />
„Region“ gibt. Dar<strong>über</strong> hinaus unterscheidet sich auch das persönliche Verständnis von<br />
„Region“ in der Bevölkerung z. T. erheblich. So setzt zwar ein Großteil der Bevölkerung<br />
die Region mit dem eigenen Bundesland gleich, andere verstehen aber darunter z. B.<br />
auch eine naturräumliche Einheit, die Stadt oder den Kreis, in dem derjenige lebt (50).<br />
Demnach ist das zugrunde gelegte Motiv „Region“ von vornherein unscharf.Erschwerend<br />
kommt hinzu, dass es in den Projekten vielfach nicht <strong>über</strong>zeugend umgesetzt wird. So gibt<br />
es z. B. einige Initiativen, die sich zwar auf die „Regionalität“ berufen, dann aber die Produkte<br />
bundesweit vertreiben. Das Bundesgebiet entspricht im Allgemeinen aber nicht dem<br />
Verständnis der Verbraucher von „regional“. Gerade bei diesen nationalen Projekten wird<br />
zusätzlich auch auf die noch unklareren Begriffe „heimisch“ oder „einheimisch“ ausgewichen<br />
oder die Region mit dem Erfassungsgebiet der abfüllenden Molkerei gleichgesetzt.<br />
Bei anderen Projekten wird mit der regionalen Herkunft geworben; dann wird aber der<br />
Rohstoff etliche 100 Kilometer transportiert, um zum Verarbeitungsbetrieb zu gelangen.<br />
Dies hat teilweise dazu geführt, dass die Werbeaussage „aus der Region“ nicht mehr verwendet<br />
werden darf. Insgesamt entsteht bei einigen der untersuchten Projekte daher der<br />
Eindruck, dass man der Initiative unbedingt den „Herkunftsstempel aufdrücken“ möchte,<br />
um auf den Trend „Regionalität“ aufzuspringen. Bei einigen Konstellationen wäre es<br />
jedoch sinnvoller, sich nur auf das Motiv der „Unterstützung der beteiligten Erzeuger“ zu<br />
fokussieren und dies <strong>über</strong>zeugend umzusetzen.<br />
Auch eine fehlende Preisstabilität und/oder eine fehlende Kontrolle von Zahlungsströmen<br />
kann die Glaubwürdigkeit „Fairness“-orientierter Projekts schwächen. Sogibt<br />
es Projekte, die schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit den Produktpreis gesenkt haben,<br />
was vermutlich mit niedrigeren Rohstoffpreisen einhergegangen ist. Dies schwächt die<br />
Glaubwürdigkeit der Projekte erheblich, da mithilfe der Initiativen eigentlich ein Beitrag<br />
zur Einkommenssicherung der beteiligten Landwirte geleistet werden soll. Auch eine<br />
fehlende Offenlegung und Kontrolle von Kostenkalkulationen oder tatsächlichen Mehrerlösen<br />
werden bei etlichen Projekten von der Öffentlichkeit immer wieder kritisiert und<br />
führen zu erheblichen Spekulationen. Solche Spekulationen führen unweigerlich zu einer<br />
Verbraucherverunsicherung. Würden die Projektverantwortlichen ihre Zahlen zumindest<br />
teilweise ehrlich offenlegen, könnte man dies vermeiden.<br />
Problematisch ist weiterhin, dass nur eines der untersuchten Projekte eine klare Definition<br />
von „fair“ bzw. einen Kriterienkatalog <strong>für</strong> „fair“ besitzt. Bei den anderen Projekten<br />
sind die Erklärungen und die Begründungen der „Fairness“ vielfach schwammig und<br />
wenig handfest oder zielen auf die beteiligten Landwirte und eine Erhöhung des Auszahlungspreises<br />
ab (vgl. Abschn. 3.2.5). Dabei ist oftmals die Rede davon, dass ein „fairer“/<br />
angemessener/gerechter Preis erzielt werden soll. Generell wird aber nicht definiert, wann<br />
ein Preis „fair“ ist. Hierzu schwirrt einerseits mit der 40-Cent-Forderung des Bundesverbandes<br />
Deutscher Milchviehhalter e.V. (BDM) eine produktionslastige Definition auf<br />
Basis der durchschnittlichen Vollkosten der Landwirte durch das Land. Andererseits ist<br />
zu vermuten, dass es auch in Anlehnung andie „Fair Trade“-Bewegung ein gewisses Vorverständnis<br />
der Konsumenten von „Fairness“ im Lebensmittelsektor gibt. Solange jedoch<br />
nicht eindeutig festgelegt ist, was unter einem „fairen Preis“ oder einem „fairen“ Umgang<br />
verstanden wird, bleibt das Motiv immer verhältnismäßig schwach und angreifbar. Dies<br />
ist insbesondere der Fall, wenn die Definition von „fair“ allein mit der monetären Unterstützung<br />
der Erzeuger (= „faire“ Erzeugerpreise) gleichgesetzt wird, aber dann keine nennenswerten<br />
Mehrerlöse durch das Projekt erwirtschaftet werden können.<br />
Buel_3_11.indb 368 17.11.2011 08:13:08
Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />
5 Diskussion und Handlungsbedarf<br />
369<br />
Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass am Milchsektor in den letzten<br />
Jahren vermehrt regionale Vermarktungsinitiativen entstanden sind, die mit einer Unterstützung<br />
der beteiligen Erzeuger bzw. „Fairness zum Erzeuger“ werben. Diesen Projekten<br />
stehen verschiedenste Hemmnisse und Barrieren gegen<strong>über</strong> und sie weisen auch in ihrer<br />
Organisation Verbesserungspotenzial auf. Auf Basis des durchgeführten Forschungsprojekts<br />
konnten daher verschiedene Handlungsfelder und notwendige Anpassungsmaßnahmen<br />
identifiziert werden. Diese werden im Folgenden dargelegt und diskutiert.<br />
Kooperationen verschiedener Akteure fördern<br />
Für eine nachhaltige Etablierung von „Fair“-Projekten wären horizontale und vertikale<br />
Kooperationen zwischen verschiedenen Akteuren notwendig. Hierzu sind einerseits die<br />
Akteure entlang der Wertschöpfungskette (z. B. Erzeugerzusammenschlüsse und -gemeinschaften,<br />
Molkereien) gefordert, andererseits aber auch weitere Akteure wie z. B. Verbraucherorganisationen,<br />
staatliche Akteure oder andere gesellschaftliche Gruppen. Solche<br />
Kooperationen würden eine Vielzahl an Vorteilen bieten, wie beispielsweise die Erschließung<br />
neuer Marktchancen, die Einsparung von Investitionen, die Nutzung von Skaleneffekten<br />
oder der Zugang zu spezialisiertem Wissen und Können. Jedoch sind sie meistens<br />
auch mit Kompromissen und dem (zumindest partiellen) Verlust von Eigenständigkeit<br />
verbunden. Eine wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> eine solche Kooperation wäre die Bereitschaft<br />
zur Zusammenarbeit bei allen Beteiligten (23). Es ist jedoch anzunehmen, dass es<br />
gerade entlang der Wertschöpfungskette „Milch“ vielfach verhältnismäßig schwierig ist,<br />
solche Kooperationen zu schaffen und zu etablieren. Hinweise darauf geben zum einen<br />
die Ergebnisse des durchgeführten Forschungsprojektes, die auf vielfältige Probleme und<br />
Schwierigkeiten zwischen den Stufen hindeuten. Zum anderen existiert auch generell auf<br />
horizontaler und vertikaler Ebene viel Konfliktpotenzial. Sowirken Konflikte auf Erzeugerebene,<br />
schwierige Beziehungen zwischen Lieferanten und ihren Molkereien bis hin zu<br />
einem generellen Misstrauen gegen<strong>über</strong> der Absatzstufe als hemmende Faktoren <strong>für</strong> eine<br />
verstärkte Kooperationsbereitschaft der verschiedenen Akteure.<br />
Gerade aber ein Thema wie „Fairness“ würde es erfordern, in einem kooperativen<br />
Aushandlungsprozess dynamisch entwickelt, gestaltet und <strong>über</strong>prüft zu werden. Hierzu<br />
wäre ein Austausch und Dialog verschiedenster Akteure zwingend erforderlich. Ein verstärkter<br />
Austausch könnte beispielsweise mithilfe von Plattformen erreicht werden, die<br />
sowohl den Austausch der verschiedenen Stufen als auch den Dialog mit verschiedenen<br />
weiteren Interessensgruppierungen (z. B. Verbraucherschutzorganisationen) unterstützen<br />
und fördern könnten. Hier<strong>für</strong> wäre einerseits die Politik gefordert, indem sie geeignete<br />
Rahmenbedingungen schafft oder den Anstoß zu solchen Kooperationen gibt. Des Weiteren<br />
könnten aber auch privatwirtschaftliche oder halbstaatliche Initiativen auf diesem Feld<br />
aktiv werden. Beispiele hier<strong>für</strong> existieren bereits: So wurde <strong>für</strong> den Großraum München<br />
mit der „Interessensgemeinschaft <strong>für</strong> fair-regionale Produkte“ eine Diskussionsplattform<br />
geschaffen, die sich regelmäßig zusammensetzt (15). Auch am Bio-Milchsektor hat man<br />
es geschafft, Vertreter der gesamten Wertschöpfungskette Bio-Milch an einen Tisch zu<br />
holen und eine gemeinsame Erklärung zum Bio-Milchmarkt und zu einem „fairen Preis“<br />
abzugeben (5).<br />
Überprüfung der ökonomische Machbarkeit<br />
Ein weiterer notwendiger Diskussionspunkt betrifft die Überprüfung der ökonomischen<br />
Machbarkeit der Projekte. Die untersuchten Projekte wurden in aller Regel gegründet,<br />
um einen Beitrag zur Sicherung/Verbesserung des Einkommens der beteiligten Erzeuger<br />
zu leisten. Jedoch ist bei diesen Initiativen an verschiedenen Stellen mit erhöhten Kos-<br />
Buel_3_11.indb 369 17.11.2011 08:13:08
370 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />
ten zu rechnen. Hierunter fallen zunächst die notwendigen Marketinginvestitionen in der<br />
Einführungsphase. Häufig ist diese Phase außerdem mit einem verhältnismäßig geringen<br />
Marktanteil verbunden. Gerade in der Einführungsphase ist daher bei hohen Kosten mit<br />
verhältnismäßig geringen Umsätzen zu rechnen. Dies schmälert im besten Fall den erzielbaren<br />
Gewinn oder resultiert in (anfänglichen) Verlusten. Außerdem werben die Projekte<br />
<strong>über</strong>wiegend mit dem Motiv „Regionalität“. Wenn dieses Motiv von den Projektverantwortlichen<br />
ordnungsgemäß umgesetzt wird, ist hier oftmals mit weiteren Kosten in der<br />
Erfassung und Produktion zu rechnen, weil der Rohstoffu.U.separat gesammelt und verarbeitet<br />
werden muss. Weitere Zusatzkosten können <strong>für</strong> notwendigeKontrollen entstehen,<br />
wenn das Produktzusätzliche Qualitäten aufweist oder nach bestimmten Kriterien erzeugt<br />
wird. Insgesamt ist also –entsprechend der Organisation des Projekts –teilweise mit<br />
erheblichen Mehrkosten zu rechnen. Daher sind im Vorfeld eine genaue Kostenkalkulation<br />
und eine Überprüfung der ökonomischen Machbarkeit und Tragfähigkeit unabdingbar.<br />
Mittelfristig dürfen die erzielten Mehrerlöse nicht durch die erhöhten Kosten aufgezehrt<br />
werden.Ansonstenverlieren die Projekte die Glaubwürdigkeit und Seriosität bzw.werden<br />
die proklamierten Ziele konterkariert.<br />
Anhebung von Mindestanforderungen und Zertifizierung durch externe Kontrollen<br />
Bei der Gestaltung von „Fairness“-orientierten Projekten sollte darauf geachtet werden,<br />
dass die gesetzlich geregelten Mindeststandards <strong>über</strong>troffen werden. Höhere Mindestanforderungen<br />
sind z. B. bei der Rohstoffqualität oder bei bestimmten produktionstechnischen<br />
Aspekten, wie der Tiergerechtigkeit oder beim Haltungssystem, denkbar. Das<br />
Forschungsprojekt hat jedoch gezeigt, dass nur ein Teil der untersuchten Projekte solche<br />
zusätzlichen Qualitätsaspekte einbezieht. Die Produkte werden dennoch aber preislich oft<br />
im Premium-Segment angeordnet. In einem solchen Fall haben die Produkte <strong>für</strong> den Verbraucher<br />
also trotz eines höheren Produktpreises keinen erkennbaren und nachvollziehbaren<br />
Zusatznutzen. Gerade dann ist es aber vermutlich auf Dauer schwierig, diesen höheren<br />
Preis zu rechtfertigen und durchzusetzen. Dies ist insbesondere dann kritisch, wenn<br />
gleichzeitig der ausgelobte Mehrerlös <strong>für</strong> die beteiligten Landwirte nicht erreicht werden<br />
kann. Auf Dauer sind in diesem Fall die Konsumenten voraussichtlich nicht bereit, einen<br />
Aufpreis zu bezahlen, da sie keinen wirklichen Zusatznutzen beim Kauf der Produkte<br />
erzielen können. Werden andererseits zusätzliche Standards im Zuge der Projekte versprochen,<br />
ist es wichtig, dass diese Qualitätskriterien nachweisbar und <strong>über</strong>prüfbar sind. Dies<br />
kann mithilfe einer Zertifizierung und Kontrolle durch eine neutrale, externe Stelle gelingen.<br />
Dies ist insofern zu empfehlen, als bei den untersuchten Produkten die ausgelobten<br />
Produktqualitäten vielfach Vertrauenseigenschaften darstellen und zwischen Abnehmern<br />
(Konsument) und Verkäufer im Regelfall eine Informationsasymmetrie besteht. Eine Zertifizierung<br />
bezüglich der zusätzlich ausgelobten Anforderung kann zumindest teilweise<br />
dazu beitragen, diese bestehenden Informationsasymmetrien abzubauen.<br />
Anstreben einer eindeutigen Positionierung bezüglich der Motive „Regionalität“ und<br />
„Fairness“ -Schaffung eines Alleinstellungsmerkmals<br />
Beim Aufbau von „Fairness“-orientierten Projekten sollte weiterhin darauf geachtet werden,<br />
dass eine eindeutige Positionierung angestrebt wird. Die Einzigartigkeit des Konzepts<br />
sollte einfach und nachvollziehbar herausgestellt und damit ein Alleinstellungsmerkmal<br />
geschaffen werden können. Im Allgemeinen fungieren bei den untersuchten Projekten<br />
die Motive „Regionalität“ und „Fairness“ als emotionale Nutzenkomponenten. Für die<br />
Positionierung der Produkte ist es dabei insbesondere erforderlich, dass das jeweilige<br />
Nutzenversprechen (wie regionale Herkunft, Unterstützung der Erzeuger) glaubwürdig<br />
und <strong>über</strong>zeugend ist. Dies muss durch eine zielorientierte und eindeutige Umsetzung und<br />
durch eine klare und unmissverständliche Kommunikation erreicht werden. Problema-<br />
Buel_3_11.indb 370 17.11.2011 08:13:08
Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />
371<br />
tisch ist das bei einigen Projekten v. a. hinsichtlich des Motivs „regionale Herkunft“.<br />
Wenn mit Regionalität geworben wird, ist es dringend notwendig, dass der Initiative eine<br />
eindeutige Definition der Herkunftsregion zugrunde gelegt wird und der Rohstoff aus der<br />
entsprechenden Region stammt. Hierbei sollte auch das Verständnis der Konsumenten<br />
von „Region“ berücksichtigt werden. So ist es beispielsweise schwierig, ein nationales<br />
Projekt als „Regionalkonzept“ zu vermarkten, wenn der Großteil der Bevölkerung mit<br />
Region beispielsweise das Bundesland oder die naturräumliche Einheit, in der sie lebt,<br />
verbindet. In einem solchen Fall ist es sinnvoller, sich z. B. nur auf den Aspekt „Unterstützung<br />
der beteiligten Landwirte“ zu fokussieren und diesen glaubwürdig umzusetzen<br />
und zu kommunizieren. Falls man trotz einer ungeeigneten Projektkonstellation versucht,<br />
beide Motive zu kombinieren, ist es wahrscheinlich, dass beide Nutzenkomponenten verhältnismäßig<br />
schwach und das Profil des Projekts unscharf bleibt.<br />
Transparenz der Qualitätseigenschaften „Fairness“ und „Regionalität“ zur Erzielung<br />
von Glaubwürdigkeit<br />
Wie dargelegt, bilden bei den untersuchten Projekten die Motive „Fairness“ und „regionale<br />
Herkunft“ in aller Regel die Schlüsselmotive. Beide Attribute sind Vertrauenseigenschaften.<br />
Der Konsument kann sie weder vor dem Kauf prüfen noch nach dem Gebrauch<br />
bestimmen. Als Nachweis <strong>für</strong> das Vorhandensein hat der Käufer nur die Zusicherung des<br />
Anbieters (17). Dies gilt bei den untersuchten Projekten sowohl <strong>für</strong> die regionale Herkunft<br />
der Produkte (insbesondere des Rohstoffs) als auch in Bezug auf die Prozessqualität<br />
„Fairness“, die mit der Unterstützung der beteiligten Erzeuger gerechtfertigt wird.<br />
Hinzu kommt, dass es <strong>für</strong> beide Motive keine eindeutige (gesetzliche) Definition gibt und<br />
die Auslegung einen erheblichen Gestaltungsspielraum bietet. Dementsprechend ist die<br />
Erfüllung der beiden Motive <strong>für</strong> die Konsumenten nur schwer nachzuvollziehen und zu<br />
bewerten. Daher ist es notwendig, die beiden Qualitätseigenschaften im Zuge der Projekte<br />
transparent zu machen. Dies bildet die Voraussetzung zur Erzielung von Glaubwürdigkeit.<br />
Um eine stärkere Transparenz bezüglich der Herkunft zuerreichen, bieten sich mehrere<br />
Möglichkeiten an. Beispielsweise können die beteiligten Erzeuger veröffentlicht werden<br />
(z. B. <strong>über</strong> Homepage, Tafeln auf den landwirtschaftlichen Betrieben) oder sie können an<br />
einem Herkunftssicherungsprogramm (z. B. „Geprüfte Qualität –Bayern“) teilnehmen.<br />
Damit Konsumenten außerdem den tatsächlichen Nutzen der Erzeuger aus dem Projekt<br />
besser abschätzen können, ist es notwendig, die durch das Projekt erzielten Mehrerlöse<br />
zu veröffentlichen. Dar<strong>über</strong> hinaus ist es auch sinnvoll, eine neutraleKontrollstelle einzuschalten,<br />
die die Zahlungsströme beim betreffenden Projekt <strong>über</strong>prüft.<br />
Realistische Einschätzung der Marktleistung der Projekte<br />
Die existierenden Projekte erreichen in aller Regel nur verhältnismäßig geringe Marktanteile.<br />
Beispielsweise erzielten nach Analyse der GfK alle neuen „Fair- und Regional-<br />
Milchprogramme“ im Lebensmitteleinzelhandel bei Trinkmilch einen Umsatzanteil von<br />
0,9 %und einen Absatzanteil von 0,7 %imJahr 2010 (20). Auch bei den Programmen,<br />
die mittlerweile seit einigen Jahren bestehen, gelang es nicht, die Markanteile in großem<br />
Umfang auszudehnen. Generell ist daher davon auszugehen, dass solche Projekte<br />
(immer) eher Nischenstrategien <strong>für</strong> einzelne Unternehmen/Organisationen darstellen<br />
werden. Dementsprechend sind auch die Milchmenge und damit die Anzahl an Erzeugern<br />
beschränkt, die sich an derartigen Initiativen beteiligen können. Hinzu kommt, dass<br />
vermutlich <strong>für</strong> viele Erzeuger die Teilnahme an einem solchen Projekt <strong>über</strong>haupt nicht<br />
relevant ist. Dies kann zum einen daran liegen, dass es in der Region, in der der Landwirt<br />
ansässig ist, keine solche Initiative gibt. Zum anderen ist es aber auch denkbar, dass der<br />
Erzeuger die Anforderungen zur Teilnahme an dem Projekt nicht erfüllen kann (z. B. kein<br />
Laufstall, geforderte Qualitätsmerkmale des Projekts werden nicht erzielt). Nicht zu ver-<br />
Buel_3_11.indb 371 17.11.2011 08:13:08
372 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />
gessen ist außerdem, dass die Projekte gerade in der Startphase häufig keine relevanten<br />
Beiträge zum Betriebsergebnis der beteiligten Landwirte leisten. Aus diesen Gründen ist<br />
es notwendig, dass die Marktleistung der Projekte von den Beteiligten realistisch eingeschätzt<br />
und kommuniziert wird. So ist es beispielsweise nicht vertretbar, den beteiligten<br />
Landwirten unrealistische Versprechen bezüglich erzielbarer Milchpreise zu geben. Dies<br />
ist v. a. insofern kritisch und als fragwürdig zu beurteilen, als teilnehmende Landwirte<br />
zum Beispiel bestehende Lieferverträge mit ihrer Molkerei gekündigt oder Investitionen<br />
getätigt habe (z. B. Umstellung auf GVO-freie Fütterung). Außerdem sollte durch die<br />
Kommunikation der Verantwortlichen auch nicht der Eindruck erweckt werden, dass man<br />
mithilfe eines solchen Projektes die „Probleme“ der ganzen Wertschöpfungskette Milch<br />
lösen und insgesamt aus dem bestehenden Preisgefüge am Markt ausbrechen kann. Wahrscheinlicher<br />
ist dagegen, dass solche Projekte nur <strong>für</strong> bestimmte Unternehmen und eine<br />
eingeschränkte Anzahl an Erzeugern ein interessantes Differenzierungspotenzial bieten<br />
und eine Erfolg versprechende Marktnische darstellen können.<br />
Etablierung von allgemeingültigen „Fair-Kriterien“ und Übertragung auf den Milchsektor<br />
Die Kernaussage in der Kommunikation der meisten untersuchten Projekte besteht darin,<br />
dass durch das Projekt „Fairness“ erreicht wird. Dabei unterscheiden sich sowohl die<br />
Zielpersonen/-gruppen, <strong>für</strong> die „Fairness“ erreicht werden soll (z. B. nur Erzeuger, auch<br />
Verbraucher etc.), als auch die Art und Weise, wie „Fairness“ erreicht werden soll, zwischen<br />
den Projekten. Vielfach bleibt das „Fairness“-Argument bei den Initiativen aber<br />
bisher verhältnismäßig schwammig und unklar. Auch eine gesetzliche Definition oder<br />
ein allgemein gültiges Verständnis des Begriffs ist (noch) nicht vorhanden. Anzunehmen<br />
ist zwar, dass Konsumenten aufgrund der „Fair Trade“-Bewegung ein gewisses „Vorverständnis“<br />
haben, was im Lebensmittelsektor unter „fair“ zu verstehen ist. Andererseits<br />
lässt die steigende Anzahl an Initiativen, die in den letzten Jahren entstanden ist, vermuten,<br />
dass sich ein gewisser Markt <strong>für</strong> „Domestic Fair Trade“ entwickelt. Aus Wettbewerbs-<br />
und Verbraucherschutzgründen wären daher allgemeingültige und verbindliche<br />
Definitionen und Kriterien <strong>für</strong> „Fairness/fair“ notwendig. Nur so kann gewährleistet werden,<br />
dass es zu keinen Wettbewerbsverzerrungen kommt, wenn unterschiedliche Niveaus/<br />
Auslegungsgrade von „Fairness“ insolchen Projekten kommuniziert und zugrunde gelegt<br />
werden. Außerdem kann nur auf diese Weise sichergestellt werden, dass Verbraucher die<br />
in der Kommunikation verwendeten Angaben <strong>für</strong> ihre Kaufentscheidung nutzen können<br />
und dass Verbrauchertäuschung vorgebeugt bzw. verhindert wird. Einige solcher „Fair“-<br />
Kataloge existieren bereits. Auffällig ist, dass ein Großteil davon aus der Bio-Branche<br />
stammt. So hat z. B. Naturland „Fair-Kriterien“ entwickelt (28). Auch der Verein „Bio<br />
Bestes Fair- Für alle“ und der Anbauverband „Biokreis“ besitzen einen solchen Katalog<br />
(45). Weitere Beispiele sind eher aus Regionalbewegungen entstanden (z. B. FairRegional<br />
Charta Berlin Brandenburg) oder stammen aus der „Domestic Fair Trade“-Bewegung<br />
des angelsächsischen Sprachraums (4; 10; 11). Diese existierenden Kataloge könnten als<br />
Grundlage <strong>für</strong> eine gemeinsame Entwicklung von „Fair-Kriterien“ dienen.<br />
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass mittlerweile eine ganze Reihe von<br />
(regionalen) Milchvermarktungsprojekten existieren, die mit einer Unterstützung der<br />
beteiligten Erzeuger bzw. „Fairness zum Landwirt“ werben. Viele dieser Projekte sind<br />
noch verhältnismäßig „neu“ am Markt. Auffällig ist dabei, dass gerade diese „jungen“ Initiativen<br />
oftmals vom Handel aufgebaut wurden und die Produkte unter einer Eigenmarke<br />
des betreffenden Handelsunternehmens vermarktet werden. Inwieweit diese Projekte langfristig<br />
erfolgreich am Markt bestehen werden, ist derzeit kaum absehbar, dasie einerseits<br />
einer Vielzahl an Hemmnissen und Barrieren gegen<strong>über</strong>stehen. Andererseits weisen sie<br />
aufgrund ihrer Projektorganisation zum Teil aber auch erheblichen Verbesserungsbedarf<br />
Buel_3_11.indb 372 17.11.2011 08:13:09
Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />
auf. Gerade das Bestehen amMarkt wäre jedoch die Grundvoraussetzung zur Erreichung<br />
des proklamierten Ziels der „Unterstützung der beteiligten Milcherzeuger“.<br />
Zusammenfassung<br />
373<br />
In den vergangen Jahren sind am Milchsektor vor dem Hintergrund einer schwierigen Erzeugerpreissituation<br />
verschiedene regionale Vermarktungsinitiativen entstanden, die ex- oder implizit mit<br />
einer direkten Unterstützung der beteiligten Erzeuger bzw. „Fairness“ gegen<strong>über</strong> den beteiligten<br />
Erzeugern werben. Ziel des Beitrags ist eine Bestandsaufnahme und Systematisierung von solchen<br />
Projekten sowie Handlungsbedarf und notwendige Anpassungsmaßnahmen <strong>für</strong> diese Projekte aufzuzeigen.<br />
Insgesamt sind in den letzten Jahren in Deutschland und Österreich zwölf Projekte am<br />
Milchsektor entstanden, die eine Unterstützung der beteiligten Erzeuger kommunizieren. Die Projekte<br />
unterscheiden sich dabei sowohl hinsichtlich ihrer regionalen Abgrenzungsstrategie als auch in<br />
dem Verständnis von „Fairness/fairen Erzeugerpreisen“. Die Hemmnisse <strong>für</strong> solche Projekte hängen<br />
mit verschiedenen Aspekten zusammen, wie z. B. Problemen zwischen den Akteuren, dem Nischencharakter<br />
oder erhöhten Kosten. Aufgrund der Verschiedenartigkeit von identifizierten Hemmnissen<br />
und Schwächen existiert bei den Projekten vielfach Handlungsbedarf in den unterschiedlichsten<br />
Bereichen.<br />
Summary<br />
Initiatives for “fair” milk prices: striking new paths in the regional marketing of milk<br />
In light of decreasing milk prices, several initiatives for milk were launched in recent years which<br />
aimed at fostering the marketing of regional milk products and claimed to directly support, or provide<br />
fair pricing for, domestic milk producers. The objective of this paper is to give an appraisal,<br />
description and systematisation of these recently launched regional marketing projects for milk and<br />
to identify the need for action for such projects. In recent years twelve regional marketing projects<br />
which claim to directly support milk producers were established in the German and Austrian milk<br />
sectors. These projects differ in terms of the area they cover as well as in terms of their understanding<br />
of “fairness”/“fair pricing”. The barriers in connection with such projects are diverse and are<br />
associated with aspects such as conflicts between different actors, the niche character of the project,<br />
or increased costs. Because of the diversity of identified barriers and weaknesses of the existing<br />
projects, need for action exists in different fields.<br />
Résumé<br />
Initiatives pour un prix du lait équitable :Nouvelles approches dans la commercialisation<br />
(régionale) du lait<br />
Ces dernières années, dans le contexte d’une situation difficile en ce qui concerne le prix àlaproduction,<br />
plusieurs initiatives pour une commercialisation régionale ont été lancées dans le secteur laitier<br />
visant àséduire les consommateurs en évoquant explicitement ou implicitement le soutien direct aux<br />
producteurs participants ou le principe d’équité àl’égard des producteurs. Le rapport présent offre un<br />
aperçu, des descriptions et une systématisation de ces projets tout en montrant les nécessités d’agir et<br />
les mesures d’adaptation indispensables. Au total, douze projets ont été initiés dans le secteur laitier<br />
en Allemagne et en Autriche qui soulignent le soutien apporté aux producteurs participants. Les projets<br />
diffèrent non seulement par leur stratégie de délimitation régionale mais aussi par l’interprétation<br />
du principe «équité/prix àlaproduction équitable ». Les obstacles auxquels de tels projets peuvent<br />
se heurter résultent d’aspects différents, par exemple des problèmes entre les acteurs, du caractère de<br />
niche ou des coûts trop élevés. En raison de la hétérogénéité des obstacles et défauts identifiés, les<br />
mesures nécessaires pour améliorer les résultats de ces projets sont également très variées.<br />
Literatur<br />
1. Bayerisches <strong>Landwirtschaft</strong>liches Wochenblatt, 2008: Startschuss <strong>für</strong> die Bayerische Bauern-Milch.<br />
In: Bayerisches landwirtschaftliches Wochenblatt 27 (4.07.2008), 11.<br />
2. Bayerisches Staatsministerium <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong>, <strong>Landwirtschaft</strong> und Forsten, 2010: Geprüfte Qualität -<br />
Bayern. Online: http://gq-bayern.de/. (abgerufen am: 22.03.2010).<br />
3. Biofairverein, o. J.: Richtlinien. Online: http://www.biofairverein.de/70.0.html (abgerufen am<br />
15.05.2009).<br />
4. Bionachrichten, 2009: Denn sie wissen, was sie tun. Regional und fair ist keine Utopie: Vier Unternehmer<br />
beweisen es. In: Bionachrichten 008 (Februar 2009), 30–31.<br />
Buel_3_11.indb 373 17.11.2011 08:13:09
374 Agnes Klein, Klaus Menrad<br />
5. Bundesverband Naturkost Naturwaren (BNN), 2009: Gemeinsame Erklärung zum Bio-Milchmarkt:<br />
Bio-Milch verdient einen stabilen und fairen Preis. Pressemitteilung vom 12. Januar 2009. Berlin.<br />
6. burCharDi, h.;Thiele, H., 2006: Preispolitische Spielräume <strong>für</strong> regional erzeugte ökologische Produkte:<br />
Analyse und Umsetzung einer Marketingstrategie <strong>für</strong> Biomilchprodukte. Endbericht des durch<br />
das Bundesprogramm Ökologischer Landbau geförderten Forschungsprojektes 03OE286, Institut <strong>für</strong><br />
Ökonomieder <strong>Ernährung</strong>swirtschaft -Bundesforschungsanstalt <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong> und Lebensmittel.Kiel.<br />
7. busChenDOrf, h.,2009: Optimierung der Betriebsstättenstruktur als Ausgangspunkt unternehmerischer<br />
Optionen der Molkereiwirtschaft Deutschlands. Dissertation TU München. Weihenstephan.<br />
8. COuDenhOve, C.,2007: Außenseitersieg. In: Bestseller, Juni 2007, 72–75.<br />
9. Die <strong>Landwirtschaft</strong>liche Zeitschrift (DLZ), 2007: Projekt Bauern-Milchmarke. In: Die landwirtschaftliche<br />
Zeitung (Österreich) 2, 10.<br />
10. Domestic Fair Trade Association,2008: Principles -For health justice and sustainability Online: http://<br />
dftassociation.org/principles. (abgerufen am: 20.05.2009).<br />
11. Domestic Fair Trade Working Group, 2005: Principles for domestic fair trade „For Health, Justice,<br />
Sustainability“. Online: http://209.85.129.132/search?q=cache:Y4XUOTfVs34J:www.rafiusa.<br />
org/programs/DFT.principles.12.05.pdf+principles+for+domestic+fair+trade+for+health&cd=1&hl=<br />
de&ct=clnk Ordner Fair Trade; Faire Konzepte. (abgerufen am: 16.04.2009).<br />
12. Edeka Pfeilstetter, 2009: Milchzehnerl -Faire Preise <strong>für</strong> saubere Ware! Online: http://www.milchzehnerl.de/Material/Pressetext.pdf.<br />
(abgerufen am: 24.07.2009).<br />
13. Edeka Südwest, 2009: Unsere Heimat -echt und gut. Online: (abgerufen am: 08.09.2009).<br />
14. esCh, f.-r., 2003: Strategie und Technik der Markenführung. Verlag Franz Vahlen GmbH, München.<br />
15. frieDer, t.; engel, a.,2009: Fairness und ethische Werte im Ökologischen Landbau. Bestandsaufnahme,<br />
Strategien und Initiierung einer Plattform zur Stärkung von fair-regionalen Bio-Produkten in<br />
und um die Biostadt München, Agrar Bündnis e.V. Münchner Projetgruppe <strong>für</strong> Sozialforschung e.V.<br />
München.<br />
16. halbmayr,e.,2009: Afaire Milch. Homepage. Online: http://www.afairemilch.at/was.htm. (abgerufen<br />
am: 4.05.2009).<br />
17. hanf, h., 1999: Zur Bedeutung von Vertrauenseigneschaften <strong>für</strong> den Wettbewerb auf Lebensmittelmärkten.<br />
Vortrag auf der 40. Gewisola, 04.10.1999–06.10.1999, Kiel.<br />
18. Klein, a.; menraD, K.,2010: Regionalvermarktungsprojekte aus dem Milchsektor, die eine direkte<br />
Unterstützung der heimischen Erzeuger betonen. Literatur<strong>über</strong>sicht im Rahmen des Projekts „Analyse<br />
von regionalen Vermarktungsprojekten <strong>für</strong> Milch, die eine direkte Unterstützung der heimischen Erzeuger<br />
betonen“, Wissenschaftszentrum Straubing. Straubing (unveröffentlicht).<br />
19. –; –, 2010: Abschlussbericht des Projkets „Analyse von regionalen Vermarktungsprojekten <strong>für</strong> Milch,<br />
die eine direkte Unterstützung der heimischen Erzeuger betonen“. Wissenschaftszentrum Straubing<br />
Straubing (unveröffentlicht).<br />
20. lehnert, s.,2010: Faire Milch: Geschäfte in der Nische. In: TopAgrar 6/ 2010, R6-R11.<br />
21. Lidl, 2010: Ein gutes Stück Heimat -Der beginn einer neuen Marke. In: Lidl Anzeigenblatt.<br />
22. meffert, h., 2000: Marketing. Grundlagen marktorientierter Unternehmensführung. 9. Auflage, Gabler<br />
Verlag, Wiesbaden.<br />
23. meyer, r., 2003: Qualität, Regionalität und Verbraucherinformation bei Nahrungsmitteln. Zusammenfassender<br />
Endbericht zum TAB-Projekt „Entwicklungstendenzen bei Nahrungsmittelangebot und<br />
-nachfrage und ihre Folgen“, Büro <strong>für</strong> Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB).<br />
Berlin.<br />
24. Milcherzeugergemeinschaft Hessen w.V.,2008: ErzeugerfairMilch. Ein Leitfaden <strong>für</strong> die Praxis, Lichtenfels,<br />
Willingen-Usseln, Kiel.<br />
25. Milchproduktenhandel Oberland eG, 2008: Bayerische Bauern-Milch.Homepage. Online: http://www.<br />
bayerische-bauernmilch.de/kontakt/(abgerufen am: 16.04.2009).<br />
26. möllers, C., 2010: Neue Strategie: Discounter setzt auf regionale Milch (11.01.2010). Online: http://<br />
www.merkur-online.de/nachrichten/bayern/neue-strategie-discounter-setzt-regionale-milch-587612.<br />
html. (abgerufen am: 13.01.2010).<br />
27. MVS Milchvermarktungsgesellschaft mbH, 2009: Die faire Milch. Homepage. Online: http://www.<br />
die-faire-milch.de/index.php. (abgerufen am: 13.01.2010).<br />
28. Naturland, 2010: Naturland Fair Richtlinien. Online: http://www.naturland.de/fileadmin/<br />
MDB/documents/Richtlinien_deutsch/Naturland-Richtlinien_Fair-Richtlinien.pdf. (abgerufen am:<br />
24.03.2010).<br />
29. Netto Marken-Discount, 2008: Werbeprospekt von Netto Marken-Discount. Gültig in KW 32/ alle NL.<br />
30. –, 2009: Ein Herz <strong>für</strong> Erzeuger Online: http://www.netto-online.de/herzfuererzeuger/index.php. (abgerufen<br />
am: 27.04.2009).<br />
31. ObersOJer, t.,2009: Efficient Consumer Response: Supply Chain Management <strong>für</strong> die <strong>Ernährung</strong>swirtschaft.<br />
Gabler GWF Fachverlage GmbH, Wiesbaden.<br />
Buel_3_11.indb 374 17.11.2011 08:13:09
Initiativen <strong>für</strong>„faire“ Milchpreise: Neue Wege in der (regionalen) Milchvermarktung?<br />
375<br />
32. o. A., 2007: Milcherfassung -Kostenoptimum ist noch nicht erreicht. In: Deutsche Milchwirtschaft<br />
15, 535–536.<br />
33. pöChtrager, s.; penzinger, J.,2005: Differenzkosten bei der Erzeugung von tierischen Lebensmitteln<br />
bei Einsatz von „gentechnikfreien“ oder „GVO-freien“ Futterrationen im Vergleich zu als GVO gekennzeichneten<br />
Futterrationen sowie Kostenbetrachtung <strong>für</strong> tierische Lebensmittel in Österreich. In:<br />
Österreichische Agentur <strong>für</strong> Gesundheit und <strong>Ernährung</strong>ssicherheit GmbH und Universität <strong>für</strong> Bodenkultur<br />
Wien (Hrsg.) Machbarkeitsstudie zur Auslobung „gentechnikfrei“ und Vermeidung von GVO<br />
bei Lebensmitteln aus tierischer Erzeugung. Wien, 140–186.<br />
34. REWE Dortmund, 2009: NEU bei REWE BUBI faire Milch. Online: http://www.rewe-dortmund.de/<br />
actionen/faire-milch/faire_milch_001.html. (abgerufen am: 21.10.09).<br />
35. sChäfer, m.; Kröger, m.; Wirz,a.,2010: Fairness entlang der Wertschöpfungskette -Möglichkeiten<br />
der Profilierung am Biomarkt und der Verbraucheransprache mittels regionalem Mehrwert. Abschlussbericht,<br />
Technische Universität Berlin, Berlin.<br />
36. sCheKahn,a.,2008: Bio fair-stärken. In: Inkota Brief 143 „Supermärkte und Discounter weltweit: Die<br />
hohen Kosten der niedrigen Preise“ März 2008, 31.<br />
37. sChmalen,C., 2005: Erfolgsfaktoren der Markteinführung von Produktinnovationen klein- und mittelständischer<br />
Unternehmen der <strong>Ernährung</strong>sindustrie. Herbert Utz Verlag GmbH München.<br />
38. tegut, 2009: Zeichen setzen <strong>für</strong> faire Milchpreise. Online: http://www.tegut.com/aktuelles/faire_milchpreise.php.<br />
(abgerufen am: 23.06.2009).<br />
39. thiele,h.;burCharDi,h.,2004: Verbesserung der Vermarktungsmöglichkeiten ökologischer Produkte<br />
entlang der Wertschöpfungskette. Endbericht des Forschungsprojekts 02OE043. Institut <strong>für</strong> Ökonomie<br />
der <strong>Ernährung</strong>swirtschaft Bundesforschungsanstalt <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong> und Lebensmittel. Kiel.<br />
40. TopAgrar, 2009: Bauernmilch jetzt bundesweit. In: TopAgrar 3, R2.<br />
41. top agrar online, 2009: Lidl-Projekt mit ausgewählten Milcherzeugern. Online: http://www.topagrar.<br />
com/index.php?option=com_content&task=view&id=14176&Itemid=521. (abgerufen am: 19.10.09).<br />
42. truChsess, v. a., 2009: Pressekonferenz: Startschuss <strong>für</strong> die Bauernmilch. Ablauf und Inhalte real,-<br />
SB-Warenhaus GmbH. Vorlage <strong>für</strong> Herrn Saveuse und Herrn Sauer. 23.01.2009. Internationale Grüne<br />
Woche, Messezentrum Berlin.<br />
43. Unser Land GmbH 2009: Willkommen beim Netzwerk Unser Land. Homepage. Online: http://www.<br />
unserland.info/index.php?option=com_frontpage&Itemid=122. (abgerufen am: 11.05.2009).<br />
44. Upländer Bauernmolkerei GmbH, 2006: Plakat <strong>für</strong> Erzeugerfair-Milch. Willingen-Usseln.<br />
45. Verein Bestes Bio -Fair <strong>für</strong> alle, 2008: Hintergrundpapier.Der Verein Bester Bio -Fair <strong>für</strong> alle. Kassel.<br />
46. WeinDlmaier, h., 2004: Herstellermarken versus Handeslmarken. In: Deutsche Molkerei-Zeitung 22,<br />
28–35.<br />
47. –; betz, J.,2005: Zur aktuellen Situation der Milcherfassung in Deutschland und Österreich im Jahr<br />
2003. Teil 2-Physische Milcherfassung. In: Deutsche Milchwirtschaft 10, 405–408.<br />
48. –; –, 2009: Zur aktuellen Situation der Milcherfassung in Deutschland und Österreich im Jahr 2007.<br />
In: Milchwissenschaftliche Forschung am Zentralinstiut <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong>s- und Lebensmittelforschung<br />
(Weihenstepahn (ZIEL) Jahresbericht 2008, 43–47.<br />
49. YouGovPsychonomics AG, 2009: Aktuelle Studie „Bio, Öko, fairer Handel-was zählt, wer zahlt?“<br />
Pressemitteilung vom 18. Dezember 2009. YouGovPsychonomics AG: Köln.<br />
50. ZMP Zentrale Markt- und Preisberichtsstelle GmbH; CMA Centrale Marketing Gesellschaft der deutschen<br />
Agrarwirtschaft mbH, 2003: Nahrungsmittel aus der Region -Regionale Spezialitäten. Bonn.<br />
Fußnoten<br />
1) Erfassungsdichte =Erfassungsmenge pro qkm im Erfassungsgebiet.<br />
2) Beispielsweise resultiert die Erfassung von Biomilch in separaten Milcherfassungsfahrzeugen<br />
in erhöhten Erfassungskosten von durchschnittlich 1,4 Cent (Streuung: 0,5–2,5 Cent). Dies<br />
entspricht mehr als einer Verdopplung der durchschnittlichen Erfassungskosten in Deutschland<br />
(z. B. 2007: 1,13 Cent/ kg) (34).<br />
3) Zu reduzierten Kontrollkosten kommt es, wenn bestimmte Kontrollen zusätzlich im Rahmen<br />
einer anderen Kontrolle (z. B. Tierschutz, AMA-Gütesiegel) durchgeführt werden und dadurch<br />
eine Kostenreduktion erfolgt<br />
Autorenanschrift: agnes Klein und Prof. Dr. Klaus menraD,Hochschule Weihenstephan-Triesdorf,<br />
Wissenschaftszentrum Straubing, Fachgebiet <strong>für</strong> Marketing und Management<br />
Nachwachsender Rohstoffe, Schulgasse 16, 94315 Straubing, Deutschland<br />
K.Menrad@wz-straubing.de<br />
Buel_3_11.indb 375 17.11.2011 08:13:09
376<br />
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und<br />
Produktivität –Ergebnisse einer europaweiten Befragung<br />
von Milcherzeugern<br />
Von Birthe lAssen, Braunschweig<br />
1 Einleitung<br />
1.1 Problemstellung<br />
Im Wettbewerb zwischen Milcherzeugern spielen Produktionskosten je Kilogramm Milch<br />
eine wichtige Rolle. Diese werden zu 20 bis 25 %von den Arbeitskosten (Lohnkosten und<br />
Opportunitätskosten <strong>für</strong> nicht entlohnte Familienarbeitskräfte) beeinflusst (30). Mit etwa<br />
einem Drittel nimmt der reine Melkprozess dabei einen großen Teil der täglichen Arbeitszeit<br />
ein (13). Unter Berücksichtigung der vor- und nachgelagerten Arbeiten umfasst der<br />
Melkprozess sogar etwa 60 %der täglichen Arbeitszeit und bildet damit einen wichtigen<br />
Ansatzpunkt <strong>für</strong> Effizienzsteigerungen (16). Der Einfluss der Arbeitseffizienz im Melkstand<br />
auf die Lohnkosten je Kuh und Jahr wird in der Praxis jedoch zumeist unterschätzt<br />
(27).<br />
Inwiefern sich die Arbeitseffizienz beim Melken in unterschiedlichen Melkstandformen<br />
voneinander unterscheidet, wurde bisher kaum in größerem Umfang untersucht. Zwar<br />
gibt es zahlreiche Studien zu Arbeitszeitmessungen in unterschiedlichen Melksystemen<br />
(u. a. 24; 3; 26; 19; 20; 13; 10), diese basieren jedoch im Allgemeinen auf Angaben<br />
verhältnismäßig weniger Praxisbetriebe und sind meist auf eine Region begrenzt. Analysen,<br />
die die Zusammenhänge zwischen Produktivität im Melkprozess und Melktechniken<br />
regions<strong>über</strong>greifend oder sogar international untersuchen, liegen bisher nicht vor. Es<br />
ist jedoch sowohl <strong>für</strong> Milcherzeuger (Optimierung der eigenen Betriebsabläufe und der<br />
eigenen Rentabilität) als auch <strong>für</strong> Politiker (u. a. Optimierung der Investitionsförderung)<br />
durchaus von Interesse, Zusammenhänge zwischen produktionstechnischen Kennzahlen<br />
und betrieblicher Produktivität im Rahmen von internationalen Vergleichen zu erkennen.<br />
Erste Analysen zur Implementierung von automatischen Melksystemen (AMS) deuten<br />
zum Beispiel an, dass sich diese in der EU sehr unterschiedlich verbreiten (22). Dies<br />
kann einen Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit der Milcherzeugung in den jeweiligen<br />
Regionen haben.<br />
Die Durchführung einer solchen internationalen Untersuchung wird jedoch aufgrund<br />
mangelnder Datenverfügbarkeit erschwert: Das EU-Testbetriebsnetz, das einen repräsentativen<br />
Datensatz darstellt, verfügt nicht <strong>über</strong> detaillierte produktionstechnische Kennzahlen.<br />
Der Aufbau eines separaten Datensatzes, der sowohl Repräsentativitätskriterien<br />
erfüllt als auch eine Analyse von Produktionskosten und Produktionstechnik ermöglichen<br />
würde, wäre sehr kostspielig.<br />
Die Herausforderung besteht deshalb darin, einen Ansatz zu entwickeln, der auf der<br />
freiwilligen Teilnahme einer großen Zahl von Milcherzeugern beruht und die Möglichkeit<br />
eröffnet, Zusammenhänge zwischen Betriebsstrukturen, Produktionstechnik und Produktivität<br />
zu analysieren.<br />
U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0376 $2.50/0<br />
Buel_3_11.indb 376 17.11.2011 08:13:09
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
1.2 Zielsetzung<br />
377<br />
Ziel der vorliegenden Analyse ist es, einen ersten Überblick <strong>über</strong> den aktuellen Einsatz der<br />
Melktechnik in ausgewählten Ländern Europas zu ermöglichen sowie Einschätzungen der<br />
Betriebsleiter <strong>über</strong> die künftige Entwicklung der Melktechnik zu erfassen. Dabei sollen<br />
Zusammenhänge zwischen ausgewählten Betriebs- und Standortfaktoren und der jeweiligen<br />
Melktechnik untersucht werden. Dar<strong>über</strong> hinaus soll der Einfluss der unterschiedlichen<br />
Melktechniken auf die Produktivität der Betriebe analysiert werden.<br />
1.3 Vorgehensweise<br />
Die vorliegende Untersuchung basiert auf Daten einer quantitativen Befragung von 2611<br />
Milchviehbetrieben in 19 Ländern, die mittels eines standardisierten Fragebogens im<br />
Frühjahr 2011 durchgeführt wurde. Im Folgenden wird zunächst das Forschungsdesign<br />
vorgestellt. Die anschließende Präsentation der Ergebnisse erfolgt zum einen <strong>für</strong> die<br />
gesamte Stichprobe, zum anderen nach Mitgliedsstaaten differenziert. Da die Stichprobenumfänge<br />
<strong>für</strong> einzelne Länder teilweise gering sind, können nur begrenzte Schlussfolgerungen<br />
bezüglich der Perspektiven der Milchviehhaltung in den einzelnen Ländern<br />
abgleitet werden. Aussagekräftiger sind die Erkenntnisse, die sich aus der umfangreichen<br />
Gesamtstichprobe zum einen <strong>über</strong> die Entwicklung der Melktechnik im Zeitablauf und<br />
zum anderen <strong>über</strong> den Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
ableiten lassen.<br />
2 Forschungsdesign und Stichprobenbeschreibung<br />
2.1 Fragebogengestaltung<br />
Die schriftlich und standardisiert durchgeführte Befragung wurde in die internationalen<br />
Netzwerke der European Dairy Farmers und agri benchmark eingebunden, die jährlich<br />
eine Befragung aktiver Milcherzeuger durchführen (EDF-agri benchmark Snapshot-<br />
Befragung). Mit wechselnden Schwerpunktthemen zielt die Snapshot-Befragung auf eine<br />
verbesserte Abschätzung künftiger strategischer und produktionstechnischer Entwicklungen<br />
bei zukunftsorientierten Milcherzeugern in Europa ab. Die Experten in den Netzwerken<br />
diskutieren den Fragebogen im Vorfeld und stellen sicher, dass die Fragen <strong>für</strong> die<br />
Milcherzeuger aus den teilnehmenden Ländern verständlich und ausfüllbar sind. Sie sind<br />
neben der Übersetzung des Fragebogens sowohl <strong>für</strong> die Durchführung der Pretests als<br />
auch <strong>für</strong> die Verteilung der Fragebögen in ihrem Land verantwortlich (21).<br />
Um einen hohen Fragebogenrücklauf zu erreichen, hat es sich als besonders wichtig<br />
herausgestellt, dass der Fragebogen möglichst kurz ist (maximale Bearbeitungszeit 15<br />
Minuten) und schnell von den Milcherzeugern zu beantworten ist. Neben jährlich wiederkehrenden<br />
Fragen z. B. zur Herdengrößenentwicklung wurde 2011 der Einsatz unterschiedlicher<br />
Melktechniken in den Fokus der Erhebung gestellt. Es wurden <strong>über</strong>wiegend<br />
geschlossene Fragen verwendet. Dar<strong>über</strong> hinaus konnten die Teilnehmer auf einer 7-er<br />
bzw. 5-er Likert-Skala ihre Zustimmung bzw. Ablehnung zubestimmten Sachverhalten<br />
auszudrücken.<br />
Buel_3_11.indb 377 17.11.2011 08:13:09
378 Birthe Lassen<br />
2.2 Stichprobenbeschreibung und Einordnung in die Grundgesamtheit<br />
Vonden 2611 Teilnehmern der EDF-agri benchmark Snapshot-Befragung sind 83 %<br />
Betriebsleiter bzw. Betriebsleiterinnen, die übrigen Teilnehmer sind etwa zu gleichen Teilen<br />
Hofnachfolger/Innen, leitende Angestellte oder Partner/Innen des Betriebsleiters bzw.<br />
Altenteilers.<br />
Die Beteiligung in den jeweiligen Ländern war sehr unterschiedlich (vgl. Tab. 1). Die<br />
meisten Teilnehmer kamen aus Deutschland, gefolgt von Frankreich, Belgien, Schweden,<br />
den Niederlanden und Spanien. Inden anderen Ländern lag die Teilnehmerzahl bei weniger<br />
als 100 Milcherzeugern je Land. Aufgrund der sehr heterogenen Stichprobengröße in<br />
den Ländern werden im Folgenden zwei unterschiedliche Stichprobenzuschnitte verwendet:<br />
Zur Feststellung allgemeiner Zusammenhänge, beispielsweise zwischen bestimmten<br />
Standort- oder Betriebsfaktoren und der Melktechnik, werden alle Betriebe in die Analysen<br />
einbezogen. Für regionalisierte Analysen auf Länderebene werden jedoch nur die<br />
Länder berücksichtigt, in denen sich 30 oder mehr Betriebe beteiligt haben.<br />
Die befragten Betriebe sind durchschnittlich größer und haben höhere durchschnittliche<br />
Milchleistungen als der Landesdurchschnitt laut Statistik (vgl. Tab. 1). In der Befragung<br />
geben 44 %der Teilnehmer an, sich selbst zu den 25 %wirtschaftlich besten Betrieben<br />
ihrer Region zu zählen. Aufgrund der vergleichsweise guten ökonomischen Situation,<br />
plant die Mehrheit der Teilnehmer (88 %) auch in 2016 noch Kühe zu melken. Die Stichprobe<br />
kann somit nicht als repräsentativ <strong>für</strong> die Gesamtheit der europäischen Milcherzeu-<br />
Tabelle 1. Vergleich der Herdengröße und Milchleistung inder Stichprobe<br />
mit den jeweiligen Landesdurchschnitten<br />
���� ���<br />
���������������<br />
��������� ����������� ���������� ��<br />
��������<br />
�����<br />
�� ���� ��<br />
�� ���� ��<br />
�������<br />
��������<br />
���������� ���� �� ���� �� �� ����<br />
������� ���� � � �� �� � ���<br />
��������� ���� �� � ��� �� ���<br />
������ �������� �������<br />
����� ����� �������� �� ���<br />
������ �� ���� �� ����<br />
�������������� ������������� �������������� �������������<br />
����<br />
���������� ���� �� � ��� ��� �� ����<br />
������� ���� �� ���� ��� �� ����<br />
����������� ���� �� ���� ��� ��� ����<br />
����������� ���� �� ���� ���� ��� ����<br />
�������� ���� ��� � ��� �� ��� ����<br />
�������� ���� �� ���� ��� ��� ����<br />
������ ���� �� � ��� �� ��� ����<br />
�������������� ���� �� ���� �� ��� ����<br />
������� ���� �� ���� �� ��� ����<br />
�������� ���� �� � ��� �� �� ����<br />
������� ���� �� ���� ��� �� ����<br />
����� ���� � � ��� �� �� ����<br />
���������� ���� �� ���� �� ��� ����<br />
�������� ���� �� ���� �� ��� ����<br />
������ ���� �� ���� �� ��� ����<br />
������� ���� � � � ���� ����<br />
Quelle: 1) (9); 2) (1); 3) eigene Berechnung auf Basis der Daten des EDF-agri benchmark Snapshots<br />
(2011)<br />
Buel_3_11.indb 378 17.11.2011 08:13:09
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
ger gesehen werden. Sie erlaubt es jedoch, <strong>für</strong> eine große Anzahl <strong>über</strong>durchschnittlicher<br />
Betriebe Aussagen zur Entwicklung der Melktechnik abzuleiten.<br />
2.3 Analyserahmen<br />
379<br />
Zunächst werden die Stichprobendaten deskriptiv ausgewertet und so Veränderungen im<br />
Einsatz unterschiedlicher Melktechniken herausgearbeitet. Anschließend werden die im<br />
Rahmen der Literaturanalyse identifizierten Hypothesen <strong>über</strong> den Einfluss bestimmter<br />
Betriebs- und Standortfaktoren auf die Wahl der Melktechnik mittels Kontingenzanalysen<br />
<strong>über</strong>prüft. Die Beziehung zwischen den zu analysierenden Variablen kann mittels<br />
des Chi-Quadrat-Tests nach pearsOn <strong>über</strong>prüft werden. Dieser untersucht die statistische<br />
Hypothese, dass beide Variablen voneinander unabhängig sind. Ist der Chi-Quadrat-Wert<br />
(X 2 )bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5%größer als 0,05, kann diese Null-Hypothese<br />
nicht abgelehnt werden. Ist X 2 kleiner als 0,05 muss die Null-Hypothese verworfen<br />
werden und ein Zusammenhang zwischen den Variablen kann angenommen werden.<br />
Eine Aussage <strong>über</strong> die Stärke oder Richtung des Zusammenhangs ist damit jedoch nicht<br />
verbunden. Dar<strong>über</strong> hinaus erlaubt der Chi-Quadrat-Test keine Aussage <strong>über</strong> Einflüsse<br />
weiterer Variablen (2). Sofern diese bekannt sind, werden sie jedoch bereits beim Aufbau<br />
der jeweiligen Kontingenztabelle berücksichtigt,umihren Einfluss zu reduzieren. Wird im<br />
Rahmen der Kontingenzanalysen eine Gruppierung einzelner Variablen notwendig, wird<br />
diese entsprechend der Verteilung in der Stichprobe so vorgenommen, dass ähnlich große<br />
Gruppen entstehen.<br />
Um die durchschnittliche Produktivität der Betriebe bei unterschiedlichen Melktechniken<br />
zu vergleichen, werden Varianzanalysen (ANOVA, analysis of variance) durchgeführt.<br />
Mittels einer Varianzanalyse wird die statistische Hypothese untersucht, dass die<br />
unabhängigen Variablen nicht auf die abhängige Variable wirken. Mittels F-Test können<br />
die Hypothesen <strong>über</strong>prüft werden. Liegt der empirische F-Wert <strong>über</strong> dem theoretischen<br />
F-Wert, kann die Null-Hypothese verworfen werden. ANOVA-Analysen im Statistikprogramm<br />
SPSS ermitteln neben dem F-Wert gleichzeitig auch das Signifikanzniveau der<br />
F-Statistik sowie das partielle Eta 2 .Letzteres zeigt die Erklärungskraft der einzelnen Faktoren<br />
<strong>für</strong> die abhängige Variable (2).<br />
3 Veränderter Einsatz der Melktechnik im Zeitablauf<br />
Für die Analyse von Entwicklungen in der Melktechnik wurde im Fragebogen die Melktechnik<br />
zu drei Zeitpunkten abgefragt: Neben der heutigen Melktechnik (2011) ist auch<br />
die Melktechnik von vor fünf Jahren (2006) sowie die Melktechnik bekannt, mit der die<br />
Betriebe voraussichtlich in fünf Jahren melken werden (2016). Für die folgendenAnalysen<br />
wurden nur Betriebe ausgewählt, die <strong>für</strong> alle drei Analysezeitpunkte ihre Melktechnik<br />
angegeben haben (n =2302).<br />
Die Bedeutung der jeweiligen Melktechnik kann in der vorliegenden Studie mit drei<br />
Variablen gemessen werden:<br />
● Anteil der Betriebe in der Stichprobe, die mit einer bestimmten Melktechnik melken,<br />
● Anteil derKühe in der Stichprobe, die mit einer bestimmten Technik gemolken werden<br />
● und Anteil der von den teilnehmenden Betrieben produzierten Milch, die mit einer<br />
bestimmten Melktechnik ermolken wird.<br />
Während der Anteil der Betriebe, die mit einer bestimmten Melktechnik melken, auf den<br />
Verbreitungsgrad der jeweiligen Melktechnik hinweist, zeigt der Anteil der Kühe, die mit<br />
einer bestimmten Technik gemolken werden, die Bedeutung der jeweiligen Melkstand-<br />
Buel_3_11.indb 379 17.11.2011 08:13:09
380 Birthe Lassen<br />
form <strong>für</strong> die Milchviehhaltung insgesamt. Der Anteil der ermolkenen Milch zeigt die<br />
Bedeutung einer bestimmten Technik <strong>für</strong> die Milchproduktion insgesamt.<br />
Die zentralen Veränderungen in der Melktechnik sind <strong>für</strong> den Analysezeitraum anhand<br />
aller drei Variablen gleichermaßen zu erkennen. Deshalb werden die Trends in der Melktechnik<br />
zunächst nur anhand des veränderten Anteils gemolkener Kühe dargestellt, bevor<br />
die Rangfolge der drei wichtigsten Technologien <strong>für</strong> alle drei Variablen dargestellt wird.<br />
Anschließend werden nationale Unterschiede in der Verbreitung der Technologien herausgearbeitet.<br />
Zum Zeitpunkt der Befragung (2011) wurden die meisten Kühe der befragten Betriebe<br />
in FGM (Fischgrätenmelkstand) gemolken (42 %, vgl. Tab. 2), gefolgt von SbS-Melkständen<br />
(Side by Side-Melkstand), Melkkarussellen und AMS. Der Anteil der Kühe, der<br />
in Rohrmelkanlagen oder Tandemmelkständen gemolken wird, ist sehr gering. Vergleicht<br />
man zwischen 2006 und 2016 den Anteil der Milchkühe, die mit bestimmten Melktechniken<br />
gemolken werden, zeigen sich in der Stichprobe die folgenden Entwicklungen:<br />
● Die meisten Kühe werden zu allen drei Zeitpunkten mit FGM gemolken. Gleichzeitig<br />
erfolgt hier der stärkste Rückgang der Kuhzahlen.<br />
● Die höchsten Zuwachsraten weisen AMS auf, gefolgt von Melkkarussellen.<br />
● Der Anteil der Kühe, die in SbS-Melkständen gemolken wurden, steigt nur bis 2011<br />
nennenswert an.<br />
● Die Bedeutung von Tandem-Melkständen oder Rohrmelkanlagen ist rückläufig. Beide<br />
Systeme werden in der Stichprobe in 2016 kaum noch vorhanden sein.<br />
Insgesamt lässt sich im Rahmen dieser Untersuchung festhalten, dass die Heterogenität<br />
in der Nutzung unterschiedlicher Melktechniken zunimmt: In2006 waren noch in mehr<br />
als der Hälfte der Betriebe FGM installiert und darin wurde die Hälfte der produzierten<br />
Milchmenge gemolken. Zehn Jahrespäter(2016) erwarten die teilnehmenden Milcherzeuger,<br />
dass nur noch in etwa einem Drittel der Betriebe FGM installiert sind, die nur noch<br />
rund ein Viertel der produzierten Milch ermelken werden. Gleichzeitig steigt der Anteil<br />
neu implementierter AMS und Melkkarusselle an. Dies verändert die Reihenfolge der<br />
bedeutendsten Melktechniken im Zeitablauf (vgl. Tab. 3).<br />
Tabelle 2. Anteil der Milchkühe in der Stichprobe, die mit der jeweiligen<br />
Melktechnik gemolken werden (in %, 2006, 2011 und 2016) sowie Veränderungen<br />
im Zeitablauf (2006 bis 2011), sortiert nach ihrer Bedeutung im Jahr 2011<br />
���������� ��<br />
���������� ������������� �������������<br />
��������������������� �� �<br />
���� ���� ����<br />
���� �������<br />
�������������<br />
��� ��<br />
���� ��� ����<br />
��� �� �� �� �� ���<br />
��� �� �� �� � �<br />
������������� �� �� �� � �<br />
������������� ������ � �� �� � �<br />
������ � � � �� ��<br />
��������������� � � � �� ��<br />
1) Nur <strong>für</strong> Betriebe, die zu allen drei ZeitpunktenAngaben zur Melktechnik und Kuhzahl gemacht<br />
haben (n =2055).<br />
2) Betriebe, die in zwei unterschiedlichen oder „sonstigen“ Systemen melken, werden nicht angezeigt.<br />
Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />
Buel_3_11.indb 380 17.11.2011 08:13:10
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
Tabelle 3. Ranking unterschiedlicher Melktechniken nach Anteil an Betrieben, nach<br />
Anteil gemolkener Kühe und nach Anteil an der Milchproduktion der Teilnehmer<br />
(2006 vs. 2016)<br />
���� �������� ��<br />
��������������������������� �������������<br />
���� ��������� ��<br />
���� ��������������� ��<br />
��������� ���� ���� ���� ���� ���� ����<br />
���� � ��� ��� ��� ��� ��� ���<br />
����� ��� �� ����� ��� �� ��� �� ��� ��<br />
���� � �������������� ��� ��� ������������� ������������� �������������<br />
��� �� ��� �� ��� �� ��� �� ��� �� ��� ��<br />
���� � ������ ��� ������������� ��� ��� ���<br />
��� �� ��� �� ��� �� ��� �� ����� ��� ��<br />
1) Nur <strong>für</strong> Betriebe, die <strong>für</strong> alle drei Zeitpunkte Angaben zur Melktechnik gemacht haben<br />
(n =2302).<br />
2) Nur <strong>für</strong> Betriebe, die <strong>für</strong> alle drei Zeitpunkte Angaben zur Melktechnik und zu ihrer Herdengröße<br />
gemacht haben (n =2055).<br />
3) Nur <strong>für</strong> Betriebe, die zu allen drei ZeitpunktenAngaben zur Melktechnik, Kuhzahl und<br />
Milchleistung gemacht haben (n =1979).<br />
Quelle: eigene Darstellung nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />
Tabelle 4. Anteil der gemolkenen Kühe der Stichprobe (2011) je Melksystem in<br />
ausgewählten Ländern sowie künftige Veränderungen (2011 bis 2016)<br />
���� � ����������<br />
��������<br />
�� ���<br />
�� ���<br />
�� ��<br />
�� ���<br />
�� ����<br />
�� ���<br />
�� ��<br />
�� ��<br />
�� ���<br />
�� ��<br />
�� ��<br />
Δ=Veränderung im Zeitablauf<br />
��� ���<br />
�����<br />
���������<br />
��� ���������<br />
�������<br />
������<br />
���� ��� �� �� �� � �� � �<br />
���� ��� ���� � Δ �� �� ��� �� �� ��� � ��<br />
���� ��� �� �� �� �� �� � ��<br />
���� ��� ���� � Δ �� �� ��� �� �� ��� �� ���<br />
���� ��� �� �� �� � �� � �<br />
���� ��� ���� � Δ �� �� ��� �� �� ��� �� ��<br />
���� ��� �� �� �� � �� � �<br />
���� ��� ���� � Δ �� �� �� � �� �� � �<br />
���� ��� �� �� �� �� � � �<br />
���� ��� ���� � Δ �� �� ��� �� �� ��� �� ��<br />
���� ��� �� �� � � �� � �<br />
���� ��� ���� � Δ �� �� ��� �� �� ��� �� ��<br />
���� ��� �� �� �� � � � �<br />
���� ��� ���� � Δ �� �� � �� �� � � �<br />
���� ��� �� �� � �� � � �<br />
���� ��� ���� � Δ �� �� �� �� � �� � �<br />
���� ��� �� �� �� � � � �<br />
���� ��� ���� � Δ �� �� ��� �� �� �� �� �<br />
���� ��� �� �� � � � �� �<br />
���� ��� ���� � Δ �� �� �� �� � �� �� ��<br />
���� ��� �� �� �� � � � �<br />
���� ��� ���� � Δ �� �� ��� �� ��� � � �<br />
Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />
Buel_3_11.indb 381 17.11.2011 08:13:10<br />
381
382 Birthe Lassen<br />
Die zuvor skizzierten Entwicklungen in der Melktechnik sind in den unterschiedlichen<br />
Ländern Europas nicht einheitlich zu beobachten: Überwiegend werden Kühe in den verschiedenen<br />
Ländern in Gruppenmelkständen (FGM +SbS) gemolken (>60 %).<br />
Es gibt jedoch auch Ausnahmen: In SE und NL werden mehrheitlich AMS eingesetzt.<br />
Unter den Gruppenmelkständen dominieren mehrheitlich FGM. In LU, IE und HU werden<br />
jedoch vergleichsweise viele Kühe auch in SbS gemolken. Künftig erwarten die Teilnehmer<br />
in den meisten Ländern (FR, BE, LU, DE, SE) einen Rückgang von FGM zugunsten<br />
von AMS (vgl. Tab. 4).<br />
4 Einfluss unterschiedlicher Betriebs- und Standortfaktoren<br />
auf die Wahl der Melkstandform<br />
Im Folgenden wird die vergleichsweise große Stichprobe genutzt, um zu analysieren wie<br />
sich betriebliche und standörtliche Einflussfaktoren auf die Wahl der Melktechnik auswirken.<br />
Dabei konzentriert sich die Analyse auf Faktoren, die in der Beratungspraxis und in<br />
der wissenschaftlichen Literatur als besonders wichtig <strong>für</strong> die Auswahl der Melkstandform<br />
eingeschätzt werden.<br />
4.1 Betriebsstruktur und -organisation<br />
Der Betriebsstruktur und -organisation wird bei der Wahl <strong>für</strong> eine bestimmte Melkstandform<br />
besondere Bedeutung beigemessen. Sie umschließt Aspekte der aktuellen Betriebsgröße,<br />
der Arbeitsverfassung sowie der künftigen Betriebsentwicklung (17; 7).<br />
4.1.1 Herdengröße<br />
Die Herdengröße hat einen maßgeblichen Einfluss auf die genutzte Melkstandform, da<br />
einige Melksysteme nur in bestimmten Herdengrößen betriebswirtschaftlich sinnvoll eingesetzt<br />
werden können (12).<br />
In den teilnehmenden Betrieben variiert die aktuelle Herdengröße stark: Der kleinste<br />
Betrieb melkt 2Kühe, der größte teilnehmende Betrieb melkt 2499 Milchkühe. Insgesamt<br />
melken jedoch 55 %der Betriebe weniger als 100 Kühe. Für die folgende Analyse werden<br />
die Betriebe deshalb in zehn etwa gleichgroße Gruppen eingeteilt.<br />
Die Analysen zeigen <strong>für</strong> die teilnehmenden Betriebe, dass ein signifikanter Zusammenhang<br />
zwischen Herdengröße und Melktechnik festgestellt werden kann (vgl. Tab. 5):<br />
● FGM sind in fast allen Herdengrößenklassen die meist genutzte Melkstandform (Ausnahme:<br />
�������<br />
������������<br />
�� ����<br />
������<br />
��������<br />
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
Tabelle 5. Einsatz unterschiedlicher Melkstandformen in den<br />
jeweiligen Herdengrößenklassen (2011)<br />
������<br />
��������<br />
��������<br />
�����<br />
�� ����<br />
������<br />
��������<br />
��� ���<br />
��� ��� ���<br />
����������� ��<br />
��� ��� �� �� � � � �� ��<br />
�� ��� �� ��� �� �� � � � �� ��<br />
�� ��� �� ��� �� �� � � �� �� �<br />
�� ��� �� ��� �� �� � � �� �� �<br />
�� ��� �� ��� �� �� � � �� �� �<br />
�� ��� ��� ��� �� �� �� � �� �� �<br />
��� ��� ��� ��� ��� �� � � �� � �<br />
��� ��� ��� ��� ��� �� �� �� �� � �<br />
��� ��� ��� ��� ��� �� �� �� � � �<br />
��� ��� ���� ��� ��� �� �� �� � � �<br />
383<br />
● Melkkarusselle werden 2016 vereinzelt auch in Beständen mit weniger als 90 Kühen<br />
eingesetzt. Besonders große Zuwächse erfahren die Karusselle jedoch in Betrieben mit<br />
mehr als 233 Kühen.<br />
● AMS werden in 2016 nicht mehr nur in kleineren und mittleren Herdengrößen eingesetzt.<br />
Sie finden auch in größeren Beständen häufiger Anwendung.<br />
● Tandemmelkstände und Rohrmelkanlagen verlieren auch in kleineren Beständen<br />
zugunsten von Gruppenmelkständen oder AMS an Bedeutung.<br />
Da eine neue Melktechnik durchschnittlich 15 bis 20 Jahre genutzt wird (26), sollten bei<br />
der Entscheidung <strong>für</strong> eine bestimmte Melkstandform auch künftige Entwicklungsschritte<br />
berücksichtigt werden (13; 14). Es wäre deshalb zu erwarten, dass auch zwischen den Entwicklungsplänen<br />
der Milcherzeuger und der Melkstandform ein Zusammenhang besteht.<br />
Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ausgangsherdengrößen kann diese Hypothese<br />
<strong>für</strong> die Stichprobe jedoch nicht bestätigt werden.<br />
4.1.2 Haupt- oder Nebenerwerb<br />
��������� ��� ������<br />
��� ���<br />
1) Betriebe, die in zwei unterschiedlichen oder „sonstigen“ Systemen melken, werden nicht<br />
angezeigt.<br />
Chi-Quadrat-Test nach pearsOn: X 2 =0,000<br />
Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />
���������<br />
������<br />
Mit der Frage der Herdengröße hängt häufig auch die Frage nach der Erwerbsform des<br />
Betriebes zusammen: Kleinere Betriebe werden häufiger im Nebenerwerb (NE) bewirtschaftet<br />
als größere. Die größeren Betriebe werden in aller Regel im Haupterwerb bewirtschaftet<br />
(HE). Die Frage nach der Erwerbsform des Betriebes (HE oder NE) könnte bei<br />
der Entscheidung <strong>für</strong> ein bestimmtes Melksystem relevant sein. Zum einen wird durch<br />
die Erwerbsform die zur Verfügung stehende Arbeitszeit beeinflusst, zum anderen aber<br />
gegebenenfalls auch das zur Verfügung stehende Kapital <strong>für</strong> Investitionen.<br />
NE sind in der Stichprobe durchschnittlich halb so groß wie HE. Um den Einfluss<br />
unterschiedlicher Herdengrößen zu reduzieren, werden im Folgenden nur Betriebe ähnlicher<br />
Größenordnungen ausgewählt. Da NE mehrheitlich weniger als 75 Kühe halten,<br />
werden auch bei den HE nur Betriebe mit weniger als 75 Kühen berücksichtigt (insgesamt<br />
Buel_3_11.indb 383 17.11.2011 08:13:11<br />
���
384 Birthe Lassen<br />
n=1564). Die ausgewählten Betriebe werden anschließend in zwei Gruppen unterteilt,<br />
um den Herdengrößeneffekt weiter zu reduzieren:<br />
● inBetriebe mit weniger als 30 Milchkühen<br />
● und in Betriebe mit 30 bis 75 Milchkühen.<br />
Die Analysen zeigen einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Erwerbsform<br />
eines Betriebes und dem Melksystem sowohl in 2011 wie auch in 2016:<br />
● Kleinere NE melken häufiger in Rohrmelkanlagen als HE,<br />
● NEmelken in 2011nicht in SbS-Melkständen. Auch in Zukunft planen nur sehr wenige<br />
NE in SbS zu investieren.<br />
4.1.3 Lohnniveau<br />
Da mit den unterschiedlichen Melktechniken ein unterschiedlicher Zeitbedarf <strong>für</strong> den<br />
Melkprozess einher geht, ist zu erwarten, dass es einen Zusammenhang zwischen gewählter<br />
Melktechnik und dem Lohnniveau gibt. Es ist davon auszugehen,dass das Lohnniveau<br />
nicht nur <strong>für</strong> Lohnarbeitsbetriebe relevant ist, sondern auch <strong>für</strong> Familienbetriebe,indenen<br />
sich die Opportunitätskosten der Arbeit am Lohnniveau der Region orientieren. Analysen<br />
bestätigen dar<strong>über</strong> hinaus, dass die Arbeitsverfassung der teilnehmenden Betriebe keinen<br />
Einfluss auf die Wahl einer Melktechnik hat, sodass <strong>für</strong> die folgenden Analysen sowohl<br />
Familien- als auch Lohnarbeitsbetriebe berücksichtigt werden.<br />
Als Lohnniveau werden die Lohnsätze aus dem Produktionskostenvergleich der European<br />
Dairy Farmers angenommen. Dabei handelt es sich um den Bruttostundenlohn, den<br />
ein Betrieb zahlen müsste, wenn die Arbeitskraft der unbezahlten Familienmitglieder<br />
durch Fremdarbeitskräfte ersetzt werden müsste (8).<br />
Tabelle 6. Zusammenhang zwischen Herdengröße, Landes-Lohnniveau<br />
und dem gewählten Melksystem<br />
��������<br />
������������<br />
�� ����<br />
������ ����� �� ��� ��� ��� ��� ��� ���<br />
��������<br />
�������<br />
���� ����<br />
�� �������<br />
��� ����<br />
��� ����<br />
�����������<br />
������<br />
���<br />
����������� ��<br />
��� ��������� ��� ������ ���������<br />
������<br />
��� �� � � � � ��<br />
�� ��� ��� �� � � � �� �<br />
�� ��� ��� �� � � � �� �<br />
�� �� �� � � �� �� ��<br />
��� �� �� � � �� �<br />
�� ��� ��� �� �� �� � � �<br />
�� ��� ��� �� �� �� � � �<br />
�� �� �� � � �� � �<br />
1) Betriebe, die in zwei unterschiedlichen oder „sonstigen“ Systemen melken, werden nicht<br />
angezeigt.<br />
Chi-Quadrat-Test nach pearsOn: X 2 =0,000<br />
Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />
Zwischen dem Lohnniveau imLand und der gewählten Melkstandform des Betriebes<br />
lässt sich sowohl <strong>für</strong> 2011 als auch <strong>für</strong> 2016 innerhalb der jeweiligen Herdengrößenklassen<br />
ein statistischer Zusammenhang feststellen. Tabelle 6zeigt die Zusammenhänge <strong>für</strong><br />
die beiden Herdengrößenklassen:<br />
Buel_3_11.indb 384 17.11.2011 08:13:11
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
385<br />
● AMS wird <strong>über</strong>wiegend in Ländern eingesetzt, in denen der Stundenlohn 20 €und<br />
mehr beträgt. In diesen Ländern hat die Arbeitszeiteinsparung einen größeren Effekt<br />
auf die Produktionskosten, sodass es sich eher lohnt, trotz der noch vergleichsweise<br />
hohen Anschaffungspreise in AMS zu investieren.<br />
● Rohrmelkanlagen und Tandemmelkstände werden <strong>über</strong>wiegend in Ländern eingesetzt,<br />
in denen das Lohnniveau vergleichsweise niedrig ist. Der höhere Arbeitseinsatz wirkt<br />
sich hier entsprechend geringer auf die Gesamtarbeitskosten aus.<br />
● Ingrößeren Beständen sinkt der Einsatz der Gruppenmelkstände (SbS und FGM) mit<br />
steigendem Lohnniveau zugunsten von Melkkarussellen. Dies gilt jedoch nur bis zu<br />
einem Lohnniveau von bis zu 20 €jeStunde, anschließend werden alle drei Melkstandformen<br />
durch AMS abgelöst.<br />
4.1.4 Weitere Einflussfaktoren<br />
Neben dem Lohnniveau können auch andere „landestypische“ Einflussfaktoren dazu führen,<br />
dass sich die Melksysteme in den Ländern unterscheiden. Dies können z. B. gezielte<br />
Beratungen von Melktechnikfirmen oder privaten Beratungseinrichtungen zugunsten einer<br />
bestimmten Melkstandform sein aber auch Pressemeldungen oder andere Einflussfaktoren,<br />
denen primär die Landwirte in einem Land unterliegen. Um einen möglichen Einfluss<br />
unterschiedlicher Betriebsstrukturen zwischen den Ländern zu reduzieren, werden <strong>für</strong> die<br />
folgende Analyse nur Betriebe ausgewählt, die die nachstehenden Kriterien erfüllen:<br />
● 65bis 135 Milchkühe,<br />
● Milchleistung zwischen 8500 und 9500 kg je Kuh und Jahr,<br />
● Betriebsleiter zwischen 35 und 55 Jahre alt und<br />
● Weidehaltung im Sommer.<br />
Einen Vergleich der Länder, indenen nach der Betriebsselektion noch mehr als zehn<br />
Betriebe verbleiben, zeigt Tabelle 7. Die Analysen zeigen signifikante Unterschiede zwischen<br />
den Ländern. Besonders auffällig ist der hohe Anteil AMS in SE und NL. Berücksichtigt<br />
man, dass das Lohnniveau in NL und SE höher ist als in den anderen drei Ländern<br />
(Ø 20,2 €/h vs. Ø15,5 €/h), müssen die Länder getrennt voneinander analysiert werden.<br />
Die Verteilung der Melkstandformen unterscheidet sich dabei<br />
● nicht signifikant zwischen Betrieben in NL und SE,<br />
● signifikant zwischen Betrieben in FR, BE und DE:<br />
● Betriebe in FR und BE melken häufiger in AMS als Betriebe in DE,<br />
● Betriebe in FR melken häufiger in SbS als Betriebe in DE und BE,<br />
● Betriebe in BE und DE melken häufiger in Tandemmelkständen.<br />
Tabelle 7. Verteilung unterschiedlicher Melkstandformen in ausgewählten Ländern<br />
unter Berücksichtigung betriebsstruktureller Aspekte (2011)<br />
����<br />
������<br />
�������� ��<br />
�����������<br />
��� ��� ��� ������ ���������<br />
������<br />
��� ��� ��� ���<br />
���<br />
�� �� �� �� �� � �<br />
�� �� �� � �� �� �<br />
�� �� �� � � �� �<br />
�� �� � �� �� � �<br />
�� �� �� � �� � �<br />
1) Ausgewählt wurden nur Haupterwerbsbetriebe mit 65 bis 135 Milchkühen, Weidehaltung, einer<br />
Milchleistung zwischen 8500 und 9500 kg je Kuh und Jahr und Betriebsleitern, die zwischen 35<br />
und 55 Jahre alt sind.<br />
Chi-Quadrat-Test nach pearsOn: X 2 =0,000<br />
Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />
Buel_3_11.indb 385 17.11.2011 08:13:12
386 Birthe Lassen<br />
Die Tatsache, dass sich die Verteilung der Melkstandformen in SE und NL nicht unterscheidet,<br />
könnte ein Indiz da<strong>für</strong> sein, dass AMS ab einem bestimmten Lohnniveau wettbewerbsfähiger<br />
sind als andere Melkstandformen. Unterhalb dieses Lohnniveaus scheinen<br />
andere Melkstandformen wettbewerbsfähiger zu sein –hier können externe Faktoren wie<br />
beispielsweise eine landesspezifische Beratung auf die Verteilung der Melksysteme wirken.<br />
Diese externen Faktoren wurden im Rahmen der Befragung jedoch nicht erfasst.<br />
4.2 Einfluss des Produktionssystems auf die Wahl der Melktechnik<br />
Das Produktionssystem bestimmt die Rahmenbedingungen <strong>für</strong> die Milchproduktion und<br />
ist somit neben der Betriebsstruktur eine entscheidende Größe bei der Wahl des Melksystems.<br />
Dabei geht es sowohl um Fragen der Tierhaltung als auch um Fragen des Intensitätsniveaus.<br />
4.2.1 Milchleistung<br />
Die jährliche Milchleistung der Kühe wird von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst.<br />
Neben der Genetik der Tiere und der Fütterung spielt auch die Zahl der täglichen Melkungen<br />
eine Rolle. Ein Zusammenhang zwischen Melktechnik und Milchleistungen ist<br />
deshalb insofern zu erwarten, als dass die Melkstandform die Anzahl der täglichen Melkungen<br />
beeinflusst und mit steigender Anzahl der Melkungen eine höhere Milchleistung<br />
einhergeht. Während in Gruppenmelkständen beispielsweise <strong>über</strong>wiegend zweimal täglich<br />
gemolken wird, können in AMS Kühe häufiger gemolken werden. Da bei häufigerem<br />
Melken und entsprechender Anpassung der Fütterung die durchschnittliche Milchleistung<br />
ansteigt (23; 17), wäre zu erwarten, dass Betriebe, die eine höhere jährliche Milchleistung<br />
anstreben, häufiger mit AMS melken.<br />
Die Analyse des erhobenen Datensatzes zeigt, dass Betriebe mit höherer durchschnittlicher<br />
Milchleistung (>8500 kg je Kuh und Jahr) häufiger mit AMS melken als Betriebe mit<br />
niedrigen Milchleistungen. Dieser Zusammenhang ist auf die höhere Anzahl Melkungen<br />
zurückzuführen, die mittels AMS erreicht werden. Denn, werden die Betriebe nach der<br />
Anzahl ihrer Melkungen in zwei Gruppen unterteilt (vgl. Tab. 8), zeigt sich,<br />
● dass der Zusammenhang zwischen Melktechnik und Milchleistung bestehen bleibt,<br />
wenn die Betriebe weniger als dreimal täglich melken;<br />
● dass jedoch kein Zusammenhang mehr zwischen Melktechnik und Milchleistung in<br />
Betrieben besteht, die dreimal täglich oder häufiger melken.<br />
In der Gruppe der Betriebe mit weniger als drei täglichen Melkungen haben AMS-Betriebe<br />
durchschnittlich höhere Milchleistungen als Betriebe mit anderen Melkstandformen<br />
(Ø 9145 kg je Kuh und Jahr). Dies lässt sich durch die höhere Anzahl Melkungen erklären<br />
(Ø 2,8 vs. 2inallen anderen Melkstandformen). In der Gruppe der Betriebe mit drei oder<br />
mehr Melkungen je Kuh und Tag liegen die durchschnittlichen Milchleistungen in allen<br />
Melkstandformen <strong>über</strong> 9650 kg je Kuh und Jahr –hier besteht kein Zusammenhang mehr<br />
zwischen Intensitätsniveau und Melkstandform. Für 2016 ergibt sich das gleiche Bild.<br />
Neben der Anzahl der Melkungen beeinflusst auch die Fütterung die täglichen Milchleistungen.<br />
Diese wird neben zahlreichenanderen Aspekten von der Bewirtschaftungsform<br />
des Betriebes beeinflusst (ökologisch/konventionell). Häufig melken ökologische Betriebe<br />
niedrigere durchschnittliche Milchleistungen als konventionell geführte Betriebe (5). Ein<br />
Zusammenhang zwischen der Bewirtschaftungsform des Betriebes und der Melktechnik<br />
kann jedoch unter Berücksichtigung des Herdengrößeneffektes und nationaler Sonderregelungen<br />
(insbesondere in SE) nicht nachgewiesen werden.<br />
Buel_3_11.indb 386 17.11.2011 08:13:12
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
Tabelle 8. Zusammenhang zwischen durchschnittlicher jährlicher Milchleistung<br />
und Melkstandform<br />
1) Betriebe, die in zwei unterschiedlichen oder „sonstigen“ Systemen melken, werden nicht<br />
angezeigt.<br />
Chi-Quadrat-Test nach pearsOn: X 2 <strong>für</strong> Betriebe mit weniger als drei Melkungen =0,000, X2 <strong>für</strong><br />
Betriebe mit drei Melkungen und mehr =0,128)<br />
Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />
4.2.2 Weidehaltung<br />
387<br />
Weidehaltung stellt andere Ansprüche an ein Melksystem als ganzjährige Stallhaltung. So<br />
sind die Kühe nicht ganztägig zum Melken verfügbar, sondern häufig nur zu bestimmten<br />
Stoßzeiten im Stall. Es wäre deshalb zu erwarten, dass ein Zusammenhang zwischen der<br />
Wahl des Melksystems und einer eventuellen Weidehaltung besteht.<br />
Bei der Untersuchung zum Zusammenhang zwischen Melksystem und Weidehaltung<br />
ist zu beachten, dass die Weidehaltung in SE unter besonderen Rahmenbedingungen stattfindet.<br />
Hier ist Weidehaltung <strong>für</strong> einige Monate im Jahr gesetzlich vorgeschrieben, doch<br />
die Umsetzung dieser Verpflichtung ist in den Betrieben sehr unterschiedlich: Zwar haben<br />
alle schwedischen Milcherzeuger Weidehaltung in der Befragung bejaht, teilweise handelt<br />
es sich jedoch eher um ein „green walking“ welches nicht mit der klassischen Weidehaltung<br />
vergleichbar ist. Aus diesem Grund werden die schwedischen Betriebe aus dieser<br />
Teilanalyse ausgeschlossen.<br />
Für die Gesamtheit der übrigen Betriebe zeigt sich, dass <strong>für</strong> Betriebe mit weniger als<br />
110 Kühen ein Zusammenhang zwischen Melksystem und Weidehaltung festgestellt werden<br />
kann, während dies <strong>für</strong> Betriebe mit 110 oder mehr Kühen nicht der Fall ist.<br />
Für kleinere Betriebe (
388 Birthe Lassen<br />
● AMS <strong>über</strong>wiegend in Betrieben mit kurzer bis mittlerer täglicher Weideperiode eingesetzt<br />
werden (weniger als vier Stunden/Tag, vier bis acht Stunden/Tag),<br />
● SbS-Melkstände häufiger in Betrieben mit langen Weidezeiten (acht Stunden und<br />
mehr) eingesetzt werden.<br />
4.3 Persönlichkeitsmerkmale des Betriebsleiters<br />
Neben objektiven Aspekten der Betriebsstruktur oder des Produktionssystems fließen<br />
dar<strong>über</strong> hinaus auch subjektive Einschätzungen in die Investitionsentscheidung <strong>für</strong> eine<br />
bestimmte Melkstandform ein. Dazu zählen unter anderem auch Technikaffinität und Risikoneigung<br />
der Betriebsleiter (6; 18).<br />
Um sicherzustellen, dass derjenige, der die Entscheidung <strong>für</strong> das aktuelle Melksystem<br />
traf, auch derjenige ist, der den Fragebogen ausgefüllt hat, werden im Folgenden nur Fragebögen<br />
(n =1327) berücksichtigt, die<br />
● von den Betriebsleitern selbst ausgefüllt wurden und<br />
● deren aktuelles Melksystem erst nach der Übernahme des Betriebes durch den aktuellen<br />
Betriebsleiter installiert bzw. erneuert wurde.<br />
4.3.1 Alter des Betriebsleiters<br />
Einstellungen zu bestimmten Technologien oder auch die Risikoneigung eines Menschen<br />
können sich mit zunehmendem Alter verändern. Deshalb wird zunächst ein möglicher<br />
Einfluss des Alters der Betriebsleiter auf die Wahl der Melktechnik untersucht.<br />
Unter Berücksichtigung der jeweiligen Herdengrößenklassen kann ein Zusammenhang<br />
zwischen Alter und Melktechnik angenommen werden. Dabei zeigt sich, dass<br />
● jüngere Betriebsleiter (
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
389<br />
Ein Zusammenhang zwischen Zustimmung/Ablehnung zum Statement „Je mehr die<br />
Technik anstelle eines Menschen machen kann, desto besser“ und der gewählten Melktechnik<br />
kann unter den Teilnehmern nicht einheitlich festgestellt werden.<br />
4.3.3 Risikoneigung des Betriebsleiters<br />
Es ist zu vermuten, dass die zeitliche Verbreitung neuer Melktechniken im Agrarsektor<br />
der aus der Innovationsforschung bekannten S-Kurve folgt: Zunächst implementieren<br />
nur wenige Betriebe die Technologie (Early Adopters) und erst zeitversetzt investieren<br />
auch andere Betriebsleiter (Late Adopters), die sich bis dahin bei anderen Betriebsleitern<br />
vom Erfolg der Technologie <strong>über</strong>zeugen konnten (15). Da insbesondere AMS zu den jüngeren<br />
Melktechniken gehören, könnte ein Zusammenhang zwischen Risikoneigung der<br />
Betriebsleiter und der gewählten Melktechnik in den Betrieben bestehen.<br />
Um die Risikoneigung der Betriebsleiter einschätzen zu können, stehen im Rahmen<br />
dieser Untersuchung zwei Statements zur Verfügung:<br />
● „Ich versuche, Risiken aller Art zu vermeiden.“<br />
● „Ich warte mit neuen Technologien, bis andere sie getestet haben.“<br />
Die vorliegenden Analysen zeigen jedoch, dass, unter Berücksichtigung der Altersstruktur<br />
der Betriebsleiter, ein Zusammenhang zwischen Risikoneigung der Betriebsleiter und<br />
Wahl der Melktechnik nicht nachgewiesen werden kann.<br />
4.4 Zwischenfazit<br />
Der (regional) unterschiedliche Einsatz der Melksysteme lässt sich zum einen durch<br />
betriebsstrukturelleund standortspezifische Unterschiede bzw.andere Produktionssysteme<br />
erklären; zum anderen jedoch auch durch nationale Einflussfaktoren, die im Rahmen des<br />
Fragebogens nicht erfasst werden konnten. Analysen <strong>für</strong> die vorliegende Stichprobe zeigen<br />
signifikante Einflüsse der Herdengröße, der Erwerbsform des Betriebes, des Lohnniveaus<br />
im Land, einer möglichen Weidehaltung und der durchschnittlichen Herdenmilchleistung<br />
auf die Entscheidung <strong>für</strong> ein bestimmtes Melksystem. Ein Zusammenhang zwischen weiteren<br />
betriebsstrukturellen oder –organisatorischen Faktoren (künftige Betriebsentwicklung,<br />
Arbeitsverfassung, ökologische/konventionelle Bewirtschaftung) und der jeweiligen<br />
Melkstandform konnte hingegen nicht bestätigt werden. Neben betriebsstrukturellen<br />
Aspekten spielt auch die Persönlichkeit des Betriebsleiters bei der Wahl eines Melksystems<br />
eine Rolle. So konnten signifikante Einflüsse des Betriebsleiteralters und der Technikaffinität<br />
des Betriebsleiters auf das Melksystem im Betrieb festgestellt werden. Ein<br />
Einfluss der Risikoneigung der Betriebsleiter auf die Entscheidung <strong>für</strong> eine bestimmte<br />
Melkstandform konnte hingegen nicht festgestellt werden.<br />
5 Produktivität im Melkprozess bei unterschiedlichen Melktechniken<br />
Die nachfolgend vorgestellten Analysen zur Produktivität im Melkstand wurden lediglich<br />
<strong>für</strong> Gruppenmelkstände, Melkkarusselle und AMS durchgeführt, daessich dabei um<br />
die künftig dominierenden Melkstandformen handelt (vgl. Kap. 3). Wie produktiv eine<br />
Melktechnik im Betrieb eingesetzt wird, kann anhand unterschiedlicher Kriterien beurteilt<br />
werden. Diese unterscheiden sich nach der Art der Melktechnik.<br />
Buel_3_11.indb 389 17.11.2011 08:13:12
390 Birthe Lassen<br />
5.1 Gruppenmelkstände und Melkkarusselle<br />
Die Produktivität von Gruppenmelkständen und Melkkarussellen wird in der vorliegenden<br />
Studie auf Basis der folgenden Kriterien verglichen:<br />
● Durchsatz im Melkstand (gemolkene Kühe je Melkzeug pro Stunde, gemolkene Kühe<br />
je Melker pro Stunde) und<br />
● ermolkene Milch je Akh (in kg).<br />
5.1.1 Durchsatz im Melkstand<br />
Der Durchsatz im Melkstand kann auf zwei unterschiedliche Basisgrößen bezogen werden:<br />
Zum einen kann der Durchsatz pro Melkplatz je Stunde gemessen werden, zum<br />
anderen kann der Durchsatz pro Melker je Stunde (=Arbeitskraftstunde, Akh) gemessen<br />
werden. Während die erste Variable die Produktivität des Melkplatzes (und damit indirekt<br />
die Produktivität des darin gebundenen Kapitals) misst, beschreibt der Durchsatz pro Melker<br />
je Stunde die Arbeitsproduktivität imMelkstand.<br />
In der Beratungspraxis werden in Gruppenmelkständen fünf Melkungen je Melkplatz<br />
und Stunde angestrebt, in Melkkarussellen vier bis fünf (24). Unter Berücksichtigung der<br />
Personendichte im Melkstand werden bei Melkstandneukonzeptionen in Gruppenmelkständen<br />
Arbeitsproduktivitäten von ca. 50 bis 70 Kühen pro Melker je Stunde angestrebt.<br />
In Melkkarussellen kann ein Melker je Stunde ca. 90 bis 110 Kühe melken, ohne dabei<br />
die Melkroutine zu vernachlässigen (11; 10; 14).<br />
Die <strong>für</strong> die Stichprobe durchgeführten Analysen zeigen, dass sich die Durchsätze in<br />
den unterschiedlichen Melksystemen signifikant unterscheiden. Höchste Durchsätze (in<br />
Kühe/Melkplatz/Stunde) werden in FGM in der Swing-Over-Ausführung (SwO) erzielt,<br />
niedrigste Durchsätze in Melkkarussellen. Ein Vergleich der Arbeitsproduktivität (in<br />
Kühe/Akh) zeigt jedoch, dass diese in Melkkarussellen am höchsten ist, während Gruppenmelkstände<br />
niedrigere Arbeitsproduktivitäten zeigen. Dabei haben SwO-Ausführungen<br />
signifikant höhere Arbeitproduktivitäten als Melkstände, die doppelt mit Melkzeugen<br />
bestückt sind (vgl. Tab. 9).<br />
Die durchgeführten Analysen zeigen, dass der Durchsatz in Gruppenmelkständen stark<br />
von der Personaldichte im Melkstand beeinflusst wird. Für Melkkarusselle konnte hin-<br />
Tabelle 9. Durchsatz und Arbeitsproduktivität unterschiedlicher Melkstandformen<br />
in der Stichprobe, gemessen in Anzahl gemolkener Kühe je Melkplatz und<br />
Stunde und Arbeitsproduktivität gemessen in Kühe je Akh (2011)<br />
F-Statistik =42,961*** bzw. 42,961***<br />
Annahme: P≤0,001: hoch signifikant***, P≤0,01: signifikant**, P≤0,05: schwach signifikant*<br />
Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />
Buel_3_11.indb 390 17.11.2011 08:13:13
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
391<br />
gegen kein Zusammenhang zwischen Personaldichte und Durchsatz festgestellt werden.<br />
Aufgrund der hohen Bedeutung des Personalbesatzes in der <strong>über</strong>wiegenden Anzahl der<br />
Melkstände, sollte die Anzahl der Melker bei Produktivitätsanalysen jedoch berücksichtigt<br />
werden. Deshalb wird im Folgenden lediglich die Arbeitsproduktivität der jeweiligen<br />
Melkstandformen verglichen.<br />
Die unterschiedlichen Durchsätze und Produktivitäten im Melkstand können verschiedene<br />
Ursachen haben (Zusammenstellung nach 14; 20; 12):<br />
● unterschiedliche technische Ausstattungen (bspw. mit oder ohne Abnahmeautomatik),<br />
● unterschiedliche durchschnittliche Milchleistungen der Herde,<br />
● Verhältnis von melkenden Personen zu bedienendem Melkzeug,<br />
● unterschiedliche Melkroutinen oder<br />
● unterschiedliches Herdenmanagement (u. a. Boxenpflege, Gruppenhaltung).<br />
Hinsichtlich des Herdenmanagements wurden im Rahmen dieser Befragung keine Daten<br />
erhoben. Auch konkrete Angaben zur Melkroutine der Betriebe wurden aufgrund der<br />
Kürze des Fragebogens nicht erfasst. Als Indikator <strong>für</strong> eine gute Hygiene im Melkprozess<br />
und damit auch <strong>für</strong> eine ausreichende Melkroutine kann die Höhe des somatischen<br />
Zellgehaltes herangezogen werden. Die durchgeführten Analysen zeigen jedoch <strong>für</strong> die<br />
Stichprobe keinen Zusammenhang zwischen durchschnittlichem Zellgehalt der Betriebe<br />
und ihrem Melksystem oder der Arbeitsproduktivität.<br />
Die durchgeführten Analysen <strong>für</strong> die vorliegende Stichprobe zeigen dar<strong>über</strong> hinaus:<br />
● Die Arbeitsproduktivität steigt, je mehr Melkplätze ein Melker betreut.<br />
In Betrieben, in denen ein Melker 14oder mehr Melkplätze betreut, werden durchschnittlich<br />
70Kühe je Akh gemolken. In Betrieben, in denen ein Melker lediglich bis<br />
zu sechs Melkplätze betreut, sind es nur 25 Kühe je Akh. Wird die Arbeitsproduktivität<br />
der Betriebe <strong>für</strong> die unterschiedlichen Herdengrößen getrennt voneinander analysiert,<br />
zeigt sich, dass insbesondere in kleineren Beständen (
392 Birthe Lassen<br />
Tabelle 10. Durchschnittliche Arbeitsproduktivität in den unterschiedlichen<br />
Melksystemen gemessen in ermolkene kg Milch je Akh (bei 340 Tagen in Milch)<br />
Annahme: P≤0,001: hoch signifikant***, P≤0,01: signifikant**, P≤0,05: schwach signifikant*<br />
Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />
5.1.2 Ermolkene Milch je Arbeitskraftstunde<br />
Um die Arbeitsproduktivität in den unterschiedlichen Melkstandformen abschließend<br />
gegen<strong>über</strong> zu stellen, ist ein Vergleich der ermolkenen kg Milch je Akh interessant. Zur<br />
Berechnung dieser Kennzahl wird angenommen, dass die Kühe in den Betrieben durchschnittlich<br />
340 Tage im Jahr gemolken werden (8).<br />
In der Beratungspraxis wird eine Arbeitsproduktivität von 1000 kg je Akh angestrebt<br />
(25). Dies wird in den Betrieben mit unterschiedlichen Melksystemen durchschnittlich<br />
nicht erreicht. Lediglich Betriebe mit einem Melkkarussell erreichen mit 1009 kg Milch<br />
je Akh diese Zielsetzung (vgl. Tab. 10).<br />
Den größten Einfluss auf die Arbeitsproduktivität im Gruppenmelkstand hat, den Analysen<br />
zufolge, die Personaldichte: Je mehr Melkzeuge ein Melker bedient, desto höher<br />
die ermolkene Milchmenge je Akh. Mit einem Erklärungsanteil von etwa 25 %hat die<br />
Personaldichte einen stärkeren Einfluss auf die durchschnittliche Arbeitsproduktivität als<br />
die Wahl des jeweiligen Melksystems. Für die Praxis bedeutet dies, dass in allen Gruppenmelkstandformen<br />
die Arbeitsproduktivität erhöht werden kann, indem die Personaldichte<br />
reduziert wird.<br />
Regionale Unterschiede in der Arbeitsproduktivität von Gruppenmelkständen sind<br />
schwer zu interpretieren. Das Lohnniveau hat als wichtiger Standortfaktor zwar einen<br />
Einfluss auf die Personaldichte im Melkstand, ein Einfluss des Lohnniveaus auf die<br />
Arbeitsproduktivität gemessen in kg je Akh kann jedoch nicht nachgewiesen werden. Da<br />
weitere länderspezifische Standortfaktoren im Rahmen der Befragung nicht erfasst wurden,<br />
besteht hier weiterer Forschungsbedarf.<br />
5.2 Produktivität der Betriebe mit AMS<br />
Da in Betrieben mit AMS keine Melker eingesetzt werden, sind hier andere Indikatoren<br />
zu verwenden, um die Produktivität der Technik zu messen. In der vorliegenden Studie<br />
werden folgende Kriterien <strong>für</strong> den Betriebsvergleich herangezogen:<br />
● Anzahl Melkungen je Kuh und Tag,<br />
● ermolkene Milchmenge je AMS-Box.<br />
Buel_3_11.indb 392 17.11.2011 08:13:13
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
5.2.1 Anzahl Melkungen je Kuh und Tag<br />
393<br />
Ein Ziel der Implementierung von AMS kann es sein, die Zahl der Melkungen je Kuh<br />
und Tag ohne zusätzlichen Personalaufwand zu erhöhen und so die Milchleistungen zu<br />
steigern (17; 28). Durchgeführte Analysen <strong>für</strong> die vorliegende Stichprobe bestätigen einen<br />
Zusammenhang zwischen der Anzahl der Melkungen und der durchschnittlichen Milchleistung.<br />
Werden die AMS-Betriebe entsprechend ihrer durchschnittlichen Melkungen in<br />
vier ähnlich große Gruppen eingeteilt, zeigt sich, dass<br />
● Betriebe mit durchschnittlich mehr als 2,9 Melkungen je Kuh und Tag mit 9808 kg<br />
Milch je Kuh und Jahr die höchsten Milchleistungen erzielen (n =49),<br />
● die Milchleistungen in den AMS-Betrieben, die bis zu 2,5 Melkungen täglich angaben,<br />
vergleichsweise niedrig sind (9151 kg Milch je Kuh und Jahr, n=53).<br />
Die Anzahl der täglichen Melkungen kann durch verschiedene Parameter beeinflusst werden.<br />
Dazu gehören u. a.:<br />
● Anzahl der zu melkenden Kühe je AMS-Box und<br />
● Zeitraum, in dem die Kühe Zugang zum AMS haben.<br />
Wie auch bei Gruppenmelkständen sollte die Anzahl der Kühe zur vorhandenen Technikgröße<br />
passen. Während sich in Gruppenmelkständen bei größeren Herden die Melkzeit<br />
verlängert, geht eine Ausweitung der Herdengröße bei AMS zulasten der täglichen Melkfrequenz.<br />
In der Beratungspraxis werden deshalb <strong>für</strong> AMS häufig Herdengrößen von bis<br />
zu 55, maximal 65 melkenden Kühen je AMS –Box empfohlen (u. a. 6; 14).<br />
Die untersuchten AMS-Betriebe hielten zum Zeitpunkt der Befragung durchschnittlich<br />
63 Kühe je AMS-Box. Dies entspricht in der Stichprobe durchschnittlich 55 zu melkende<br />
Kühe. Da die Anzahl laktierender Kühe jedoch lediglich <strong>für</strong> den Zeitpunkt der Befragung<br />
erfasst wurde, wird im Folgenden die Entwicklung der Kuhzahlen je AMS-Box anhand<br />
der Anzahl gehaltener Kühe analysiert. Diese schwanktstark: Zwischen 31 und 110Kühen<br />
werden je AMS-Box gehalten. Die Mehrheit der teilnehmenden Betriebe (70 %) hält<br />
jedoch zwischen 50 und 75 Kühe je AMS Box.<br />
Für die folgende Analyse werden die Betriebe entsprechend ihrer Besatzdichte in<br />
vier ähnlich große Gruppen eingeteilt. Für diese Gruppen wird neben der durchschnittlichen<br />
täglichen Melkhäufigkeit auch die jährliche Milchleistung der Kühe ermittelt. Die<br />
Tabelle 11 zeigt, dass<br />
● die Anzahl täglicher Melkungen mit zunehmender Besatzdichte sinkt,<br />
● die durchschnittliche Milchleistung der Kühe ab einer Besatzdichte von 65 gehaltenen<br />
Kühen je AMS-Box signifikant zurück geht. Bei niedrigeren Besatzdichten hat diese<br />
keinen Einfluss auf die Milchleistung.<br />
Die Besatzdichten unterscheiden sich in den untersuchten Ländern mit mehr als 15 implementierten<br />
AMS (vgl. Tab. 12): In SE sind die Besatzdichten amhöchsten, gefolgt von<br />
Betrieben in DE. Während Betriebe in DE ihre Besatzdichten jedoch künftig beibehalten,<br />
planen Betriebe in SE ihre Besatzdichten weiter zu steigern. Experten in SE sehen diese<br />
Entwicklung durchaus kritisch und gehen davon aus, dass die hohen Besatzdichten lediglich<br />
durch gelenkten Kuhverkehr erreicht werden können. Dies zieht erneute Investitionen<br />
nach sich. Es wird inzwischen geraten, die Besatzdichten eher zu reduzieren (29).<br />
Neben der Besatzdichte ist auch die Zeit, in der die Kühe Zugang zum AMS haben, <strong>für</strong><br />
die tägliche Melkfrequenz von Bedeutung. Diese hängt unter anderem von einer möglichen<br />
Weidehaltung ab. Während die Kühe in Betrieben mit Stallhaltung ganztägig Zugang<br />
zum AMS haben, gilt dies in Weidebetrieben nur eingeschränkt. Je länger die tägliche<br />
Weidezeit ist, desto kürzer sind die Kühe im Stall und haben Zugang zum AMS. Es wäre<br />
also zu erwarten, dass die Melkfrequenz mit zunehmender Weidelänge sinkt.<br />
In der Stichprobe zeigen sich signifikant unterschiedliche Melkfrequenzen pro Tagje<br />
nachdem ob und wie lange die Kühe im Sommer weiden:<br />
Buel_3_11.indb 393 17.11.2011 08:13:13
394 Birthe Lassen<br />
Tabelle 11. Anzahl täglicher Melkungen im Sommer und Winter sowie jährliche<br />
Milchleistung je Kuh in Abhängigkeit von der Anzahl Kühe je AMS-Box (2011)<br />
Annahme: P≤0,001: hoch signifikant***, P≤0,01: signifikant**, P≤0,05: schwach signifikant*<br />
Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />
Tabelle 12. Anzahl gehaltener Kühe je AMS-Box in<br />
ausgewählten Ländern<br />
Annahme: P≤0,001: hoch signifikant***, P≤0,01: signifikant**, P≤0,05: schwach signifikant*<br />
Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />
● Betriebe ohne Weidehaltung melken im Sommer und Winter täglich durchschnittlich<br />
2,8-mal ihre Kühe.<br />
● Betriebe mit Weidehaltung (ohne SE, siehe auch Kap. 4) melken im Winter ihre Kühe<br />
ebenfalls 2,8-mal im Durchschnitt; im Sommer jedoch nur 2,6-mal täglich. Je länger<br />
die tägliche Weideperiode im Sommer ist, desto seltener werden die Kühe gemolken:<br />
– Weideperiode bis zu acht Stunden täglich: Ø2,7 Melkungen täglich (n =64),<br />
– Weideperiode acht Stunden täglich und länger: Ø2,4 Melkungen täglich (n =21).<br />
Entsprechend der niedrigeren Melkfrequenzen bei Weidehaltung sinkt auch die Milchleistung:<br />
Je länger die tägliche Weidedauer ist, desto niedriger ist die durchschnittliche<br />
Milchleistung.<br />
5.2.2 Durchschnittlich erzeugte Milchmenge je AMS-Box<br />
Die durchgeführten Analysen zeigen, dass die Betriebe derzeit eine durchschnittliche<br />
Milchmenge von 590 370 kg je AMS-Box erzeugen. Zum Vergleich: Beratungsempfehlungen<br />
liegen bei 600 000 bis 700 000 kg je AMS-Box (4). Der in der analysierten<br />
Stichprobe erzielte Output je AMS-Box weist auf erhebliche regionale Unterschiede hin.<br />
Beispielsweise liegt die Milchmenge je AMS-Box in den befragten AMS-Betrieben in<br />
Buel_3_11.indb 394 17.11.2011 08:13:14
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
Tabelle 13. Durchschnittlich erzeugte Milchmenge je AMS-Box in ausgewählten<br />
Ländern in 2011 und 2016 sowie die durchschnittliche Milchleistung der Betriebe<br />
Δ=Veränderung<br />
Annahme: P≤0,001: hoch signifikant***, P≤0,01: signifikant**, P≤0,05: schwach signifikant*<br />
Quelle: eigene Berechnungen nach EDF-agri benchmark Snapshot (2011)<br />
395<br />
SE um ca. 100 000 kg höher als in FR. Die regionalen Unterschiede sind primär auf die<br />
unterschiedlichen Besatzdichten zurückzuführen. Dar<strong>über</strong> hinaus spielt jedoch auch die<br />
durchschnittliche Milchleistung der Betriebe eine Rolle, die in SE ebenfalls besonders<br />
hoch ist. Die Anzahl der Melkungen hat in diesem Falle keinen signifikanten Einfluss auf<br />
die Gesamtmilchmenge je AMS-Box (vgl. Tab. 13).<br />
5.3 Fazit<br />
Unabhängig von der Entscheidung <strong>für</strong> ein bestimmtes Melksystem ist es wichtig, dass<br />
dieses produktiv im Betrieb eingesetzt wird und so die Kapital- und Arbeitskosten niedrig<br />
gehalten werden. Durchgeführte Analysen <strong>für</strong> die folgende Stichprobe zeigen, dass in<br />
Gruppenmelkständen der Personalbesatz im Melkstand ein besonders wichtiger Einflussfaktor<br />
ist. Höchste Durchsätze zeigen die Betriebe in SwO-Systemen. Unter Berücksichtigung<br />
der Anzahl melkender Personen ist die Arbeitsproduktivität in Melkkarussellen hingegen<br />
am höchsten. Die Arbeitsproduktivität wird neben der Anzahl melkender Personen<br />
auch von der technischen Ausstattung beeinflusst: In neueren Melkständen werden höhere<br />
Arbeitsproduktivitäten erreicht als in älteren Melkständen des gleichen Typs. Das Lohnniveau<br />
eines Landes wirkt sich nur insofern auf die Arbeitsproduktivität der Betriebe aus,<br />
als dass in größeren Betrieben bei höherem Lohnniveau tendenziell eher Melkkarusselle<br />
gewählt werden. Hier ermöglicht die feste Umlaufgeschwindigkeit eine hohe Arbeitsproduktivität<br />
bei vergleichsweise niedrigem Personalbesatz. Regionale Unterschiede zeigen<br />
in einigen Ländern auch den besonders produktiven Einsatz von Gruppenmelkständen<br />
(IE) –die Ursache <strong>für</strong> die international heterogene Arbeitsproduktivität ist jedoch im<br />
Rahmen dieser Untersuchung nicht feststellbar.<br />
Die Produktivität eingesetzter AMS hängt den Erkenntnissen zufolge hauptsächlich<br />
von der Besatzdichte ab, da diese die Anzahl täglicher Melkungen und die durchschnittliche<br />
Milchleistung der Herden beeinflusst. Werden mehr als 65 Kühe je AMS-Box<br />
gehalten, geht die durchschnittliche Milchleistung der Herden signifikant zurück. Neben<br />
der Besatzdichte hat auch eine mögliche Weidehaltung Einfluss auf die durchschnittliche<br />
Milchleistung der Betriebe, da in Betrieben mit Weidehaltung die Anzahl Melkungen<br />
zurück geht und damit auch die durchschnittliche Milchleistung sinkt. Je länger die<br />
tägliche Weidedauer ist, desto niedriger ist bei den befragten Betrieben auch die durch-<br />
Buel_3_11.indb 395 17.11.2011 08:13:14<br />
Δ
396 Birthe Lassen<br />
schnittliche Milchleistung. Es gibt allerdings Betriebe (vornehmlich in SE), die trotz einer<br />
hohen Besatzdichte (>65 Kühe je AMS-Box) hohe Milchleistungen erzielen und damit die<br />
höchste Produktivität in kg Milch je AMS-Box erzielen.<br />
In allen Melksystemen ist es wichtig, dass Arbeitsproduktivität und Arbeitsqualität in<br />
einem guten Verhältnis zueinander stehen. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität sollte<br />
dabei nicht zulasten der Arbeitsqualität (u. a. Eutergesundheit, Milchqualität) gehen. Im<br />
Rahmen dieser Studie konnten nur wenige Daten zur Feststellung der Arbeitsqualitäterhoben<br />
werden (siehe 5.1.1). Hier besteht weiterer Forschungsbedarf.<br />
6 Weiterer Forschungs- und Entwicklungsbedarf<br />
Die vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass Analysen, die produktionstechnische Parameter<br />
mit Produktivitätskriterien zusammenführen, aufschlussreiche Erkenntnisse liefern, insbesondere,<br />
wenn sie international durchgeführt werden. Dies ermöglicht espraktischen<br />
Milcherzeugern, den eigenen Produktionsprozess zu <strong>über</strong>denken und ggf. anzupassen.<br />
Dar<strong>über</strong> hinaus können Auswirkungen produktionstechnischer Entwicklungen in anderen<br />
Ländern und ihre Bedeutung <strong>für</strong> die eigene Wettbewerbsfähigkeit besser eingeschätzt<br />
werden.<br />
Die vorliegenden Ergebnisse leisten einen Teilbeitrag zu Identifikation künftiger Entwicklungen<br />
in der Melktechnik. Gleichzeitig unterliegen die Ergebnisse jedoch einigen<br />
Einschränkungen. Eine abschließende Bewertung von AMS gegen<strong>über</strong> anderen Melkstandformen<br />
kann im Rahmen dieser Studie beispielsweise nicht erfolgen, da die notwendigen<br />
Angaben zu Kapitalkosten und einzelnen Arbeitspositionen nicht erfasst wurden.<br />
Da die Teilnehmer die Fragebögen freiwillig ausfüllen, muss der Fragebogen sehr kurz<br />
und einfach auszufüllen sein. Eine Abfrage von Daten, die die Milcherzeuger nicht im<br />
Gedächtnis haben, war nicht möglich. Dies führte dazu, dass einige Fragestellungen wie<br />
z. B. nach der ökonomischen Situation im Mehrjahresmittel oder dem konkreten Finanzmittelbedarf<br />
<strong>für</strong> die Investitionen, unterbleiben mussten. Zusammenhänge zwischen produktionstechnischen<br />
Angaben und betriebswirtschaftlichem Erfolg oder betrieblichen<br />
Produktivitäten können deshalb nur grob aufgezeigt werden. Um diese Lücke zwischen<br />
produktionstechnischen Erhebungen und betriebswirtschaftlichenAnalysen zu schließen,<br />
ist es künftig von Bedeutung, die Verknüpfung zwischen den Snapshot-Befragungen und<br />
ökonomischen Analysen (z. B. EDF-Produktionskostenvergleich) zu optimieren und so<br />
zumindest <strong>für</strong> eine Teilstichprobe entsprechende Ergebnisse generieren zu können. Dar<strong>über</strong><br />
hinaus ist eine enge Zusammenarbeit mit Experten in den jeweiligen Ländern notwendig,<br />
da die Befragungsdaten zwar internationale Unterschiede aufdecken können, eine<br />
Ursachenforschung jedoch aufgrund der begrenzten Datenmenge zumeist nicht allein auf<br />
Basis der Befragungsdaten möglich ist.<br />
Neben einer weiter zu verbessernden Verknüpfung ökonomischer Parameter mit produktionstechnischen<br />
Kennzahlen wird künftig ein weiterer Schwerpunkt die Erweiterung<br />
des Datensatzes im Ausland sein. Erste vorliegende Analysen deuten darauf hin, dass<br />
Melksysteme in einigen Ländern möglicherweise produktiver eingesetzt werden als in<br />
Deutschland. Um konkrete Ursachen zu analysieren wären jedoch größere Datenmengen<br />
nötig, die eine optimierte Gruppierung der Daten erlauben.<br />
Zusammenfassung<br />
Ein effizienter Melkprozess ist ein wichtiger Bestandteil niedriger Produktionskosten. Bisherige<br />
Analysen erlauben keine Rückschlüsse <strong>über</strong> den internationalen Einsatz verschiedener Melktechniken<br />
und ihrer Produktivitäten. Vor diesem Hintergrund war es das Ziel der vorliegenden Studie,<br />
Daten und Einschätzungen von Milcherzeugern <strong>über</strong> den aktuellen und künftigen Einsatz der<br />
Buel_3_11.indb 396 17.11.2011 08:13:14
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
397<br />
Melktechnik inausgewählten Ländern Europas zuerfassen. Dabei sollten neben Zusammenhängen<br />
zwischen ausgewählten Betriebs- und Standortfaktoren und der jeweiligen Melktechnik auch der<br />
Einfluss der jeweiligen Melksysteme auf die Produktivität im Melkprozess analysiert werden. Die<br />
vorliegenden Ergebnisse basieren auf Angaben von 2611 Betriebsleitern aus 19 Ländern Europas.<br />
Da die Befragungsdaten nicht auf Basis einer Zufallsstichprobe erhoben wurden, sind die Ergebnisse<br />
nicht als repräsentativ <strong>für</strong> die europäischen Milcherzeuger zu sehen. Sie erlauben jedoch Aussagen<br />
<strong>für</strong> größere, erfolgreiche und zukunftsorientierte Milcherzeuger.<br />
Die meisten Kühe werden zum Zeitpunkt der Befragung (Frühjahr 2011) in FGM gemolken<br />
(42 %). Bis 2016 erwarten die teilnehmenden Betriebe jedoch einen deutlichen Rückgang der<br />
FGM zugunsten von AMS und Melkkarussellen. Die Entscheidung <strong>für</strong> ein bestimmtes Melksystem<br />
hängt neben betrieblichen Kriterien (Herdengröße, Erwerbsform, Weidehaltung, durchschnittliche<br />
Milchleistung) auch von länderspezifischen Einflussfaktoren (u. a. Lohnniveau) und Persönlichkeitsmerkmalen<br />
der Betriebsleiter (Alter, Technikaffinität) ab. Die Produktivität der eingesetzten<br />
Melktechnologie hängt von unterschiedlichen Aspekten ab: Bei AMS sind dies vor allem die Besatzdichte<br />
und die durchschnittliche Herdenleistung. Die Arbeitsproduktivität in Gruppenmelkständen<br />
und Melkkarussellen wird hingegen maßgeblich von der Anzahl der Melker sowie vom Alter der<br />
Technik (und damit der Ausstattung) beeinflusst.<br />
Summary<br />
Relationsship between farm structure, milking technology and productivity – survey results<br />
from European dairy farmers<br />
Efficiency in the milking process is crucial for low production costs. Past studies fail to examine<br />
different milking technologies with respect totheir international distribution and their productivity.<br />
Thus,itwas the aim of the present study to collate estimations by dairy farmers about the current and<br />
future adoption of different milking technologies within selected countries in Europe. The study analyses<br />
the relationship between selected farm and site factors and the different milking technologies.<br />
It further studies the influence of different technologies on the productivity of the milking process.<br />
The underlying data was collected from 2611 farm managers from 19 European countries. Since the<br />
survey sample was not drawn as arandom sample, the data cannot be taken as representative for the<br />
European dairy sector. However, survey results allow conclusions to be drawn for larger, successful,<br />
and future-oriented dairy farms.<br />
At the time of the survey, most cows in the sample are being milked in herringbone parlours<br />
(42 %). Yet, by 2016 participants expect astrong decrease of herringbone parlours in exchange for<br />
automatic milking systems and rotaries. The decision to opt for amilking technology is mainly<br />
determined by farm factors (herd size, full-time/part-time farming, grazing, average milk yield)<br />
and country-specific aspects (e.g. wage rates) as well as personality characteristics (age, technical<br />
affinity). The productivity of the different milking technologies is influenced by different aspects:<br />
For automatic milking systems, these factors mainly comprise the stocking rate and the average milk<br />
yield. On the other hand, in group milking parlours or rotaries, it is mainly the number of milkers<br />
and the age of the technology (and therefore the technical equipment) that influence productivity.<br />
Résumé<br />
Liens entre lastructure des exploitations agricoles, latechnique de traite appliquée et la productivité<br />
-résultats d’une enquête auprès des producteurs laitiers àl’échelle européenne<br />
Un système de traite efficace est un élément important pour arriver àdes coûts de production relativement<br />
bas. Les analyses existantes àcejour ne permettent pas d’en déduire des conclusions<br />
concernant l’utilisation des différentes techniques de traite au niveau international et leurs productivités<br />
respectives. C’est pourquoi l’objectif de l’étude présente aété de mettre àladisposition<br />
des données et estimations de producteurs laitiers relatives àl’application actuelle et future de la<br />
technique de traite dans plusieurs pays européens. Outre les liens possibles entre certains facteurs au<br />
niveau de l’exploitation et du lieu d’implantation et la technique de traite utilisée, c’est l’influence<br />
des différents systèmes de traite sur la productivité de la traite qui est analysée. Les résultats basent<br />
sur les informations fournies par 2611 chefs d’exploitation de 19 pays européens. Vulefait que les<br />
données ne s’appuient pas sur un échantillon aléatoire, les résultats ne sont pas représentatifs pour<br />
les producteurs laitiers européens mais ils permettent d’en tirer des conclusions intéressantes pour<br />
des exploitations laitières plus grandes travaillant avec succès et orientées vers l’avenir.<br />
Àl’époque de la réalisation de l’enquête (au printemps 2011), la plupart des vaches sont traites<br />
dans des salles de traite en épi (42 %). Néanmoins,d’ici 2016, les agriculteurs participant àl’enquête<br />
attendent un net recul des salles de traite en épi en faveur des systèmes de traite automatiques et des<br />
Buel_3_11.indb 397 17.11.2011 08:13:14
398 Birthe Lassen<br />
carrousels de traite. Lechoix du système detraite dépend non seulement des conditions spécifiques<br />
àl’exploitation (nombre de vaches, forme d’exploitation, élevage sur prairie, performance laitière<br />
moyenne) mais aussi defacteurs spécifiques dechaque pays (dont le niveau des salaires) et encore<br />
des caractéristiques personnelles des chefs d’exploitation (âge, affinité technique). Laproductivité<br />
de la technique detraite utilisée est soumise àdifférents éléments :Dans le cas du système de traite<br />
automatique, c’est la densité d’occupation et la performance moyenne du troupeau qui sont déterminantes.<br />
Dans les salles de traite en groupe et pour les carrousels de traite, par contre, la productivité<br />
varie selon le nombre de trayeurs et l’âge de l’équipement technique.<br />
Literatur<br />
1. Agrarmarkt Informationsgesellschaft mbH, 2010: AMI-Marktbilanz Milch 2010, Bonn.<br />
2. baCKhaus, K.; eriChsOn, B.; plinKe, W., 2006: Multivariate Analysemethoden: eine anwendungsorientierte<br />
Einführung, 10. Auflage, Springer-Verlag.<br />
3. barth, K.;Grimm, H., 1997: Leistung und Arbeitsorganisation in großen Melkständen. In: Landtechnik,<br />
Jg. 52, H. 5, S. 254–255.<br />
4. bOnsels, T., 2011: Melkroboter: 1700 kg Milch sollten es mindestens sein! URL:<br />
http://www.elite-magazin.de/index.php?option=com_content&view=article&id=1028:<br />
melkroboter-1700-kg-milch-sollten-es-mindestens-sein&catid=4:management&Itemid=12, Abrufdatum:<br />
12.08.2011.<br />
5. <strong>Bundesministerium</strong> <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong>, <strong>Landwirtschaft</strong> und Verbraucherschutz (BMELV), 2011: Die<br />
wirtschaftliche Lage der landwirtschaftlichen Betriebe, Wirtschaftsjahr 2009/2010.<br />
6. COOper, K.; parsOns, D.J., 1999: An Economic Analysis of Automatic Milking using aSimulation<br />
Model. In: Journal of Agricultural Engineering Research, H. 73, S. 311–321.<br />
7. ebenDOrff, W.; Ordolff, D.; Heinze, M.; Zimmermann, P.,1994: Melkstände im Vergleich, Teil<br />
III: Bauliche Planung und Ausführung. In: Neue <strong>Landwirtschaft</strong>, H. 9, S. 76–80.<br />
8. EDF-STAR (EDF Scientific Team of Analysis and Research), 2011: interne Erhebungen.<br />
9. Eurostat, 2011: Datenreihe ef_ls_ovaareg, URL: http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/<br />
nui/submitViewTableAction.do, Abrufdatum: 10.07.2011.<br />
10. fahrenhOlz, a.,2006: Milchentzug in größeren Milchviehbeständen -Einfluss der Melkstandbauart<br />
und ihrer technischen Ausstattung auf die Arbeitsproduktivität, die Arbeitsorganisation und den Arbeitskomfort,<br />
Masterarbeit an der Universität Göttingen.<br />
11. fübbeKer, a., 2003: Das Melkkarussell: Eine Alternative <strong>für</strong> größere Herden. In: Milchrind, H. 4,<br />
S. 24–29.<br />
12. –, 2009: Melkkarussell oder Gruppenmelkstand. In: Landpost, Jg. 2009, 17.10.2009, S. 33–34.<br />
13. Guler, C., 2006: Welches Melksystem eignet sich am Besten. In: Die Grüne, Jg. 2006, Ausgabe 25,<br />
S. 8–13.<br />
14. harDeKOpf, J., 2007: Melkstandsysteme im Vergleich. Herausgegeben von Landberatung, S.1–5.<br />
15. hein, K., 2008: Strukturwandel und technischer Fortschritt in der <strong>Landwirtschaft</strong>: Eine Analyse<br />
der Diffusion automatischer Melkverfahren in Deutschland, Dissertation Universität Hohenheim.<br />
16. hömberg, D., 2001: Wirtschaftlichkeit automatischer und konventioneller Melksysteme im Vergleich,<br />
Dissertation TUMünchen.<br />
17. Kaufmann, O., 1997: Die Arbeit im Griff? In: Deutsche Bauernzeitung (Hg.): Rentable Milchproduktion.<br />
Deutsche Bauernzeitung, Sonderheft Nr. 1/1997: Deutscher Bauernverlag, S. 22–24.<br />
18. KOning, K.; rODenburg, J., 2004: Automatic Milking: State of the art in Europe and North America,<br />
International Symposium on Automatic Milking, Lelystad, URL: http://www.automaticmilking.nl/<br />
Symposium/Science/Papers/0.0-1.pdf, Abrufdatum: 22.02.2011.<br />
19. Krumm, a.; Grimm, H.; Ordolff, D., 2004: Arbeitszeiten und Melkleistung in Swing-Over-Melkständen.<br />
In: Landtechnik, Jg. 59, H. 6, S. 342–343.<br />
20. Kümmel,a.,2005: Arbeitszeitbedarf der Rinderhaltung -Erhebung in Praxisbetrieben, S. 1–14.<br />
21. lassen, B., 2011: Landwirten lernen von Landwirten- Ein Konzept zur international vergleichenden<br />
Analyse von Produktionssystemen, umgesetzt am Beispiel der Melktechnik, Doktorandenseminarpapier,<br />
Sommersemester 2011, Universität Göttingen.<br />
22. mesKens, L.; mathiJs, E., 2003: Socio-economic aspects of automatic milking. Motivation und<br />
characteristics of farmers investing in automatic milking systems. In: European Commission (Hsg.):<br />
Implications of the introduction of automatic milking on dairy farms.<br />
23. nunnenKamp, W., 1999: Trotz Weidegang automatisch Melken? In: top agrar (Hg.): Melkroboter <strong>für</strong><br />
Ihren Betrieb? top agrar extra, Münster: <strong>Landwirtschaft</strong>sverlag Münster-Hiltup, S. 52–55.<br />
24. OrDOlff, D.,1994: Arbeitszeitbedarf beim Melken großer Milchviehbestände. In: Landtechnik, Jg.<br />
49, H. 4, S. 210–211.<br />
Buel_3_11.indb 398 17.11.2011 08:13:14
Zusammenhang zwischen Betriebsstruktur, Melktechnik und Produktivität<br />
399<br />
25. paChe, S., 2010: Investition in neue Melktechnik, Empfehlungen zur Entscheidungsfindung,<br />
URL: http://www.landwirtschaft.sachsen.de/landwirtschaft/download/Melk-technik_Investition.pdf,<br />
Abrufdatum: 10.08.2011.<br />
26. pOWell, I.; OhnstaD, I.; pettit, D.; giles, N.; ADAS Dairy Group, 2002: Astudy into milking<br />
machine automation. Project No. 02/T2/10. Herausgeber: mdc -milking development council. Somerset.<br />
27. sChleitzer, g.,1997: Je Melker und Stunde 60–80 Kühe. In: Deutsche Bauernzeitung (Hg.): Rentable<br />
Milchproduktion. Deutsche Bauernzeitung, Sonderheft 1/1997: Deutscher Bauernverlag, S. 43–45.<br />
28. smith, J.F.; armstrOng, D.V.; gamrOth, M.J.; martin, J.G., 1997: Planning the milking centre<br />
in expanding dairies. In: Journal of Dairy Science, Jg. 80, S. 1866–1871.<br />
29. söDerberg, J., 2011: persönliche Mitteilung per E-Mail vom 15.08.2011.<br />
30. Wille-sOnK, S., 2010: interne Berechnungen.<br />
Dank<br />
Die Autorin dankt den Projektpartnern bei EDF und agri benchmark <strong>für</strong> die Unterstützung bei der<br />
Datenerhebung sowie Prof. fOlKharD isermeyer und frieDeriKe sChierhOlz <strong>für</strong> wertvolle Hinweise<br />
und konstruktive Kritik.<br />
Autorenanschrift: M. Sc. birthe J. lassen, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut<br />
<strong>für</strong> Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Institut <strong>für</strong> Betriebswirtschaft,<br />
Bundesallee 50, 38116 Braunschweig, Deutschland<br />
birthe.lassen@vti.bund.de<br />
Buel_3_11.indb 399 17.11.2011 08:13:15
400<br />
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter<br />
besonderer Berücksichtigung von Transportkosten<br />
Von gerd eBerhArdt, Potsdam, MArtin Odening, Berlin,<br />
herMAnn lOtze-CAMpen, Potsdam, Berit erlACh, Berlin, susAnne rOlinsKi, Potsdam,<br />
piA rOthe, Potsdam und BenjAMin Wirth, Berlin<br />
1 Ausgangslage und Problemstellung<br />
Die Hydrothermale Karbonisierung (HTC) ist ein chemisches Verfahren zur Aufbereitung<br />
und Veredelung von Biomasse. Der Prozess wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
von dem Chemiker frieDriCh bergius beschrieben (2)und aufgrund seiner Ähnlichkeit mit<br />
dem natürlichen Kohleentstehungsprozess zunächst meist im Labormaßstab angewendet,<br />
um die Vorgänge bei der Inkohlung zu erforschen. Frühe technische Anwendungen waren<br />
einige Pilotanlagen zur hydrothermalen Behandlung von Torf, die bis in die 1960er-Jahre<br />
in Skandinavien und der UdSSR in Betrieb waren. Erst Anfang dieses Jahrhunderts wurde<br />
die Hydrothermale Karbonisierung wiederentdeckt und ihre Bedeutung erkannt. Im Kontext<br />
der schwindenden fossilen Brennstoffressourcen und mit dem Wissen um die Bedeutung<br />
von CO 2 -Emissionen <strong>für</strong> das globale Klima wird die Suche nach Alternativen zu fossilen<br />
Energieträgern aktuell verstärkt gefördert. Im Nationalen Biomasseaktionsplan der Bundesregierung<br />
wurde 2009 festgelegt, dass der Anteil der erneuerbaren Energieträger am<br />
Primärenergieverbrauch von 6,7 %(Stand 2007) auf 16 %imJahr 2020 und der Anteil an<br />
Bioenergie von 4,9 %auf 11 %ansteigen soll. Bei der Hydrothermalen Karbonisierung<br />
wird aus Biomasse ein hochwertiger Festbrennstoffhergestellt. Dadurch kann das Verfahren<br />
einen wichtigen Baustein bei der Erfüllung der Ziele des Biomasseaktionsplans darstellen.<br />
Die Besonderheit des Verfahrens liegt in einer hohen Kohlenstoffeffizienz und in einer<br />
hohen Flexibilität bezüglich der Biomasse, die als Substrat eingesetzt werden kann. Das<br />
bedeutet, dass durch die Verwendung von Reststoffen wie Stroh, Waldrestholz und Landschaftspflegematerialien<br />
oder anderen biogenen Rest- und Abfallstoffen einer zusätzlichen<br />
Flächenkonkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion entgegengewirkt werden kann. Bei der<br />
Hydrothermalen Karbonisierung handelt es sich um einen Inkohlungsprozess: Biomasse<br />
wird bei einer Temperatur von 180–250°C und bei einem Druck von 10–40 bar innerhalb<br />
von 1–8 Stunden in eine kohleartige Substanz, HTC-Kohle, umgewandelt. Die HTC-Kohle<br />
kann mechanisch entwässert und getrocknet werden und weist eine hohe Lagerstabilität<br />
auf. Der Brennwert liegt, je nach Reaktionsbedingungen und Biomasseart, zwischen 22<br />
und 28 MJ/kg –bezogen auf die Trockenmasse (TM). Der Großteil der Energie, die zur<br />
Vorwärmung der Biomasse erforderlich ist, kann durch die freiwerdende Reaktionswärme<br />
und aus der Produktkühlung gedeckt werden, wozu allerdings ein komplexes Verfahren zur<br />
Wärmerückgewinnung erforderlich ist (20; 8). Zur Erreichung der erforderlichen Reaktionstemperatur<br />
muss dem Reaktor Prozessdampf zugeführt werden, der <strong>über</strong> einen Zusatzbrennstoff<br />
bereitgestellt werden muss (ca. 3–15 %der Biomasseenergie). Der wesentliche<br />
energetische Vorteil des Verfahrens liegt in der Möglichkeit der mechanischen Entwässerung<br />
der HTC-Kohle, die im Vergleich zur thermischen Trocknung ungleich weniger<br />
Energie benötigt. Beim Einsatz von Biomasse mit einem sehr hohen Wassergehaltkann bei<br />
effizienter Führung des HTC-Verfahrens dadurch die Energiebilanz von HTC mit anschließender<br />
Verbrennung günstiger sein als bei der Direktverbrennung der nassen Biomasse.<br />
U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0400 $2.50/0<br />
Buel_3_11.indb 400 17.11.2011 08:13:15
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />
HTC-Pellets<br />
analog zu<br />
Holzpellets p in<br />
Holzfeuerungsanlagen<br />
Zementwerke<br />
Klk Kalkwerke k<br />
Industriekraftwerke<br />
Hydrothermale<br />
Karbonisierung<br />
Energetische Verwertung von HTC-Staub<br />
in bestehenden Anlagen<br />
mit<br />
Umrüstung<br />
Biomassekraftwerke<br />
Abb. 1. Verwendungsmöglichkeiten von HTC-Kohle<br />
ohne<br />
Umrüstung<br />
BKS-Ersatz im<br />
Heizkraftwerk,<br />
Hi Heizwerk, k<br />
Kohlekraftwerk,<br />
Industriebetrieb<br />
Perspektivische<br />
Verwendungsmöglichkeiten<br />
Chemische Industrie<br />
BTL-Kraftstoff<br />
CO 2-Speicherung<br />
C-Dünger<br />
C-Brennstoffzellen<br />
401<br />
Die Kohle, die durch das Verfahren der Hydrothermalen Karbonisierung aus Biomasse<br />
gewonnen wird, kann vielfältig genutzt werden. Die Beschaffenheit des Karbonisierungsproduktes<br />
kann mithilfe der Variation der Prozessparameter Druck, Temperatur und Verweilzeit<br />
speziell an den jeweiligenVerwendungszweck angepasst werden. Dadurch eröffnen<br />
sich vielfältige Absatzmöglichkeiten (Abb. 1).<br />
Perspektivisch könnte HTC-Kohle sowohl in der chemischen Industrie, als auch bei der<br />
BTL-Kraftstoffherstellung Verwendung finden. Ferner ist eine Nutzung als Medium zur<br />
CO 2 -Speicherung und als Kohlenstoffdünger in der <strong>Landwirtschaft</strong> denkbar. Allerdings<br />
sind die Auswirkungen auf die Böden und die rechtliche Situation bei der Nutzung von<br />
Abfall-Reststoffen als Substrat noch nicht abschließend geklärt.<br />
Die konkreteste Form der Nutzung der HTC-Kohle stellt die Verwendung als Brennstoff<br />
dar.InPelletform kommt zum Beispiel der Einsatz in Kleinfeuerungsanlagenals Substitut<br />
<strong>für</strong> Holzpellets infrage, und auch in großen Elektrizitätskraft- und Heizkraftwerken könnte<br />
die Kohle Verwendung finden. Neben dem Einsatz in Kohlekraftwerken präsentiert auch<br />
die Verbrennung in Biomassekraftwerken eine interessante Möglichkeit, HTC-Kohle energetisch<br />
zu nutzen. Aufgrund des hohen Heizwertes, des niedrigen Wassergehalts und der<br />
Homogenitätder HTC-Kohlekönnte der Einsatz in Biomassekraftwerken, im Vergleich zu<br />
unbehandelten biogenen Festbrennstoffen, zu einer deutlichen Verbesserungen der Brenneigenschaften<br />
führen. Gleichzeitig erfüllt die HTC-Kohle die Anforderungen des EEG in<br />
Bezug auf den Einsatz von Festbrennstoffen in Biomassekraftwerken (11).<br />
Um die Perspektiven der Hydrothermalen Karbonisierung als potenziellen Baustein<br />
der Energieversorgung in Deutschland zu analysieren, ist es notwendig, neben der verfahrenstechnischen<br />
Optimierung, die Wirtschaftlichkeit des HTC-Verfahrens näher zu untersuchen.<br />
Dies ist das Ziel des vorliegenden Beitrags, in dem Ergebnisse eines von BMBF<br />
geförderten Verbundprojekts „Hydrothermale Karbonisierung von Biomasse“ vorgestellt<br />
werden sollen. Eine Ex-ante-Abschätzung der Rentabilität des HTC-Verfahrens gestaltet<br />
sich aus mehreren Gründen schwierig. Zum einen müssen mehrere Stufen der Wertschöp-<br />
Buel_3_11.indb 401 17.11.2011 08:13:15
402<br />
Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />
Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />
fungskette betrachtet werden: die Bereitstellung der Biomasse, der Konversionsprozess<br />
und die potenzielle Endnachfrage. Zum anderen hängt die Rentabilität der HTC-Herstellung<br />
von einer Vielzahl von Faktoren ab, etwa der Art der verwendeten Biomasse oder<br />
der Größe der HTC-Anlage. Dar<strong>über</strong> hinaus spielt bei allen Formen der energetischen<br />
Biomassenutzung die Logistik eine entscheidende Rolle. Die räumliche Verteilung der<br />
eingesetzten Biomasse bestimmt den Einzugsradius einer HTC-Anlage mit und ist infolgedessen<br />
besonders relevant <strong>für</strong> die Berechnung der Logistikkosten. Will man sich der<br />
Wirtschaftlichkeitsfrage möglichst allgemein mithilfe von Modellrechnungen nähern, hat<br />
dies zur Folge, dass eine Vielzahl von Parametern als endogen zu betrachten ist. Aus<br />
diesem Grund wird in dieser Arbeit ein Modellierungsansatz gewählt, der es gestattet,<br />
eine Vielzahl erlös- und kostenrelevanter Faktoren simultan zu optimieren. Um zu konkreten<br />
Ergebnissen zu kommen, müssen allerdings Rahmenbedingungen gesetzt werden.<br />
Dies erfolgt in der Weise, dass die Planung der HTC-Anlage vor dem Hintergrund der<br />
Standortbedingungen des Bundeslandes Brandenburg vollzogen wird. Somit gelten die<br />
spezifischen Ergebnisse zunächst nur <strong>für</strong> dieses Bundesland; die vorgestellte Methodik<br />
lässt sich dagegen verhältnismäßig leicht auf andere Standorte <strong>über</strong>tragen.<br />
2 Methodik<br />
Um die zuvor genannte Bedeutung der Transportkosten auf die Rentabilität einer HTC-<br />
Anlage adäquat berücksichtigen zu können, wird ein lineares Optimierungsmodell entwickelt,<br />
in dem das Planungsproblem einer HTC-Anlage als modifiziertes zweistufiges kapazitives<br />
Warehouse Location Problem (WLP) dargestellt wird (siehe z. B. 4; 5). Die erste<br />
Distributionsstufe repräsentiert den Transport der Substrate vom Entstehungsort (Feld,<br />
Wald) zur HTC-Anlage, die zweite Distributionsstufe den Transport von der HTC-Anlage<br />
zum Kunden (Abb. 2).<br />
Abb. 2. Netzwerkdarstellung des Planungsproblems<br />
Buel_3_11.indb 402 17.11.2011 08:13:15
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />
403<br />
Im Unterschied zu einem klassischen WLP gibt es keine Produktionsstätten im eigentlichen<br />
Sinn, sondern das Feld, bzw. der Wald stellen die Produktionsstätte dar. ImModell<br />
wird jedoch nicht jeder einzelne Ackerschlag oder jeder einzelne Wald als Ausgangsort<br />
der ersten Distributionsstufe angesehen,sondern es werden Kreisringe um die potenziellen<br />
Standorte gezogen. Jeder dieser Kreisringe gilt als möglicher Substratlieferant. Konkret<br />
werden in der folgenden Anwendung <strong>für</strong> jeden potenziellen Anlagenstandort sieben verschiedene<br />
Lieferanten im Abstand von 5, 10, 15, 20, 25, 30 und 50 km zugelassen. Jeder<br />
dieser Standorte verfügt <strong>über</strong> ein bestimmtes Potenzial an Stroh sowie Hackschnitzeln aus<br />
Energieholz bzw. Kurzumtriebsplantagen (KUP). Die Höhe des Potenzials ist abhängig<br />
von dem Substrataufkommen der Gemeinden, die der Kreisring schneidet und von dem<br />
Flächeninhalt des Kreisrings. Die Berechnungder Kreisringe und deren Potenziale erfolgt<br />
mithilfe von ArcGIS. Inder HTC-Anlage wird aus einer bestimmten Menge Biomasse<br />
nach Maßgabe eines Massenumwandlungsfaktorseine kleinere Menge HTC-Kohle hergestellt.<br />
Es werden drei Anlagetypen mit unterschiedlicher Kapazität untersucht, die jeweils<br />
unterschiedliche Fixkosten verursachen. Neben den Fixkosten, die bei der Einrichtung<br />
einer Anlage entstehen, fallen während des Produktionsprozesses zudem variable Kosten<br />
an. Die zweite Distributionsstufe umfasst den Transport der HTC-Kohle zu den unterschiedlichen<br />
Endkunden und ist wiederum mit Transportkosten verbunden (13).<br />
Für die Formulierung des Optimierungsmodells werden folgende Indizes, Parameter<br />
und Variablen definiert:<br />
Indizes<br />
k: Substratarten zur Hydrothermalen Karbonisierung<br />
h: Angebotsstandorte der Substratarten<br />
i: Standort einer HTC-Anlage<br />
j: Standort eines Kraftwerks/Kunden<br />
w: Kapazitätsklassen der HTC-Anlagen<br />
HTC: HTC-Kohle<br />
Parameter<br />
x : Maximale Menge der Substratart kamAngebotsstandort hintFM/a<br />
hk<br />
p : Preis der Substratart kamAngebotsstandort hin€/t FM<br />
hk<br />
TKI : Transportkosten des Substrats kvom Angebotsstandort hzur HTC-Anlage<br />
hik<br />
iin€/t FM<br />
TKII : Transportkosten Biokohle von HTC-Anlage am Standort izum Kraftwerk jin<br />
ij<br />
€/t HTC Kohle<br />
f HTC<br />
iw<br />
: Fixkosten der Errichtung einer HTC-Anlage mit der Kapazität wamStandort<br />
iin€/a<br />
var ikw : Variable Kosten der Karbonisierung des Rohstoffs kaneiner HTC-Anlage mit<br />
der Kapazität wamStandort iin€/t FM<br />
β ik : Massenumwandlungsfaktor des Substrats kzuHTC-Kohle in TM HTC-Kohle/<br />
TM Substrat<br />
M HTC : Anzahl HTC-Anlagen<br />
d j : Nachfrage nach HTC-Kohle am Kraftwerksstandort jintHTC Kohle/a<br />
Kap : j Verarbeitungskapazität HTC-Kohle amKraftwerksstandort jintHTC Kohle/a<br />
yminHTC wk,, ymaxHTC :untere bzw. obere Kapazitätsschranke einer Anlage der Größe w<br />
wk<br />
η : j Wirkungsgrad Kraftwerk<br />
pCO2 i : Preis je Tonne eingesparten CO2 pel : j Erlöse aus energetischer Verwertung beim Kunden jin€je kWh<br />
α: Umrechnungsfaktor Megajoule in kWh (1 MJ =0,27778 kWh)<br />
h: Heizwert HTC-Kohle<br />
ε: Umrechnungsfaktor HTC-Kohle TMinFM(Wassergehalt 10%)<br />
co : j CO -Emission in t/kWh (in Jänschwalde 0,0012 t/kWh)<br />
2<br />
Buel_3_11.indb 403 17.11.2011 08:13:15
404<br />
Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />
Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />
Variablen<br />
x : Menge des vom Angebotsstandort hzur HTC-Anlage itransportierten<br />
hik<br />
Substrats kintFM/a<br />
x HTC<br />
ij<br />
: Menge der vom Standort izum Kraftwerk jtransportierten HTC-Kohle kint<br />
Biokohle/a<br />
yHTC : Menge der aus dem Substrat kproduzierten Menge Biokohle am Standort iin<br />
ik<br />
tBiokohle/a<br />
yHTC : Menge der produzierten Menge Biokohle am Standort iintBiokohle/a<br />
i<br />
zHTC : Binäre Entscheidungsvariable <strong>für</strong> HTC-Anlage am Standort i<br />
iw<br />
G : Gesamter Gewinn<br />
ges<br />
Unter Verwendung dieser Notation lässt sich die Zielfunktion folgendermaßen definieren:<br />
Der Gewinn der gesamten Unternehmung setzt sich zusammen aus dem Verkauf der HTC-<br />
Kohle und den Einsparungen an Emissionsberechtigungen bei der energetischen Nutzung,<br />
abzüglich der Biomassekosten, der Transportkosten <strong>für</strong> Biomasse und HTC-Kohle sowie<br />
den fixen und variablen Kosten einer HTC-Anlage. Es wird der Standort <strong>für</strong> eine HTC-<br />
Anlage gesucht, bei dem der Gewinn maximiert wird. Dabei werden 175 potenzielle Biomassestandorte,<br />
drei unterschiedliche Substrate, 25 potenzielle HTC-Anlagenstandorte<br />
sowie 8potenzielle Abnehmer <strong>für</strong> HTC-Kohle berücksichtigt.<br />
Der Gewinn (G ges )soll unter folgenden Nebenbedingungen maximiert werden:<br />
(2.2)<br />
(2.3)<br />
(2.4)<br />
(2.5)<br />
(2.6)<br />
(2.7)<br />
Buel_3_11.indb 404 17.11.2011 08:13:16<br />
(2.1)
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />
(2.8)<br />
(2.9)<br />
(2.10)<br />
(2.11)<br />
(2.12)<br />
(2.13)<br />
405<br />
Die Nebenbedingung (2.2) zielt auf das Substratpotenzial inden Gemeinden bzw. den<br />
Kreisringen ab. Die Menge an Biomasse, die zur HTC-Anlage transportiert wird, darf<br />
nicht größer sein als die Menge an Biomasse/Rohstoffen, die an den Bereitstellungsorten<br />
maximal verfügbar ist. Gleichung (2.3) kalkuliert den Masseverlust, der während der<br />
Karbonisierung eintritt. Die produzierte HTC-Kohlemenge ergibt sich demnach aus der<br />
eingesetzten Substrattrockenmasse multipliziert mit dem Massenumwandlungsfaktor.<br />
Weiterhin muss die gesamte am Standort iproduzierte HTC-Kohle der Summe der aus<br />
den einzelnen Substratfraktionen gewonnenen HTC-Kohle entsprechen; Nebenbedingung<br />
(2.4). Die Nebenbedingungen (2.5) und (2.6) führen Kapazitätsgrenzen <strong>für</strong> die einzelnen<br />
Anlagengrößen ein. Außerdem ist durch diese beiden Ungleichungen sichergestellt, dass,<br />
falls zHTC gleich Null ist, am Standort ialso keine Anlage errichtet wird, keine Substrate<br />
i<br />
zur Anlage itransportiert werden. Gleichung (2.7) legt fest, dass nur die HTC-Kohle zum<br />
Endverbraucher transportiert wird, die auch produziert wurde. Die Nachfrage der Kraftwerke<br />
wird in Nebenbedingung (2.8) berücksichtigt. Die maximal gelieferte Menge an<br />
HTC-Kohle darf die Verarbeitungskapazität des belieferten Kraftwerks nicht <strong>über</strong>schreiten<br />
[Gleichung (2.9)]. Mittels Nebenbedingung (2.10) wird die CO 2 -Menge bestimmt,<br />
die durch den Einsatz der HTC-Kohle eingespart und mit dem Preis <strong>für</strong> CO 2 -Zertifikate<br />
multipliziert wird. Gleichung (2.11) stellt sicher, dass die im Kraftwerk eingesetzte HTC-<br />
Menge vorher zum Kraftwerk transportiert wurde. (2.12) und (2.13) stellen Nichtnegativitäts-<br />
bzw. Ganzzahligkeitsbedingungen dar. Zusammengefasst ermittelt das Optimierungsmodell<br />
folgende Größen:<br />
● Gewinn<br />
● Anzahl und Größe der errichteten HTC-Anlagen<br />
● Standorte der HTC-Anlagen und Einzugsradien der Substrate<br />
● Menge der eingesetzten Substrate<br />
● Transportflüsse der HTC-Kohle zu den Kraftwerken.<br />
Das Modell wurde in GAMS programmiert und mithilfe des CPLEX Solvers gelöst.<br />
3 Datengrundlage<br />
Für die Berechnung des optimalen Standortes und der zu erwartenden Transportkosten ist<br />
es zunächst notwendig, die Menge und die räumliche Verteilung der als Substrat verwendeten<br />
Biomasse in Brandenburg zubestimmen. Im Rahmen der Studie wird das technische<br />
Biomassepotenzial <strong>für</strong> Getreidestroh und Hackschnitzel aus Waldrestholz bzw. aus<br />
Kurzumtriebsplantagen im Land Brandenburg bestimmt. Außerdem werden die zu erwartenden<br />
Investitions- und Prozesskosten einer HTC-Anlage abgeschätzt.<br />
Buel_3_11.indb 405 17.11.2011 08:13:17
406<br />
Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />
Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />
Tabelle 1. Kennwerte der HTC-Anlagen<br />
Tonnen FM/a HTC TM/Biomasse<br />
TM<br />
HTC TM/a Brennwert<br />
MJ/kg TM HTC<br />
A 32 500 32 500 0,66 8580 22–26<br />
A 45 000 45 000 0,66 11 880 22–26<br />
A 60 000 60 000 0,66 15 840 22–26<br />
3.1 Kosten einer Anlage zur Hydrothermalen Karbonisierung<br />
Die Gesamtkosten der Hydrothermalen Karbonisierungsetzen sich zusammen aus investitionsabhängigen<br />
Kosten, verbrauchsabhängigenBetriebsmittelkosten, Personalkosten und<br />
sonstigen Kosten sowie dem Verkaufserlös von Kuppelprodukten, z. B. <strong>über</strong>schüssige<br />
Prozesswärme und eventuell im Abwasser enthaltene Mineralstoffe bei HTC-Anlagen.<br />
Um die einzelnen Kosten identifizieren zu können, ist es notwendig, sich auf einen<br />
Produktionsprozess mit einer bestimmtenProduktionskapazität<strong>für</strong> eine HTC-Anlage festzulegen.<br />
Das im Rahmen dieser Studie verwendete Prozessschema basiert auf dem von erlaCh<br />
und tsatsarOnis (8) entwickeltenAnlagendesign <strong>für</strong> HTC-Anlagen im industriellen Maßstab.<br />
In Tabelle 1sind die wichtigsten Kennzahlen der untersuchten Anlagentypen aufgeführt.<br />
Bei der Massenausbeute an HTC-Kohle ist zu beachten, dass diese von den unten<br />
angegebenen Werten abweicht, sobald Biomasse (z. B. Stroh) mit einer anderen Zusammensetzung,<br />
insbesondere einem anderen als dem hier angenommenen Wassergehalt von<br />
60 %, als Substrat eingesetzt wird. Die Werte dienen also zunächst als Orientierung, in<br />
welchen Größenordnungen die Anlagen produzieren. Die energetische Ausbeute ohne Einbeziehung<br />
der erforderlichen Hilfsenergie beträgt ca. 92 %bezogen auf den Brennwert,<br />
mit Einbeziehung der erforderlichen Hilfsenergie ca. 87 %.<br />
Im Rahmen der Faktormethode (18) wird ein Teil der Kapitalbedarfspositionen detailliert<br />
vorkalkuliert, die restlichen Bedarfspositionen werden anhand von Zuschlagssätzen<br />
geschätzt. Dazu ist es zunächst notwendig, die verschiedenen Kapitalbedarfspositionen<br />
in eine Hauptkomponente und direkte bzw. indirekte Nebenpositionen zu strukturieren.<br />
Unter der Hauptkomponente werden die Kosten <strong>für</strong> Maschinen und Apparate verstanden.<br />
Diese Kosten stellen die Basis dar, anhand derer die anderen Positionen mithilfe von<br />
Zuschlagsfaktoren berechnet werden.Die direkten Nebenpositionen beinhaltendie Kosten<br />
<strong>für</strong> Nebenkomponenten wie Leitungen, Steuer- und Messinstrumente, die Montagekosten<br />
und die Kosten <strong>für</strong> Baustelleneinrichtungen einschließlich Unvorhergesehenes. Die<br />
indirekten Nebenpositionen beinhalten u. a. Kosten <strong>für</strong> Lagerhaltung, Engineering und<br />
Lizenzen (19).<br />
Demnach ergeben sich <strong>für</strong> eine Anlage je nach Verarbeitungskapazität Kosten <strong>für</strong> die<br />
Hauptkomponente von ca. 1Mio. €(A 45 000 )bzw. von ca. 1,215 Mio. €(A 60 000 ). Ausgehend<br />
von den Hauptkomponenten lassen sich durch den Zuschlagsfaktor Z die Kosten<br />
der indirekten Nebenpositionen bestimmen. Je nach Anlagekapazität ergeben sich hieraus<br />
unterschiedliche Investitionssummen (s. Tab. 2).<br />
Für die Anlage A 32 500 ergeben sich nach der Annuitätenmethode investitionsabhängige<br />
Kosten in Höhe von ca. 786 000 €, <strong>für</strong> die Anlage A 45 000 Kosten in Höhe von ca. 861 000 €<br />
und <strong>für</strong> die größte betrachteteAnlagenkapazität von 60 000 Tonnen Biomasse (FM) belaufen<br />
sich die investitionsabhängigen Kosten auf ca. 1Mio. €. Anlagen <strong>für</strong> die Aufbereitung<br />
der HTC-Kohle zu Staub (Mühle) oder Pellets (Pelletierpresse) sind in dieser Kostenschätzung<br />
nicht berücksichtigt.<br />
Buel_3_11.indb 406 17.11.2011 08:13:17
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />
Tabelle 2. Investitionssumme nach Anlagetyp<br />
407<br />
Im Rahmen der Schätzung der Personalkosten wird die konstante Anwesenheit einer<br />
Person, die den Produktionsprozess <strong>über</strong>wacht, in der Anlage angenommen. Hieraus<br />
ergibt sich ein Personalbedarf von 4,2 Personen pro Jahr.Insgesamt ergeben sich jährliche<br />
Personalkosten, die zwischen 207 000 €und 220 000 €pro Jahr liegen. Verbrauchsabhängige<br />
Betriebsmittelkosten bestehen aus Biomasse-, Wasser- (Frisch- und Abwasser),<br />
Energie- und Entsorgungskosten. Die Kosten <strong>für</strong> die Abwasserentsorgung sind zum jetzigen<br />
Zeitpunkt noch nicht quantifizierbar,danoch nicht geklärt ist, wie die Nebenprodukte<br />
des HTC-Prozesses zu behandeln sind. Vorerst gilt es, die Energiekosten zu quantifizieren.<br />
Beim HTC-Prozess verbrauchen vor allem die Slurry-Pumpen, die Prozessdampferzeugung<br />
<strong>für</strong> den Reaktor und die Trocknung der HTC-Kohle Strom bzw. Gas. Stoff- und<br />
Energieströme der HTC-Anlage wurden mithilfe einer Anlagensimulation mit dem Programm<br />
Aspen Plus bestimmt, welche im Rahmen des Forschungsprojektes an der TU<br />
Berlin durchgeführt wurde. Basierend auf den Simulationsergebnissen können die Stromund<br />
Erdgaskosten berechnet werden. Insgesamt liegen die Energiekosten je Tonne zu verarbeitende<br />
Biomasse zwischen 2,4 und 1,9 €.<br />
Da derzeit noch keine HTC-Anlagen in industriellem Maßstab betrieben werden,<br />
unterliegen die Kostenschätzungen einer hohen Unsicherheit. Neuere Simulationen und<br />
Kostenschätzungen lassen einen höheren Hilfsenergiebedarf sowie höhere Personal- und<br />
Investitionskosten erwarten (vgl. 9).<br />
3.2 Substratkosten<br />
Kosten in TSD €jeAnlagentyp<br />
A 32 500 A 45 000 A 60 000<br />
Battery Limits 2729 2981 3646<br />
Indirekte Nebenpositionen 813 981 1172<br />
Bauzinsen 354 396 482<br />
Erstinbetriebnahme 354 245 164<br />
Umlaufkapital 531 594 723<br />
Gesamte Investitionssumme 4782 5197 6186<br />
Jährliche investitionsabhängige Kosten 786 861 1032<br />
Bei der Bestimmung der Biomassepreise ergibt sich das Problem, dass es in Deutschland<br />
noch keine marktüblichen Preise <strong>für</strong> Stroh bzw. Hackschnitzel aus Waldrestholz als<br />
Substrate der Hydrothermalen Karbonisierung gibt. Um die Preise einschätzen zu können,<br />
werden die Bereitstellungskosten der einzelnen Substrate bestimmt; diese stellen den<br />
jeweiligen Mindestverkaufspreis dar.<br />
Als Nebenprodukt der Getreideproduktion kann Stroh günstig bereitgestellt werden.<br />
Sämtliche Anbaukosten, sowie Pacht und Gemeinkosten werden der Kornproduktion<br />
zugeordnet, sodass sich die Kosten <strong>für</strong> Getreidestroh aus dem Nährstoffwert und den<br />
Kosten der Bergung zusammensetzen.Bei der Ermittlung der Nährstoff-oder Düngewerte<br />
ist zu beachten, dass es sich hierbei um Kosten handelt, die durch die Entnahme der im<br />
Stroh enthaltenen mineralischen Nährstoffe aus dem betrieblichen Stoffkreislauf entstehen.<br />
Die Höhe des Düngewertes und des daraus resultierenden Strohpreises ist demnach<br />
eng mit der Entwicklung der Düngemittelpreise verknüpft. Für das Jahr 2008 ergibt sich<br />
ein durchschnittlicher Düngewert von 61,42 €jeha.<br />
Buel_3_11.indb 407 17.11.2011 08:13:17
408<br />
Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />
Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />
Neben dem Nährstoffwert bestimmen die Bergekosten die Kosten <strong>für</strong> die Bereitstellung<br />
von Stroh. Die Berechnungen, die sich an Vollkostenrechnungen des Leitfadens Bioenergie<br />
der FNR (10) orientieren, führen beim Einsatz von Lohnunternehmen zu Bereitstellungskosten<br />
frei Feldrand von ca. 237 €jehabzw. ca. 51,7 €jeTonne TM. Andere<br />
Quellen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. leible et al. (16) beziffern die Kosten in<br />
Abhängigkeit von Schlaggröße und Ballenart zwischen 42,6 und 58,3 €jeTonne TM.<br />
Die Bereitstellung von Hackschnitzeln aus Waldrestholz erfordert einen hohen manuellen<br />
Arbeitsaufwand und ist deshalb mit hohen Arbeitskosten verbunden (12). Eine einheitliche<br />
Kostenbestimmung anhand einer Vollkostenrechnung ist <strong>für</strong> die Bereitstellung<br />
von Hackschnitzeln aus Energie-/Waldrestholz demnach nur bedingt durchführbar.InVersuchen<br />
der Bayerischen Landesanstalt <strong>für</strong> Wald- und Forstwirtschaft (24) differieren die<br />
Kosten <strong>für</strong> Hackschnitzel aus Fichtenkronen zwischen 7und 11 €jeSchüttraummeter.<br />
Andere Studien (z. B. 3) berechnen Preise <strong>für</strong> Energieholzhackschnitzel zwischen 8,2 €<br />
und 15 €jeSchüttraummeter bzw.41€und 76 €jeTonne Trockenmasse. Die große Preisspanne<br />
ist auf die oben dargelegte Vielzahl unterschiedlicher Faktoren zurückzuführen,<br />
die letztendlich den Preis der Hackschnitzel bestimmen.<br />
Bei der Berechnung der Substratkosten <strong>für</strong> Hackschnitzel aus Kurzumtriebsplantagen<br />
wird von einer Nutzungsdauer von zwanzig Jahren und fünf bis sechs Ernten innerhalb<br />
dieses Zeitraums ausgegangen. Die Kosten pro Tonne Hackschnitzel werden durch<br />
den Ertrag bestimmt. Hier<strong>für</strong> werden die Kosten von drei verschiedenen Ertragsklassen,<br />
mit sechs, zehn und vierzehn Tonnen Trockenmassezuwachs pro Jahr, bestimmt. Auf die<br />
Bereitstellungskosten <strong>für</strong> Hackschnitzeln aus Kurzumtriebsplantagen haben die Anlagekosten<br />
den größten Einfluss. Es ergeben sich je nach Ertragsklasse Kosten zwischen<br />
122 €/t TM und 66,6 €/t TM.<br />
3.3 Transportkosten<br />
Im Rahmen einer Standortwahl mittels quantitativer Methoden sind die Transportkosten<br />
von zentraler Bedeutung. Im Laufe des Produktionsprozesses von HTC-Kohle fallen eine<br />
Vielzahl von unterschiedlichen Transportvorgängen an. Das betrifft zum einen den Transport<br />
der unterschiedlichen Substrate zur HTC-Anlage und zum anderen den Transport der<br />
HTC-Kohle zum Kraftwerk.<br />
Die erste Transportstufe beinhaltet den Biomassetransport vom Feld bzw. Wald zur<br />
HTC-Anlage. In dieser Studie umfasst der Einzugsbereich der Substrate einen Radius<br />
von 50 km. Der Transport der unterschiedlichen Substrate zur HTC-Anlage vollzieht sich<br />
demnach in einem Bereich von bis zu 50 km. Der Großteil dieser Transporte findet jedoch<br />
innerhalb eines Radius von 30 km statt, in diesem Bereich kommen vor allem der landwirtschaftliche<br />
Transport mit Schlepper und Anhänger infrage. Der Transport per LKW<br />
lohnt sich im Nahbereich aufgrund der im Vergleich zur Fahrzeit sehr langen Beladezeit<br />
nicht (16). Ähnlich verhält es sich mit dem Transport per Binnenschiff und Bahn, da die<br />
Substrate hier zunächst von dem Entstehungsort (Feld, Waldstrasse) zu einem Binnenhafen<br />
bzw. Verladebahnhof transportiert werden müssten.<br />
Beim Transport mit landwirtschaftlichen Zügen werden Fahrzeugkombinationen untersucht,<br />
die aus einem Schlepper (90 kW) und zwei Anhängern mit einer Nutzlast von je 14<br />
Tonnen bestehen. Aus Vollkostenrechnungen sind die Kosten je Betriebstunde (BH) <strong>für</strong><br />
den Schlepper und die Anhänger bekannt.<br />
Die Transportkosten sind von der Zeit abhängig, die zum Be- und Entladen benötigt<br />
wird sowie von der Entfernung und von der Durchschnittsgeschwindigkeit des Transports<br />
(1). Die Kosten <strong>für</strong> den Transport von Hackschnitzeln werden <strong>für</strong> die oben genannten<br />
Verfahren berechnet, bei denen die Transportfahrzeuge direkt durch den Häcksler oder<br />
<strong>über</strong> den Hackschnitzelcontainer beladen werden. Dadurch entfallen Kosten <strong>für</strong> die Bela-<br />
Buel_3_11.indb 408 17.11.2011 08:13:17
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />
Abb. 3. Biomassetransportkosten jeTonne TM und Kilometer<br />
409<br />
dung mithilfe eines Front- oder Radladers. Daraus resultiert ein geringer „Sockelbetrag“.<br />
Mit zunehmenden Entfernungen wird die Durchschnittsgeschwindigkeit immer mehr zur<br />
entscheidenden Größe. Die wesentlichen Anteile an den Transportkosten sind die Personalkosten<br />
mit einem Anteil von 40–50 %, gefolgt von Kapitalkosten, Energiekosten und<br />
Kosten <strong>für</strong> Versicherung und Reparatur, die jeweils zwischen 10 %und 20 %liegen. Für<br />
die Lösung des Standortmodells ist es notwendig, die Transportkosten je Fahrt in Transportkosten<br />
je Tonne Substrat umzurechnen. Das Ergebnis ist in Abbildung 3dargestellt.<br />
Da die Anhänger, die <strong>für</strong> den Strohtransport eingesetzt werden, <strong>über</strong> ein deutlich größeres<br />
Volumen verfügen als die Anhänger, die <strong>für</strong> den Hackschnitzeltransport verwendet<br />
werden (91 m 3 gegen<strong>über</strong> 35,3 m 3 )und aufgrund des hohen Trockenmassegehalts von<br />
Stroh, lässt sich mit einer Fuhre wesentlich mehr Stroh als Hackschnitzel befördern. Der<br />
Unterschied im Wassergehalt von Hackschnitzeln aus Waldrestholz (35 %) und Hackschnitzeln<br />
aus Kurzumtriebsplantagen (60 %) erklärt auch die höheren Transportkosten<br />
der Hackschnitzel aus Kurzumtriebsplantagen.<br />
Einen wichtigen Aspekt bei der Berechnung der Kosten <strong>für</strong> die Beförderung von<br />
HTC-Kohle stellt die Beschaffenheit der HTC-Kohle zum Zeitpunkt des Transports dar.<br />
In diesem Zusammenhang gibt es verschiedene Möglichkeiten. Zum einen könnte die<br />
HTC-Kohle in Brikett-oder in Pelletform transportiert werden. Das hätte den Vorteil, dass<br />
übliche Pritschen-LKWs oder Verladecontainer eingesetzt werden könnten. Allerdings<br />
würde dies bedeuten, dass die HTC-Kohle an der Anlage zuerst gepresst und im Kraftwerk<br />
wiederum zermahlen werden müsste. Die Transportkosten würden demnach sinken,<br />
die Kosten der HTC-Herstellung und Weiterverarbeitung jedoch steigen. Im Folgenden<br />
soll die Beförderung von HTC-Kohle als Kohlenstaub in Gefahrgutsilos näher untersucht<br />
werden. Der HTC-Kohlenstaub ähnelt in seiner Beschaffenheit Braunkohlenstaub und<br />
wird wie dieser als Gefahrgut der Klasse 4(selbst entzündbare Stoffe) behandelt.<br />
Kostenbestimmende Parameter sind neben der Transportentfernung die Dichte der<br />
HTC-Kohle (497,94 kg/m³) und das Volumen der Transporttanks (33 m³). Ferner spielen<br />
die Befüllungs- und Entleerungszeiten eine entscheidende Rolle. Der Transport der<br />
HTC-Kohle kann sich hingegen auch <strong>über</strong> eine größere Entfernung erstrecken, sodass ein<br />
Schiffs- bzw.Bahntransport durchaus sinnvoll sein kann. Hierzu bedarf es allerdings eines<br />
speziellen Verladebahnhofs oder -hafens <strong>für</strong> den kombinierten Verkehr. Unter kombiniertem<br />
Verkehr versteht man, dass ein Transportmodul (Container, Silocontainer) zunächst<br />
per LKW transportiert und dann komplett auf einen Waggon oder ein Schiffverladen wird.<br />
Buel_3_11.indb 409 17.11.2011 08:13:17
410<br />
Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />
Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />
Abb. 4. Transportkosten HTC-Kohle<br />
Abbildung 4zeigt die Kosten <strong>für</strong> den Transport von HTC-Kohle. Unter der Vorraussetzung,<br />
dass sich ein Verladebahnhof im Umkreis von 10 km Fahrstrecke von der HTC-<br />
Anlage befindet, lohnt sich ein Transport per Bahn schon ab ca. 50 km. Dieser Wert verschiebt<br />
sich bei weiter entfernten Verladebahnhöfen zu Ungunsten des Schienentransports,<br />
da die Vorlaufkosten (Transport zum Bahnhof) ansteigen. Beim LKW-Transport liegen die<br />
Kosten <strong>für</strong> einen Transport <strong>über</strong> 50 km bei ca. 11 €, <strong>über</strong> 100 km bei ca. 17 €und <strong>über</strong><br />
200 km bei ca. 28 €/t TM. Die Werte <strong>für</strong> einen Bahntransport <strong>über</strong> 200 km liegen bei ca.<br />
21,28 €/t TM und demnach um fast 7€unter denen des LKW-Transports. Bei einer Anlage<br />
mit einem Produktionsvolumen von 8550 tHTC-Kohle im Jahr beträgt die Differenz fast<br />
60 000 €. Noch erheblicher sind die Unterschiede zwischen der Beförderung in Brikettform<br />
und als HTC-Kohlenstaub, hier beträgt die Differenz bei einer Transportentfernung<br />
von 200 km und einem Transportvolumen von 8550 tetwa 100 000 €.<br />
3.4 Biomassepotenziale<br />
Der Anteil des Getreidestrohs, der zur Produktion von HTC-Kohle genutzt werden kann,<br />
hängt hauptsächlich von drei Faktoren ab (16):<br />
● Strohaufkommen (Klima, Böden, Anbauumfang, Düngung, etc.)<br />
● benötigte Strohmenge in der Viehhaltung (Futter, Einstreu)<br />
● benötigte Strohmenge, um eine positive Humusbilanz gemäß den Cross Compliance-<br />
Regelungen zu erhalten.<br />
Zur Abschätzung des Strohaufkommens werden im Folgenden Angaben des Amtes <strong>für</strong><br />
Statistik Berlin-Brandenburg aus den Jahren 1991–2009 hinsichtlich des Anbauumfangs,<br />
der Erntemenge und des Ausmaßes der Ackerflächen ausgewertet. Mithilfe von ArcGIS<br />
lässt sich so jeder Gemeindefläche ein bestimmtes Strohpotenzial zuordnen. Das Land<br />
Brandenburg verfügt <strong>über</strong> eine landwirtschaftliche Fläche von fast 1,5 Mio. ha. Davon<br />
bestehen etwa eine Mio. ha aus Ackerland, wovon fast 700 000 ha mit Getreide bestellt<br />
werden. Um beurteilen zukönnen, inwieweit sich die räumliche Verteilung der Anbauflächen<br />
auch tatsächlich inden Potenzialen widerspiegelt, werden im nächsten Schritt die<br />
Getreideerträge der letzten zehn Jahre in den einzelnen Landkreisen untersucht. Hinsichtlich<br />
der Berechnung des technischen Strohpotenzials wird davon ausgegangen, dass 50 %<br />
des Bruttostrohaufkommens zur Erhaltung einer positiven Humusbilanz notwendig sind.<br />
Buel_3_11.indb 410 17.11.2011 08:13:17
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />
Abb. 5. Räumliche Verteilung des Überschussstrohs<br />
411<br />
Bei der Standortwahl entscheidet nicht die Menge des absoluten Strohpotenzials sondern<br />
der Quotient aus technischem Potenzial und Bodenfläche. Der Quotient bestimmt die<br />
Größe des Einzugsradius und gibt folglich Auskunft <strong>über</strong> die Höhe der anfallenden Transportkosten.<br />
Abbildung 5stellt die räumliche Dichte des Strohaufkommens dar. Damit ist<br />
gemeint, wie viele Tonnen Stroh je ha Gemeindefläche im Jahr zur energetischen Nutzung<br />
zur Verfügung stehen. Bei der Bewertung des technischen Potenzials von Stroh<br />
als HTC-Substrat muss mit einbezogen werden, dass es in Trockenjahren zu erheblichen<br />
Ertragsausfällen kommen und sich so der Einzugsradius <strong>für</strong> die benötigte Strohmenge<br />
beträchtlich erhöhen kann.<br />
Das Substrat „Stroh“ zeigt außerdem beispielhaft die Schwierigkeit, das wirtschaftliche<br />
Potenzial zu quantifizieren. Das wirtschaftliche Potenzial ist u. a. abhängig von:<br />
● Anteil des Strohs, der zur Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit notwendig ist, unterliegt<br />
der subjektiven Einschätzung des Landwirts<br />
● Persönliche Einstellung des Landwirts gegen<strong>über</strong> neuen Vermarktungsmöglichkeiten<br />
● Aufwand <strong>für</strong> den Aufbau von Lieferbeziehungen zwischen Anbieter und Kunde<br />
● Entwicklung des Strohpreises bei einer starken Erhöhung der Nachfrage<br />
● Entwicklung von Energie-, Mineraldünger- und Saatgutpreisen.<br />
Buel_3_11.indb 411 17.11.2011 08:13:18
412<br />
Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />
Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />
Abb. 6. Räumliche Verteilung des Energieholzes<br />
Die Höhe des wirtschaftlichen Potenzials hängt, wie aufgezeigt, von unterschiedlichen<br />
Faktoren abund ist damit komplexer und schwieriger einzuschätzen als die Höhe des<br />
technischen Potenzials.<br />
Unter dem Begriff „Energieholz“ oder auch „Waldrestholz“ wird im Rahmen dieser<br />
Studie zum einen das Kronenholz verstanden, das bei der Industrie- bzw. Stammholzgewinnung<br />
entsteht und zum anderen jenes Holz, das bei der Pflege von Jungholzbeständen<br />
anfällt. Die im Folgenden verwendeten Energieholzpotenziale beziehen sich auf Daten<br />
und Berechnungen, die im Rahmen des Forschungsprojektes DENDROM gewonnen<br />
wurden (17). Abbildung 6zeigt die räumliche Verteilung des Energieholzaufkommens in<br />
Brandenburg auf Gemeindeebene.<br />
In Brandenburgwird bisher kaum Agrarholz produziert, obwohl die Herstellung dieses<br />
wichtigen Substrates in Kurzumtriebsplantagen seit <strong>über</strong> zwei Jahrzehnten bekannt ist und<br />
von wissenschaftlicher Seite bereits eingehend erforscht wurde (z. B. 7). Für einen potenziellen<br />
Ausbau des Anbauumfangs von Agrarholz ist eine Vielzahl an Faktoren mitentscheidend.<br />
Ein wichtiger Faktor betrifft die Konkurrenzfähigkeit des Agrarholzes gegen<strong>über</strong><br />
herkömmlichen Marktfrüchten, die Konkurrenzfähigkeit hängt zum einen von den<br />
Entwicklungen auf den Agrarmärkten ab. Aber auch die Preisentwicklungen bei anderen<br />
Buel_3_11.indb 412 17.11.2011 08:13:18
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />
KUP-dichte intTM/ha<br />
0,00 –0,08<br />
0,09 –0,15<br />
0,15 –0,21<br />
0,21 –0,27<br />
0,27 –0,34<br />
Abb. 7. Räumliche Verteilung des Aufkommens von Hackschnitzeln aus Kurzumtriebsplantagen<br />
413<br />
Energieformen, die wie Biogas, Biodiesel oder Bioethanol auf Biomasse beruhen, bestimmen,<br />
in welchem Umfang Ackerfläche <strong>für</strong> die Energieholzproduktion genutzt werden<br />
kann. Zum anderen hängt die Konkurrenzfähigkeit von der Entwicklung der Produktionskosten<br />
von Agrarholz und der Entwicklung auf der Nachfrageseite ab. Ein weiterer wichtiger<br />
Faktor betrifft die Innovationsbereitschaft der Landwirte. Viele Landwirte werden von<br />
dem hohen Kapitalbedarf abgeschreckt, der mit der Anlage einer Kurzumtriebsplantage<br />
verbunden ist, zumal die Rückgewinnung des eingesetzten Kapitals erst spät erfolgt. Ferner<br />
mindert die Abhängigkeit von einer positiven Entwicklung der politischen Rahmenbedingungen<br />
die Bereitschaft der Landwirte, in Kurzumtriebsplantagen zu investieren (23).<br />
Im Rahmen dieser Studie wird zur Ermittlung des theoretischen Potenzials von einem<br />
Anbauanteil von 10 %ander gesamten Ackerfläche ausgegangen. Der Ertrag bewegt<br />
sich zwischen acht und zwölf Tonnen Trockenmasse pro Jahr und ha und ist vorrangig<br />
von der Wasserverfügbarkeit des Standortes abhängig. Aus diesen Annahmen ergibt sich<br />
ein technisch nutzbares KUP-Potenzial von 1,01 Mio. Tonnen FM. Grundsätzlich muss<br />
betont werden, dass die Schätzungen in Bezug auf das technische Potenzial von Holz aus<br />
Kurzumtriebsplantagen verglichen mit dem technischen Potenzial von Stroh und Energieholz<br />
stärker auf möglichen zukünftigen Entwicklungen als auf den gegenwärtig realisier-<br />
Buel_3_11.indb 413 17.11.2011 08:13:18
414<br />
Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />
Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />
Tabelle 3. HTC-Potenzial in Brandenburg<br />
Biomasseart Stroh Energieholz KUP Gesamt<br />
TNP in Mio. tTM 1,10 0,27 0,61 1,97<br />
MUF (TM/TM) 0,60 0,65 0,70<br />
HTC-Kohle in Mio. tTM 0,66 0,17 0,36 1,20<br />
Energiegehalt in Petajoule 14,52 3,80 8,00 26,32<br />
Energiegehalt in Terawattstunden 4,03 1,06 2,22 7,31<br />
(TNP =Technisch nutzbares Potenzial, MUF =Masseumwandlungsfaktor)<br />
ten Anbauumfängen basieren. Abbildung 7stellt die räumliche Verteilung des Aufkommens<br />
von Hackschnitzeln aus Kurzumtriebsplantagen dar.<br />
Anhand der Biomassepotenziale lässt sich ein theoretisches HTC-Kohle-Potenzial von<br />
1,2 Mio. Tonnen TM <strong>für</strong> Brandenburg bestimmen (siehe Tab. 3). Bei einem Heizwert<br />
von 22 MJ/kg HTC-Kohle ergibt sich ein Gesamtenergiegehalt von 26,32 Petajoule bzw.<br />
7,31 TWh (Terawattstunden). Damit ließen sich ca. 4%des Primärenergieverbrauchs des<br />
Landes Brandenburg (2004: 639 PJ) abdecken. Der bisherige Anteil der Biomasse am<br />
Primärenergieverbrauch (25,6 PJ) würde sich dadurch verdoppeln.<br />
3.5 Erlöse<br />
Die Erlöse setzen sich aus dem Verkauf von HTC-Kohle als BrennstoffanKraftwerke und<br />
Industriebetriebe, sowie aus den Einsparungen an Emissionsberechtigungen, die durch<br />
die Nutzung von HTC-Kohle als CO 2 -neutralem Brennstoff entstehen, zusammen (6).<br />
Seit 2010 werden an den Strombörsen der European Energy Exchange die Treibhausgas-<br />
Emissionsberechtigungen versteigert. Im zweiten Quartal 2010 wurden Durchschnittserlöse<br />
in Höhe von 15,02 €pro Berechtigung erzielt. Die weitere Preisentwicklung wird<br />
maßgeblich von der zukünftigen Zuteilungspraxis bestimmt werden, da diese Angebot<br />
und Nachfrage festlegt.<br />
Um die Erlösmöglichkeiten von HTC-Kohle als Brennstoff zur energetischen Nutzung<br />
zu bestimmen, muss die Nachfrageseite des Standortmodells genauer spezifiziert werden.<br />
Dazu wird ein Substitutionswert ermittelt, der in diesem Kontext als „Ersatzbrennstoffkosten“<br />
zu verstehen ist. Die „Ersatzbrennstoffkosten“ stellen den Brennstoffpreis je kWh<br />
dar, zudem ein Kraftwerk Strom zu einem vorgegebenen Preis produzieren kann. In diesem<br />
Zusammenhang werden Annahmen <strong>über</strong> Stromgestehungskosten in verschiedenen<br />
Kraftwerksarten getroffen. Die Energiegestehungskosten der Strom- und Wärmeproduktion<br />
sind abhängig von der Kraftwerksart, den Investitionskosten, den Betriebskosten,<br />
dem Wirkungsgrad und den Brennstoffkosten (14 sowie 15). In diese Rechnung nicht<br />
einbezogen sind zum einen die Umrüstkosten in den Kraftwerken und zum anderen die<br />
Einsparungen, die aufgrund der Homogenität, des staubförmigen Aggregatzustands und<br />
des höheren Heizwertes der HTC-Kohle bei der Verbrennung zu erwarten sind. Während<br />
bei Braunkohlekraftwerken mit Staubfeuerung die Mitverbrennung von HTC-Kohle voraussichtlich<br />
ohne größere Umbaumaßnahmen an Brennstoffeintragssystemen und Kesseln<br />
erfolgen kann, ist dies bei den Biomassekraftwerken im Einzelfall zuprüfen. Ggf. wäre<br />
der Einbau eines neuen Kessels erforderlich. Tabelle 4weist die so ermittelte potenzielle<br />
Zahlungsbereitschaft <strong>für</strong> Kraftwerke in Brandenburg aus. Um zu unveränderten Kosten<br />
produzieren zu können, würde beispielsweise das Kraftwerk Jänschwalde HTC-Kohle bis<br />
zu einem Preis von ca. 61 €frei Kraftwerk einsetzen. Es wird deutlich, dass der Anreiz,<br />
HTC-Kohle einzusetzen, zwischen den Kraftwerken als potenziellen Kunden stark variiert.<br />
Buel_3_11.indb 414 17.11.2011 08:13:18
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />
Kraftwerk-<br />
Standort<br />
Tabelle 4. Berechnung der Ersatzbrennstoffkosten<br />
η η<br />
elektr.<br />
Spez.<br />
Invest.<br />
Kosten<br />
Volllast fixe<br />
Betriebskosten<br />
Einspeise-<br />
Vergütung<br />
4 Ergebnisse des Standortmodells<br />
415<br />
Wie oben ausgeführt, wird das Ergebnis der Standortplanung wesentlich durch die Substratverfügbarkeit<br />
bestimmt. Um die Unsicherheit bezüglich dieser Größe berücksichtigen<br />
zu können, werden verschiedene Szenarien definiert, die sich in ihrer Substratverfügbarkeit<br />
unterscheiden:<br />
I. Szenario „Technisch nutzbares Potenzial“ (TNP): Es orientiert sich an dem im Rahmen<br />
der Arbeit ermittelten, technisch möglichen Biomasseaufkommen in Brandenburg<br />
ungeachtet konkurrierender Verwendungsmöglichkeiten.<br />
II. Szenario „Korrigiertes technisches Potenzial“ (KTNP): das wirtschaftlich erschließbare<br />
Potenzial lässt sich nicht genau bestimmen, es liegt aber deutlich unter dem technisch<br />
nutzbaren Potenzial. In diesem Szenario wird das technisch nutzbare Potenzial<br />
um 50 %reduziert, um das wirtschaftlich erschließbare Potenzial grob abschätzen zu<br />
können.<br />
III. Szenario „Trockenjahr“: Die landwirtschaftlichen Erträge in Brandenburgsind bekanntermaßen<br />
durch Trockenheit gefährdet. Das Strohaufkommen wird in dem Szenario<br />
anhand der Erträge von 2003 berechnet, in dem drastische Ertragsausfälle zu verzeichnen<br />
waren. Dieses Szenario ist in Hinblick auf eine mögliche Verschlechterung der<br />
klimatischen Voraussetzungen interessant.<br />
Anschließend wird im Rahmen von Sensitivitätsanalysen der Einfluss verschiedener Kosten<br />
und Erlöskomponenten auf die Rentabilität untersucht. Hierbei wird vor allem auf<br />
mögliche Veränderungen bei den Substratkosten und den Preisen <strong>für</strong> Emissionszertifikate<br />
eingegangen.<br />
4.1 Szenario 1: Technisch nutzbares Potenzial<br />
Grenzbrennstoffpreise<br />
je KW in h/a je KW/a in €/kWh in €/<br />
kWh<br />
HTC<br />
Grenzbrennstoffpreise<br />
in €/t TM<br />
HTC<br />
Jänschwalde - 35,5 1100 8250 44 0,045 0,0100 61,23<br />
Cottbus 81 40 1700 7000 68 0,045 0,0124 75,90<br />
Frankfurt (Oder) 81 40 1700 7000 68 0,045 0,0124 75,90<br />
Klingenberg 87 38 1 500 7000 60 0,045 0,0153 93,80<br />
Strausberg 86 34 2 000 7000 80 0,045 0,0119 72,84<br />
Heiligengrabe 83 25 2350 7000 94 0,083 0,0193 117,71<br />
Baruth 83 25 2350 7000 94 0,083 0,0193 117,71<br />
Märk. Viertel 84 25 2350 7000 94 0,083 0,0195 118,93<br />
Rechnungen mit dem Standortmodell (2.1) bis (2.13) zeigen, dass unter den gegenwärtigen<br />
Bedingungen und unter den getroffenen Annahmen mit dem Bau einer HTC-Anlage<br />
in Brandenburg kein Gewinn zu erzielen ist. Die optimale Lösung wäre also der komplette<br />
Verzicht auf den Bau solcher Anlagen. Um dennoch Erkenntnisse <strong>über</strong> den Einfluss<br />
Buel_3_11.indb 415 17.11.2011 08:13:19
416<br />
Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />
Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />
der einzelnen Parameter auf den Gewinn und die Kosten zuerhalten, wurde das Modell<br />
erweitert. Zumeinem wurdeder Baumindestenseiner Anlage alsNebenbedingungeingeführt<br />
und somit erzwungen. Zum anderen wurde eine Nachfrage von insgesamt 250 000 t<br />
HTC-Kohlepro Jahr eingeführt und auf die einzelnenKraftwerke in Brandenburgverteilt,<br />
was als eine Art „Beimischungszwang“ interpretiert werden kann. Die Nachfragemenge<br />
orientiert sich an der gesamten jährlichen Braunkohlestaubproduktion von ca. 700 000 t<br />
in Brandenburg (22) und unterstellt eine Substitutionsrate von Braunkohlenstaub durch<br />
HTC-Kohle von 35 %. In den Szenarien, die mit (d) gekennzeichnet sind, ist die Deckung<br />
dieser Nachfrage als Nebenbedingung in das Modell integriert. So konnte untersucht werden,<br />
wie sich veränderte Parameter bei mehreren Standorten auf die Wahl der Anlagengröße<br />
bzw. die Standortwahl auswirken.<br />
Der optimale Standort <strong>für</strong> eine HTC-Anlage in dem Szenario TNP ist der Standort<br />
Müncheberg (Tab. 5). Die optimale Anlagenkapazität beträgt hier 45 000 Tonnen FM<br />
Biomasse. Dies entspricht der mittlerenKapazitätsklasse; es werden 22 950 Tonnen HTC-<br />
Kohle produziert, wobei ausschließlich Stroh als Substrat verwendet wird. Als Abnehmer<br />
wird das Kraftwerk Klingenberg inBerlin gewählt, die Transportentfernung beträgt ca.<br />
50 km.<br />
Der Einsatz von Stroh als Substrat führt in Brandenburg zu Produktionskosten von<br />
165,63 €jeTonne TM HTC-Kohle. Die Gesamtkosten belaufen sich auf ca. 3,8 Mio. €,<br />
den größten Kostenblock bilden die Substratkosten mit 51 %, gefolgt von den investitionsabhängigen<br />
Fixkosten mit 23 %. Durch die niedrigeren Transportkosten von Stroh und<br />
durch das hohe Strohpotenzial des Einzugsradius liegt der Anteil der Substrattransportkosten<br />
nur bei 10 %. Der Biomasseeinzugsradius wird im Rahmen eines Vergleichs aller Szenarien<br />
in Abschnitt 4.3 analysiert. Bei einem CO 2 -Zertifikatspreis von 15 €erwirtschaftet<br />
die Anlage in Müncheberg einen Verlust von 655 164 €.<br />
Unter der Vorgabe, der Nachfrage von insgesamt 250 000 tHTC-Kohle aller potenziellen<br />
Kunden nachzukommen, werden neun Standorte in Brandenburg als optimale<br />
Lösungen identifiziert (siehe Abb. 8). Die Transportentfernungen zwischen dem Standort<br />
der Karbonisierungsanlage und den Kunden bewegen sich zwischen 105 km in Bezug<br />
auf den Transport von Dahme/Mark nach Jänschwalde und 5kminBezug auf Anlage<br />
Tabelle 5. Ergebnisse des Szenarios Brandenburg TNP<br />
TNP TNP(d)<br />
Zertifikatspreis in € 15 15<br />
Anlagenanzahl 1 9<br />
Kohlemenge in t 22950 250 000<br />
Kosten je Anlage in €<br />
Substrat 1978 650 2394 880<br />
Substrattransport 361 649 471 616<br />
Fixkosten 861 000 975 000<br />
HTC-Transport 267 375 267 957<br />
Gesamte Kosten 3801 150 4462 615<br />
HTC je Tonne 165,63 160,65<br />
Erlöse Zertifikate 1009 800 583 000<br />
Erlöse Verkauf 2136 186 2664 867<br />
Gewinn je Anlage -655 164 -1 214 749<br />
Buel_3_11.indb 416 17.11.2011 08:13:19
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />
417<br />
und Kunden in Brandenburg ander Havel. Die durchschnittliche Entfernung zwischen<br />
Standort (Anlage) und zu belieferndem Kunden beträgt im Szenario TNP 39,8 km. Die<br />
Kosten je Tonne HTC-Kohle erweisen sich im Vergleich zu denen des kostenoptimalen<br />
Standorts in Münchebergals um 5€geringer (160,65 €), alle sonstigen durchschnittlichen<br />
Kosten je Anlage sind jedoch höher.Allerdings lassen sich die durchschnittlichen Kosten<br />
nicht unmittelbar miteinander vergleichen, da unter der Vorgabe der Nachfragedeckung<br />
<strong>über</strong>wiegend Anlagen mit einer Kapazität von 60 000 tBiomasse gewählt werden, die<br />
zwar höhere Kosten verursachen, aber auch mehr HTC-Kohle produzieren können. Die<br />
Substrattransportkosten je Anlage sind bei Nachfragedeckung zwar höher, die Substrattransportkosten<br />
je Tonne Frischmasse belaufen sich hingegen nur auf 11,88 €(beim optimalen<br />
Standort in Müncheberg auf 15,75 €). Daraus lassen sich wieder Rückschlüsse<br />
auf die Gewichtung der einzelnen Kostenelemente bei der Suche nach einem optimalen<br />
Standort ziehen.<br />
4.2 Szenarien Korrigiertes TNP und Trockenjahr<br />
In dem Szenario BrandenburgKTNPwird das Substrataufkommenum50%reduziert.Im<br />
Szenario Trockenjahr wird das Strohpotenzial, ausgehend von dem korrigierten technisch<br />
nutzbaren Potenzial, mit den Stroherträgen von 2003 berechnet.<br />
Die Ergebnisse des Szenarios KTNP entsprechen weitgehend denen des Szenarios<br />
TNP.Der Standort Münchebergmit einer Kapazität von 45 000 twird wieder als optimaler<br />
Standort ermittelt, der einzige Unterschied betrifft die gestiegenen Transportkosten. Eine<br />
Reduzierung des Strohpotenzials um 50 %führt letztendlich zu einer Steigerung der Produktionskosten,<br />
inklusive Transport nach Klingenberg, um 1,72 €/t HTC-Kohle. Im Rahmen<br />
einer weiteren Reduzierung des Strohpotenzials im Szenario Trockenjahr kommt es<br />
zu wesentlichen Veränderungen gegen<strong>über</strong> den anderen Szenarien. Stroh bleibt zwar auch<br />
im Szenario Trockenjahr das einzig gewählte Einsatzsubstrat, durch die erhöhten Biomassetransportkosten<br />
erhöht sich jedoch der Verlust je produzierter Tonne HTC-Kohle.<br />
Dies führt zu einer geringen Anlagenkapazität von 32 500 tFMBiomasse und zu einer<br />
Produktion von 16 230 tTMHTC-Kohle. Die Produktionskosten steigen auf 183,38 €/t<br />
Kohle an, und es wird ein Verlust von ca. 740 000 €erwirtschaftet.<br />
Tabelle 6. Ergebnisse der Szenarien KTNP und Trockenjahr<br />
KTNP Trockenjahr<br />
Anlagenanzahl 1 1<br />
Ges. Kohlemenge in Tonnen 22 950 16 230<br />
Kosten je Anlage in €<br />
Substratkosten je Anlage 1978 650 1407 040<br />
Transportkosten Substrat 401 280 293 333<br />
HTC-Transportkosten 267 375 190 134<br />
Gesamte Kosten 3840 780 2976 332<br />
Kosten pro Tonne HTC 167,35 183,38<br />
Erlöse Zertifikate 1009 800 718 080<br />
Erlöse Verkauf 2136 186 1519 066<br />
Gewinn je Anlage -694 793 -739 186<br />
Buel_3_11.indb 417 17.11.2011 08:13:19
418<br />
Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />
Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />
4.3 Einfluss der Biomassepotenziale auf den Einzugsradius<br />
Das Biomasseaufkommen hat einen entscheidenden Einfluss auf den Einzugsradius der<br />
HTC-Anlagen und folglich auch auf die Substrattransportkosten. Die Höhedes Biomassepotenzials<br />
wirkt sich sowohl auf die Auswahl der Standorte zur Nachfragedeckung, als<br />
auch auf die, dem jeweiligen Standort zugeordnete, Anlagenkapazität aus. ImSzenario<br />
TNP und KTNPwerden am Standort Friesack 30 600 tHTC-Kohle produziert, imSzenario<br />
„Trockenjahr“ fällt der Standort Friesack hingegen aus der Auswahl heraus. Stattdessen<br />
wird eine Anlage am Standort Kyritz errichtet, im Vergleich zum Standort Friesack<br />
werden hier nun nur noch 20 910 tHTC-Kohle produziert.<br />
In Abbildung 8sind die Einzugsradien der einzelnen Standorte <strong>für</strong> die unterschiedlichen<br />
Szenarien dargestellt. Müncheberg (1) zeigt den Einzugsradius des Standortes Münchebergbei<br />
der Ermittlung eines Standorts mit minimalen Kosten. Der geringe Einzugsradius<br />
im Szenario „Trockenjahr“ ist durch die Reduktion der Anlagenkapazität zu erklären.<br />
Genauso verhält es sich hinsichtlich der Standorte Friesack/Kyritz und Lieberose, hier<br />
wurde die Anlagenkapazität jeweils um eine Klasse heruntergesetzt. Innerhalb der Anlagenkapazitätsklasse<br />
mit 60 000 tweist Münchebergmit 19,3 km, 28,3 km und 43,4 km die<br />
geringsten Einzugsradien auf. Die größten Einzugsradien betreffen den Standort Lieberose<br />
im Szenario TNP und KTNP mit 25,9 km bzw.39,7 km und den Standort Luckenwalde mit<br />
46,9 km beim Szenario „Trockenjahr“. Die Verringerung des Potenzials um 50 %führt im<br />
Durchschnitt zu einer Erhöhung des Einzugsradius von 20,9 km auf 31,3 km. Die weitere<br />
Reduzierung des Strohpotenzials, entsprechend der Erträge von 2003, bedeutet eine weitere<br />
Ausdehnung des Einzugsradius um 11 km auf 42,3 km.<br />
Abb. 8. Einzugsradien bei unterschiedlichen technisch nutzbaren Potenzialen<br />
Buel_3_11.indb 418 17.11.2011 08:13:19
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />
4.4 Bedeutung des Strohpreises<br />
419<br />
Die Berechnung des Strohpreises anhand der Bereitstellungskosten und des Düngewerts<br />
beinhaltet starke Unsicherheiten. Im Folgenden wird der Einfluss von Veränderungen des<br />
Strohpreises auf das Angebot an HTC-Kohle und den Gewinn analysiert. Der im Modell<br />
verwendete Strohpreis beläuft sich auf 43,97 €/t Frischmasse. Mit diesem Wert ist es nicht<br />
möglich, Gewinn zu erzielen. Wird dagegen der Strohpreis schrittweise auf einen Wert<br />
von 10 €/t FM gesenkt, wird die gesamte Nachfrage nach HTC-Kohle befriedigt und es<br />
können insgesamt <strong>über</strong> 6Mio. €erwirtschaftet werden (Abb. 9).<br />
Ein solcher Strohpreis ist unter normalen Bedingungen jedoch nicht realisierbar. Bei<br />
Eigenmechanisierung und voller Auslastung der Ballenpresse liegt der Preis je Tonne<br />
FM Stroh bei ca. 24 €. Unter diesen optimalen Bedingungen beliefe sich die angebotene<br />
Menge an HTC-Kohle auf ca. 120 000 Tonnen. Das würde bedeuten, dass es an vier Standorten<br />
möglich wäre, einen Gewinn zu erwirtschaften. Bei einem Strohpreis von 34 €/t<br />
FM ist es an keinem Standort mehr möglich, HTC-Kohle mit Gewinn zu produzieren. Im<br />
Rahmen der zunehmenden Nachfrage nach Biomasse zur energetischen Verwertung und<br />
in Bezug auf die Unsicherheiten, die bei der Menge an Stroh besteht, die tatsächlich von<br />
den Landwirten zum Verkauf angeboten wird, ist ein Preis, der noch <strong>über</strong> 43,97 €liegt,<br />
nicht unwahrscheinlich.<br />
Abbildung 10 zeigt die Auswirkungen eines Anstieges des Strohpreises auf den Anteil<br />
der unterschiedlichen Biomassearten an dem gesamten eingesetzten Substrat der HTC-<br />
Anlagen (Gesamtproduktion 250 000 tHTC-Kohle) im Szenario „Trockenjahr“ und stellt<br />
so dessen Einfluss auf die optimale Substratwahl dar. Bei einem Strohpreis von 43,97 €<br />
wird ausschließlich Stroh als Substrat verwendet. Bereits ab einem Strohpreis von 48 €<br />
wird Stroh jedoch durch Energieholz substituiert. Das Ausmaß der Substitution erfolgt<br />
gemäß einer Abwägung zwischen Strohpreis, dem Preis der alternativen Substrate, der<br />
räumlichenVerteilung der Substrate, sprich: den zu erwartenden Transportkosten, und der<br />
Kohleausbeute der unterschiedlichen Substrate.<br />
Im Rahmen dieser Erwägungen schneidet Stroh als einzusetzendes Substrat bei steigenden<br />
Preisen schrittweise immer ungünstiger ab. Zunächst wird Stroh nur durch Energieholz<br />
substituiert, ab einem Preis von 58 €/t Stroh wird neben Energieholz auch Holz aus<br />
KUP aus dem Nahbereich verwendet. Bei einem Preis von 66 €werden die vorhandenen<br />
Energieholzpotenziale weitestgehend genutzt, und Stroh wird vollständig durch Holz aus<br />
KUP substituiert.<br />
Abb. 9. Entwicklung des Gewinns und der angebotenen Menge inAbhängigkeit vom Strohpreis<br />
(Szenario TNP)<br />
Buel_3_11.indb 419 17.11.2011 08:13:20
420<br />
Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />
Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />
Abb. 10. Substratzusammensetzung inAbhängigkeit vom Strohpreis im Szenario „Trockenjahr“<br />
4.5 Vergleich unterschiedlicher Parameterkonstellationen<br />
Auf die Unsicherheiten bei der Festlegung der Modellparameter wurde mehrfach hingewiesen.<br />
So können zum Beispiel Entwicklungen bei der Nachfrage nach den Substraten<br />
oder Änderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen deutliche Änderungen der Erlössituation<br />
bewirken. Deshalb werden im Folgenden die Kosten der Biomassetransporte<br />
und die tatsächlichen investitionsabhängigen Kosten, die der Bau einer HTC-Anlage verursacht,<br />
sowie der Zertifikatspreis mithilfe von Sensitivitätsanalysen untersucht. Dazu<br />
werden die Parameter ineinem Intervall von +/-50 %ihres Ausgangswertes variiert.<br />
DieinAbbildung 11 dargestellten Ergebnisse veranschaulichennoch einmal die Bedeutung<br />
der Substratpreise <strong>für</strong> den Gewinn. Eine Erhöhung der Strohpreise um 20 %führt<br />
zu einer Reduktion des Gewinns um <strong>über</strong> 50 %, eine Erhöhung der Investitionskosten um<br />
20 %hat eine Verringerung des Gewinns um 19 %zur Folge. Ebenfalls sensitiv verhält<br />
sich die Rentabilität bezüglich des Zertifikatpreises <strong>für</strong> Emissionsrechte. Eine Erhöhung<br />
der Biomassetransportkosten hat dagegen einen vergleichsweise geringen Einfluss auf<br />
Abb. 11. Sensitivitätsanalyse <strong>für</strong> das Szenario TNP<br />
Buel_3_11.indb 420 17.11.2011 08:13:20
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />
421<br />
den Gewinn. Dabei ist zu beachten, dass hier nur die Kosten je Tonne FM und Kilometer<br />
variiert werden. Wie bereits aufgezeigt, hat eine Erhöhung des Einzugsradius und damit<br />
der absoluten Biomassetransportkosten einen großen Einfluss auf den Gewinn.<br />
5 Fazit<br />
Im Rahmen der Standortplanung wurden mögliche Standorte zur Errichtung einer Anlage<br />
zur Hydrothermalen Karbonisierung im industriellen Maßstab in Brandenburg untersucht.<br />
Ausgehend von einem mehrstufigen Warehouse Location Problem wurde ein Lösungsansatz<br />
entwickelt, der es ermöglichte, die speziellen Produktionsbedingungen von HTC-<br />
Kohle in ein zweistufiges gemischt binäres LP zu integrieren. Um ein möglichst realitätsnahes<br />
Modell zu erhalten, wurde zunächst die Ausprägung verschiedener Standortfaktoren<br />
in Brandenburg untersucht und bei der Ermittlung der Eingangsdaten des Modells<br />
berücksichtigt. Bei der Bestimmung der Eingangsdaten wurde den einzelnen Gemeinden<br />
Brandenburgs ein spezifisches technisches Potenzial der untersuchten Biomassearten<br />
zugeordnet. Ferner wurden die Transportkosten der zwei Distributionsstufen bestimmt<br />
und die Kosten der Einrichtung und des Betriebs einer HTC-Anlage geschätzt. Um die<br />
Absatzseite des Standorts zu berücksichtigen, wurden potenzielle Kunden identifiziert und<br />
kundenspezifische Abnahmepreise definiert.<br />
Die Modellrechnungen zeigen, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen und <strong>für</strong><br />
die untersuchten Biomassearten mit dem Bau einer HTC-Anlage in Brandenburg kein<br />
Gewinn zu erzielen ist. Um gewinnbringend produzieren zu können, ist die Einstufung der<br />
HTC-Kohle als CO 2 -neutraler Brennstoff von elementarer Bedeutung. Sowohl bei Stroh<br />
und stärker noch bei Holzhackschnitzeln als Substrat lässt sich HTC-Kohle erst durch die<br />
Miteinbeziehung der vermiedenen Kosten <strong>für</strong> Emissionsberechtigungen gewinnbringend<br />
vermarkten. Um die energetische Nutzung von Kohle aus der Hydrothermalen Karbonisierung<br />
rentabel zu machen, wären gegenwärtig Preise <strong>für</strong> Emissionsberechtigungen von<br />
<strong>über</strong> 30 €bei Stroh und <strong>über</strong> 50 €bei Hackschnitzel notwendig. Unter der Bedingung mindestens<br />
eine Anlage zu errichten, erwiesen sich aus betriebswirtschaftlicher Sicht große<br />
Anlagen mit einem verhältnismäßig großen Biomasseeinzugsradius als optimale Lösung.<br />
Einbrüche bei der verfügbaren Strohmenge, wie sie wetterbedingt immer wieder zu erwarten<br />
sind, konnten durch eine Vergrößerung des Einzugsradius wettgemacht werden, ohne<br />
dass es zu einer starken Erhöhung der Produktionskosten kam. Die klimarelevanten CO 2 -<br />
Emissionen stiegen hingegen bei einer Vergrößerung des Einzugsradius naturgemäß an<br />
und verringerten somit das CO 2 -Einsparpotenzial.<br />
Bei der Wahl eines optimalen Standortes erwies sich die räumliche Nähe zu den<br />
potenziellen Kunden als dominierendes Auswahlkriterium. Das an den verschiedenen<br />
Standorten vorhandene Biomassepotenzial war bei der Standortwahl einer HTC-Anlage<br />
in Brandenburg hingegen zweitrangig. Dies ist auf das hohe technische Biomassepotenzial<br />
von Stroh und Hackschnitzeln aus Waldrestholz bzw. Kurzumtriebsplantagen in ganz<br />
Brandenburg zurückzuführen. Die zum Betrieb einer Anlage benötigten Substratmengen<br />
ließen sich infolgedessen in fast jedem der in Betracht gezogenen Standorte bei verhältnismäßig<br />
konstanten Gesamtkosten beschaffen. Diese Biomassearten bilden eine solide<br />
Basis <strong>für</strong> den Betrieb einer HTC-Anlage in Brandenburg, ihre hohen Kosten wirken sich<br />
aber negativ auf die Wirtschaftlichkeit der HTC-Anlage aus. Aufgrund des großen Einflusses<br />
der Substratkosten auf die Produktionskosten wäre es <strong>für</strong> ein Unternehmen wichtig,<br />
Potenziale anderer Biomassearten, die nicht flächendeckend, sondern nur punktuell vorhanden<br />
und kostengünstig zu beschaffen sind, in die Standortwahl mit einzubeziehen und<br />
sich dadurch einen Standortvorteil zu verschaffen. Bei den hier betrachteten Biomassen,<br />
insbesondere Holz, wäre im Übrigen zu prüfen, ob nicht die Herstellung von Holzpellets<br />
eine kostengünstigere Alternative zur HTC wäre.<br />
Buel_3_11.indb 421 17.11.2011 08:13:20
422<br />
Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />
Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />
Zusammenfassung<br />
Der Beitrag untersucht die Rentabilität der HydrothermalenKarbonisierung (HTC) als ein Verfahren<br />
zur Aufbereitung und Veredelung von Biomasse. Die Analyse erfolgt aus einer ex-ante-Perspektive<br />
beispielhaft <strong>für</strong> das Bundesland Brandenburg. Um der besonderen Bedeutung der Transportkosten<br />
<strong>für</strong> die Rentabilität gerecht zu werden, wird ein zweistufiges Standortmodell entwickelt. Das Modell<br />
ermöglicht es, die zu erwartenden Transportflüsse an Biomasse und HTC-Kohle zu quantifizieren<br />
und die damit verbundenen Kosten zu minimieren. Dadurch können optimale Biomasseeinzugsradien<br />
und die eingesetzten Substrate <strong>für</strong> verschiedene Standorte bestimmt werden. Dar<strong>über</strong> hinaus<br />
ermittelt das Modell die zu erwartenden Gesamtkosten einer HTC-Anlage. Es werden verschiedene<br />
Szenarien bezüglich der Verfügbarkeit von Biomasse untersucht und die Auswirkungen maßgeblicher<br />
Parameter auf Kosten und Rentabilität analysiert. Es zeigt sich, dass <strong>für</strong> die untersuchte Region Brandenburg<br />
der Bau von HTC-Anlagen unter den gegenwärtigen Preisen und Kosten nicht rentabel ist.<br />
Die Gewinnschwelle könnte allerdings bei steigenden Preisen <strong>für</strong> CO 2 -Zertifikate erreicht werden.<br />
Summary<br />
The impact of transportation costs on the profitability of industrial hydrothermal carbonisation<br />
This article is about the profitability ofhydrothermal carbonization (HTC), aprocess for converting<br />
biomass into biocoalonanindustrial scale.The analysis is based on an ex-anteevaluation of production<br />
costs and an estimation of the biomass potential of straw,wood chips from short-rotation forestry<br />
and wood chips from forest residues in the German federal state of Brandenburg. Amulti-stage<br />
location model is developed in order to investigate the influences of the transportation costs on the<br />
profitability of a hydrothermalcarbonization plant. The location model makes it possible to quantify<br />
expected transportation flows and to minimize the overall costs. The model determines the intake<br />
radius of biomass for different locations as well as the amount of HTC coal that can be produced<br />
from different feedstock. Furthermore, costs and possible revenues of an HTC plant are calculated.<br />
Uncertainties regarding the available quantity of biomass are considered by investigating different<br />
scenarios.The main finding of the study is that under present conditions the production of HTC coal<br />
from straw and wood is not profitable in Brandenburg. However, inthe event of aprice rise of CO 2<br />
emission certificates the break-even point could be reached.<br />
Résumé<br />
La rentabilité de la carbonisation hydrothermale en tenant compte des coûts de transport<br />
L’étude évalue la rentabilité de la carbonisation hydrothermale (CHT) comme procédé de traitement<br />
et d’affinage de la biomasse. L’analyse aété effectuée dans une perspective ex ante en s’appuyant<br />
sur l’exemple du Land de Brandebourg. Comme la question des coûts de transport représente un<br />
critère essentiel pour le calcul de la rentabilité, un modèle de localisation àdeux étapes est appliqué.<br />
Ce modèle permet de quantifier les flux de transport prévus pour la biomasse et le charbon CHT<br />
et de réduire les coûts liés au transport. Ainsi, il est possible de calculer les rayons géographiques<br />
optimaux d’approvisionnement en biomasse et de préciser, quels sont les substrats àutiliser aux<br />
différents lieus d’implantation. De plus, ce modèle calcule les coûts totaux attendus pour une installation<br />
CHT. Différents scénarios concernant la disponibilité de biomasse sont analysés, et l’impact<br />
d’importants paramètres sur les coûts et la rentabilité est évalué. L’étude démontre qu’une installation<br />
CHT dans la région en question du Brandebourgn’est pas rentable sous les conditions de prix et<br />
de coûts actuelles. Pourtant, le seuil de rentabilité pourrait être atteint si les prix pour les certificats<br />
d’émissions de CO 2 augmentent.<br />
Literatur<br />
1. arlt, a., 2003: Systemanalytischer Vergleich zur Herstellung von Ersatzbrennstoffen aus biogenen<br />
Abfällen. Forschungszentrum Karlsruhe. Karlsruhe.<br />
2. bergius, f., 1913: Die Anwendung hoher Drucke bei chemischen Vorgängen und eine Nachbildung<br />
des Entstehungsprozesses der Steinkohle. Knapp. Halle (Saale).<br />
3. busCh, s., 2004: Mobilisierbares Waldholz zur energetischen Nutzung am Standort Baruth. Schutzgemeinschaft<br />
Deutscher Wald e.V. Bonn.<br />
4. DOmsChKe, W.; Drexl,a., 1990a: Logistik: Bd. 1: Transport. Oldenburg. München.<br />
5. –; –, 1990b: Logistik: Bd. 3: Standorte. Oldenburg. München.<br />
Buel_3_11.indb 422 17.11.2011 08:13:20
Rentabilität der Hydrothermalen Karbonisierung unter Berücksichtigung von Transportkosten<br />
423<br />
6. eDenhOfer, O.; KnOpf, b.; leimbaCh, m.; bauer, n.(Eds), 2010: The Energy Journal, Volume 31<br />
(Special Issue 1). The Economics of Low Stabilization, IAEE.<br />
7. eriKssOn, h., 1984: Yield of Aspen and poplars in Sweden. Ecology and Management of Forest Biomass<br />
Production Systems. In: perttu, K.(Hrsg.): Ecology and management of forest biomass production<br />
systems. Swedish University of Agricultural resources, Report 15, S. 393–419.<br />
8. erlaCh, b.; tsatsarOnis, g., 2010: Upgrading of Biomass by Hydrothermal Carbonisation: Analysis<br />
of an Industrial-scale Plant Design. ECOS 2010. Lausanne.<br />
9. –; Wirth, b.; tsatsarOnis, g., 2011: Co-production of electricity, heat and biocoal pellets from biomass:<br />
atechno-economic comparison with wood pelletizing. Proceedings of World Renewable Energy<br />
Congress 2011, 8-11 May in Linköping, Sweden.<br />
10. FNR Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe e.V. (Hrsg.), 2005: Leitfaden Bioenergie, Planung, Betrieb<br />
und Wirtschaftlichkeit von Bioenergieanlagen. Gülzow.<br />
11. –, 2008: Gülzower Fachgespräche. Bd. 33: Hydrothermale Carbonisierung. Gülzow.<br />
12. KaltsChmitt,m.(Hrsg.), 2009: Energie aus Biomasse. Grundlagen, Techniken und Verfahren. 2. Aufl.<br />
Springer. Berlin.<br />
13. KerDOnCuff, p., 2008: Modellierung und Bewertung von Prozessketten zur Herstellung von Biokraftstoffen<br />
der zweiten Generation. Universitätsverlag Karlsruhe. Karlsruhe.<br />
14. KOnstantin,p., 2009: Praxisbuch Energiewirtschaft. Energieumwandlung, -transport und -beschaffung<br />
im liberalisierten Markt, 2. Aufl. Springer. Berlin.<br />
15. Kranzl, l.; haas, r., 2009: Strategien zur optimalen Erschließung der Biomassepotenziale inÖsterreich<br />
bis zum Jahr 2050 mit dem Ziel einer maximalen Reduktion an Treibhausgasemissionen. In:<br />
<strong>Berichte</strong> aus Energie- und Umweltforschung 44/2009. <strong>Bundesministerium</strong> <strong>für</strong> Verkehr,Innovation und<br />
Technologie. Wien.<br />
16. leible, l.; arlt,a.; <strong>für</strong>niss, b.; Kälber, s.; Kappler, g.; lange, s.; nieKe, e.; rösCh, Ch.; Wintzer,<br />
D., 2003: Energie aus biogenen Rest- und Abfallstoffen. Bereitstellung und energetische Nutzung organischer<br />
Rest- und Abfallstoffe sowie Nebenprodukte als Einkommensalternative <strong>für</strong> die Land- und<br />
Forstwirtschaft -Möglichkeiten, Chancenund Ziele. Forschungszentrum KarlsruheGmbH. Karlsruhe.<br />
17. muraCh, D.; Knur, l.; sChultze, m.(Hrsg.), 2008: DENDROM -Zukunftsrohstoff Dendromasse<br />
-Systemische Analyse, Leitbilder und Szenarien <strong>für</strong> die nachhaltige energetische und stoffliche Verwertung<br />
von Dendromasse aus Wald- und Agrarholz (Abschlussbericht). Kessel. Eberswalde, Berlin,<br />
Cottbus.<br />
18. rentz, O., 1979: Techno-Ökonomie betrieblicher Emissionsminderungsmaßnahmen. Erich Schmidt.<br />
Berlin.<br />
19. sinnOt, r.; tOWler, g., 2007: Chemical Engineering Design. Principles, Practise and Economics of<br />
Plant and Process Design. Butterworth-Heinemann. Oxford.<br />
20. stemann,J.; ziegler,f., 2011: Assessment of the energetic efficiency of acontinuously operating plant<br />
for hydrothermal carbonisation of biomass. Proceedings of World Renewable Energy Congress; 2011<br />
May 08–13; Linköping, Sweden.<br />
21. titiriCi,m.; thOmas,a.; antOnietti,m., 2007:Back in the black: hydrothermal carbonization of plant<br />
material as an efficient chemical process to treat the CO 2 problem? In: New Journal of Chemistry 31,<br />
S. 787–789.<br />
22. tuDeshKi,h.; KönneCKe,m.; rebehn,t., 2007: Studie zur Fortschreibung der Tagebauentwicklung im<br />
Lausitzer Braunkohlenrevier (Teil Brandenburg). Lehrstuhl <strong>für</strong> Tagebau und internationaler Bergbau,<br />
TU Clausthal im Auftrag des Ministeriums <strong>für</strong> Wirtschaft des Landes Brandenburg; unter<br />
http://www.lbgr.brandenburg.de/sixcms/media.php/4055/Endbericht_BraunkohlenstudieStand08.pdf.<br />
23. uCKert, g.; siebert, r.; speCht, K., 2009: Zustandsbericht zur aktuellen Umsetzung von Bioenergie<br />
auf landwirtschaftlichen Betrieben: Befragung Brandenburger Landwirte. Leibniz-Zentrum <strong>für</strong> Agrarlandschaftsforschung.<br />
Müncheberg.<br />
24. WittKOpf, s.; hömer, u.; feller, s., 2003: Bereitstellungsverfahren <strong>für</strong> Waldhackschnitzel-Leistungen,<br />
Kosten, Rahmenbedingungen. Bayerische Landesanstalt <strong>für</strong> Wald und Forstwirtschaft. Freising.<br />
Buel_3_11.indb 423 17.11.2011 08:13:20
424<br />
Gerd Eberhardt, Martin Odening, Hermann Lotze-Campen, Berit Erlach,<br />
Susanne Rolinski, Pia Rothe und Benjamin Wirth<br />
Autorenanschrift: MSc. gerD eberharDt, Leibniz-Institut <strong>für</strong> Agrartechnik Potsdam-Bornim<br />
e.V., Max-Eyth-Allee 100, Gebäude B, 14469 Potsdam, Deutschland<br />
geberhardt@atb-potsdam.de<br />
Prof. Dr. martin ODening, Humboldt Universität zu Berlin, Dep. <strong>für</strong> Agrarökonomie,<br />
FGAllgemeine Betriebslehre des Landbaus, Philippstr. 13, Haus 12a,<br />
10115 Berlin, Deutschland<br />
m.odening@agrar.hu-berlin.de<br />
Dr. hermann lOtze-Campen, Dr. susanne rOlinsKi, pia rOthe, Potsdam-Institut<br />
<strong>für</strong> Klimafolgenforschung (PIK), Telegrafenberg, GebäudeA51, Postfach 60 12 03,<br />
14412 Potsdam, Deutschland<br />
lotze-campen@pik-potsdam.de; rolinski@pik-potsdam.de; PiaRothe@gmx.de<br />
Dipl.-Ing. berit erlaCh, BSc. benJamin Wirth, Technische Universität Berlin,<br />
Institut <strong>für</strong> Energietechnik, Marchstr. 18, Gebäude KT1, 10587 Berlin, Deutschland<br />
erlach@iet.tu-berlin.de; wirthbenjamin@gmx.de<br />
Buel_3_11.indb 424 17.11.2011 08:13:20
Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong><br />
Mähdrescher in Deutschland<br />
Von CleMens FuChs, jOAChiM KAsten, ChristOpher ströBele<br />
und MAthiAs urBAneK, Neubrandenburg<br />
1 Einleitung<br />
U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0425 $2.50/0<br />
425<br />
Die technische Entwicklung der Mähdrescher ist enorm. Immer größere Schnittbreiten,<br />
höhere Leistung und bessere Elektronik imCockpit führen dazu, dass die Effektivität der<br />
einzelnenMaschine steigtund in der Folge immerwenigerMähdrescher benötigt werden.<br />
Dieser Artikel geht zunächst kurz auf die technische Entwicklung und die Bestandsentwicklung<br />
an Mähdreschern ein und prognostiziert anschließend die Absatzzahlen von<br />
Mähdreschern <strong>für</strong> die Region Deutschland.<br />
2 Technische Entwicklung und Hersteller<br />
Mit der Erfindung des stationären Dreschwerkes durch den Schotten anDreW meiKle im<br />
Jahre 1785 haben sich in der Druschfruchternte revolutionäre technische Fortschrittevollzogen.<br />
Die USA und die Staaten Westeuropas sind im 21. Jahrhundert die Vorreiter der<br />
selbstfahrenden Mähdruschtechnik mit stets höheren Ansprüchen an Schlagkraft, Durchsatz<br />
und präziser Strohausbringung im Schwad oder als Häckselgut. Selbstfahrende und<br />
stationäre Mähdruschtechnik wurden im Jahre 2007 weltweit <strong>für</strong> die Ernte von ca. 695<br />
Mio. ha Getreide- und 153 Mio. ha Ölsaatenanbaufläche eingesetzt. An den weltweiten<br />
Ackerflächen nehmen die Druschfrüchte etwa zwei Drittel der angebauten Kulturen ein.<br />
Weltweit resultiert aus diesen Anbauverhältnissen im Jahre 2007 eine Erntemenge von<br />
2,35 Mrd. tGetreide und 150 Mio. tÖlsaaten, welche die wichtigste <strong>Ernährung</strong>sgrundlage<br />
<strong>für</strong> eine stetig wachsende Weltbevölkerung von derzeit 6,8 Mrd. Menschen bildet (2).<br />
Die technische Entwicklung der jeweils höchsten Leistungsklasse ist in den letzten 25<br />
Jahren bei den Mähdreschern stetig angestiegen (Tab. 1). Die Parameter Schneidwerksbreite<br />
und Korntankinhalt haben sich innerhalb von 25 Jahren in der obersten Mähdrescherleistungsklasse<br />
fast verdoppelt sowie die Motorleistung annähernd verdreifacht.<br />
Zusätzlich wird das hohe Leistungspotenzial durch elektronische Steuerung in entscheidenden<br />
Funktionen im Arbeitsablauf ergänzt. Der rasante technische Fortschritt in der<br />
Mähdruschtechnik ist stark mit den weltweit und europäisch führenden Mähdrescherherstellern<br />
John Deere, CNH, AGCO und Claas verbunden. Mähdrescher der höchsten<br />
Leistungsklasse nutzen Schneidwerke mit einer Arbeitsbreite bis zu 12 m, verfügen <strong>über</strong><br />
eine Motorleistung bis zu 434 kW und besitzen einen Korntankinhalt bis zu 12 500 l<strong>für</strong><br />
Körnerfrüchte.<br />
Die zunehmende elektronische Ausstattung der Mähdrescher bei den führenden Herstellern<br />
verfolgt die Ziele: Fahrererleichterung, Präzision, größtmögliche Mähdruschausschöpfung<br />
und Dokumentation zahlreicherLeistungsdaten. Die Großmaschinen, unabhängig<br />
ob Mähdrescher oder selbstfahrende Landmaschine, werden immer mit der neuesten<br />
Technologie bestückt, weil Zusatzkosten im Verhältnis zum hohen Stückpreis weniger<br />
Buel_3_11.indb 425 17.11.2011 08:13:21
426 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />
Tabelle 1. Technische Entwicklung der Mähdrescher-Spitzenklasse<br />
von 1985 bis 2010<br />
Kennzahl Jahre<br />
Motorleistung (KW) 147<br />
(200 PS)<br />
Korntank-Kapazität<br />
(l)<br />
Schneidwerksbreite<br />
(m)<br />
Quelle: (13)<br />
1985 1989 1995 1999 2004 2005 2010<br />
206<br />
(280 PS)<br />
243<br />
(330 PS)<br />
265<br />
(360 PS)<br />
ins Gewicht fallen. Nach einer erfolgreichen Bewährung werden die neuen integrierten<br />
elektronischen Lösungen auch im mittleren Marktsegment eingebaut.<br />
Auf dem westeuropäischen Markt wurden in der Saison 2010 neun Mähdreschermarken<br />
von internationalen Herstellergruppen angeboten: New Holland und Case ICH (CHN),<br />
John Deere (John Deere), MF, Fendt und Gleaner (AGCO), Claas (Claas), Sampo und<br />
Sampo (SDF) sowie Laverda (ARGO). Technisch lassen sich die Mähdrescher wie folgt<br />
einteilen: Die konventionellen Mähdrescher mit Tangentialdreschwerk und Hordenschüttler<br />
(Vier-, Fünf-, Sechs- und Acht-Schüttlervarianten) sind ausgerüstet mit 85 bis 335 kW<br />
(115–455 PS). Tangentialmähdrescher mit einem oder zwei Abscheiderotoren verfügen<br />
<strong>über</strong> Motorleistungen von 268 bis 431 kW (365–586 PS). In der Leistungsklasse der<br />
Axialmähdrescher reicht das Leistungsspektrum im Motorenbereich von 205 bis 435 kW<br />
(279–591 PS). Schneidwerksbreiten sind von den Mähdrescherherstellern mit Arbeitsbreiten<br />
von 3,1 bis 12,0 mverfügbar. Der österreichische Anbieter von Schneidwerken BISO<br />
bietet dar<strong>über</strong> hinaus ein Schneidwerk mit einer Arbeitsbreite bis zu 15 mauf modularer<br />
Aluminiumbauweise an. Somit stehen aus westeuropäischer Produktion mit internationalen<br />
Verflechtungen <strong>über</strong> 40 Mähdrescherbaureihen, 80 bis 100 Mähdreschermodelle und<br />
zahlreiche zusätzliche Ausrüstungsvarianten <strong>für</strong> den Markt Westeuropa zur Verfügung 1) .<br />
3 Mähdrescherbestand und Absatz weltweit<br />
3.1 Mähdrescherbstand<br />
316<br />
(430 PS)<br />
390<br />
(530 PS)<br />
434<br />
(590 PS)<br />
6300 9100 9500 9700 11 500 12 000 12 500<br />
6,1 7,3 7,4 9,2 9,2 9,2 12,0<br />
Die EU-27 verfügte im Jahr 2007 mit knapp 700 000 Maschinen im Vergleich zu anderen<br />
globalen Anbauregionen <strong>über</strong> den zweitgrößten Mähdrescherbestand inder Welt. Die<br />
meisten Mähdrescher, einschließlich Dreschmaschinen, sind mit ca. 2,8 Mio. Einheiten<br />
auf dem asiatischen Kontinent zu finden.<br />
In den Mitgliedsstaaten der EU-27 zählte der Mähdrescherbestand imJahre 2006<br />
knapp 715 000 Maschinen bei einer Druschfläche von annähernd 70 Mio. ha Getreide<br />
und Ölsaaten. Das entspricht im Durchschnitt der EU-27 einer Druschfläche von 98 ha<br />
pro Mähdrescher, welche jedoch innerhalb der Mitgliedsländer aufgrund unterschiedlicher<br />
Agrarstrukturen und Mähdrescherbestände schwankt. Den größten Mähdrescherbestand<br />
innerhalb der EU-27 mit 124 000 Maschinen hat Polen gefolgt von Deutschland mit<br />
88 500 und Frankreich mit 78 000 Maschinen. Fast zwei Drittel der 27 Mitgliedsstaaten<br />
besitzt einen Mähdrescherbestand von unter 20 000 Einheiten. Einzig Malta, die Mittelmeerinsel<br />
mit subtropischem Klima, verfügt <strong>über</strong> keine Mähdrescher. Auf der landwirt-<br />
Buel_3_11.indb 426 17.11.2011 08:13:21
Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong>Mähdrescher in Deutschland<br />
schaftlich genutzten Fläche Maltas von ca. 10000 ha werden <strong>über</strong>wiegend Baumobst und<br />
Zitrusfrüchte angebaut (18).<br />
3.2 Mähdrescherabsatz<br />
427<br />
Die technischen Fortschritte mit neuen Leistungsmerkmalen sowie der Strukturwandel<br />
in der <strong>Landwirtschaft</strong> haben dazu geführt, dass sich der Mähdrescherabsatz in Westeuropa<br />
innerhalb von 40 Jahren von ehemals ca. 48 000 auf 7000 Einheiten im Jahr eingependelt<br />
hat. Die durchschnittlich 7000 Einheiten im Jahr auf dem westeuropäischen Markt<br />
bedeuten im Vergleich zum weltweiten Absatzmarkt <strong>für</strong> selbstfahrende Mähdrescher einen<br />
Anteil von 20 %imJahr 2004 (Abb. 1). 2004 lag der Weltmarkt bei etwas mehr als 35 000<br />
Einheiten unter Berücksichtigung der Produktion in Osteuropa. Mit 7800 Mähdreschern,<br />
davon 5000 aus osteuropäischer und 2800 aus westeuropäischer Produktion, ist der Markt<br />
in Osteuropa gegen<strong>über</strong> Westeuropa um 800 Einheiten größer. Inder Summe der zwei<br />
getrennt aufgeführten Märkte ist Europa mit 14 620 Einheiten vor Südamerika mit 10 300<br />
(Anteil29%)und Nordamerika mit 8000 Einheiten (Anteil23%)der größte Absatzmarkt<br />
(11).<br />
Auf dem westeuropäischen Markt sind die abgesetzten Mähdrescherstückzahlen mit<br />
ca. 7000 Einheiten pro Jahr seit zehn Jahren, mit geringen jährlichen Schwankungen, verhältnismäßig<br />
konstant. Vondiesen Einheiten decken die Vier-Schüttler-Mähdrescher bis<br />
zu den mittleren Fünf- und Sechs-Schüttler-Mähdreschern den Markt mit ca. 43 %ab. In<br />
der oberen Leistungsklasse der konventionellen Mähdrescher ist eine Marktdurchdringung<br />
der Sechs- oder Acht-Schüttler-Mähdrescher mit ca. 37 %kennzeichnend. Der restliche<br />
Marktanteil von 20 %wird von den Hybrid- und Axialmähdreschern abgedeckt –mit steigender<br />
Tendenz (11). Die verkaufte Stückzahl mit annähernd 6800 Einheiten im Jahr 2007<br />
entsprach fast der von 2005; Unterschiede gab es lediglich in der immer wieder anderen<br />
Verteilung der Anzahl unter den einzelnen Ländern (12). Mit insgesamt fast 4000 Einheiten,<br />
entspricht 58,6 %des Mähdrescherabsatzes in Westeuropa, verfügen Deutschland<br />
und Frankreich <strong>über</strong> den größten Markt in diesem Segment. Der hohe Mähdrescherabsatz<br />
in diesen beiden Ländern lässt sich mit dem starkenAnbau von Körnerfrüchten erklären;<br />
beide Ländergehörenzuden stärksten Getreideerzeugern der EU-27 neben Polen, Spanien<br />
und Rumänien (16).<br />
Gegen<strong>über</strong> den stabilen bis tendenziellleicht abnehmenden Stückzahlen in Westeuropa<br />
nimmt das geldwerte Umsatzvolumen aufgrund steigender Motorleistung und hochgerüsteten<br />
elektronischen Leistungsmerkmalen <strong>über</strong>proportional zu.<br />
Weitere gute Zukunftsaussichten <strong>für</strong> einen zunehmenden Absatz von Mähdreschern<br />
haben die Märkte Osteuropas, insbesondere die GUS-Staaten. Mit dem Zusammenbruch<br />
der Sowjetunion gerieten die großen Mähdrescherhersteller dort an den Rand des Bankrotts.<br />
Vorder politischen Wende wurden im Ostblock jährlich 35 000 Einheiten produziert.<br />
Im Jahr 1998 war mit knapp <strong>über</strong> 1000 produzierten Einheiten der Tiefpunkt in Russland<br />
erreicht. Daneben ist der Mähdrescherbestand von 200 000 Einheiten stark <strong>über</strong>altert.<br />
Hinzu kommt, dass 50 %der Mähdrescher wegen technischer Defekte nicht einsatzfähig<br />
sind. Weiterhin wirkt sich in diesem Zusammenhang aus, dass Russland und die Ukraine<br />
ihre Getreideerzeugung stark erweitern wollen. Allein Russland plant, bis 2015 die<br />
Produktion von Getreide auf 120 Mio. taufzustocken. Gegen<strong>über</strong> 2004 mit 78 Mio. t<br />
erzeugtem Getreide bedeutet das eine Steigerung von 65 %ineinem Zeitraum von 10<br />
Jahren (11). Dies bedeutet einen erheblichen Investitionsstau und Nachholbedarf anMähdreschern.<br />
Erschwert wird dies durch die stockende eigene Produktion sowie durch die<br />
Verteuerung der Importe, nachdem im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2009 die Importzölle<br />
<strong>für</strong> Landmaschinen auf ca. 15 %angehoben wurden.<br />
Buel_3_11.indb 427 17.11.2011 08:13:21
428 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />
Abb. 1. Mähdrescher Weltmarkt 2004<br />
Quelle: Neue <strong>Landwirtschaft</strong>. (verändert nach 11)<br />
Der asiatische Markt mit den bedeutenden Getreideerzeugern China und Indien, welche<br />
im Jahr 2008 zusammen 740 Mio. t Getreide produzierten, ist weniger aussichtsreich<br />
<strong>für</strong> einen verstärkten Mähdrescherabsatz aus westlicher Produktion. Dennoch haben beispielsweise<br />
John Deere im chinesischen Jiamusi und Claas im indischen Faridabad und<br />
Chandigarh Produktionsstätten <strong>für</strong> Mähdrescher, um am Umsatzpotenzial des südostasiatischen<br />
Marktes teilzuhaben und als strategischer „Global Player“ Präsenz zu zeigen<br />
(10). Neben den führenden internationalen Herstellern produzieren in Indien 48 heimische<br />
Unternehmen (beispielsweise Preet Agro Industries Private Limited) Mähdrescher (15).<br />
Mit einem Bestand von 477 000 Mähdreschern und Dreschmaschinen ist der indische<br />
Markt nach dem chinesischen (632 400 Einheiten) und japanischen Markt (957 000 Einheiten)<br />
der bedeutendste in Asien (4).<br />
4 Entwicklung des Inlandsabsatzes und des Bestandes von<br />
Mähdreschern in Deutschland<br />
4.1 Produktion und Inlandsabsatz<br />
Die Produktion von Landtechnik in Deutschland deckt eine Vielzahl von Landmaschinen<br />
und -geräten <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> ab. Mit einem Produktionszuwachs von 53 % verzeichneten<br />
die gefertigten Mähdreschereinheiten den höchsten Anstieg im Zeitraum 2006<br />
bis 2008 gefolgt von den Pflanzenschutzgeräten (48 %) und Sämaschinen (40 %) (21).<br />
Die 10 692 gefertigten Mähdreschereinheiten in 2008 stammen zum <strong>über</strong>wiegenden Teil<br />
aus den Produktionsstandorten von Claas in Harsewinkel und John Deere in Zweibrücken.<br />
Im Bereich der Mähdrescher- und Feldhäckslerproduktion spiegelt sich die Ausrichtung<br />
der deutschen Landtechnikindustrie auf den Export besonders stark wider. Beispielsweise<br />
Buel_3_11.indb 428 17.11.2011 08:13:21
Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong> Mähdrescher in Deutschland<br />
Abb. 2. Inlandsabsatz von Mähdreschern (1990–2008)<br />
Quelle: (19)<br />
429<br />
entfielen von den 6994 gefertigten Mähdreschereinheiten in 2007 <strong>über</strong> 80 % auf den<br />
Export (4).<br />
Die Inlandsabsätze haben sich seit 1998 von 2 678 auf 1 279 Einheiten in 2008 mehr als<br />
halbiert. Im Zeitraum 2000 bis 2008 ist ein abnehmender Trend zu erkennen. Im Durchschnitt<br />
belief sich der Inlandsabsatz in den Jahren 1990 bis 2008 auf 1 864 abgesetzten<br />
Einheiten (Abb. 2) (19). Das Marktvolumen im Segment Erntemaschinen und -geräte im<br />
Jahr 2008 belief sich auf 715 Mio. Euro. Nach den Traktoren mit einem Umsatzvolumen<br />
von 1,6 Mrd. Euro sind die Erntemaschinen und -geräte in Deutschland der zweitstärkste<br />
Absatzmarkt <strong>für</strong> die Landtechnikindustrie. In der Summe decken die Bereiche Traktoren<br />
und Erntemaschinen im Jahr 2008 ca. 50 % des Marktvolumens ab.<br />
Der Absatz von Mähdrescherklassen verteilt sich tendenziell wie im übrigen Westeuropa,<br />
wo die Vier-Schüttler-Mähdrescher bis zu den mittleren Fünf- und Sechs-Schüttler-<br />
Mähdreschern den Markt mit ca. 43 % abdecken. In der oberen Leistungsklasse der konventionellen<br />
Mähdrescher ist eine Marktdurchdringung mit ca. 37 % kennzeichnend. Der<br />
restliche Marktanteil von 20 % wird von den Hybrid- und Axialmähdreschern abgedeckt<br />
(11).<br />
4.2 Bestandsentwicklung der Mähdrescher<br />
Die Mähdrescherbestände stiegen ab Mitte der 1950er-Jahre, mit den ersten selbstfahrenden<br />
Mähdreschern und den stark verbreiteten gezogenen Dreschwerken, bis zum Jahr<br />
1975 auf <strong>über</strong> 189 0 00 Einheiten an. Der Anteil der selbstfahrenden Mähdrescher war<br />
im Jahr 1976 gegen<strong>über</strong> den gezogenen Mähdreschern fünfmal größer. In den folgenden<br />
Jahren ist der Anteil der gezogenen Mähdrescher stark zurückgegangen. Mit den weiteren<br />
technischen Entwicklungen, verbunden mit Leistungssteigerungen und dem Strukturwandel<br />
in der <strong>Landwirtschaft</strong> mit gestiegenen Betriebsgrößen verringerte sich der Mähdrescherbestand<br />
in den darauf folgenden Jahren um die Hälfte (5).<br />
Für die Körnerfruchternte von 9,9 Mio. ha mit einer Erntemenge von 61 Mio. t wurden<br />
im Jahr 2008 knapp 85 000 Mähdrescher eingesetzt. Im Mittel wurden in den Jahren 2003<br />
bis 2009 auf 9,8 Mio. ha <strong>über</strong> 56 Mio. t Körnerfrüchte durch 93 200 Mähdrescher geerntet<br />
(17). Obwohl sich in den zurückliegenden Jahren durch konstruktive Möglichkeiten<br />
Buel_3_11.indb 429 17.11.2011 08:13:21
430 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />
Abb. 3. Mähdrescherbestand (Altbestand, Inlandsabsatz, kumulierter Bestand) 1990–2008<br />
Quelle: Eigene Berechnungen nach FAOSTAT und Statistische Jahrbücher 2010<br />
das Leistungspotenzial der Mähdrescher stets erhöhte, wird die installierte Mähdrescherleistung<br />
nur zur Hälfte auf dem Feld ausgenutzt, was einer Feldeffizienz von ca. 50 %<br />
entspricht (9).<br />
Abbildung 3 zeigt <strong>für</strong> den Zeitraum 1990 bis 2008 die Anzahl der jährlich eingesetzten<br />
Mähdrescher, die sich aus der Summe der Anzahl der eingesetzten Mähdrescher aus<br />
Altbeständen und den jährlichen Inlandsabsätzen ergibt. Danach ist der Bestand an Mähdreschern<br />
in diesem Zeitabschnitt von ehemals 156 890 auf 79 153 Einheiten gesunken.<br />
Dies entspricht einem Rückgang von annähernd 50 %.<br />
Laut FAO-Angaben liefen in Deutschland im Jahr 2007 noch 85 480 Mähdrescher. Da<br />
im Zeitraum von 1990 bis 2008, d h. in 17 Jahren des Untersuchungszeitraums, 20 248<br />
neue Mähdrescher hinzukamen bzw. von den neuen verblieben, müssten noch 63 193<br />
Mähdrescher, die 17 Jahre und älter sind, im Einsatz sein (1). Wird der Altbestand mit<br />
einer Abnahme von 5 % fortgeschrieben, wären im Jahr 2022 immer noch 28 632 Mähdrescher<br />
(potenziell aus der Zeit vor 1990) im Bestand. Ein schnellerer Ersatz der sehr alten<br />
Mähdrescher ist auch denkbar, wenn neueren da<strong>für</strong> etwas länger laufen. Deshalb ist die<br />
künftige Struktur der Mähdrescherflotte, insbesondere bezüglich des Altbestandes, nicht<br />
eindeutig zu bestimmen.<br />
4.3 Einflussfaktoren auf den Mähdrusch und Ableitung der Mindestkapazität<br />
Der Bedarf an Mähdreschern wird von mehreren Faktoren bestimmt. Auf den Mähdrusch<br />
haben neben dem Erntemanagement noch weitere Faktoren einen Einfluss auf die Ausschöpfung<br />
der tatsächlichen Leistungsfähigkeit. Im Vorfeld spielen die Faktoren Züchtung<br />
und pflanzenbauliche Maßnahmen eine wichtige Rolle und wie der jeweilige Bestand<br />
bis zur Ernte geführt wurde. Liegen hier bereits Mängel, wie beispielsweise Lagergetreide<br />
oder Gründurchwuchs vor, kann selbst durch ein optimales Erntemanagement die<br />
Leistungsfähigkeit der Mähdrescher nicht mehr voll zur Geltung kommen. Ein weiterer<br />
Faktor, den der Landwirt nicht beeinflussen kann, der die Druscheignung aber maßgeblich<br />
bestimmt, ist die Witterung (7).<br />
Nachfolgend soll der Mindestbesatz an Mähdreschern <strong>für</strong> die Region Deutschland<br />
abgeschätzt werden. Dabei wird Deutschland in drei Teilregionen eingeteilt, die sich aufgrund<br />
von Standortfaktoren (Betriebsgröße und Schlaggröße) unterscheiden und in denen<br />
der Einsatz kleinerer, mittlerer und größerer Mähdrescher sinnvoll erscheint. Weiterhin<br />
wird in einer Art Risikoanalyse der Einfluss von Umweltfaktoren (Witterung mit Auswir-<br />
Buel_3_11.indb 430 17.11.2011 08:13:22
Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong> Mähdrescher in Deutschland<br />
431<br />
kung auf Erntemenge, verfügbare Druschstunden und Feldeffizienz) simuliert. Ungünstige<br />
Konstellationen erfordern den Einsatz einer größeren Anzahl von Maschinen und<br />
verursachen höhere Erntekosten. Wären z. B. nicht ausreichend Mähdrescher verfügbar,<br />
könnten noch höhere naturale Verluste und Kosten entstehen, im Extremfall bliebe ein<br />
Teil ungeerntet.<br />
Ergebnis dieser Simulationen sind die regionsspezifische notwendige Anzahl an Mähdreschern<br />
sowie die Kosten des Mähdrusches. Anhand der Durchschnittskosten <strong>für</strong> den<br />
Drusch und den Grenzverlusten bei Ernteverlust wird versucht den Mindestbestand einzuschätzen.<br />
4.4 Aufteilung in Druschregionen <strong>für</strong> die Berechnungen<br />
Die Grundlage <strong>für</strong> die Berechnungen einer Mähdrescherbestandsentwicklung bildet die<br />
Aufteilung der Körnerfruchtanbauflächen in Deutschland in drei Teilregionen. Die Bundesländer,<br />
mit Ausnahme der Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen, sind entsprechend<br />
der landwirtschaftlich genutzten Fläche je Betrieb in die Kategorien unter 40 ha LF,<br />
40 bis 60 ha LF und <strong>über</strong> 60 ha LF eingeteilt worden (Tab. 2). Dementsprechend konnten<br />
die jeweiligen Erntemengen und Anbauflächen zugeordnet werden. Entscheidungskriterium<br />
<strong>für</strong> die Zuordnung einer Mähdrescherleistungsklasse <strong>für</strong> eine Teilregion ist der Parameter<br />
Durchsatzleistung in Getreidemenge je Stunde.<br />
Die Mähdruschregion 1 (Süd-Deutschland) umfasst die Bundesländer Hessen (HE),<br />
Nordrhein-Westfalen (NW), Rheinland Pfalz (RP), Bayern (BY) und Baden-Württemberg<br />
(BW). In diesen fünf Bundesländern wurden im Mittel der Jahre 2003 bis 2008 auf einer<br />
Anbaufläche von <strong>über</strong> 3,5 Mio. ha jährlich zwischen 18,4 bis 24,1 Mio. t Körnerfrüchte<br />
geerntet. In der Mähdruschregion 1 wurden <strong>für</strong> die Ernte der Körnerfrüchte Mähdrescher<br />
mit einer Motorleistung von 200 kW, einem Korntank von 8 500 l und einem Schneidwerk<br />
von 5 m eingesetzt (Tab. 3). Mit dieser Mähdreschergröße ist es möglich, eine Durchsatzleistung<br />
von 15 t/h zu erzielen.<br />
Die vier Bundesländer Schleswig-Holstein (SH), Sachsen (SN), Niedersachsen (NI)<br />
und das Saarland (SL) stellen die zweite Mähdruschregion (Nord-West-Deutschland)<br />
mit einer Anbaufläche von 2,2 Mio. ha dar. Durchschnittlich wurden in den Jahren 2003<br />
bis 2008 in der zweiten Mähdruschregion Körnerfrüchte mit einer Erntemenge von 13,2<br />
Mio. t geerntet. Von größter Bedeutung ist das Getreide mit einer Erntefläche von ca.<br />
1,8 Mio. ha und einer jährlichen Erntemenge von <strong>über</strong> 13 Mio. t. Daraus resultiert, dass<br />
<strong>über</strong> 27 % der deutschen Getreideerntemenge in diesen vier Bundesländern eingefahren<br />
wurde – mit Niedersachsen als bedeutendsten Agrarraum der Mähdruschregion 2. Für die<br />
Körnerfruchternte wurden in der Mähdruschregion 2 Mähdrescher mit einer Leistungsgröße<br />
von 275 kW, einem Korntankvolumen von 10 500 l und einem Schneidwerk von<br />
7,5 m genutzt (Tab. 3). Durchsatzleistungen von 30 t/h können mit dieser Mähdreschergröße<br />
auf den Betriebsflächen bedingt durch die größeren landwirtschaftlichen Strukturen<br />
erreicht werden.<br />
In den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern (MV), Sachsen-Anhalt (ST), Brandenburg<br />
(BB) und Thüringen (TH) wurden auf einer Anbaufläche von durchschnittlich 2,8<br />
Mio. ha (33,2 % der deutschen Körnerfruchtanbaufläche) im Mittel <strong>über</strong> 16 Mio. t geerntet.<br />
In der Mähdruschregion 3 (Mitte-Ost-Deutschland) hat der Anbau von Handelsfrüchten<br />
die größte Bedeutung <strong>für</strong> Deutschland. Über 47 % der Erntemenge von Handelsfrüchten<br />
werden in diesen vier Bundesländern geerntet. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche<br />
der Betriebe ist in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt mit <strong>über</strong> 150 ha LF<br />
je Betrieb im Vergleich zu den anderen Regionen am Größten. Die Körnerfruchternte<br />
werden in der Mähdruschregion 3 durch Mähdrescher der Motorleistungsklasse von <strong>über</strong><br />
375 kW, einem Korntankvolumen von 12 000 l und einem Schneidwerk von 9 m verrichtet<br />
Buel_3_11.indb 431 17.11.2011 08:13:22
432 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />
Tabelle 2. Einteilung der Druschregionen in Deutschland anhand der<br />
durchschnittlichen Betriebsgröße (ha LF)<br />
Region Bundesländer<br />
Region 1:<br />
Süddeutschland<br />
(
Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong> Mähdrescher in Deutschland<br />
Tabelle 3. Mähdreschergrößen in Relation zur betrieblichen Struktur in den<br />
Regionen<br />
Region in<br />
Deutschland<br />
Motorleistung<br />
Korntank Schneid<br />
werksbreite<br />
Mähdrescherkennzahlen<br />
Durchsatzleistung<br />
Zusatzausrüstung<br />
433<br />
Anschaffungskosten<br />
Region 1:<br />
Süden<br />
200 kW 8 500 l 5,0 m 15 t/h Rapstisch 217 100 €<br />
Region 2:<br />
Nord-West<br />
275 kW 10 500 l 7,5 m 30 t/h Rapstisch 295 100 €<br />
Region 3:<br />
Mitte-Ost<br />
375 kW 12 000 l 9,0 m 50 t/h Rapstisch 358 400 €<br />
Quelle: Maschinen und Anlagen, 2.15 Getreideernte (verändert nach KTBL, 2008); eigene Annahmen<br />
Im ersten Fall reicht eine geringe Anzahl an Mähdreschern aus, während im zweiten Fall<br />
eine maximale Anzahl an Erntemaschinen erforderlich wäre, um die Ernte einzubringen.<br />
Wie oft ungünstige, mittlere oder günstige Situationen auftreten, wird mit Dreiecksverteilungen<br />
vorgegeben, wobei extreme Werte, d. h. ungünstige oder günstige Situationen<br />
weniger oft vorkommen als mittlere Werte (Abb. 4).<br />
Beispielweise wird angenommen, dass die verfügbaren Druschstunden zwischen<br />
160 h/a als Minimalwert (kommt selten vor), 180 h/a im Mittel und bis zu 200 h/a als<br />
Maximalwert (kommt ebenfalls selten vor) variieren können. Regional unterschiedlich<br />
Abb. 4. Verfügbare Druschstunden pro Jahr in allen Mähdruschregionen<br />
Quelle: Palisade Decision Tool @RISK; eigene Berechnungen<br />
Buel_3_11.indb 433 17.11.2011 08:13:22
434 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />
Tabelle 4. Annahmen (Minimum, Mittel und Maximum der Dreiecksverteilungen)<br />
und Ergebnisse der Simulation (im 90%-Bereich)<br />
Region Kennzahl Einheit Minimum<br />
Region 1:<br />
Süden<br />
Region 2:<br />
Nord-West<br />
Region 3:<br />
Mitte-Ost<br />
Mittel Maximum<br />
Erntemenge Mio.<br />
t/p. a.<br />
18,43 22,02 24,12<br />
verfügbare Druschstunden h/p. a. 160 180 200<br />
Feldeffizienz 30 % 40% 70 %<br />
Druschkosten<br />
(90 %)<br />
notwendiger Mähdrescherbestand<br />
(90 %)<br />
€/t 17,83<br />
20,79<br />
Stück 10 011<br />
12 800<br />
26,40 38,63<br />
32,90<br />
18 068 30 891<br />
24 240<br />
Erntemenge Mio.<br />
t/p. a.<br />
11,94 13,60 15,63<br />
verfügbare Druschstunden h/p. a. 160 180 200<br />
Feldeffizienz 35 % 50% 70 %<br />
Druschkosten<br />
(90 %)<br />
notwendiger Mähdrescherbestand<br />
(90 %)<br />
€/t 14,26<br />
15,96<br />
Stück 3190<br />
3830<br />
18,66 25,57<br />
21,93<br />
4865 8627<br />
6440<br />
Erntemenge Mio.<br />
t/p.a.<br />
13,14 15,70 17,21<br />
verfügbare Druschstunden h/p. a. 160 180 200<br />
Feldeffizienz 40 % 60% 80 %<br />
Druschkosten<br />
(90 %)<br />
notwendiger Mähdrescherbestand<br />
(90 %)<br />
€/t 12,18<br />
13,18<br />
Stück 1877<br />
2289<br />
14,97 20,04<br />
17,29<br />
2804 4867<br />
3848<br />
Summe Mähdrescherbestand Stück 15 078 25 737 44 385<br />
(90 %) 18 919 34 528<br />
Quelle: Eigene Berechnungen<br />
variieren die Erntemengen sowie die Feldeffizienz, wobei letztere in der kleinstrukturierten<br />
Region Süden mit durchschnittlich 40%(30–70 %) am niedrigsten und in der<br />
großstrukturierten Region Mitte-Ost mit durchschnittlich 60%(40–80 %) am höchsten<br />
angenommen wird (Tab. 3).<br />
Die Ergebnisse aus den Simulationen weisen einen Mindestbestand an Mähdreschern<br />
aus, der erforderlich <strong>für</strong> die Einbringung der Erntemengen in allen simulierten Jahren ist.<br />
Aus diesen Werten können bei einer angenommenen durchschnittlichen Nutzungsdauer<br />
die jährlich neu abgesetzten Mähdreschereinheiten abgeleitet werden.<br />
Buel_3_11.indb 434 17.11.2011 08:13:23
Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong> Mähdrescher in Deutschland<br />
435<br />
In Tabelle 4 sind die Ergebnisse aus der Simulation der Mähdrescheranzahl zusammengefasst.<br />
Für die Sicherstellung, dass – mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 % bei<br />
10 000 Iterationen – die angebauten Flächen in allen Jahren vollständig gedroschen<br />
werden, ist ein Mähdrescherbestand von 44 385 Einheiten notwendig. Der Großteil der<br />
Mähdrescher (ca. 30 000 Einheiten) ist <strong>für</strong> die Mähdruschregion 1, bedingt durch die<br />
Leistungsklasse von 15 t/h, vorgesehen. In den beiden anderen Regionen werden mit ca.<br />
8600 (Region 2) und 4900 Stück (Region 3) deutlich weniger Einheiten benötigt (Abb. 5).<br />
Grenzt man die Schwankungsbreite der möglichen Ereignisse auf 90 % ein, d. h. schneidet<br />
man die 5 % günstigsten und die 5 % ungünstigste Fälle ab, verteuert sich am unteren Ende<br />
die Ernte bzw. es werden mehr Maschinen benötigt, während sich die Mindestanzahl an<br />
Mähdreschern und die Druschkosten am oberen Ende reduzieren.<br />
Die Frage, ob die 100%ige Erntesicherheit notwendig ist oder ob nicht auch eine<br />
95%ige Erntesicherheit reichen könnte, z. B. weil die Ernte der letzten 5 % des Bestandes<br />
sehr teuer wären, soll hier kurz aufgegriffen werden. Dazu werden die durchschnittlichen<br />
Kosten der Ernte mit den Grenzverlusten bei nicht erfolgter Ernte verglichen. Die Risikoabsicherung<br />
lässt die Druschkosten beispielsweise von 26,40 €/t bei mittlerem Bestand<br />
auf knapp unter 40 €/t ansteigen, sofern der gesamte Bestand sicher geerntet werden sollte.<br />
Der Grenzerlös von einer Tonne Getreide liegt dagegen weit <strong>über</strong> 100 €/t, sodass sich die<br />
Ernte immer lohnen würde. Die höchsten Druschkosten entstehen jedoch nur in Jahren<br />
mit extremer, ungünstiger Witterung. Ein <strong>für</strong> normale Jahre <strong>über</strong>höhter Bestand verursacht<br />
nicht so hohe Druschkosten, da infolge höherer Feldeffizienz bzw. geringerer Erntemenge<br />
die Mähdrescher länger genutzt werden könnten, wodurch die Durchschnittskostenanteile<br />
<strong>für</strong> Abschreibung sinken würden. Ein <strong>über</strong>durchschnittlicher Mähdrescherbestand ist<br />
demzufolge empfehlenswert. Bei allen folgenden Betrachtungen wird daher davon ausgegangen,<br />
dass ausreichende, d. h. maximale Mähdrescherkapazitäten vorgehalten werden.<br />
Abb. 5. Verteilung der notwendigen Mähdrescheranzahl in der Mähdruschregion 3<br />
Quelle: Palisade Decision Tool @RISK; eigene Berechnungen (10 000 Simulationen)<br />
Buel_3_11.indb 435 17.11.2011 08:13:23
436 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />
4.5 Zukünftige Mähdrescherbestandsentwicklung<br />
Historische Daten <strong>für</strong> den Bestand und den Absatz von Mähdreschern liegen <strong>für</strong> diese<br />
Untersuchung, wie bereits dargestellt, bis zum Jahr 2008 vor. Der aktuelle Bestand an<br />
Mähdreschern in Deutschland in Höhe von ca. 80 000 Maschinen ist fast doppelt so hoch<br />
wie der als notwendig berechnete Bestand mit ca. 44 000 Einheiten (Tab. 4). Damit lässt<br />
sich der verhältnismäßig geringe Inlandsabsatz in den letzten Jahren erklären. Wegen des<br />
Überhangs an Mähdreschern wird die jüngste Entwicklung des stärkeren Bestandsabbaus<br />
bei verhältnismäßig geringem Ersatz zunächst fortgeschrieben (obwohl noch nicht<br />
<strong>über</strong>all leistungsfähige moderne Mähdrescher im Einsatz sind) und zwar solange, bis der<br />
notwendige Bestand von ca. 44 000 Mähdreschern erreicht wird. Für die Zukunft wird<br />
zunächst angenommen, dass der Altbestand an Mähdreschern, wie <strong>für</strong> den Zeitraum 1990<br />
bis 2008 beobachtet, um jährlich 5 % sinkt. Dar<strong>über</strong> hinaus wird der Mähdrescherabsatz<br />
(Verkäufe pro Jahr) zunächst nach der im Zeitraum 1990 bis 2008 ermittelten Trendlinie<br />
(Abb. 2) begrenzt: y = -523,98Ln(x) + 2812,9 (R2 = 0,5823); mit y = Mähdrescherabsatz<br />
in Deutschland in Stück pro Jahr und x = Jahr ab 1990 fortlaufend.<br />
Wegen des hohen Altbestandes könnte der jährliche Mähdrescherabsatz von 1283 Einheiten<br />
im Jahr 2009 im Jahr 2019 auf 727 Einheiten absinken (Abb. 6). Im Durchschnitt<br />
der Jahre 2009 bis 2019 würde somit ein verhältnismäßig geringer Ersatz von durchschnittlich<br />
1005 Mähdreschern p. a. ausreichen.<br />
In den Berechnungen zu Abbildung 7 wurde unterstellt, dass bis zum Jahr 2009 bei<br />
den neu verkauften Mähdreschern von einer 10-jährigen Nutzungsdauer auszugehen ist.<br />
Nach dieser Zeit sollen dann jährlich 20 % der Altmaschinen ausscheiden, sodass spätestens<br />
nach 15 Jahren keine dieser Maschinen mehr vorhanden wäre. Denkbar wäre jedoch<br />
auch, dass diese neueren Mähdrescher z. T. noch ältere Maschinen, die vor 1990 beschafft<br />
wurden, ersetzen. In den darauf folgenden Jahren (ab 2019) ist bei den Berechnungen zur<br />
Abbildung 7 die Nutzungsdauer <strong>für</strong> die neuen Mähdrescher auf acht Jahre, auslaufend bis<br />
maximal 13 Jahre begrenzt worden.<br />
Ab 2019 wäre aufgrund dieser Annahme der Altbestand so weit abgebaut, dass ein größerer<br />
Ersatzbedarf in Höhe von ca. 3000 Mähdreschern pro Jahr besteht. Langfristig sind<br />
bei den getroffenen Annahmen jedoch jährlich ca. 4 400 neue Mähdrescher notwendig,<br />
Abb. 6. Absatz und Bestand an Mähdreschern (1990–2022)<br />
Quelle: Eigene Berechnungen nach FAOSTAT und Statistischen Jahrbüchern 2010<br />
Buel_3_11.indb 436 17.11.2011 08:13:23
Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong> Mähdrescher in Deutschland<br />
Abb. 7. Mähdrescherbestand kumuliert aus Altbestand und Absatz (2009–2030)<br />
Quelle: Eigene Berechnungen nach FAOSTAT und Statistischen Jahrbüchern 2010<br />
437<br />
wenn bei einem Gesamtbestand von 44 385 Einheiten mehrheitlich von einer Nutzungsdauer<br />
von acht Jahren ausgegangen wird.<br />
Aus den ermittelten Daten stellen sich die Mähdrescherbestände <strong>für</strong> den Zeitraum 2009<br />
bis 2030 mit einem gleichbleibenden Bestand ab 2019 dar (Abb. 7).<br />
Zusammenfassung<br />
Heutzutage werden Mähdrescher eingesetzt, die Durchsatzleistungen von <strong>über</strong> 70 Tonnen Getreide<br />
pro Stunde erzielen können, wobei deren technisches Leistungspotenzial längst noch nicht ausgeschöpft<br />
wird. In dieser Arbeit wird ein Überblick <strong>über</strong> bedeutende Mähdrescherhersteller und -modelle<br />
gegeben und Einflussfaktoren auf den Mähdrusch dargestellt.<br />
Ziel war dabei, die Komplexität der Einflussfaktoren Standort (Betriebsgröße und Schlaggröße),<br />
Leistungsfähigkeit der Mähdrescher, Umweltfaktoren (Witterung mit Auswirkung auf Erntemenge<br />
und verfügbare Druschsstunden) und Feldeffizienz in Simulationen zu berücksichtigen. Dazu wurde<br />
Deutschland in drei Mähdruschregionen unterteilt und entsprechend den Betriebsgrößen und Schlaggrößen<br />
bestimmte Mähdrescherleistungsklassen zugeordnet. Anschließend wurde die Mindestkapazität<br />
an Mähdreschern, die notwendig ist, um die Ernte sicher einbringen zu können, in Abhängigkeit<br />
von der Witterung simuliert. Dreiecksverteilungen mit Annahmen <strong>für</strong> Erntemenge, Feldeffizienz und<br />
Druschtage sind Basis <strong>für</strong> die durchgeführte Monte-Carlo–Simulation.<br />
Die Ergebnisse der Simulationen haben ergeben, dass in Deutschland ein Mähdrescherbestand<br />
von 44 385 Einheiten, differenziert in drei Leistungsklassen, notwendig ist. Die Berechnungen zeigen<br />
auch, dass die künftigen Inlandsabsätze von Mähdreschern von der Nutzungsdauer der Altbestände<br />
stark abhängig sind.<br />
Summary<br />
Development tendencies and potential of the market for combine harvesters in Germany<br />
Combine harvesters used today can achieve throughput rates of over 70 tons of grain per hour; however,<br />
their technical performance potential is currently not being exhausted by any means. In this<br />
paper, a survey of major harvester manufacturers and models is given and factors influencing the<br />
combine harvesting performance are presented.<br />
The objective was to reflect the complexity due to factors like size of farm and field size as well<br />
as combine performance, environmental factors (weather, with impact on yield and number of hours<br />
available for combine harvesting). Therefore, Germany was divided into three combine-harvesting<br />
regions . Certain performance categories of combine harvesters were assigned, according to farm<br />
size and regional field sizes. Triangle distributions with assumptions for harvest size, field efficiency<br />
Buel_3_11.indb 437 17.11.2011 08:13:24
438 Clemens Fuchs, Joachim Kasten, Christopher Ströbele, Mathias Urbanek<br />
and harvest days are the basis for the applied Monte Carlo simulation, which shows the minimum<br />
capacity of combine harvesters necessary to reap the harvest safely.<br />
The simulation results show that in Germany 44,385 units of combine harvesters of the three<br />
performance categories are necessary.However,the calculations also show that future domestic sales<br />
of combine harvesters will depend greatly on the service life of the units currently in use.<br />
Résumé<br />
Tendances et potentiels du marché pour les moissonneuses-batteuses en Allemagne<br />
De nos jours, normalement, des moissonneuses-batteuses pouvant atteindre un débit de plus de 70<br />
tonnes de céréales par heure sont utilisées. Pourtant, on est toujours loin d’exploiter pleinement leur<br />
potentiel de performance. Ce rapport donne un aperçu sur d’importants fabricants et modèles de<br />
moissonneuses-batteuses et présente les facteurs d’influence sur le moissonnage-battage.<br />
L’objectif était de procéder àdes simulations qui prennent en compte la complexité des facteurs<br />
d’influence tels que le site (dimension de l’exploitation et taille du parcellaire), la performance des<br />
moissonneuses-batteuses, les facteurs environnementaux (conditions météorologiques et leur impact<br />
sur le volume de récolte et sur les heures disponibles pour le moissonnage-battage) et l’efficacité du<br />
champ. Acette fin, l’Allemagne aété divisée par type de moissonnage-battage en trois régions et en<br />
différentes classes de performance de moissonneuses-batteuses selon la dimension de l’exploitation<br />
et la taille du parcellaire.. Ensuite, on aprocédé àune simulation prenant en compte les conditions<br />
météorologiques pour calculer la capacité minimum de moissonneuses-batteuses nécessaire pour<br />
mener àbien la récolte. Cette simulation de Monte Carlo est basée sur des hypothèses pour le volume<br />
de récolte, l’efficacité du champ et les jours de moissonnage-battage.<br />
Les simulations ont montré que l’Allemagne nécessite un parc de moissonneuses-batteuses d’un<br />
volume de 44.385 unités distinguées en trois classes de performance. Cependant, les calculs montrent<br />
également que les futures ventes intérieures de moissonneuses-batteuses dépendront fortement de la<br />
durée de vie du stock actuel.<br />
Literatur<br />
1. FAO: Agricultural Production. 2009.<br />
2. FAO: Agricultural Production. 2009; URL: http://www.fao.org/fileadmin/templates/ess/documents/<br />
publications_studies/statistical_yearbook/yearbook2009/b01.xls.<br />
3. FAOSTAT URL: http://faostat.fao.org/site/576/DesktopDefault.aspx?PageID=576#ancor.<br />
4. FAOSTAT:Export Quantity of Combines in 2007.<br />
5. FAOSTAT:Germany -Combines and treshers in use 1965-2007. URL: http://faostat.fao.org/site/576/<br />
default.aspx#anco.<br />
6. FAOSTAT:ResourceSTAT-Machinery. 2007 URL: http://faostat.fao.org/site/576/default.aspx#ancor.<br />
7. feiffer,a.,2009: Druscheignung als zentrale Führungsgröße im Erntemanagement.<br />
8. FERGUSON; DEUTZ-FAHR; LAVERDA und SAMPO ROSELOW., 2010.<br />
9. HARVEST POOL: Spitzenleistung im HARVEST POOL. 2005 URL: feiffer-consult.de/dokumente/<br />
Prospekt_Harvest_Pool_06.pdf.<br />
10. John Deere Combines. 2009 URL: http://www.deere.de/de_DE/brochures/downloadcenter/index.html.<br />
11. KutsChenreiter, W., 2005 :Analyse Mähdreschermarkt: Weniger Maschinen, mehr Leistung.<br />
12. –, 2006: Mähdrescher: Markt, Möglichkeiten und Grenzen.<br />
13. –, 2005: Mähdrusch als technologische Herausforderung.<br />
14. NEW HOLLAND; CLAAS; JOHN DEERE; CASE IH; FENDT; MASSEY, Firmenschriften.<br />
15. singh, g., 2006: Agricultural Machinery Industry in India. URL: http://agricoop.nic.in/Farm%20<br />
Mech.%20PDF/05024-09.pdf.<br />
16. Statistisches Jahrbuch: 465. Bestand an Schleppern und Mähdreschern. 2009.<br />
17. Statistisches Jahrbuch: 104. Anbau, Ertrag und Ernte der Feldfrüchte. 2009.<br />
18. Statistisches Jahrbuch: Anbau auf dem Ackerland. 2009.<br />
19. Statistisches Jahrbuch: Inlandsabsatz der Landmaschinenindustrie. 2005 u. 2009.<br />
20. urbaneK, m., 2010: Entwicklungstendenzen amMähdreschermarkt. Master-Thesis, Hochschule Neubrandenburg.<br />
21. VDMA: Wirtschaftsbericht 2009.<br />
Buel_3_11.indb 438 17.11.2011 08:13:24
Entwicklungstendenzen und Potenzial des Marktes <strong>für</strong>Mähdrescher in Deutschland<br />
Fußnoten<br />
1) Firmenschriften von CLAAS, JOHN DEERE, CASE IH, NEW HOLLAND, FENDT,MASSEY-<br />
FER, GUSON, DEUTZ-FAHR, LAVERDA und SAMPO ROSENLEW, 2010.<br />
439<br />
Autorenanschrift: Prof. Dr. Clemens fuChs, Dr. JOaChim Kasten, ChristOpher ströbele und<br />
mathias urbaneK, Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich Agrarwirtschaft<br />
und Lebensmittelwissenschaften, Fachgebiet <strong>Landwirtschaft</strong>liche<br />
Betriebslehre, Postfach 11 01 21, Deutschland<br />
cfuchs@hs-nb.de<br />
Buel_3_11.indb 439 17.11.2011 08:13:24
440<br />
BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels-<br />
und Steuerbilanz<br />
Auswirkungen des BilMoG <strong>für</strong> den BMELV –Jahresabschluss<br />
Von MAtthiAs MOser und ennO BAhrs, hOhenheiM<br />
1 Einleitung<br />
Die deutsche Bundesregierung ist gemäß <strong>Landwirtschaft</strong>sgesetz (vgl. §2LwG) dazu<br />
verpflichtet, regelmäßig aktuelle Informationen zur Lage der <strong>Landwirtschaft</strong> bereitzustellen.<br />
Vordiesem Hintergrund ist ein Testbetriebsnetz landwirtschaftlicher (aber auch<br />
forstwirtschaftlicher sowie garten- und weinbaulicher) Betriebe initiiertworden. Die Auswahl<br />
dieser Betriebe soll derart erfolgen, dass ihre Buchführungsabschlüsse repräsentativ<br />
alle deutschen Haupt- und Nebenerwerbsbetriebe gemäß Rechtsform- und Erwerbstyp,<br />
Betriebsformen, Betriebsgrößen und Gebieten abbilden. Sie ist damit die einzige repräsentative<br />
Quelle gesamtbetrieblicher mikroökonomischer Daten und Grundlage <strong>für</strong> die<br />
Buchführungsstatistiken von Bund und Ländern. Dar<strong>über</strong> hinaus ist das deutsche Testbetriebsnetz<br />
Teil des Informationsnetzes landwirtschaftlicher Buchführungen der Europäischen<br />
Union (INLB). Die Buchführung der Testbetriebe wird nach einheitlichen Regeln<br />
mit dem BMELV-Jahresabschluss (BMELV-JA) erstellt, der sich eng an die Vorgaben<br />
der deutschen Steuergesetzgebung sowie des Handelsgesetzbuches (HGB) orientiert<br />
(vgl. 19). Dieser rechtliche Rahmen bietet eine angemessene Gewährleistung, einer guten<br />
wirtschaftlichen Abbildung der Betriebe. Lediglich an den Stellen, an denen spezifische<br />
land- und forstwirtschaftliche Tatbestände eine Modifizierung oder Ergänzung erfordern,<br />
sind spezielle Regelungen <strong>für</strong> den BMELV-Jahresabschluss vorgesehen. Dabei ist Folgendes<br />
zuberücksichtigen: Der größte Teil der landwirtschaftlichen Unternehmer muss<br />
den Jahresabschluss lediglich nach steuerlichen Gesichtspunkten (§ 141 AO, §§ 4EStG)<br />
erstellen. Vonder Erstellung eines handelsrechtlichen Jahresabschluss sind in aller Regel<br />
landwirtschaftliche Unternehmer in Form natürlicher Personen befreit (vgl. §3HGB). Die<br />
steuerlichen und handelsrechtlichen Jahresabschlüsse haben jedoch jeweils unterschiedliche<br />
Zielsetzungen. Während der steuerliche Abschluss ein wesentliches fiskalisches<br />
Interesse aufweist, nämlich die Bemessungsgrundlage <strong>für</strong> die Ertragsteuern zu ermitteln,<br />
möchte der handelsrechtliche Jahresabschluss insbesondere nicht fiskalische Stakeholder<br />
wie z. B. Anteilseigner oder Gläubiger angemessen <strong>über</strong> die Ertrags-, Finanz- und<br />
Vermögenslage des Unternehmens informieren. Aus den unterschiedlichen Zielsetzungen<br />
des Steuer- und Handelsrechts ergeben sich somit unterschiedliche Handlungsweisen der<br />
Bilanzierenden. Während man aus handelsrechtlicher Perspektive, zumindest teilweise<br />
bzw.temporär einen höchst möglichen Gewinn anstreben möchte, ist das Ziel der steuerlichen<br />
Gewinnermittlung ein möglichst geringer Gewinnausweis, um die Steuerlast moderat<br />
zu halten. Somit könnte die Bundesregierung bei der Abbildung der Lage der <strong>Landwirtschaft</strong><br />
theoretisch vor einem Dilemma stehen. Insbesondere die Ziele des Handelsrechts<br />
konvergieren mit den Interessen der Initiatoren der Testbetriebsberichterstattung im Sinne<br />
von §2LwG. Es werden jedoch schwerpunktmäßig steuerrechtlich motivierte Jahresabschlüsse<br />
in der <strong>Landwirtschaft</strong> erstellt. Möchte die Bundesregierung aus Gründen möglichst<br />
geringer Erfassungs- und Aufbereitungskosten die sowieso vorhandenen Daten der<br />
U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0440 $2.50/0<br />
Buel_3_11.indb 440 17.11.2011 08:13:24
BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />
441<br />
steuerlichen Jahresabschlüsse nutzbar machen, sind die Informationen z.T.stark durch<br />
eine steuermindernde, d.h., erfolgsverzerrte Darstellung motiviert. Ein repräsentatives<br />
Bild zur Lage der <strong>Landwirtschaft</strong> könnte darunterleiden. Ist das Ziel, einen ausschließlich<br />
handelsrechtlichen Jahresabschluss zu nutzen, wären die Transaktionskosten sehr hoch,<br />
insbesondere wenn die steuer- und handelsrechtlichen Vorschriften der Jahresabschlusserstellung<br />
weit auseinander driften. Vordiesem Hintergrund ist es zum einen ein Vorteil,<br />
dass in der Vergangenheit durch die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz <strong>für</strong> die Steuerbilanz<br />
bzw. durch die umgekehrte Maßgeblichkeit der Steuerbilanz <strong>für</strong> die Handelsbilanz gemäß<br />
§5IEStG insbesondere <strong>für</strong> kleine und mittelständische Unternehmen eine Einheitsbilanz<br />
erstellt wurde, die die Transaktionskosten <strong>für</strong> viele Beteiligte gering hielt. Zum anderen<br />
wurden speziell <strong>für</strong> die Jahresabschlusserstellung von BMELV-Testbetrieben gesonderte<br />
Regelungen erlassen, die mit möglichst wenig Aufwand einen gleichzeitig möglichst<br />
hohen zusätzlichen Informationsgewinn aus dem steuerlichen Jahresabschluss generieren<br />
sollen, um einen aussagekräftigen Jahresabschluss <strong>für</strong> die Testbetriebsberichterstattung<br />
nach HGB-Grundsätzen zu ermöglichen. Somit ist zu konstatieren, dass der BMELV-<br />
Jahresabschluss hinsichtlich der Ansatz- und Bewertungsvorschriften insbesondere ein<br />
steuerlicher Abschluss ist. Er unterscheidet sich von dem, was der Fiskus fordert, z. B.<br />
durch eine detaillierte Gliederung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung sowie<br />
durch die ergänzenden Verzeichnisse.<br />
Aufbau des BMELV-Jahresabschlusses<br />
Auch wenn es sich im Kern um einen steuerlichen Abschluss handelt, werden die Anforderungen<br />
an das HGB erfüllt. Die Bilanz ist mehrspaltig und die Gewinn- und Verlustrechnung<br />
in Staffelform aufgebaut. Dies ist insbesondere <strong>für</strong> die Genossenschaften und<br />
Gesellschaften, die dem Handelsrecht unterliegen, von Bedeutung. Denn der BMELV-JA<br />
ist <strong>für</strong> Betriebe aller Rechtsformen der Branchen Land- und Forstwirtschaft, Weinbau,<br />
Gartenbau und Fischerei gedacht. Er dient als einheitliche Datengrundlage <strong>für</strong> Betriebsvergleiche,<br />
die Beratung, den Agrarbericht und die Statistik.<br />
Dabei sind folgende Abschnitte essenziell <strong>für</strong> die Erstellung des BMELV-JA: Zunächst<br />
ist ein Deckblatt mit allgemeinen Angaben zuerstellen. Dann folgen die Bilanz, die Darstellung<br />
der Einlagen und Entnahmen (nur <strong>für</strong> Einzelunternehmen) sowie die Gewinnund<br />
Verlustrechnung. Damit ist der Kern des Jahresabschlusses erstellt, der jedoch durch<br />
einen Anhang zur Bilanz mit dem Anlagenspiegel, der Bewertung des Tiervermögens und<br />
der Vorräte, dem Forderungen- sowie dem Verbindlichkeitenspiegel (nur <strong>für</strong> juristische<br />
Personen) und der Einzelaufstellung der Verbindlichkeiten (nur <strong>für</strong> Einzelunternehmen<br />
und Personengesellschaften) zu ergänzen ist. Dar<strong>über</strong> hinaus sollen die <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong><br />
essenziellen Ernteflächen, naturalen Erträge und Leistungen sowie Durchschnittspreise<br />
aufgeführt werden. Auch ein Naturalbericht ist zu ergänzen, der die Tiere und die<br />
Vorräte aufzeichnet. Weiterhin ist ein Abschnitt <strong>über</strong> die Betriebsfläche auszufüllen, der<br />
die Betriebsfläche am Ende des Geschäftsjahres sowie die Betriebsflächenveränderung<br />
im Geschäftsjahr aufzeigt. Schließlich sind noch die Arbeitskräfte aufzuzeichnen sowie<br />
ergänzende Angaben zum Unternehmen und persönliche Angaben (nur <strong>für</strong> Einzelunternehmen)<br />
zu fertigen. Die Gliederungstiefen in den einzelnen Abschnitten sind so beizubehalten,<br />
wie sie im Codekatalog <strong>für</strong> den BMELV-JA vorgesehensind. Zusammenfassungen<br />
von vorgeschriebenen Buchungspositionen (ohne den Ansatz der Einzelpositionen) sind<br />
nicht zulässig. Innerbetrieblich detailliertere Erfassungen sind dabei durch die Art der<br />
Codierung <strong>für</strong> einzelne Kennzahlen durchaus möglich. Damit bietet dieserBMELV-JA <strong>für</strong><br />
den Betrieb bzw.Betriebsleiter gute Voraussetzungen, eine Betriebsanalyse vorzunehmen,<br />
Schwachstellen zu erkennen und eine angemessene Planung durchzuführen, sofern die<br />
Daten in der vorgegebenen Datentiefe sorgfältig eingepflegt werden. Damit sind sowohl<br />
Buel_3_11.indb 441 17.11.2011 08:13:24
442 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />
vertikale als auch horizontale Betriebsvergleiche möglich, denn der BMELV-JA bietet<br />
einen vereinheitlichten Rahmen <strong>für</strong> alle Beteiligungsinteressierten.<br />
Obgleich die zuletzt genannten Abschnitte eine z. T. erhebliche Erweiterung steuerlicher<br />
Notwendigkeiten darstellen, schlagen die steuerlichen Ansatz- und Bewertungswahlrechte<br />
speziell <strong>für</strong> die in der <strong>Landwirtschaft</strong> bilanzierenden immer wieder im BMELV-JA<br />
durch. D. h., es besteht u. a. das Ansatzwahlrecht <strong>für</strong> Feldinventar. Auch die Viehbewertung<br />
nach steuerlichen Gesichtspunkten wird analog <strong>für</strong> den BMELV-JA <strong>über</strong>nommen.<br />
Allerdings sind auch Besonderheiten des BMELV-Jahresabschlusses zu nennen. Zum<br />
einen ist in der Bilanz beispielsweise eine Position Tiervermögen zu bilden, die zwischen<br />
Anlage- und Umlaufvermögen steht. Dabei werden alle Tiere erfasst, unabhängig von<br />
der Zuordnung zum Anlage- oder Umlaufvermögen. Damit wird auf die Besonderheit<br />
in der <strong>Landwirtschaft</strong> verwiesen, ohne gegen die Gliederungsvorschriften des HGB zu<br />
verstoßen.Zum anderen bietet das Steuerrecht das Wahlrecht, Sonderabschreibungen oder<br />
Investitionszuschüsse entweder als sofortigen Aufwand bzw. Ertrag zu verbuchen oder<br />
einen entsprechenden Passivposten zu bilden bzw. entsprechende Absetzungen von den<br />
Anschaffungs- oder Herstellungskosten vorzunehmen. Dies wird im BMELV-JA bislang<br />
eingeschränkt. Dabei ist zwingend ein Sonderposten mit Rücklageanteil zubilden, der in<br />
den folgenden Jahren gemäßAbschreibungszeitraum oder Nutzungsdauererfolgswirksam<br />
aufgelöst wird.<br />
2 Das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG)<br />
Mit dem BilMoG stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich Veränderungen <strong>für</strong> die Testbetriebsstatistik<br />
ergeben können und die bislang unterstellte repräsentative Aussagekraft<br />
hinsichtlich der Ertrags-, Finanz-und Vermögenslage von Unternehmen verändert werden<br />
könnte. Vordiesem Hintergrund soll im Folgenden zunächst aufgezeigt werden, was sich<br />
durch das BilMoG verändert, bevor im weiteren Diskussionsablauf auf die Auswirkungen<br />
<strong>für</strong> die Testbetriebsberichterstattung eingegangenwird. Dabei ist zu beachten, dass bislang<br />
vergleichsweise wenig landwirtschaftliche Unternehmen einen HGB-Abschluss erstellen<br />
(müssen). Es handelt sich dabei insbesondere um juristische Personen oder Personengesellschaften,<br />
<strong>für</strong> die die nachfolgenden Ausführungen schwerpunktmäßig zutreffen.<br />
2.1 Veränderungen des Maßgeblichkeitsprinzips<br />
Mit dem BilMoG soll die Informationsfunktion des handelsrechtlichen Jahresabschlusses<br />
verbessert werden, umnicht zuletzt eine einfachere bzw. kostengünstige Alternative zu<br />
den IAS/IFRS zu generieren, ohne die Kapitalerhaltungs- und Auszahlungsbemessungsfunktion<br />
als Zielsetzung des HGB-Abschlusses in Frage zu stellen (vgl. 9, S. 1f.). In<br />
diesem Zusammenhang wurde das gemäß §5IEStG a. F. bestehende Maßgeblichkeitsprinzip<br />
stark aufgeweicht. Steuerliche Wahlrechte können aufgrund des neuen Wahlrechtsvorbehaltes<br />
gemäß §5IS.1EStG unabhängig von den handelsrechtlichen Grundsätzen<br />
der ordnungsgemäßen Buchführung (GoB) ausgeübt werden. Dar<strong>über</strong> hinaus wurde die<br />
umgekehrte Maßgeblichkeit abgeschafft. Die Konsequenzen dieser neuen Rahmenbedingungen<br />
werden durch folgende Zusammenhänge zwischen Handels- und Steuerbilanz vor<br />
dem BilMoG deutlich (vgl. 11, S.14):<br />
a) Aufgrund der Maßgeblichkeit der Handels- <strong>für</strong> die Steuerbilanz nach §5Abs. 1S.1<br />
EStG a. F. bilden die Vorschriften des HGB die Grundlage der Steuerbilanz, soweit<br />
keine steuerlichen Vorschriften eine abweichende Bilanzierung oder Bewertung zwingend<br />
verlangen.<br />
Buel_3_11.indb 442 17.11.2011 08:13:24
BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />
443<br />
b) Im Rahmen der nun nicht mehr geltenden umgekehrten Maßgeblichkeit der Handels<strong>für</strong>die<br />
Steuerbilanz wurdensteuerliche Wahlrechte bei der Gewinnermittlung in Übereinstimmung<br />
mit dem handelsrechtlichen Einzelabschluss ausgeübt.<br />
Mit der durch das BilMoG abgeschafften umgekehrten Maßgeblichkeit ergeben sich<br />
unmittelbare Auswirkungen auf die Handelsbilanz (vgl. 13).<br />
Konsequenzen aus der Abschaffung der umgekehrten Maßgeblichkeit<br />
Bisher waren nach §5Abs. 1S.2EStG a. F. „steuerrechtliche Wahlrechte bei der Gewinnermittlung<br />
[…] in Übereinstimmung mit der handelsrechtlichen Jahresbilanz auszuüben“.<br />
Daher konnten Unternehmen bestimmte Steuervergünstigungen nur in Anspruch nehmen,<br />
wenn ein entsprechender Ausweis im handelsrechtlichen Jahresabschluss (z. B. durch die<br />
Bildung eines Sonderpostens mit Rücklageanteil) erfolgte (vgl. 26, S. 49).<br />
Die Streichung §5Abs. 1S.2EStG, löste somit den Wegfall der umgekehrten Maßgeblichkeit<br />
aus (vgl. 11, S.14). Ziel der Neuregelung ist die Vereinfachung der handelsrechtlichen<br />
Rechnungslegung sowie die Rückwirkung des fiskalisch oder wirtschaftspolitisch<br />
motivierten Steuerrechts im handelsrechtlichen Jahresabschluss zu vermeiden, und damit<br />
das Informationsniveau bzw. die Aussagekraft des handelsrechtlichen Jahresabschlusses<br />
zu verbessern (vgl. 26, S. 50). Bisher kam es in der Handelsbilanz zu „Verfälschungen“<br />
durch Vornahme von nicht GoB-adäquaten Abschreibungen oder den Nichtausweis von<br />
Gewinnen (vgl. 27, S. 23). VonExperten wurde diese Verzerrung des HGB´s oftmals<br />
kritisiert und ist nun deutlich reduziert worden (vgl. 17, S. 931).<br />
Schlussfolgerungen und Konsequenzen durch Abschaffung der umgekehrten Maßgeblichkeit<br />
(vgl. 15, S. 41 f.; 26, S. 51):<br />
I. Vereinheitlichung der Rechnungsregelung von Unternehmen. Der Grundsatz der Vergleichbarkeit<br />
wird tendenziell gestärkt.<br />
II. Verbesserte Anwendung des Periodisierungsgrundsatzes. Bisher wurden durch steuerliche<br />
Wahlrechte auch in der Handelsbilanz Gewinne in die Zukunft verlagert.<br />
III. Stärkung des Realisationsprinzips durch Streichung von Wahlrechten und somit geringere<br />
stille Reserven.<br />
IV. Umfangreiche Abweichungen führen gegebenenfallszueinem höheren Ausweis latenter<br />
Steuern (<strong>für</strong> einzelne Rechtsformen bzw. Unternehmensgrößen, vgl. §§ 274 und<br />
274a HGB i. V. m. §267 HGB).<br />
V. Durch die Abschaffung der Wahlrechte wird die intersubjektive Nachprüfbarkeit<br />
des Jahresabschlusses gesteigert, mit evtl. positiver Auswirkung auf den Grundsatz<br />
der Richtigkeit.<br />
VI. Bei unterschiedlichen Ansätzen zwischen Handels- und Steuerbilanz ist ein<br />
eigenständiges steuerliches Anlagenverzeichnis zu führen. Dadurch steigt der Aufwand<br />
<strong>für</strong> die Erstellung des Jahresabschlusses.<br />
Zur Erleichterung des Übergangs hat der Gesetzgeber folgende Regelung getroffen: Bisher<br />
in der HGB-Bilanz gebildete Sonderabschreibungen bzw. steuerliche Sonderposten<br />
können gemäß Art. 67 Abs. 4bzw. Abs. 3EHBG n. F. entweder beibehalten und fortgeführt<br />
oder aufgelöst und unmittelbar in die Gewinnrücklagen eingestellt werden. Letzteres<br />
führt demnach zu einer erfolgsneutralen Behandlung, wobei die Einstellung in die<br />
Gewinnrücklage im Falle der Sonderabschreibungen nach §254 und §279 Abs. 2HGB,<br />
die im letzten vor dem 1. Januar 2010 begonnenen Geschäftsjahr vorgenommen wurden,<br />
nicht möglich sind (vgl. 15, S. 42 f.).<br />
Neu zu bildende Sonderposten mit Rücklageanteil dürfen in die Handelsbilanz nicht<br />
mehr eingebucht werden. In der Folge werden die Werte des Sonderpostens mit ihrem<br />
Anteil in das Eigenkapital und ggf. die passiven latenten Steuern eingebucht (vgl. dazu<br />
§§ 274 und 274a HGB), wobei im Fall der passiven latenten Steuern dem temporary-Kon-<br />
Buel_3_11.indb 443 17.11.2011 08:13:24
444 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />
zept folgend mit den zukünftig anfallenden Steuersätzen zu arbeiten ist. Diese Sichtweise<br />
folgt der Vorgehensweise der International Financial Reporting Standards (IFRS), die bei<br />
der Bildung von Sonderposten nach altem HGB diese Werte auf Eigenkapital und passive<br />
latente Steuern aufgeteilt haben (vgl. 24, S. 16).<br />
Im Folgenden werden Beispiele mit Relevanz <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> aufgezeigt, mit<br />
deren Hilfe verdeutlicht werden soll, in welchem Umfang Abweichungen zwischen Handelsbilanz<br />
und Steuerbilanz auftreten können. Im Anschluss wird die Aussagekraft der auf<br />
diese Weise erstellten Abschlüsse diskutiert.<br />
2.2 BMELV-Jahresabschlusses und BilMoG -<br />
Besonders betroffene Bilanzpositionen<br />
2.2.1 Bildung steuerrechtlicher Rücklagen nach neuem HGB im<br />
Kontext des Sonderpostens mit Rücklageanteil<br />
Aus bewertungsrechtlicher Sicht enthält der Sonderposten einen Anteil an Rücklagen, der<br />
das Eigenkapital erhöht, da Rücklagen ein anders ausgewiesenes Eigenkapital darstellen.<br />
Allerdings enthält der Sonderposten auch einen Fremdkapitalanteil. Dieser ist mit der aufgeschobenen<br />
Steuerschuld entstanden und somit abhängig vom individuellen Steuersatz<br />
des Unternehmers bzw. des Unternehmens. Häufigste Anwendung <strong>für</strong> landwirtschaftliche<br />
Betriebe fand diese Regelung in der bis 2008 zulässigen Ansparrücklage. In der Unternehmenssteuerreform<br />
2008 wurde die Ansparrücklage abgeschafft und der „Nachfolger<br />
Investitionsabzugsbetrag“ kodifiziert, der nicht mehr in einem Sonderposten mit Rücklageanteil<br />
mündet, sondern außerhalb der Bilanz manifestiert wird. Allerdings sind immer<br />
noch die <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> bedeutenden Rücklagenpositionen wie z. B. gemäß §7g<br />
EStG (Sonderabschreibungen) oder §§ 6b und 6c EStG zu berücksichtigen.<br />
Werden steuerliche Sonderposten in der Steuerbilanz in Ansatz gebracht, nicht aber<br />
in der Handelsbilanz, sind <strong>für</strong> einzelne Rechtsformen und Unternehmensgrößen entsprechend<br />
der Höhe des steuerlich passivierten Postens in der Handelsbilanz nach dem Bil-<br />
MoG passive latente Steuern abzugrenzen. Allerdings dürfte dies <strong>für</strong> die wenigsten landwirtschaftlichen<br />
Unternehmen zutreffen. Die in der <strong>Landwirtschaft</strong> maßgeblichen Unternehmen<br />
mit der Pflicht zur Erstellung einer Handelsbilanz werden die Größengrenzen zur<br />
Erreichung einer mittelgroßen Kapitalgesellschaft (§ 274 aHGB im Kontext von §267<br />
HGB) vielfach nicht <strong>über</strong>schreiten.<br />
Dennoch ist zu berücksichtigen, dass die in der <strong>Landwirtschaft</strong> häufig genutzten Regelungen<br />
gemäß §§ 6b und 7g EStG steuerrechtlich weiterhin in gleicher Weise in Anspruch<br />
genommen werden. Dabei schlagen diese sich im Handelsrecht zukünftig anders nieder als<br />
in der Steuerbilanz. Mit der Auflösung des Sonderpostens erhöht sich, ggf. unter Berücksichtigung<br />
der abzugrenzenden passiven latenten Steuern, das Eigenkapital zum Zeitpunkt<br />
der Umstellung (vgl. 25, S. 80). Damit erreicht der Gesetzgeber das avisierte Ziel, die<br />
auf Wahlrechten basierenden steuerlichen Begünstigungsnormen weiterhin in Anspruch<br />
nehmen zu können, ohne sie in die Handelsbilanz zu <strong>über</strong>nehmen. Dar<strong>über</strong> hinaus ist eine<br />
handelsrechtliche Übernahme nicht mehr zulässig, wenn man von den Übergangsregelungen<br />
absieht (vgl. 27, S. 23).<br />
Beispiel:<br />
Landwirt Aweist aus einem Gebäudeverkauf in der Steuerbilanz zum 31.12.2010 eine<br />
Reinvestitionsrücklage gemäß §6bEStG in Höhe von 250 000 €aus. In 2011 erwirbt<br />
Landwirt Adas Reinvestitionsobjekt, auf das die Reinvestitionsrücklage gemäß §6bEStG<br />
<strong>über</strong>tragen werden kann. Die Anschaffungskosten des Reinvestitionsobjekts belaufen sich<br />
auf 500 000 €. Der Landwirt wird in aller Regel die Rücklage auf die Anschaffungs-<br />
Buel_3_11.indb 444 17.11.2011 08:13:24
BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />
445<br />
oder Herstellungskosten des Reinvestitionsobjektes <strong>über</strong>tragen, um die Steuerzahlungen<br />
weiter in die Zukunft zuverschieben. In diesem Zusammenhang wird der Landwirt das<br />
ersatzweise angeschaffte Wirtschaftsgut im Jahr der Anschaffung in Höhe des Sonderpostens<br />
mit Rücklageanteil abschreiben und zugleich den Sonderposten mit Rücklageanteil<br />
ausbuchen:<br />
Verrechnung des Sonderpostens mit Rücklageanteil mit dem Reinvestitionsobjekt.<br />
Buchungssätze inden Jahren 2010 und 2011 inder Steuerbilanz:<br />
Sonderposten mit Außerordentliche<br />
Rücklagenanteil 250 000 € an Erträge<br />
250 000 €<br />
Außerplanmäßige Gebäude<br />
Abschreibungen 250 000 € an (Reinvestitionsobjekt)<br />
250 000 €<br />
Während Landwirt Aden Vorgang in der Handelsbilanz in der Vergangenheit analog zur<br />
Steuerbilanz verbuchte und der neu angeschaffte Vermögensgegenstand einen entsprechend<br />
geringeren Wert als die Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten aufwies, erhöht<br />
sich zukünftig in der Handelsbilanz das Eigenkapital entsprechend des Buchgewinns. Auf<br />
diese Art fallen nun Handels- und Steuerbilanz z. T. signifikant auseinander. Dies führt<br />
jedochzur Verbesserung der betriebswirtschaftlichen Aussagekraft der handelsrechtlichen<br />
Bilanz, da diese stärker von fiskalischen Bilanzierungsregelungen befreit wird (vgl. 11,<br />
S. 15).<br />
Differenz zwischen Handels- und Steuerbilanz zum 01.01.2010:<br />
Beträge in der Handelsbilanz:<br />
Eigenkapital 250 000 €>als in der Steuerbilanz (sofern keine latente<br />
Steuern gebildet werden)<br />
Bilanzsumme 250 000 €>als in der Steuerbilanz<br />
Damit diese Diskrepanzen ausreichend dokumentiert werden können, müssen künftig<br />
besondere Verzeichnisse geführt werden, aus denen sich die vom Handelsrecht abweichenden<br />
Wertansätze der Wirtschaftsgüter ergeben. Mangels einer Übergangsvorschrift<br />
zum neu gefassten §5Abs. 1Satz 1EStG treten diese Rechtsfolgen bereits mit Inkrafttreten<br />
des BilMoG ein. Eine Übernahme nur steuerlich zulässiger Wertansätze dürfte damit<br />
letztmals in Jahresabschlüssen <strong>für</strong> Geschäftsjahre zulässig sein, die vor dem Tag des<br />
Inkrafttretens des BilMoG enden (vgl. 3, S. 5). Zu diesen nur steuerlich zulässigen Werten<br />
zählen die Reinvestitionsrücklage, die Rücklage <strong>für</strong> Ersatzbeschaffung gemäß R6.6.<br />
Abs. 4EStR, der Investitionsabzugsbetrag und steuerliche Sonderabschreibung gemäß<br />
§7gEStG; erhöhte Absetzungen bei Gebäuden in Sanierungsgebieten und städtebaulichen<br />
Entwicklungsbereichen (§ 7h EStG); erhöhte Absetzungen bei Baudenkmäler (§ 7i<br />
EStG); Teilwertabschreibung bei dauerhafter Wertminderung im Anlagevermögen gemäß<br />
§6Abs. 1Nr. 1S.2EStG (vgl. 15, S. 40 f.). Bezüglich der auftretenden Diskrepanzen<br />
zwischen Steuer- und Handelsrecht dürften die insbesondere <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> wichtigen<br />
Rücklagen gemäß §6bEStG sein, da sie bei der Investition in Grund und Boden<br />
zu dauerhaften Differenzen führen können. Dies gilt jedoch nicht <strong>für</strong> die nachfolgend<br />
dargestellten Sonderabschreibungen.<br />
Buel_3_11.indb 445 17.11.2011 08:13:24
446 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />
2.2.2 Bildung steuerrechtlicher Sonderabschreibungen nach neuem HGB<br />
Vonden zuvor skizzierten betroffenen Punkten bilden die Sonderabschreibungen eine der<br />
bedeutendsten Positionen. Steuerliche Mehrabschreibungen, in Form einer Wertkorrektur<br />
des Vermögensgegenstands, sind künftig analog der Bildung eines Sonderpostens mit<br />
Rücklageanteil ebenso wenig in der Handelsbilanz zu berücksichtigen wie unversteuerte<br />
Rücklagen (vgl. 3, S. 5). Die folgenden Vorschriften werden durch die Aufhebung der<br />
umgekehrten Maßgeblichkeit gegenstandslos (vgl. 8):<br />
I. §254 HGB-Alt: Steuerrechtliche Abschreibungen<br />
II. §279 Abs. 2HGB-Alt: Steuerrechtliche Abschreibungen<br />
III. §281 HGB-Alt: Steuerrechtliche Abschreibungen<br />
IV. § 285 Nr. 5HGB-Alt: Anhangsangaben im Zusammenhang mit steuerrechtlichen<br />
Abschreibungen<br />
Mit diesen Änderungen lassen sich steuerliche Gestaltungsspielräume nutzen, ohne<br />
dadurch die betriebswirtschaftliche Aussagefähigkeit der Handelsbilanz zu verringern<br />
und die Bemessungsgrundlage (von Kapitalgesellschaften) <strong>für</strong> Gewinnausschüttungen zu<br />
reduzieren.<br />
Innerhalb der <strong>Landwirtschaft</strong> haben die steuerliche Sonderabschreibung gemäß §7g<br />
Abs. 5EStG und der Investitionsabzugsbetrag die größte Bedeutung, der allein im Wirtschaftsjahr<br />
2008/2009 mehr als 110 Mio. Euro bei den gemäß §§ 4Abs. 1EStG Gewinn<br />
ermittelnden Betrieben ausgemacht hat (eigene Kalkulationen gemäß BMELV). Das Handelsrecht<br />
fordert, Vermögensgegenstände mit den Anschaffungskosten zu aktivieren und<br />
planmäßig abzuschreiben (§ 253 Abs. 1Satz 1und Abs. 3HGB). Allerdings gewährt der<br />
Gesetzgeber Wahlrechte bei der Abschreibungsmethode. Die steuerlichen Sonderabschreibungen<br />
mindern nicht die Ausschüttungsbemessungsgrundlage bei Kapitalgesellschaften.<br />
Im Ertragsteuerrecht können die Wahlrechte <strong>für</strong> Sonderabschreibungen, Investitionsabzugsbetrag<br />
und weitere erhöhte Absetzungen (§ 7c, g, h, i, kEStG) unabhängig von<br />
den Ansätzen innerhalb der Handelsbilanz gewählt werden. Bei Wahlrechtsausübung ist<br />
das Wirtschaftsgut in ein besonderes Verzeichnis aufzunehmen (vgl. 22, S. 14). Die damit<br />
zusammenhängenden Entwicklungen in der Handels- und Steuerbilanz werden mithilfe<br />
des folgenden Beispiels in der Tabelle 1anhand der Anschaffung eines Schleppers zum<br />
01.01.2012 mit Anschaffungskosten in Höhe von 100 000 €verdeutlicht. Gegen<strong>über</strong>gestellt<br />
werden zwei landwirtschaftliche Betriebe; der erste meldet <strong>für</strong> die Testbetriebsstatistik<br />
seine Handelsbilanz (vgl. 4) und der zweite Betrieb seine Steuerbilanz. Dabei kann<br />
es zu den in Tabelle 1ausgeführten signifikanten Abweichungen zwischen den Perioden<br />
kommen.<br />
Die Bildung des Investitionsabzugsbetrages nach §7gEStG findet außerbilanziell statt.<br />
In der Tabelle ist lediglich die mögliche Sonderabschreibung bei Auflösung des IABs<br />
ausgeführt. Der steuerliche Vorteil durch die Bildung des Investitionsabzugsbetrags wirkt<br />
sich formal erst in der Summe der Einkünfte in der Steuererklärung und nicht in der Steuerbilanz<br />
aus. Die Abschreibung fällt zwar <strong>über</strong> den gesamten Zeithorizont in Handels- und<br />
Steuerbilanz in identischer Höhe an, allerdings sind die Abweichungen zwischen den Perioden<br />
signifikant. Ausgehend von der Annahme, dass der tatsächliche Wertverlust linear<br />
entlang der Nutzungsdauer erfolgt, spiegelt die Handelsbilanz die Vermögensentwicklung<br />
korrekt wieder.Die Steuerbilanz erscheint unter diesem Gesichtspunkt zur Bewertung des<br />
betriebswirtschaftlichen Periodenerfolgs ungeeignet. Starke Ergebnisschwankungen wie<br />
sie z. B. durch Preisschwankungen und Witterungseinflüsseinsbesondere bei Marktfruchtbetrieben<br />
zukünftig wahrscheinlich noch häufiger der Fall sind, können durch die steuerlichen<br />
Gestaltungsspielräume wie Investitionsabzugsbetrag oder Sonderabschreibungen<br />
ausgeglichen oder gegebenenfalls sogar <strong>über</strong>zeichnet werden. Aus Abschlüssen der Steuerbilanz<br />
ist daher zukünftig noch weniger erkennbar, obausgewählte Wirtschaftsjahre<br />
betriebswirtschaftlich erfolgreich verlaufen sind oder nicht.<br />
Buel_3_11.indb 446 17.11.2011 08:13:24
BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />
447<br />
Tabelle 1. Differenzen des Gewinns/Jahres<strong>über</strong>schusses zwischen der Handelsbilanz<br />
eines landwirtschaftlichen Unternehmens 1mit der Steuerbilanz eines anderen<br />
Unternehmens 2-vor Ertragsteuern anhand der exemplarischen Anschaffung eines<br />
Schleppers im Kontext der Testbetriebsstatistik*<br />
31.12.2012 AfA Schlepper<br />
31.12.2013–<br />
31.12.2016<br />
31.12.2017–<br />
31.12.2019<br />
Verbuchung nach HGB<br />
beim Unternehmen 1<br />
Buchung Einfluss<br />
auf den<br />
Jahres<strong>über</strong>schuss<br />
AfA Schlepper<br />
AfA<br />
Schlepper<br />
Verbuchung in der Steuerbilanz<br />
beim Unternehmen 2<br />
Buchung Einfluss auf<br />
den Gewinn/<br />
Jahres<strong>über</strong>schuss<br />
-12 500 € AfA –Übertragung<br />
IAB<br />
(§ 7g EStG)<br />
Sonder –<br />
AfA<br />
Lineare –<br />
AfA<br />
jährlich (4x)<br />
-12 500 €<br />
x4Jahre =<br />
-50 000 €<br />
jährlich (3x)<br />
-12 500 €<br />
x3Jahre =<br />
-37 500 €<br />
Lineare –<br />
AfA<br />
Lineare –<br />
AfA<br />
AfA<br />
-40 000 €<br />
-12 000 €<br />
-7 500 €<br />
jährlich (4x)<br />
-7 500 €<br />
x4Jahre =<br />
-30 000 €<br />
jährlich (3x)<br />
-3 500 €<br />
x3Jahre =<br />
-10 500 €<br />
Summe 100 000 € 100 000 €<br />
Die Gegen<strong>über</strong>stellung der verschiedenen Bilanzen soll verdeutlichen, dass die Differenzen<br />
in der Erfassung der Vermögensgegenstände bzw.Wirtschaftsgüter signifikant ausfallen<br />
können. Insbesondere Gläubiger erhalten durch die neuen Vorgaben zur Erstellung<br />
der Handelsbilanz ein repräsentativeres Bild der tatsächlichen Vermögensverhältnisse.<br />
2.3 Sonstige durch das BilMoG betroffene Bilanzierungswahlrechte<br />
2.3.1 Streichung der Rückstellungswahlrechte gemäß<br />
§249 Abs. 1Satz 3und Abs. 2HGB a. F.<br />
Differenz<br />
Gewinn/<br />
Jahres<strong>über</strong>schuss<br />
im<br />
Kalenderjahr(e)<br />
47 000 €<br />
(höherer<br />
Ausweis<br />
Handelsbilanz)<br />
47 000 €<br />
(höherer<br />
Ausweis<br />
Steuerbilanz)<br />
*Diese Diskrepanzen können sich im gewählten Beispiel nur dann ergeben, wenn der IAB und die<br />
Sonderabschreibung gemäß §7gEStG in Anspruch genommen werden kann.<br />
Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung<br />
Neben der bedeutenden Veränderung bei den Pensionsrückstellungen, die <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong><br />
im Regelfall unbedeutend ist, werden auch andere Rückstellungen durch das<br />
BilMoG tangiert. Dazu zählen auch die Aufwandsrückstellungen, die im Unterschied zu<br />
anderen Rückstellungen mit keinen rechtlichen oder wirtschaftlichen Verpflichtungen<br />
Buel_3_11.indb 447 17.11.2011 08:13:24
448 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />
gegen<strong>über</strong> einem Dritten verbunden sind –Außenverpflichtung (vgl. 20, S. 90 f.). Daher<br />
werden diese auch als Innenverpflichtung bezeichnet (vgl. 2, S. 442).<br />
Diese, zu den oftmals kritisierten Passivierungswahlrechten zählende Rückstellungsoption<br />
wurde mit dem BilMoG gestrichen (vgl. 21, S. 139 f.): Im alten Geschäftsjahr<br />
notwendige aber noch nicht durchgeführte Instandhaltungen, welche nach dem dritten<br />
Monat aber bis zum Ende des zwölften Monats des Folgejahres nachgeholt wurden, durften<br />
nach bisheriger Rechtslage passiviert werden. Ebenso gestrichen wurde das Wahlrecht<br />
<strong>für</strong> Aufwendungen, die ihrer Eigenart nach genau umschrieben, dem aktuellen oder einem<br />
früheren Geschäftsjahr zuzuordnen und hinsichtlich der Höhe oder des Zeitpunkts ihres<br />
Eintritts unbestimmt waren. Mithilfe dieser Passivierungsmöglichkeit wurden vor allem<br />
Aufwendungen <strong>für</strong> regelmäßige General<strong>über</strong>holungen und Großreparaturen auf mehrere<br />
Geschäftsjahre verteilt (vgl. 26, S. 70).<br />
Mit Abschaffung der o. g. Passivierungswahlrechte nach §249 Abs. 1und 2HGB hat<br />
sich der deutsche Gesetzgeber weiter an die IFRS angepasst, wobei gemäß IFRS Innenverpflichtungen<br />
nicht zu Rückstellungen führen dürfen. Demnach wären auch Instandhaltungsrückstellungen<br />
bis zu drei Monaten und Rückstellungen <strong>für</strong> Abraumbeseitigung<br />
(als Innenverpflichtungen) nicht zu berücksichtigen. Dieser Vorschrift wurde wegen der<br />
steuerlichen Vorschriften nicht entsprochen, da sie steuerlich ausdrücklich gebildet werden<br />
dürfen (vgl. 24, S. 18). Mit Streichung der anderen ausgeführten Wahlrechte sollen<br />
Vermögens-, Finanz-, und Ertragslage besser dargestellt werden. Der Gesetzgeber argumentiert,<br />
dass die gestrichenen Aufwandsrückstellungen den Charakter einer Rücklage<br />
und nicht einer Rückstellung haben (vgl. 9, S. 108). Dar<strong>über</strong> hinaus erfolgt auch aus<br />
steuerrechtlicher Sicht eine Annäherung, da gemäß BFH Rechtsprechung handelsrechtliche<br />
Passivierungswahlrechte steuerlich zu Passivierungsverboten führen (vgl. 15, S. 56).<br />
2.2.2 Außerplanmäßige Abschreibungen und Wertaufholungswahlrechte<br />
nach neuem HGB<br />
Bislang waren in der Handelsbilanz außerplanmäßige Abschreibungen von Vermögensgegenständen<br />
des Anlagevermögens und des Umlaufvermögens nach §253 Abs. 2und<br />
3HGB a. F. vorzunehmen, um die Vermögensgegenstände mit dem niedrigeren beizulegenden<br />
Wert anzusetzen. Die Vorschriften des §253 Abs. 2, 3HGB sind Ausfluss des<br />
Vorsichtsprinzips und des daraus abgeleiteten Niederstwertprinzips nach §252 Abs. 1<br />
Nr. 4HGB (vgl. 15, S. 52 f.). Losgelöst vom Stichtagsprinzip hat das bisherige HGB<br />
auch Abschreibungen auf einen niedrigeren zukünftig erwarteten Wert zugelassen; sog.<br />
erweitertes Niederstwertprinzip (vgl. 11, S.72). Danach sind Verluste zu berücksichtigen,<br />
auch wenn diese noch nicht realisiert oder auch zu periodisieren sind.<br />
Nach dem BilMoG wurden nun auch <strong>für</strong> Personenunternehmen folgende Abschreibungswahlrechte<br />
bzw. Wertaufholungswahlrechte gestrichen (vgl. 26, S. 86; 15, S. 53 f.;<br />
11, S.72):<br />
I. Abschreibung auf Vermögensgegenstände des Umlaufvermögens, wenn eine künftige<br />
Wertschwankung erwartet wurde (§ 253 Abs. 3Satz 3HGB a. F. ).<br />
II. Wertaufholung -bei Wegfall des Grundes <strong>für</strong> die Wertaufholung galt die Pflicht zur<br />
Zuschreibung bisher gemäß §253 Abs. 5HGB a. F. nur <strong>für</strong> Kapitalgesellschaften.<br />
III. Abschreibung nach „vernünftiger kaufmännischer Beurteilung“ (sog. Willkürabschreibungen;<br />
§253 Abs. 5HGB a. F.).<br />
IV. Abschreibung bei vor<strong>über</strong>gehender Wertminderung des Anlagevermögens – galt<br />
bisher nach §253 Abs. 3Satz 4HGB nur <strong>für</strong> Nicht-Kapitalgesellschaften.<br />
Der Gesetzgeber hat sich mit diesen Reformpunkten an die IFRS angenähert, allerdings<br />
ohne signifikante Veränderungen <strong>für</strong> Kapitalgesellschaften. Damit wird eine bessere Vergleichbarkeit<br />
von handelsrechtlichen Bilanzen erreicht. Die Neuregelung führt auch zu<br />
Buel_3_11.indb 448 17.11.2011 08:13:25
BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />
449<br />
einerAnnäherung andie steuerlichen Vorschriften. Gemäß §6Abs. 1Nr. 1Satz 2, Nr. 2<br />
Satz 2EStG sind Teilwertabschreibungen nur aufgrund dauerhafter Wertminderungen<br />
möglich. Gemäß §6Abs. 1Nr. 1Satz 4und Nr. 2Satz 3EStG gilt steuerlich bereits nach<br />
altem Recht ein striktes Wertaufholungsgebot (vgl. 15, S. 53 f.).<br />
Für vor der Novellierung des HGB´s getroffene Abschreibungen hat der Gesetzgeber<br />
Übergangsregelungen getroffen. Gemäß Art. 67 Abs. 4EGHGB n. F. wird entweder die<br />
Beibehaltung und Fortführung der bisherigen Abschreibungen oder die Auflösung und<br />
Einstellung in die Gewinnrücklagen gewählt. Die Möglichkeit zur Einstellung in die<br />
Gewinnrücklagen gilt allerdings nicht <strong>für</strong> Abschreibungen, welche imletzten vor dem<br />
01.01.2010 begonnenen Geschäftsjahr vorgenommen wurden (vgl. 11, S.73).<br />
3 Schlussfolgerungen<br />
Das deutsche Testbetriebsnetz setzt innerhalb der EU-Testbetriebsnetze einen Benchmark<br />
(vgl. 29). Dennoch gibt es immer noch Weiterentwicklungsmöglichkeiten, wie z. B. die<br />
Erweiterungder Testbetriebsnetzinformationenhinsichtlich zu konsolidierender Jahresabschlüsse,die<br />
besonders <strong>für</strong> die Veredlung aber auch <strong>für</strong> die Energieproduktion von Bedeutung<br />
wären, sowie die Erweiterung <strong>über</strong> das Sonderbetriebsvermögenlandwirtschaftlicher<br />
Unternehmer (vgl. 7). Dar<strong>über</strong> hinaus ist im Kontext der zuvor skizzierten Kapitel die<br />
zunehmende Konkurrenz zwischen den verschiedenen Vorschriften zur Erstellung von<br />
Jahresabschlüssen deutlich geworden. Mehr denn je müssen Rechnungslegungsvorschriften<br />
Berechtigung und Aussagekraft nachweisen. Durch das BilMoG hat das HGB und<br />
infolge dessen auch die Handelsbilanz einen weiteren Schritt in die Richtung einer erhöhten<br />
betriebswirtschaftlichen Aussagekraft gemacht. Mithilfe von Vereinfachungen wurde<br />
der Anspruch eines „verhältnismäßig einfach zu erstellenden Jahresabschlusses“ gestärkt<br />
und die Daseinsberechtigung gegen<strong>über</strong> dem IFRS-Abschluss untermauert. Im Rahmen<br />
der Testbetriebsbuchführung erstellen allerdings lediglich ca. 10 %der beteiligten landwirtschaftlichen<br />
Betriebe eine Bilanz nach HGB. Die jüngsten Ausführungsanweisungen<br />
ermöglichen die Option, die Handelsbilanz <strong>für</strong> die Testbetriebsstatistik einzureichen. Vor<br />
dem Hintergrund der zuvor dargestellten Rahmenbedingungen ist diese Vorgehensweise<br />
zunächst zu begrüßen. Mit dem BilMoG erfährt die Handelsbilanz eine weiter zunehmende<br />
betriebswirtschaftliche Aussagekraft, die stärker losgelöst ist von steuerrechtlichen<br />
Vorgehensweisen. Dies könnte in Zukunft noch weiter an Bedeutung gewinnen, wenn <strong>für</strong><br />
den Sektor <strong>Landwirtschaft</strong> eine zunehmend volatile Ertragserwartung von Wirtschaftsjahr<br />
zu Wirtschaftsjahr zu erwarten ist (vgl. 23, S. 54). Die zukünftige Übernahme von<br />
Handelsbilanzergebnissen ist, soweit vorhanden, in das Testbetriebsnetz zu begrüßen.<br />
Für diese Betriebe erfolgt eine angemessenere betriebswirtschaftliche Abbildung. Diese<br />
zweigleisige Vorgehensweise, d. h. die Übernahme von Handelsbilanzen, soweit vorhanden<br />
und der ansonsten zu <strong>über</strong>nehmenden Steuerbilanzen, wirft jedoch auch Probleme<br />
auf. So entstehen durch diese Vorgehensweise auch Friktionen in der Interpretation der<br />
Testbetriebsergebnisse. Betriebsvergleiche bzw. zusammengefasste statistische Ergebnisse<br />
könnten zukünftig stärker fehlinterpretiert werden. So sind die zuvor beschriebenen<br />
steuerrechtlichen Rücklagen künftig ausschließlich in der Steuerbilanz anzusetzen.<br />
Nach HGB bilanzierende Betriebe haben somit bei gleichen Sachverhalten zumindest im<br />
Jahr der Rücklagenbildung einen geringeren Jahres<strong>über</strong>schuss. Theoretisch könnten sich<br />
Abweichungen im Zeitablauf sowie aufgrund der hohen Betriebsanzahl wieder ausgleichen.<br />
Allerdings sind z. B. Rücklagen gemäß §6bEStG, die auf Grundstücke <strong>über</strong>tragen<br />
werden, sehr lange in den Bilanzen und lösen sich meist erst bei Verkauf der betreffenden<br />
Grundstücke wieder auf. Gerade <strong>für</strong> diese Fälle, welche in der landwirtschaftlichen Buchführung<br />
z. T. bedeutend sein können, erscheint es angemessen, von größtenteils dauerhaft<br />
Buel_3_11.indb 449 17.11.2011 08:13:25
450 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />
abweichenden Ansätzen auszugehen. Dar<strong>über</strong> hinaus ergeben sich Interpretationsschwierigkeiten<br />
im Hinblick auf große Betriebe bzw. juristische Personen, die <strong>über</strong>durchschnittlich<br />
häufig eine Handelsbilanz anfertigen und somit deren Ergebnisse automatisch in das<br />
Testbetriebsnetz einfließen. Dagegen werden <strong>für</strong> kleinere und mittlere landwirtschaftliche<br />
Unternehmen bzw. natürliche Personen <strong>über</strong>durchschnittlich häufig die Ergebnisse der<br />
Steuerbilanz maßgeblich sein. Werden die Jahres<strong>über</strong>schüsse der verschiedenen Größenklassen<br />
bzw.Rechtsformen miteinanderverglichen, kann es somit zu Fehlinterpretationen<br />
kommen. Dies gilt auch im Hinblick auf regionale Vergleiche. Mit den in Ostdeutschland<br />
verstärkt anzutreffenden Handelsbilanzen erstellenden Betrieben bzw. Betriebsleitern<br />
könnten in Zukunft <strong>für</strong> die Betriebe inOstdeutschland verstärkt volatile Ergebnisse abgebildet<br />
werden. Dies könnte z. B. zu der Fehlinterpretation führen, dass die Bewirtschaftung<br />
in Ostdeutschland riskanter sei als in Westdeutschland (sofern höhere Standardabweichungender<br />
Jahres<strong>über</strong>schüsse als höheresRisiko gewertet werden), obwohl lediglichdie<br />
verstärkt steuerrechtlich genutzten Instrumente in Westdeutschland zu einer wirksameren<br />
Nivellierung der abgebildeten Ergebnisse führen würden.<br />
Theoretisch könnten die zuvor genannten Monita der BMELV-Testbetriebsberichterstattung<br />
reduziert werden. Sokönnten z.B.Steuerbilanzabschlüsse auf Handelsbilanzabschlüsse<br />
umgerechnet werden, umdaraus einen BMELV-Abschluss abzuleiten. Damit<br />
würde es sich aber wahrscheinlich nicht mehr um offiziell geprüfte Abschlüsse handeln.<br />
Bislang <strong>für</strong> die Testbetriebsstatistik genutzte Abschlüsse sind als Steuer- oder Handelsbilanz<br />
durch berechtigte Instanzen (Steuerberater/Wirtschaftsprüfer) geprüft. Eine aus der<br />
Steuerbilanz gesondert <strong>für</strong> die Testbetriebsstatistik abgeleitete Handelsbilanz hätte voraussichtlich<br />
keinen offiziellen Prüfstatus. Eine zusätzliche Prüfung durch die berechtigten<br />
Institutionen würde jedochwiederzusätzlichen (finanziellen) Aufwand erfordern. Vordiesem<br />
Hintergrund würden die eigentlichwünschenswerten Handelsbilanzen <strong>für</strong> alle Testbetriebe<br />
wahrscheinlich zu hohe Transaktionskosten auslösen,die nicht tragfähig erscheinen.<br />
Ggf. wäre zu <strong>über</strong>legen, ob nicht eine geringere Anzahl an Testbetriebenmit da<strong>für</strong> aussagekräftigerem<br />
Datenmaterial auf der Basis einer Handelsbilanz zu einer höheren Aussagekraft<br />
bei gleich bleibenden Transaktionskosten führen könnte. Dies wäre gesondert<br />
zu analysieren. Denn auch in diesem Zusammenhang gilt: Allein die Quantität erfasster<br />
Betriebe gewährleistet nicht die Qualität der daraus abzuleitenden Erkenntnisse. Gerade<br />
auch im Hinblick auf den Strukturwandel und ständig sinkender Betriebszahlen muss<br />
hinterfragt werden, ob nicht eine geringere Zahl von Testbetriebenebenfalls eine repräsentative<br />
Erhebung leisten kann, wenn gleichzeitig zunehmend handelsrechtliche Vorgaben<br />
Beachtung finden würden.<br />
Falls der Weg <strong>über</strong> eine umgestaltete Erhebung nicht möglich sein sollte, drängt<br />
sich die Frage nach einer modifizierten Erfolgsspaltung auf. Beispielsweise könnte das<br />
Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit und die Positionen betriebliche Erträge<br />
und betriebliche Aufwendungen neu gefasst werden. Denn „Die Gewinn- und Verlustrechnung<br />
(GuV) hat die Aufgabe, durch eine zweckmäßige Gliederung einzelner Erfolgskomponenten<br />
einen möglichst guten Einblick in die Ertragslage des Unternehmens zu<br />
ermöglichen.“ (vgl. 28, S. 802). Damit könnte die hoch aggregierte Größe „Jahreserfolg“<br />
exakter in die nachhaltigen und nicht nachhaltigen Erfolgsbestandteile aufgeschlüsselt<br />
werden (vgl. 1, S. 387 f.). Gelänge es, diese hochaggregierte Erfolgskennzahl von rein<br />
fiskalischen Einflüssen zu befreien, könnte der Informationswert im Sinne der Zielsetzung<br />
der Agrarberichterstattung möglicherweise erhöht werden. Interpretationsfriktionen<br />
z. B. durch Sonderabschreibungen oder anderen ausschließlich steuerrechtlich motivierten<br />
Regelungen, welche den betriebswirtschaftlichen Periodenerfolg verzerren, werden<br />
im „Begriffskatalog zum Jahresabschluss“ bislang zwar erkannt, aber in der Gliederung<br />
des Jahresabschlusses nicht adäquat berücksichtigt (vgl. 12, S. 99). Diese Aufwendungen<br />
und Erträge sollten im Sinne einer angemessenen betriebswirtschaftlichen Interpretation<br />
Buel_3_11.indb 450 17.11.2011 08:13:25
BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />
451<br />
von Gewinnen (die agrarpolitische Auswirkungen aufweisen) nicht den Positionen der<br />
„betrieblichen Aufwendungen und Erträgen“ zugerechnet werden und somit auch nicht<br />
in das Betriebsergebnis bzw. nicht in das Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit<br />
Eingang finden. Vielmehr sollte dar<strong>über</strong> nachgedacht werden, diese in einem zusätzlichen<br />
Gliederungspunkt auszuweisen, damit der BMELV-Jahresabschluss eine noch höhere<br />
Akzeptanz in der politischen Entscheidungsfindung aber auch in der betriebswirtschaftlichen<br />
Beratung erfahren kann.<br />
Zusammenfassung<br />
Durch das <strong>Landwirtschaft</strong>sgesetz ist die Bundesregierung verpflichtet, regelmäßig aktuelle Informationen<br />
zur Lage der <strong>Landwirtschaft</strong> bereitzustellen. Zudiesem Zweck bietet sich der Rückgriff auf<br />
Jahresabschlussdaten des Steuer- und Handelsrechtes an. Sie bieten einen rechtssicheren und nachvollziehbaren<br />
Ansatz mit vergleichsweise geringen Transaktionsaktionskosten. Dementsprechend<br />
besteht in Deutschland ein Testbetriebsnetz, das auf diese Daten zurückgreift. ImSinne der Zielsetzung<br />
des <strong>Landwirtschaft</strong>sgesetzes wäre insbesondere ein handelsrechtlicher Ansatz der Testbetriebsberichterstattungvorzüglich.<br />
Er gewährleisteteine höhere betriebswirtschaftliche Aussagekraft<br />
hinsichtlichder aktuellen Ertrags- und Vermögenslage als der steuerrechtliche Abschluss. Allerdings<br />
erstellen die meisten Landwirte nur einen steuerrechtlichen Abschluss, sodass im Rahmen der Testbetriebsberichterstattung<br />
in der Vergangenheit ein Kompromiss zwischen handelsrechtlichen und<br />
steuerrechtlichen Maßgaben vorgenommen wurde. Durch das jüngst verabschiedete Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz<br />
(BilMoG) wird dieser Kompromiss jedoch tangiert, weil sich diese Rechnungslegungsvorschriften<br />
weiter auseinander entwickelt haben. Führte in den vergangenen Jahren das<br />
(umgekehrte) Maßgeblichkeitsprinzip zu einer engen Verzahnung zwischen Handels- und Steuerbilanz,<br />
so kam es mit Streichung des §5Abs. 1EStG a. F. gemäß BilMoG zu einem Auseinanderfallen<br />
wesentlicher Posten von steuer- und handelsrechtlich motivierten Jahresabschlüssen. Dies liegt u. a.<br />
an wirtschaftspolitisch motivierten Regelungen des Steuerrechts, die einerseits z. B. Investitionen<br />
in Produktionsgüter fördern sollen (z. B. Sonderabschreibungen, Rücklagenbildungen, Investitionsabzugsbetrag),<br />
aber andererseits die betriebswirtschaftliche Aussagekraft des steuerlichen Jahresabschlusses<br />
einschränken. Die Regelungen <strong>für</strong> das Testbetriebsnetz konnten inder Vergangenheit,<br />
nicht zuletzt aufgrund des (umgekehrten) Maßgeblichkeitsprinzips, diesem Problem begegnen. Mit<br />
dem BilMoG wird dies jedoch erschwert. Eine Reaktion der Testbetriebsberichterstattung auf das<br />
BilMoG könnte u. a. dadurch gekennzeichnet sein, die handelsrechtlichen Jahresabschlussdaten der<br />
Unternehmen mit verpflichtender handelsrechtlicher Jahresabschlusserstellung zu <strong>über</strong>nehmen (insbesondere<br />
juristische Personen). Allerdings wird gezeigt, dass diese Vorgehensweise imHinblick<br />
auf die allgemeine Aussagefähigkeit tragfähig ist, aber im Hinblick auf interregionale sowie Rechtsformvergleiche<br />
problematisch sein kann. Eine weitere Alternative könnte in einer zukünftig modifizierten<br />
Erfolgsspaltung innerhalb des BMELV-Abschlusses bestehen, um die betriebswirtschaftliche<br />
Aussagefähigkeit der Testbetriebsberichterstattung noch weiter zuerhöhen.<br />
Summary<br />
BMELV annual accounts inthe face of the conflicting demands ofcommercial and<br />
tax accounting:<br />
Consequences of the German Accounting Law Modernisation Act on BMELV annual accounts<br />
The Agriculture Act requires the Federal Government to provide up-to-date information on the situation<br />
of agriculture at aregular basis. For this purpose it makes sense to use the data contained in<br />
the annual accounts that are drawn up under tax and commercial law. These offer alegally secure<br />
and comprehensible approach with comparably low transaction costs. Germany runs atest farm<br />
network which uses this data. In line with the Agriculture Act’s objective, it is preferable to take a<br />
commercial law approach to test farm reporting. The commercial accounts provide more meaningful<br />
data on the actual results of operation and net assets than tax law based annual accounts. However,<br />
most farmers only draw up an account under tax law so, in the past, acompromise had to be made<br />
between commercial and tax law requirements in the framework of test farm reporting. However,the<br />
recently adopted German Accounting Law Modernisation Act (BilMoG) has consequences for this<br />
compromise, as it has widened the gap between these two sets of accounting rules. In past years, the<br />
(reversed) authoritative principle, under which accounting choices made in the tax accounts had to<br />
be reflected on the commercial balance sheet, resulted in aclose coordination between commercial<br />
and tax balance sheet. Now, however, the deletion of Section 5Subsection 1German Income Tax<br />
Buel_3_11.indb 451 17.11.2011 08:13:25
452 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />
Code, amended version (EStG a. F.)isresulting in adivergence in the treatment of essential items<br />
in the two sets of accounts. This is partly due to tax law provisions motivated by economic policy,<br />
which were intended to promote e.g. investments into capital equipment (e.g. special depreciation<br />
allowances, creation of reserves, investment deduction amounts), but which also limit the economic<br />
value of the tax-bases annual accounts. In the past the provisions for the test farm network were<br />
able to deal with this problem, not least because of the (reversed) authoritative principle. However,<br />
this has become more difficult with the German Accounting Law Modernisation Act (BilMoG). A<br />
reaction to the BilMoG within the context of test farm reporting might include using the data from<br />
the commercial-law based annual accounts of companies obliged to prepare such accounts (especially<br />
legal persons). However, itisshown that though this procedure is viable with regard to the<br />
general value of the information it provides, itisproblematic with regard to interregional and legal<br />
form comparisons. Another alternative could be to modify the profit breakdown within the BMELV<br />
annual accounts in future, in order to further increase the analytical usefulnessoftest farm reporting.<br />
Résumé<br />
Les comptes annuels du Ministère fédéral allemand de l‘Alimentation, del‘Agriculture<br />
et de la Protection des Consommateurs (BMELV) prises entre les principes du bilan commercial<br />
et du bilan fiscal:<br />
Les effets de la loi relative àlamodernisation de la législation sur l’établissement de bilans<br />
(BilMoG) sur les comptes annuels du BMELV<br />
Conformément àlaloi relative àl’agriculture, le gouvernement fédéral allemand est obligé àmettre<br />
régulièrement àladisposition des informations actuelles sur la situation du secteur agricole. Àcette<br />
fin, il est utile d’exploiter les données des comptes annuels prélevées sur la base du droit commercial<br />
et du droit fiscal. Ces données permettent une approche juridiquement garantie et compréhensible<br />
avec des coûts de transaction relativement faibles. En Allemagne, il existe un réseau d’exploitations<br />
modèles utilisant ces données. Dans la ligne des objectifs visés par la loi relative àl’agriculture, il<br />
serait préférable d’établir les rapports sur ces exploitations modèles sur la base des principes du droit<br />
commercial ce qui assure un plus grand pouvoir explicatif du point de vue de l’économie d’entreprise<br />
en ce qui concerne la rentabilité et la situation patrimoniale que le bilan fiscal. Mais la plupart des<br />
agriculteurs établit uniquement un bilan fiscal de sorte que, dans le passé, les rapports sur les exploitations<br />
modèles ont toujours été un compromis entre les dispositions dudroit commercial et celles<br />
du droit fiscal. La loi relative àlamodernisation de la législation sur l’établissement de bilans (loi<br />
BilMoG) récemment adoptée abien des effets sur ce compromis parce que les normes comptables<br />
concernées divergent. Dans les années passées, le principe de la «dépendance (inversée) »avait<br />
garanti un lien étroit entre le bilan commercial et le bilan fiscal; maintenant, en supprimant l’article<br />
5alinéa 1delaloi relative àl’impôt sur les revenus, conformément àlaloi BilMoG, des postes<br />
fondamentaux dans les comptes annuels basés sur le droit fiscal se différencient de ceux dans les<br />
comptes annuels basés sur le droit commercial. Car le droit fiscal comprend des règles visant par<br />
exemple àpromouvoir les investissements dans les biens de production (amortissementexceptionnel,<br />
constitution de réserves, retenue d’investissement) mais qui limitent en même temps le pouvoir<br />
explicatif des comptes annuels fiscaux du point de vue de l’économie d’entreprise. Dans le passé, le<br />
système appliqué au réseau d’exploitations modèles apermis de répondre àceproblème, entre autre<br />
grâce au principe de la dépendance inversée, ce qui deviendra plus difficile sous la loi BilMoG. En<br />
ce qui concerne les rapports sur les exploitations modèles, il est envisageable d’utiliser les données<br />
des comptes annuels basés sur le droit commercial et établis obligatoirement par certaines entreprises<br />
(notamment par les personnes juridiques). Une telle approche apporterait la valeur informative<br />
nécessaire mais poserait des problèmes quant àlacomparaison des régions et des formes juridiques.<br />
Afin de renforcer encore plus le pouvoir explicatif des rapports sur les exploitations modèles du point<br />
de vue de l’économie d’entreprise, àl’avenir, dans les comptes annuels du BMELV, les résultats<br />
comptables pourraient être dégroupés autrement.<br />
Buel_3_11.indb 452 17.11.2011 08:13:25
BMELV-Jahresabschluss im Spannungsfeld zwischen Handels- und Steuerbilanz<br />
Literatur<br />
453<br />
1. baetge, J.; bruns, C., 1996: Erfolgsquellenanalyse. In: BBK, NWB Verlag, Herne.<br />
2. –; KirsCh, H.-J.; thiele, S., 2007: Bilanzen. IDW Verlag, 9. Aufl., Düsseldorf.<br />
3. bertram, K.; BrinKmann, R.; Kessler, H.; müller, s., 2009: BilMoG verabschiedet, Die wichtigsten<br />
Änderungen durch das BilMoG, Haufe Verlag, Freiburg.<br />
4. BMELV, 2011: Buchführung der Testbetriebe, Ausführungsanweisen zum BMELV-Jahresabschluss,<br />
http://www.bmelv-statistik.de/de/testbetriebsnetz/, Stand: 20.04.2011.<br />
5. blanCK, N.; bahrs, e., 2009: Die Risikoausgleichsrücklage als Instrument des landwirtschaftlichen<br />
Risikomanagements. In: Agrarwirtschaft, 4/09, S. 209–217.<br />
6. –; –, 2010: Rücklagen und Rückstellungen in der Land- und Forstwirtschaft aus ertragsteuerlicher und<br />
betriebswirtschaftlicher Sicht. In: <strong>Berichte</strong> <strong>über</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>, Bd. 88, Heft 3, S. 420–444.<br />
7. –; –, 2010: Sind erfolgreiche Betriebsleitertatsächlich erfolgreich? Das Potenzial <strong>für</strong> Fehlinterpretationen<br />
bei der Kennzahl ‚Nettorentabilität‘. In: Agrar- und <strong>Ernährung</strong>smärkte nach dem Boom, Schriften<br />
der Gesellschaft <strong>für</strong> Wirtschafts und Sozialwissenschaften des Landbaues e.V., 49. Jahrestagung der<br />
Gesellschaft <strong>für</strong> Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaues e.V., 30.09–02.10.2010, Band<br />
45.<br />
8. bOssle, W.,2011: Zielsetzung des BilMoG. www.bossle.de/BilMoG.html, Stand: 22.03.2011.<br />
9. Bundesrats-Drucksache, 2008: BR-Drucksache 344/08 vom 23.05.2008, S. 108.<br />
10. Einkommensteuergesetz, Bundesdruckerei, Berlin.<br />
11. hahn, K., 2009: BilMoG Kompakt. HDS Verlag, 2. Aufl., Weil im Schönbuch.<br />
12. halbig, W.; manthey, R.-P., 1999: Begriffskatalog zum Jahresabschluss <strong>für</strong> Betriebe der <strong>Landwirtschaft</strong>,<br />
des Gartenbaues, des Weinbaues und der Fischerei. Verlag Pflug und Feder, Heft 80, 5. Aufl.,<br />
Sankt Augustin.<br />
13. Institut der Wirtschaftsprüfer, 2010: IDW Stellungsnahmen zur Rechnungslegung. http://www.idw.de/<br />
idw/download/IDW__ERS__HFA__36.pdf?id=591872&property=Inhalt, Stand: 25.10.2010.<br />
14. –, 2011: IDW Stellungsnahmen zur Rechnungslegung. http://www.idw.de/idw/portal/d302224, Stand:<br />
04.03.2011.<br />
15. KrOsChel, J.; riChter, J., 2010: Auswirkungen des BilMoG auf die Handels- und Steuerbilanz von<br />
kleinen und mittleren Unternehmen. Logos Verlag ,1.Aufl., Berlin.<br />
16. Krümmel, J., 2006: Effiziente Jahresabschlussanalyse. DLG Verlag, 2. Aufl., Frankfurt am Main.<br />
17. lühn, M., 2007: Weiterentwicklung des handelsrechtlichen Einzelabschlusses –Änderungen des Bil-<br />
MoG-E sowie weitere Reform<strong>über</strong>legungen. In: StuB, NWB Verlag, Herne.<br />
18. manthey, R.-P., 2002: Bewertung im landwirtschaftlichen Rechnungswesen, in Schriftenreihe des<br />
Hauptverbandes der landwirtschaftlichen Buchstellen und Sachverständigen. HLBS Verlag, 5. Aufl.,<br />
Sankt Augustin.<br />
19. –, 1994: Der neue BML-Jahresabschluß –Grundlagen, Kurzdarstellung, Hintergründe, in Schriftenreihe<br />
des Hauptverbandes der landwirtschaftlichen Buchstellen und Sachverständigen. HLBS Verlag,<br />
1. Aufl., Sankt Augustin.<br />
20. mOster,A., 1999: Bilanzrechtsprechung. Mohr Siebeck Verlag, 5. Aufl., Tübingen.<br />
21. naumann, K.-P., 1994: Die Bewertung von Rückstellungen in der Einzelbilanz nach Handels- und<br />
Ertragsteuerrecht. IDW Verlag, 2. Aufl., Düsseldorf.<br />
22. nOrDhOf,f.,2009: Steuerbilanzpolitik nach BilMoG. KPMGAGWirtschaftsprüfungsgesellschaft, Dortmund.http://www.conpract.wiwi.uni-due.de/fileadmin/fileupload/CONPRACT/Dokumente/StBWPtH<br />
/StBWPtH09_KPMG.pdf, Stand: 22.03.2011.<br />
23. OECD, 2010: OECD-FAO Agricultural Outlook 2010. OECD Publishing, Paris.<br />
24. paDberg, C.; paDberg, T.; Werner, T.,2010: Das neue HGB. Erich Schmidt Verlag, 2. Aufl., Berlin.<br />
25. petersen, K.; zWirner, C.; KünKele, K.-P., 2010: BilMoG in Beispielen, Anwendung und Übergang-<br />
Praktische Empfehlungen <strong>für</strong> den Mittelstand. NWB Verlag, Herne.<br />
26. sOlmeCKe, h., 2009: Auswirkungen des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG) auf die handelsrechtlichen<br />
Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung. Hrsg.: baetge, J.;KirsCh, h.-J., Institut<br />
der Wirtschaftsprüfer, Düsseldorf.<br />
27. theile, C., 2011: Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz. NWB Verlag, 3. Aufl., Herne.<br />
28. Wöhe, G., 2010: Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. Franz Vahlen Verlag, 24.<br />
Aufl., München.<br />
29. zeDDies, J.; Köhne, m.; bahrs, e.; Janze, C.; gamer, W.; zimmermann, b., 2006: Comparison of the<br />
accounting standards used in FADN with the International Accounting Standards (IAS). Hrsg. Institut<br />
<strong>für</strong> landwirtschaftliche Betriebslehre der Universität Hohenheim. 5/2006, Stuttgart.<br />
30. zimmert,P., 2010: Latente Steuern nach BilMoG –Gesetzeslücke bei Inanspruchnahme des §7gEStG.<br />
In: DStR, Heft 16/2010, S. 826, Beck–Buchhandel, München.<br />
Buel_3_11.indb 453 17.11.2011 08:13:25
454 Matthias Moser und Enno Bahrs<br />
Autorenanschrift: Int. Dipl. Vw. M.sc. Matthias mOser und Prof. Dr. ennO bahrs, Institut <strong>für</strong><br />
<strong>Landwirtschaft</strong>liche Betriebslehre der Universität Hohenheim, Schloß-Osthof-<br />
Südflügel, 70593 Stuttgart, Deutschland<br />
matthias_moser@uni-hohenheim.de<br />
Buel_3_11.indb 454 17.11.2011 08:13:25
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und<br />
Agrarverbände in Ostdeutschland vor und nach der<br />
Wiedervereinigung<br />
Von Axel WOlz, Halle (Saale)<br />
1 Einleitung<br />
U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0455 $2.50/0<br />
455<br />
Mehr als 20 Jahre sind seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes sowie der<br />
Wiedervereinigung Deutschlands vergangen. Im Jahre 1989 waren weder Politiker noch<br />
Bürger beider deutscher Staaten auf diesen notwendigen Transformationsprozess vorbereitet,<br />
der dann in relativ kurzer Zeit ablief. Dieser Prozess leitete einen radikalen Wandel<br />
der bestehenden (sozialistischen) Organisationen und Institutionen in der ehemaligen<br />
DDR ein. Die Auflösung personeller und institutioneller Kontinuitäten zum alten System<br />
erfolgte in einem sohohen Maße, „wie das in der Vergangenheit nur bei tief greifenden<br />
revolutionären Umwälzungen –und meist unter erheblicher Gewaltanwendung –geschah“<br />
(23, S. 34). In aller Regel erfolgte eine fast lückenlose Übertragung des westdeutschen institutionellen<br />
Systems auf die ehemalige DDR, die mit „Institutionentransfer“ umschrieben<br />
wird (25, S. 88). Im Rückblick wird deutlich, dass dieser Prozess in Deutschlandeinmalig<br />
war und mit der Entwicklung in den anderen Transformationsländern Mittel- und Osteuropas<br />
(MOE) nur bedingt vergleichbar ist. Eher lassen sich wertvolle Hinweise <strong>für</strong> einen<br />
möglichen Transformationsprozess inKorea ableiten.<br />
Im Rahmen dieses Beitrags konzentrieren wir uns auf spezielle Teilbereiche der institutionellen<br />
Transformation und zwar den Wandel der Agrarverwaltung sowie der wichtigsten<br />
Organisationen der landwirtschaftlichen Bevölkerung in Ostdeutschland vor und nach<br />
der Wiedervereinigung. Dieser Wandel ist vor dem Hintergrund der Einführung der Wirtschafts-,<br />
Finanz- und Sozialunion zwischen den beiden deutschen Staaten sowie der Einführung<br />
der europäischen Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) zum 1. Juli 1990 zu sehen.<br />
Der gesamte landwirtschaftliche Sektor stand kurz vor dem finanziellen Zusammenbruch.<br />
Schon vor der Wiedervereinigung wurden Anpassungsbeihilfen an die landwirtschaftlichen<br />
Produzenten ausgezahlt, um die Betriebe zahlungsfähig zu halten. Insgesamt wurden<br />
1990 ca. 4,9 Mrd. DM und 1991 ca. 4,2 Mrd. DM den landwirtschaftlichen Produzenten<br />
zugeteilt (32 ). Die Bearbeitung dieser finanziellen Unterstützung wurde von der Agrarverwaltung<br />
geleistet, die selbst reorganisiert werden musste.<br />
In dieser Hinsicht ist es <strong>über</strong>raschend, dass nur verhältnismäßig wenige Arbeiten zur<br />
Transformation der Agrarverwaltung und Agrarverbänden in der Literatur vorhanden sind.<br />
In einer Analyse der führenden Wochenzeitung im Agrarbereich („Agra-Europe“) zu den<br />
Hauptthemen während der ersten fünf Jahre der Transformation (1990–1995) kommt<br />
thiele zu dem Ergebnis, dass sich gerade einmal 3%mit dieser Thematik befassten (31).<br />
Die wichtigsten Themen waren mit großem Abstand Fragen der Gemeinsamen Agrarpolitik,<br />
Privatisierung und Dekollektivierung. Es schien wohl keinen Anlass zu Klagen<br />
gegeben zu haben und die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben verlief anscheinend reibungslos.<br />
Wie diese Aufgaben wahrgenommen wurden, soll im weiteren Verlauf dieses<br />
Beitrages diskutiert werden. Aus Mangel an detaillierten Analysen basiert dieser Beitrag<br />
Buel_3_11.indb 455 17.11.2011 08:13:25
456 Axel Wolz<br />
primär auf den persönlichen Erfahrungsberichten von Personen, die selbst an dem Transformationsprozess<br />
beteiligt waren.<br />
Dieser Beitrag ist wie folgt strukturiert. Im nächsten Kapitel wird die Transformation<br />
der Agrarverwaltung diskutiert. Dies beinhaltet einen kurzen Überblick zum allgemeinen<br />
Verwaltungsaufbau in der alten Bundesrepublik und ehemaligen DDR, dem Aufbau der<br />
sozialistischen sowie transformierten Agrarverwaltung, den Hauptarbeitsbereichen sowie<br />
den Hauptproblemen nach der Etablierung der neuen Verwaltungsstruktur. Das dritte<br />
Kapitel befasst sich mit dem Aspekt, dass die Transformation der Agrarverwaltung nicht<br />
nur ihren Wandel, sondern auch den Aufbau spezieller Organisationen umfasste. Die staatlichen<br />
land- und forstwirtschaftlichen Flächen sollten im Rahmen der Systemtransformation<br />
von einer neugeschaffenen Behörde so schnell als möglich privatisiert werden. Das<br />
vierte Kapitel beinhaltet eine Analyse der Transformation der wichtigsten Agrarverbände,<br />
wobei der Schwerpunkt auf dem Deutschen Bauernverband liegt. In dem fünften Kapitel<br />
werden die wichtigsten Unterschiede des deutschen Weges im Vergleich zu anderen<br />
Transformationsländern herausgestellt. Abschließend werden Empfehlungen abgeleitet.<br />
2 Transformation der öffentlichen (Agrar-) Verwaltung<br />
2.1 Aufbau der (Agrar-) Verwaltung inder ehemaligen DDR<br />
Die Verwaltung inOstdeutschland wurde nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter der<br />
sowjetischen Besatzung neu strukturiert. Wie inWestdeutschland, d. h. den amerikanischen,<br />
britischen und französischen Besatzungszonen, wurden Länder etabliert, die –je<br />
nach Land –anmehr oder weniger starken historischen Wurzeln anknüpften. In der sowjetischen<br />
Besatzungszone entstanden fünf neue Länder, d.h.Mecklenburg-Vorpommern,<br />
Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Im Zuge einer stärkeren Zentalisierung<br />
der Verwaltung wurden am 25. Juli 1952 die Länder aufgelöst und in 14 Bezirke<br />
aufgeteilt, sowie Ostberlin als 15. Bezirk, welcher einen besonderen Status innehatte.<br />
Jeder Bezirk umfasste ca. 15 Kreise (Tab. 1). So gab es drei Entscheidungsebenen in<br />
der (Agrar-) Verwaltung: die nationale, Bezirks- sowie Kreisebene. Allerdings waren die<br />
Entscheidungsbefugnisse der beiden unteren Ebenen in einem hoch zentralisierten Staat<br />
wie der DDR verhältnismäßig gering. Unterhalb der Kreisebene agierten die Städte und<br />
Gemeinden, die jedoch im Hinblick auf Agrarthemen eine sehr marginale Rolle spielten.<br />
Vielmehr lag infolge der Kollektivierung der <strong>Landwirtschaft</strong> seit der zweiten Hälfte der<br />
1950er-Jahre die Entscheidungshoheit im ländlichen Raum eher bei den Vorsitzenden der<br />
landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) als bei den Ortsbürgermeistern<br />
(35). Sie waren der wichtigste Arbeitgeber, verfügten <strong>über</strong> Investitionsmittel und finanzierten<br />
soziale und kulturelle Einrichtungen in den ländlichen Regionen. Diese Verwaltungsstruktur<br />
bestand bis zur deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990.<br />
Dagegen umfasste der Verwaltungsaufbau in der alten Bundesrepublik vier Stufen<br />
oberhalb der Gemeindeebene. Unterhalb der Bundesebene gab es zehn Bundesländer<br />
sowie (West-) Berlin, welches ebenfalls einen besonderen Status innehatte. Die Länder<br />
verfügen <strong>über</strong> eigene Parlamente. Aufgrund der föderativen Verfassung sind die Entscheidungsbefugnisse<br />
der einzelnen Bundesländer auch im Hinblick auf die nationale Ebene<br />
sehr hoch. Im Allgemeinen umfassen die Länder mehrere Regierungsbezirke und diese<br />
wiederum mehrere Kreise. Nur die Stadtstaaten sowie Schleswig-Holstein verfügten <strong>über</strong><br />
keine Regierungsbezirke.<br />
Tabelle 1weist auch auf den Umstand hin, dass die Verwaltung der ehemaligen DDR<br />
sehr viel flächendeckender aufgebaut war als in der alten Bundesrepublik. Obwohl die<br />
DDR nur ca. die Hälfte der Fläche einnahm sowie <strong>über</strong> ca. ein Viertel der Bevölkerung<br />
Buel_3_11.indb 456 17.11.2011 08:13:25
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />
457<br />
verfügte, wies sie eine verhältnismäßig hohe Anzahl an Kreisen und Kommunen aus. In<br />
der alten Bundesrepublik waren mehrere Gebietsreformen inden 1960er- und 1970er-<br />
Jahren durchgeführt worden, sodass die Zahl der Kreise und Kommunen stetig sank. In<br />
der DDR gab eskeine dieser Art von Reformen. Vielmehr wuchs die Zahl der Kreise im<br />
Laufe der 1950er-Jahre an. Daher war die Anzahl der Kommunen gegen<strong>über</strong> der alten<br />
Bundesrepublik vergleichsweise groß. Allerdings umfasste die Hälfte von ihnen eine Einwohnerzahl<br />
von bis zu 500 Personen.<br />
Entsprechend des territorialen Aufbaus war die öffentliche Agrarverwaltung dreistufig<br />
aufgebaut (Abb. 1). Auf der höchsten Stufe stand das Ministerium <strong>für</strong> Land-, Forst- und<br />
Abb. 1. Aufbau derAgrarverwaltung in der ehemaligen DDR, 1989<br />
Quelle: 28,S. 286; 10, S.1044<br />
Tabelle 1. Verwaltungsaufbau, BRD und DDR, 1989<br />
Verwaltungsebene Bundesrepublik<br />
Deutschland<br />
Deutsche Demokratische<br />
Republik<br />
Nationale 1 1<br />
Länder 10 (+1, Westberlin) -<br />
(Regierungs-) Bezirke 26* 14 (+1, Ostberlin)<br />
Kreise 328** 227***<br />
Städte und Gemeinden 8,505 7,616<br />
*keine in den Ländern: Schleswig-Holstein, Saarland, Bremen, Hamburg und (West-) Berlin;<br />
** davon 237 Landkreise und 91 kreisfreie Städte; *** davon 189 Landkreise und 38 kreisfreie<br />
Städte<br />
Quelle: 35, S. 235–236; 34, S. 16<br />
Buel_3_11.indb 457 17.11.2011 08:13:25
458 Axel Wolz<br />
Nahrungsgüterwirtschaft (MLFN). Seine Hauptaufgabe bestand darin, entsprechend der<br />
Vorgaben der zentralen Planwirtschaft, die nationale Versorgung mit Nahrungsmitteln<br />
sicherzustellen. Auf der Bezirksebene war das Bezirksbüro <strong>für</strong> Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft<br />
<strong>für</strong> diese Aufgaben verantwortlich. Sein Leiter war gleichzeitig stellvertretender<br />
Vorsitzender des jeweiligen Bezirksrates. Das Büro umfasste Abteilungen<br />
<strong>für</strong> Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft sowie <strong>für</strong> Veterinärwesen. Dar<strong>über</strong> hinaus<br />
waren ihm verschiedene nachgelagerte Behörden zugeordnet. Vonbesonderer Bedeutung<br />
waren die Wissenschaftlich-Technischen Zentren (WTZ), die besonders <strong>für</strong> die Agrartechnik,<br />
landwirtschaftliche Betriebsmittel sowie Beratung zuständig waren (28). Auf Kreisebene<br />
war der Aufbau relativ ähnlich. Im Besonderen waren sie <strong>für</strong> die landwirtschaftlichen<br />
und gärtnerischen Produktionsgenossenschaften (LPG, GPG) verantwortlich. Ebenso<br />
unterhielten sie enge Verbindungen zu den Kreisveterinärämtern sowie den Kreisstellen<br />
der nachgelagerten Behörden. In der ehemaligen DDR gab es ca. 230 Kreisämter. Jede<br />
Woche wurden von ihnen <strong>Berichte</strong> zur Lage der landwirtschaftlichen Produktion angefertigt,<br />
die <strong>über</strong> die Bezirksbüros an das Ministerium weitergeleitet wurden.<br />
Neben der öffentlichen (Agrar-) Verwaltung gab es in der ehemaligen DDR, wie in<br />
allen sozialistischenLändern nach sowjetischem Vorbild, eine parallele Verwaltungsstruktur<br />
der SED. Ein Mitglied des Politbüros der SED war als Sekretär <strong>für</strong> <strong>Landwirtschaft</strong> <strong>für</strong><br />
diesen Bereich verantwortlich. Ebenso gab es im Zentralkomitee eine Abteilung <strong>für</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>.<br />
Sowohl der Sekretär des Politbüros als auch der entsprechende Abteilungsleiter<br />
im Zentralkomitee standen inder Machthierarchie <strong>über</strong> dem Minister. Auf Bezirks- und<br />
Kreisebene war die Machtstruktur entsprechend. Im Regelfall befasste sich die Verwaltung<br />
mit den kurzfristigen Aufgaben, während die Partei sich mehr auf die Entwicklung<br />
von Strategien konzentrierte. ImNormalfall arbeiteten beide Behörden Hand in Hand.<br />
Aber, imFall von Unstimmigkeiten hatte die Partei das letzte Wort. Ende 1989 wurde<br />
diese parallele Verwaltungsstruktur <strong>über</strong>flüssig, nachdem der absolute Machtanspruch der<br />
SED gebrochen war. Dem polnischen Beispiel vom Frühjahr 1989 folgend wurden auf<br />
nationaler, Bezirks- und Kreisebene „runde Tische“ eingerichtet, auf denen u. a. auch<br />
Fragen der Verwaltung diskutiert wurden (9). Viele „runde Tische“ wählten provisorische<br />
Verwaltungsleiter, bis diese von demokratisch legitimierten Volksvertretern neu besetzt<br />
werden konnten (20).<br />
2.2 Veränderung der Verwaltungsstruktur in der ehemaligen DDR<br />
BereitsEnde1989gab es erste Gedanken innerhalb der oppositionellen Gruppen der DDR<br />
die ehemaligen Länder wiederherzustellen. Nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer<br />
am 18. März 1990 unterstütze die große Mehrheit der Abgeordneten diesen Vorschlag.<br />
Bei der Wiederherstellung der Ländergliederung handelte es sich in der oberflächlichen<br />
Betrachtung um eine Angleichung an den institutionellen Rahmen der alten Bundesrepublik<br />
sowie um den Bruch mit der zentralistischen Verwaltungsorganisation der DDR und<br />
die Rückkehr zur deutschen bundesstaatlichen Tradition (23). Somit gab es eine Anknüpfung<br />
an die deutsche Föderalismustradition seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,<br />
obwohl die Handlungshoheit der einzelnen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich<br />
umfangreicher ist.<br />
Die rechtliche Basis <strong>für</strong> den Aufbau der neuen Bundesländer war mit der Verabschiedung<br />
des Ländereinführungsgesetzes durch die Volkskammer am 22. Juli 1990 gegeben<br />
(17). Danach wurden die 14 Bezirke aufgelöst und in die fünf neuen Bundesländer <strong>über</strong>führt,<br />
während der Bezirk Ostberlin mit Westberlin zu einemBundesland vereinigt wurde.<br />
Mehrheitlich wurden mehrere Bezirke zu einem Bundesland zusammengefügt. Allerdings<br />
erfolgte diese Zusammenlegung nicht immerEins zu Eins, sondern es wurden auch Gebietsteileeinemangrenzenden<br />
Bundesland zugeordnet (Karte 1). Die Landesgrenzen stimmen<br />
Buel_3_11.indb 458 17.11.2011 08:13:25
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />
Karte 1: Territoriale Struktur der neuen Bundesländer und der ehemaligen Bezirke in der DDR,<br />
1990<br />
Quelle: 26<br />
Buel_3_11.indb 459 17.11.2011 08:13:26<br />
459
460 Axel Wolz<br />
Tabelle 2. Länderpatenschaften zwischen westdeutschen und ostdeutschen<br />
Bundesländern<br />
Ostdeutschland Westdeutschland<br />
Mecklenburg-Vorpommern Schleswig-Holstein<br />
Brandenburg Nordrhein-Westfalen<br />
Sachsen-Anhalt Niedersachsen<br />
Thüringen Hessen, Rheinland-Pfalz (Bayern)<br />
Sachsen Bayern, Baden-Württemberg<br />
Quelle: 1, S12; 6, S. 21; 7,S.23–24; 36, S. 375<br />
nicht völlig mit denen der Länder aus den Jahren 1946–1952 <strong>über</strong>ein. Dennoch knüpfte<br />
die Struktur der Bundesländer unmittelbar anjene Ländergliederung an. Auch wenn viele<br />
Beobachter die Lebensfähigkeit dieser neuen Länder als gering eingeschätzten, hat sich<br />
die Bevölkerung doch offensichtlich sehr schnell mit diesen Einheiten identifiziert (24).<br />
Mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 begann ein reger Besucherverkehr<br />
zwischen den beiden deutschen Staaten; zuerst eher von Ost nach West, aber<br />
dann sehr schnell auch von West nach Ost. Verhältnismäßig frühzeitig entwickelte sich<br />
die Idee der Länderpatenschaften. Nachdem im Mai 1990 die Arbeitsgruppen zum Aufbau<br />
der neuen Bundesländer ihre Arbeit aufnahmen, erhielt jedes Land einen oder mehrere<br />
Paten aus der alten Bundesrepublik (Tab. 2). In der ersten Phase, d. h. vor der Wiedervereinigung,<br />
war diese Unterstützung verhältnismäßig bescheiden. Sie bestand primär<br />
in Form der Beratung, einer ersten Abordnung von unterstützendem Personal sowie der<br />
Durchführung von Trainingskursen. Die Unterstützung wurde jedoch besonders nach der<br />
Wiedervereinigung erheblich ausgeweitet. Nach lehmbruCh (23, S. 43) stellte das Konzept<br />
der Länderpatenschaften beim Aufbau der Verwaltung eine originelle und innovative<br />
Formel <strong>für</strong> den Institutionentransfer des westdeutschen Föderalismus dar. Dieses Modell<br />
war vermutlich bei der Freisetzung autonomer dezentraler Handlungspotenziale deutlich<br />
leistungsfähiger als eine zentralstaatlich gelenkte Rekonstruktion der Verwaltung.<br />
Im Prinzip wurde die Hauptunterstützung von den jeweiligen Nachbarländern geleistet.<br />
Ebenso sollte ein Land jeweils die Patenschaft <strong>über</strong>nehmen. Allerdings war dies<br />
nicht immer möglich. Zum Teil grenzten die betroffenen Länder nicht direkt aneinander,<br />
wie z. B. Nordrhein-Westfalen und Brandenburg. Zum Teil <strong>über</strong>nahmen auch zwei<br />
westdeutsche Bundesländer die Patenschaft <strong>für</strong> ein ostdeutsches Land, wie z. B. Hessen<br />
und Rheinland-Pfalz <strong>für</strong> Thüringen. Allerdings sollten in diesem Fall die westdeutschen<br />
Länder nicht miteinander konkurrieren, sondern sich die Aufgaben bei dem Aufbau der<br />
unterschiedlichen Ministerien teilen. So <strong>über</strong>nahm Rheinland-Pfalz die Federführung bei<br />
dem Aufbau des Agrarministeriums in Thüringen (7).<br />
2.3 Neuaufbau der Agrarverwaltung im Zuge der Wiedervereinigung<br />
Für den Neuaufbau der (Agrar-) Verwaltung ergaben sich zwei parallele Entwicklungen.<br />
Zum einen wurde mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes schnell deutlich,<br />
dass die Verwaltung inhaltlich völlig neu ausgerichtet werden musste. Die Agrarverwaltung<br />
war nicht mehr Teil eines Zentralverwaltungsapparates, der die Einhaltung der<br />
planwirtschaftlichen Vorgaben zu <strong>über</strong>wachen hatte, sondern sollte nun Produzenten und<br />
Verbraucher in einem marktwirtschaftlichen System und im Rahmen der GAP unterstützen,<br />
hochwertige Nahrungsmittel bereitzustellen bzw. zuerwerben (siehe Abschn. 2.4).<br />
Zum anderen implizierte der Beschluss zur Übernahme des föderalen Systems der Bun-<br />
Buel_3_11.indb 460 17.11.2011 08:13:26
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />
Abb. 2. Aufbau derAgrarverwaltung in Mecklenburg-Vorpommern, 1991<br />
Quelle: 28 ,S.285; 17 ,S.70<br />
461<br />
desrepublikDeutschland –wie oben gezeigt–eineterritorialeNeuausrichtung. Nach dem<br />
Grundgesetz ist die Ausgestaltung der (Agrar-) Verwaltung Aufgabe der jeweiligen Länder<br />
(19, S. 172). Die Länder selbst mussten aber noch etabliert werden; eine Aufgabe, die<br />
nach der ersten freien Volkskammerwahl angegangen werden konnte. Während die neue<br />
Struktur aufgebaut wurde, musste gleichzeitig die DDR-Verwaltungsstruktur auf Bezirksebene<br />
aufgelöst werden.<br />
Die Kommunal- und Kreiswahlen am 6. Mai 1990 sicherten eine demokratisch legitimierte<br />
politische Struktur auf lokaler Ebene. In den folgenden Wochen wurden die Ausschüssezum<br />
Aufbau der neuen Länder und einer entsprechendneuen Verwaltungsstruktur<br />
einberufen. Alle Parteien, die auf lokaler und/oder nationaler Ebene in die Parlamente<br />
gewählt wurden, konnten Vertreter in diese Arbeitsgruppen benennen. Unterausschüsse<br />
<strong>für</strong> <strong>Landwirtschaft</strong> und Forsten wurden gebildet, die quasi die Keimzelle <strong>für</strong> die späteren<br />
Landesministerien bildeten (15 ). Bis Ende September 1990 hatten die (Unter-) Ausschüsse<br />
ihre Vorschläge erarbeitet (9). Vondem jeweiligen „Patenland“ wurden ein bis<br />
zwei Beamte zur Unterstützung der Arbeit abgeordnet.<br />
Die (Unter-) Ausschüsse unterbreiteten Vorschläge <strong>über</strong> die Aufgaben und Funktionen<br />
der neuen Ministerien, die natürlich später angepasst werden konnten, sobald die<br />
Ministerien arbeitsfähig waren. Eine wichtige Entscheidung betraf die Frage, ob die neue<br />
Agrarverwaltung auf zwei Ebenen, d. h. auf der des Bundeslandes sowie der Kreise, oder<br />
auf drei Ebenen, d. h. auf der des Bundeslandes, einer Zwischenebene und der Kreise<br />
agieren sollte. In dem föderalen System war jedes Bundesland frei, wie es sich entscheiden<br />
würde. So folgte der Verwaltungsaufbau in den fünf neuen Bundesländern keinem<br />
einheitlichen Muster; u. a. führte Mecklenburg-Vorpommern ein zweistufiges System ein<br />
(27), Thüringen optierte <strong>für</strong> ein dreistufiges System mit dem Landesverwaltungsamt als<br />
Zwischenstufe (9), während Sachsen-Anhalt ebenfalls ein dreistufiges System einführte,<br />
wobei hier jedoch die Verwaltung der drei Regierungsbezirke die Zwischenstufe bildete<br />
(1). Ein gewisser Einfluss des jeweiligen „Patenlandes“ war nicht zu <strong>über</strong>sehen.<br />
In Abbildung 2sind der Aufbau und Aufgaben der neu geschaffenen Agrarverwaltung<br />
mit Schwerpunkt auf das Land Mecklenburg-Vorpommern abgebildet. In aller Regel<br />
Buel_3_11.indb 461 17.11.2011 08:13:26
462 Axel Wolz<br />
bestand jedes Landesministerium <strong>für</strong> <strong>Landwirtschaft</strong> aus 4–5 Abteilungen und ca. 20<br />
Referaten. Jedem Land war es unbenommen, die eigenen Schwerpunkte zusetzen. So<br />
gab esinMecklenburg-Vorpommern keine eigene Abteilung <strong>für</strong> ländliche Entwicklung,<br />
während in Thüringen eine solche etabliert wurde, die sich u. a. mit Dorferneuerung, Flurbereinigung<br />
und Umweltthemen befasste (9). Die Ministerien hatten die Dienstaufsicht<br />
<strong>über</strong> die unteren Verwaltungsebenen sowie die nachgeordneten Behörden.<br />
Parallel zum Aufbau der neuen Ministerien wurden die Bezirksbüros stetig verkleinert.<br />
Seit Juni 1990 wurden ihre kommissarischen Leiter durch –ebenfalls auf Zeit eingesetzte<br />
–Personen ersetzt, die jedoch das Vertrauen der Parteien genossen, da sie durch Wahlen<br />
legitimiert waren. Einige wenige Mitarbeiter wurden den Ausschüssen zugeordnet,<br />
die das neue Verwaltungssystem ausarbeiteten. Aber im Allgemeinen konnten sich die<br />
Mitarbeiter erst wieder um eine Neuanstellung bewerben, wenn die neuen Ministerien<br />
arbeitsfähig waren. Die Bezirksbüros der ehemaligen DDR wurden schließlich zum 31.<br />
Dezember 1990 geschlossen (9). Auf Kreiseben war der Wandel nicht ganz so drastisch.<br />
Die Büroleiter wurden im Mai 1990 von den neu gewählten Landräten bzw. Kreisparlamenten<br />
bestätigt bzw. neu ernannt (9). Allerdings konnten nicht alle Kreisstellen aus der<br />
DDR-Zeit <strong>über</strong>nommen werden. Tatsächlich wurde ihre Zahl erheblich abgebaut, so z. B.<br />
in Mecklenburg-Vorpommern von 34 auf 10 (27 ), in Sachsen-Anhalt von 40 auf 8(1)<br />
oder in Thüringen von 36 auf 12 (9). Die Kreisbüros, die nicht mehr benötigt wurden,<br />
sind im Laufe des Jahres 1991 geschlossen worden. Nichtsdestotrotz nahmen diese Büros<br />
die wichtige Aufgabe wahr, indem sie die Anpassungsbeihilfen aber auch die betriebliche<br />
Fördermittel bearbeiteten und an die betreffenden Produzenten weiterleiteten (29).<br />
Die Wiedervereinigung konnte verhältnismäßig zügig auf nationaler Ebene durchgeführt<br />
werden. Alle Ministerien der ehemaligen DDR, so auch das Agrarministerium<br />
(MLFN)wurden geschlossen. In aller Regel wurden (einige) Mitarbeiter in die Bundesministerien<br />
<strong>über</strong>nommen. Bereits mit dem Hauptstadtbeschluss des Deutschen Bundestages<br />
am 20. Juni 1991 wurden erste Verbindungsbüros in Berlin eingerichtet.<br />
2.4 Aufgaben der „neuen“ Agrarverwaltung<br />
Mit dem Aufbau einer neuen Agrarverwaltung war eine Neuausrichtung ihrer Rolle, Funktionen<br />
und Aufgaben verbunden. Die primäre Aufgabe der Agrarverwaltung der ehemaligen<br />
DDR bestand darin, die Agrar- und Nahrungsmittelproduktion entsprechend den<br />
Vorgaben der zentralen Pläne sicherzustellen. Die Verwaltung konnte die Anbau- und<br />
Produktionspläne der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und Staatsgüter<br />
direkt beeinflussen. Seit 1990 waren die landwirtschaftlichen Produzenten völlig frei in<br />
ihren Betriebsplanungen und -entscheidungen. Die Aufgabe der Verwaltung war es nun,<br />
ihnen die bestmögliche Unterstützung zu geben.<br />
Mit der Etablierung der neuen Bundesländer konnte die Arbeit offiziell aufgenommen<br />
werden. Die ersten Aufgaben bestanden darin, einen Haushaltsentwurf <strong>für</strong> 1991 sowie<br />
Entwürfe <strong>für</strong> die Organisationsstruktur sowohl <strong>für</strong> die neuen Ministerien als auch <strong>für</strong><br />
die neuen Kreisstellen zu erstellen. Mehrheitlich stützten sich die abgeordneten Mitarbeiter<br />
dabei auf die jeweiligen Organisationsstrukturen ihrer „Heimatministerien“ (8).<br />
Allerdings waren alle Pläne erst einmal provisorisch, da die Wahlen zu den Länderparlamenten,<br />
die die letzte Entscheidung haben würden, erst am 14. Oktober 1990 erfolgten.<br />
Natürlich musste auch das ‚Tagesgeschäft’ (s. u.) erledigt werden. Da es zu diesem Zeitpunkt<br />
nicht viele Mitarbeiter gab, gab es auch noch keine hierarchische Struktur und fast<br />
jeder musste alles machen (15; 28). Alle Tätigkeiten wurden unter einem hohen Zeitdruck<br />
ausgeführt; in kürzester Zeit musste eine effiziente Agrarverwaltung aufgebaut werden.<br />
Ab dem 3. Oktober 1990 wurden sie als funktionsfähige Partner des <strong>Bundesministerium</strong>s<br />
sowie der Länderministerien anerkannt. Quasi <strong>über</strong> Nacht wurden sie mit allen Arten von<br />
Buel_3_11.indb 462 17.11.2011 08:13:26
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />
463<br />
Unterlagen, wie Gesetzesänderungen, Richtlinien, Papieren <strong>für</strong> Bund-Ländergespräche<br />
oder Einladungen zu Sitzungen ‚<strong>über</strong>schwemmt‘ (8). Ebenso mussten die neuen Bundesländer<br />
schnell ihre eigenen Positionen entwickeln, z. B. <strong>für</strong> die Sitzung am 22. Oktober<br />
1990 zum Rahmenplan 1991 der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur<br />
und des Küstenschutzes (GAK) (22).<br />
Nachdem die Agrarministerien auf Länderebene von den jeweiligen Parlamenten<br />
bestätigt wurden, lassen sich die wichtigsten Aufgaben wie folgt zusammenfassen (9, S.<br />
72–73):<br />
● Einstellung von Mitarbeitern auf den verschiedenen Verwaltungsebenen,<br />
● Überprüfung der nachgeordneten Behörden; Begleitung bei deren Überführung in<br />
rechtsstaatliche Verwaltungsbehörden bzw. deren Auflösung,<br />
● Umsetzung des <strong>Landwirtschaft</strong>sanpassungsgesetzes vom 29. Juni 1990 mit allen seinen<br />
Problemen im Hinblick auf die Transformation der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften,<br />
Konfliktregelung bei Streitigkeiten bei der Privatisierung von<br />
landwirtschaftlichen Betriebsmitteln oder bei unterschiedlichen Eigentumstiteln bei<br />
Boden und Gebäuden,<br />
● Umsetzung der nationalen Agrarpolitik sowie der GAP (dies ohne Übergangszeiten)<br />
sowie<br />
● Vorbereitung von Gesetzen und Verordnungen im Agrar- und <strong>Ernährung</strong>ssektor <strong>für</strong><br />
die Länderparlamente sowie die Erstellung von Vorlagen <strong>für</strong> die Leitung der eigenen<br />
Häuser.<br />
Diese Aufgaben kann man in drei Gruppen einteilen: in kurzfristige, wie den Aufbau<br />
der Verwaltung; in kurz- bis mittelfristige, wie die Umsetzung der <strong>Landwirtschaft</strong>sanpassungsgesetzes<br />
und den Aufbau von privaten landwirtschaftlichen Betrieben sowie langfristigen<br />
bzw. permanenten Aufgaben, wie die Umsetzung und Steuerung der nationalen<br />
und EU Agrarpolitik sowie die aktive Teilnahme an nationalen agrarpolitischen Entscheidungsprozessen.<br />
2.5 Hauptprobleme beim Neuaufbau der Agrarverwaltung<br />
Obwohl inder Literatur die Transformation der Agrarverwaltung nicht intensiv behandelt<br />
wurde, war sie doch eine enorme Leistung. Zu jener Zeit gab es keine Erfahrungen, auf<br />
die man zurückgreifen konnte. Sobald sich abzeichnete, dass die ehemalige DDR sich<br />
dem marktwirtschaftlichen System sowie einer pluralistischen Demokratie öffnen würde,<br />
bestand kein Zweifel, dass diese Transformation nicht mit der bestehenden (Agrar-) Verwaltung<br />
zu schaffen sei. Dies implizierte einen vollständigen Austausch des Verwaltungspersonals,<br />
obwohl Neubewerbungen der ehemaligenDDR-Mitarbeiter möglich waren und<br />
z. T. diese auch wieder eingestellt wurden. Doch anders als in den nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg geschaffenen Ländern, die auf das Verwaltungspersonal der alten Länder (insbesondere<br />
Preußens) und auch der ehemaligen Reichsverwaltung zurückgreifen konnten,<br />
gab es dieses stabilisierende Element des „bürokratischen Rückhalts“ nicht. Somit gab es<br />
keine starke administrative Kontinuität. Vielmehr waren sich die politischen Eliten der<br />
alten Bundesrepublik mit den neuen Eliten der DDR einig, die Verwaltungsstrukturen<br />
der alten DDR zu zerschlagen, da die zentralistische „Kader“-Verwaltung der DDR ein<br />
Hindernis <strong>für</strong> einen marktwirtschaftlichen und rechtsstaatlich-demokratischen Umbruch<br />
darstellte. Ebenso war die Bürokratie der DDR nicht in jenem eigentümlich legalistischregelorientierten<br />
Stil trainiert, der die westdeutsche Verwaltung charakterisierte (23 ).<br />
Allerdings musste dieser Wandel unter einem extremen Zeitdruck durchgeführt werden.<br />
Auf der anderen Seite gab es erhebliche Amtshilfe –besonders nach der Wiedervereinigung<br />
-inForm der Abordnung von Beamten, Aus- und Fortbildungskursen, materieller<br />
Unterstützung durch die jeweiligen Patenländer. ImFolgenden sollen zwei Problemberei-<br />
Buel_3_11.indb 463 17.11.2011 08:13:26
464 Axel Wolz<br />
che diskutiert werden, die alle neuen Bundesländer bei dem Aufbau der Agrarverwaltung<br />
betrafen; zum einen logistische Probleme sowie zum anderen die Probleme bei der Personalbeschaffung.<br />
2.5.1 Logistische Probleme<br />
Die neue Agrarverwaltung, besonders die Länderministerien, mussten von Grund auf neu<br />
etabliert werden. In kommissarischer Funktion konnte sie ihre Arbeit im August/September<br />
1990 aufnehmen. Allerdings mussten sie offiziell von den Länderparlamenten bestätigt<br />
werden, die selbst erst am 14. Oktober 1990 gewählt wurden. So waren die Arbeitsstätten<br />
zuerst nur kommissarischer Art. Als die aus der ehemaligenBundesrepublik abgeordneten<br />
Beamten, die von Hause aus einen effizienten Verwaltungsapparat gewohnt waren, ihre<br />
Arbeit in den neuen Ländern aufnahmen, waren sie zuerst mit einer ganzen Reihe von<br />
logistischen Problemen konfrontiert. So konnten die eigentlichen Fachaufgaben zuerst<br />
z. T. nur am Rande wahrgenommen werden. Allerdings wurde die Agrarverwaltung von<br />
außen schon als voll funktionsfähig angesehen. Die logistischen Probleme lassen sich wie<br />
folgt zusammenfassen (8, S. 37-39; 6, S. 20; 27, S. 227; 28, S. 274):<br />
● keine bis einfache Arbeitsausstattung: Die zugewiesenen Gebäude wurden teilweise<br />
noch anderweitig genutzt. Ebenso war z. T. die technische Ausstattung gering bzw.<br />
noch nicht vorhanden. Technische Geräte waren Mangelware. Zu Beginn gab es keine<br />
Schreibmaschinen, Fax- und Kopiergeräte und auch keine Telefone. Nach der Erinnerung<br />
eines Beamten „erledigten wir unsere Kommunikation zuFuß“ (8, S. 38).<br />
● Fehlende Dienstinfrastruktur: Noch gab es keine Schreibkräfte, Botendienste oder<br />
Hausarbeiter.<br />
● Landesrechtlichen Grundlagen fehlten: So gab es noch kein allgemeines Verwaltungsrecht<br />
oder Haushaltsrecht, das angewandt werden konnte.<br />
● Unvollständige Stellenbeschreibungen: Für die neugeschaffenen Stellen mussten<br />
Arbeitsverträge und Stellenbeschreibungen erstellt werden. Das Bundes-Angestelltentarif-<br />
sowie Beamtenrecht galten aber noch nicht bzw. konnten noch nicht angewandt<br />
werden. Ebenso gab es noch kein Landesrecht.<br />
● Noch nicht etabliertes System der Finanzabwicklung: Die Wege <strong>für</strong> den Zahlungsverkehr<br />
bei den diversen Fördermaßnahmen mussten erst noch aufgebaut werden. Trotzdem<br />
wurden Bewilligungsbescheide in Millionenhöhe bei (noch) nicht funktionierender<br />
Kassenverwaltung an die Begünstigten ausgereicht.<br />
Allerdings brachte diese Situation auch gewisse Vorteile mit sich. So waren alle Beteiligten,<br />
sowohl das neu eingestellte Personal aus der ehemaligen DDR als auch die abgeordneten<br />
Beamten aus der alten Bundesrepublik, hoch motiviert. Die meisten waren sich<br />
bewusst, dass dies eine historische Gelegenheit war. Esherrschte eine „Aufbruchstimmung“<br />
unter den Mitarbeitern (28). Auch wenn die tägliche Arbeitszeit 12–14 Stunden<br />
betrug, gab es keine Klagen.<br />
Unter den abgeordneten Beamten herrschte eine Art „Pioniergeist“ (15 ). Sie waren<br />
es gewohnt, in einer hierarchisch-strukturierten Verwaltung zu arbeiten, wo jeder Schritt<br />
eine legale Grundlage hatte. Im Herbst 1990 gab es in den neuen Bundesländern keine<br />
derartigen Regeln. Diese mussten erst im Laufe der Zeit erstellt werden. So lautete denn<br />
das Arbeitsmotto „Pragmatismus und Improvisation“ (21 ,S.178). Die Mitarbeiter hatten<br />
einen erheblichen Freiheitsgrad in der Ausgestaltung ihrer täglichen Arbeit. Da ein Zahlungssystem<br />
erst im Aufbau begriffen war, mag diese Arbeitseinstellung ein Erklärungsgrund<br />
da<strong>für</strong> sein, warum Millionenbeträge zur Unterstützung der landwirtschaftlichen<br />
Produzenten effizient bearbeitet und ausgereicht wurden, ohne dass es zu nennenswerten<br />
Klagen kam.<br />
Zwar war die Lage wegen der bedrückenden Situation im Agrarsektor angespannt und<br />
die Politiker vermieden alle Aktionen, die zu sozialen Destabilisierungen führen könnten.<br />
Buel_3_11.indb 464 17.11.2011 08:13:26
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />
465<br />
Den einzig größeren Protest gab esam15. August 1990 in Ostberlin. Hier demonstrierten<br />
ca. 250 000 Landwirte gegen den drohenden Zusammenbruch der Agrarproduktion,<br />
als die Auswirkungen der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sichtbar wurden und<br />
zugesagte Überbrückungsgelder ausblieben (30).<br />
Im Prinzip arbeitete die Agrarverwaltung in einem noch nicht legalisierten Raum und<br />
die Mitarbeiter wollten eine gute Arbeit leisten, da „die westdeutsche Verwaltungswirklichkeit<br />
mit ihren perfektionistischen und komplizierten Mechanismen uns früh genug<br />
einholen würde“ (8, S. 45). Es gab einen hohen Zwang, viele Maßnahmen schnell durchzuführen,<br />
sodass wenig Zeit <strong>für</strong> kritische Nachfragen blieb, wie dies in der westdeutschen<br />
Verwaltung üblich ist (17 ). In dieser Hinsicht erfreuten sich besonders die abgeordneten<br />
Beamten eines hohen Maßes an Entscheidungsfreiheit, die sie so in ihrem bisherigen<br />
Berufsleben nicht erfuhren.<br />
2.5.2 Einstellung von geeignetem Personal<br />
Sowohl die neugeschaffenen Ministerien, als auch Kreisstellen sowie nachgelagerten<br />
Behörden mussten ihr Personal neu auswählen und einstellen. Dieser Prozess begann<br />
nach der Arbeitsaufnahme der neuen Landesparlamente, d. h. im Regelfall ab November<br />
1990. Ein schneller Aufbau der Agrarverwaltung konnte nur gelingen, wenn genügend<br />
Fachpersonal zur Verfügung stand (6). Besonders solche Personen, die in der Agrarverwaltung<br />
der ehemaligenDDR gearbeitet hatten, konnten sich bewerben. Im Prinzip konnte<br />
sich allerdings jeder bewerben, der <strong>über</strong> das notwendige Wissen verfügte, d. h. aus den<br />
vor-und nachgelagertenBereichen, aber auch aus der altenBundesrepublik. Im Allgemeinen<br />
wurde verhältnismäßig viel Personal aus der Agrarverwaltung der ehemaligen DDR<br />
<strong>über</strong>nommen.Allerdings gab es dabei zwei spezielle Probleme: (1) fehlendes Fachwissen<br />
sowie (2) die persönliche Vergangenheit der Bewerber in der ehemaligen DDR.<br />
Wie bereits beschrieben, hatten sich die Aufgaben und Funktion der Agrarverwaltung<br />
mit der Übernahme der nationalen sowie EU Agrarpolitik völlig geändert. Nun wurde<br />
Personal gesucht, das mit den Inhalten und der Umsetzung dieser Politik vertraut war.<br />
Natürlich waren den ostdeutschen Kollegen diese Themen nicht geläufig. Begriffe wie<br />
„Prosperitätsklausel“, „Subsidiaritätsprinzip“ oder „Förderschwelle“ waren ihnen völlig<br />
unbekannt (22, S. 180). So wurden besonders die ökonomischen Aspekte, Verwaltungswissen<br />
sowie einfache und pragmatische Ansätze zu Programmumsetzungen entweder in<br />
praktischer Ausbildung am Arbeitsplatz oder in Form von Praktika an dem „Patenministerium“<br />
in der alten Bundesrepublik vermittelt(6). Im Laufe der Zeit konnte dieses Problem<br />
behoben werden.<br />
Das andere Personalproblem bezieht sich auf die spezielle Aufarbeitung der jüngeren<br />
Vergangenheit der DDR. Die neuen Eliten und die sie unterstützenden Gruppen wollten<br />
auf keinen Fall eine Rückkehr jener Personen, die das gestürzte Regime unterstützt hatten.<br />
Besonders zwei Gruppen wurde ein Eintritt in den öffentlichen Dienst verweigert. Zum<br />
einen waren dies Personen, die eine herausgehobene Funktion in der SED innegehabt hatten.<br />
Zum anderen waren dies Personen, die als (informelle) Mitarbeiter <strong>für</strong> den ehemaligen<br />
Staatssicherheitsdienst gearbeitet hatten. Während die erste Gruppe verhältnismäßig leicht<br />
zu identifizieren war,bereitete die zweite erhebliche Kopfschmerzen. Jeder Bewerber,der<br />
fachlich geeignet war, musste von der Zentralstelle <strong>für</strong> die Erfassung und Auswertung der<br />
Stasi-Unterlagen <strong>über</strong>prüft werden und brauchte deren Freigabe. Das war ein heikles und<br />
permanentes Problem, da aufgrund der Ermittlungen der Zentralstelle eine ganze Reihe<br />
von potenziellen Mitarbeitern und -innen sehr kurzfristig wieder entlassen werden musste<br />
(6; 7; 15).<br />
Die Einstellung von qualifiziertem und politisch nicht vorbelastetem Personal gestattete<br />
nur einen langsamen Personalaufbau. Dennoch expandierte der Personalbestand der<br />
einzelnen Agrarministerien stetig seit Ende 1990 bzw. Anfang 1991. Die Entwicklung<br />
<strong>für</strong> das <strong>Landwirtschaft</strong>sministerium von Thüringen ist in der Tabelle 3zusammengefasst.<br />
Buel_3_11.indb 465 17.11.2011 08:13:27
466 Axel Wolz<br />
Tabelle 3. Personalentwicklung im Ministerium <strong>für</strong> <strong>Ernährung</strong>, <strong>Landwirtschaft</strong>,<br />
und Forsten, Thüringen<br />
Datum Anzahl von Personen<br />
Sept./ Oktober 1990 ca. 30 (<strong>über</strong>nommen von den Bezirksverwaltungen)<br />
Ende 1990/<br />
Anfang 1991<br />
1991 90–100<br />
1992 178<br />
1993 183<br />
Quelle: 9, S. 72<br />
ca. 30 +weitere ca. 40, abgeordnet aus der alten<br />
Bundesrepublik (primär aus Rheinland-Pfalz und<br />
Hessen)<br />
Ebenso verstärkte sich schrittweise das <strong>Landwirtschaft</strong>sministerium in Mecklenburg-<br />
Vorpommern mit Fachpersonal. Anfang November 1990 umfasste das gesamte Personal,<br />
neben dem Minister, zwei Vorzimmerkräfte sowie 19 Mitarbeiter und -innen, von denen<br />
zwei aus Schleswig-Holstein abgeordnet waren. Zum Jahresende 1990 waren 60 Personen<br />
im Ministerium beschäftigt und zum 31. März 1991 schon 142 (6). Im Allgemeinen<br />
wurden größere Gruppen von Beamten erst nach der Wiedervereinigung in die jeweiligen<br />
Partnerländer abgeordnet, wenn die entsprechenden Bestätigungen durch die jeweiligen<br />
Landesparlamente absehbar waren. So wurden Mitte November weitere 13 Fachkräfte aus<br />
Schleswig-Holstein nach Schwerin abgeordnet. Die Zahl der abgeordneten Beamten aus<br />
Rheinland-Pfalz und Hessen nach Erfurt stieg von 12 Anfang November auf 40 Personen<br />
zum Jahresende an (7). Im Laufe des Jahres 1991 liefen alle Landesministerien nach<br />
Plan und das abgeordnete Fachpersonal kehrte nach und nach in seine Heimatministerien<br />
zurück. Einige jedoch bleiben und bewarben sich um eine Überführung in das neu aufgebaute<br />
Ministerium. Ab Ende 1992 wurde kein neues Personal mehr eingestellt, sondern<br />
nur noch ausscheidendes ersetzt.<br />
3 Aufbau einer neuen Spezialverwaltung im Agrarbereich<br />
Die Transformation der Agrarverwaltung umfasste jedoch nicht nur den Wandel des sozialistischen<br />
Modells in ein demokratisch legitimiertes, sondern auch den Aufbau neuer<br />
spezieller Behörden, um den Transformationsprozess inder <strong>Landwirtschaft</strong> zu begleiten.<br />
Für den Agrarbereich von besonderer Bedeutung war die Gründung der Treuhandanstalt<br />
(THA), die nicht nur alle volkseigenen Betriebe <strong>über</strong>nahm, sondern auch alle land- und<br />
forstwirtschaftlichen Flächen, die sich in Staatsbesitz befanden. Schon bei ihrer Gründung<br />
am 1. März 1990 war diese Behörde auf Zeit ausgelegt, d. h. sie sollte innerhalb von wenigen<br />
Jahren wieder geschlossen werden, wenn aller Staatsbesitz privatisiert worden ist. Die<br />
rechtliche Grundlage wurde mit der Verabschiedung des Treuhandgesetzes am 17. Juni<br />
1990 gelegt. Zu dieser Zeit hegte man noch hohe Erwartungen an den Verkaufswert der<br />
volkseigenen Betriebe, die einen hohen finanziellen Beitrag zur Umgestaltung der ehemaligen<br />
DDR leisten sollten. Es war vielmehr der landwirtschaftliche Sektor der neuen<br />
Länder, der dringend hohe staatliche finanzielle Unterstützung benötigte. Aber schon in<br />
den folgenden Wochen wurde deutlich, dass die staatlichen Betriebe nur mit hohen Subventionen<br />
verkauft werden konnten (18; 33).<br />
Buel_3_11.indb 466 17.11.2011 08:13:27
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />
467<br />
Der staatliche Besitz anland- und forstwirtschaftlichen Flächen speiste sich primär<br />
aus zwei Quellen. Der Hauptteil umfasste jene Flächen, die mehrheitlich Großgrundbesitzern,<br />
Kriegsverbrechern und Nazi-Kollaborateuren gehörten und verstaatlicht wurden,<br />
als Ostdeutschland unter sowjetischer Verwaltung stand, d. h. im Zeitraum vom 8. Mai<br />
1945 bis 7. Oktober 1949. Der größte Teil dieser Flächen wurde damals an Kleinbauern<br />
sowie Flüchtlingen verteilt (Bodenreform zum Ende der 1940er-Jahre). Ein gewisser<br />
Teil wurde aber zurückgehalten, um landwirtschaftliche Staatsgüter aufzubauen. Dar<strong>über</strong><br />
hinaus ergab sich Staatsbesitz an Boden aus Flächen, die nach der Gründung der DDR<br />
am 7. Oktober 1949 verstaatlicht wurden. In aller Regel war dies das Land von Landwirten,<br />
die während der 1950er-Jahre aus der DDR geflohen waren. Im Einigungsvertrag<br />
vom 31. August 1990 sowie dem Zwei-Plus-Vier Abkommen der Alliierten vom 12. September<br />
1990 wurde festgelegt, dass alle Flächen, die während der sowjetischen Besatzungszeit<br />
enteignet wurden, nicht wieder an die ursprünglichen Eigentümer bzw. ihren<br />
Erben zurückgegeben werden. Insgesamt beliefen sich die landwirtschaftlichen Flächen<br />
im Staatseigentum auf ca. 1,5 Mio. ha; d. h. ein Viertel der gesamten landwirtschaftlichen<br />
Nutzflächen der ehemaligen DDR. Die staatlichen Forstflächen schlossen ca. eine weitere<br />
Millionen ha ein. Die landwirtschaftlichen Flächen, die nach dem 7. Oktober 1949 enteignet<br />
wurden und ca. 0,5 Mio. ha umfassten, wurden verhältnismäßig problemlos an die<br />
ursprünglichen Eigentümer bzw. Erben zurück<strong>über</strong>tragen. Die verbliebenen eine Mio. ha<br />
an staatlichen Flächen sollten so schnell als möglich privatisiert werden.<br />
Allerdings wurde sehr schnell deutlich, dass der „normale“ Privatisierungsprozess der<br />
THA dem landwirtschaftlichen Sektor nicht sehr dienlich wäre. Das ursprüngliche Ziel der<br />
THA war es, so schnell als möglich, ihren Besitz zum höchsten Preis zu verkaufen. Aber<br />
ein schneller Verkauf von einer Mio. ha hätte zu einem kompletten Kollaps der Bodenmärkte<br />
in Ostdeutschland geführt. Damit wären auch die Einnahmen marginal gewesen.<br />
So konnte schon 1990 erreicht werden, dass ein gesonderter Generalbevollmächtigter<br />
bestellt wurde, der nicht nur die optimale Verwertung der Flächen, sondern auch regionale<br />
und agrarstrukturelle Erfordernisse mit berücksichtigen sollte. Diese Person war direkt<br />
dem THA-Vorstand unterstellt (33). Am 1. Juli 1992 wurde die Verantwortung <strong>über</strong> die<br />
gesamten staatlichen Flächen von der THA an eine neu gegründete Behörde <strong>über</strong>tragen,<br />
der Bodenverwertungs- und Verwaltungsgesellschaft (BVVG).<br />
Da die ehemaligenEigentümer bzw.ihre Erben auf juristischem Wegversuchten, einen<br />
Zugang zu ihren enteigneten Flächen zu erhalten, war der Verkauf dieser Flächen von<br />
hoher politischer Brisanz. Daher wurden die Flächen erst einmal verpachtet (35).<br />
In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre wurden die Modalitäten <strong>für</strong> eine Privatisierung<br />
der staatlichenFlächen intensiv diskutiert. Wurden die Flächen erst kurzfristig verpachtet,<br />
setzten sich im Laufe der Zeit mittel- bis langfristige Verträge durch. Schließlich wurden<br />
die Bedingungen <strong>für</strong> eine Privatisierung in dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz<br />
(EALG) im September 1994 geregelt (16 ,S.70). Die Hauptkriterien sehen wie<br />
folgt aus:<br />
● Die ehemaligen Eigentümer bzw. ihre Nachkommen haben einen Anspruch auf eine<br />
geringe Entschädigungszahlung oder das Recht, einen kleinen Teil der ehemaligen<br />
Flächen zu einem Vorzugspreis zu kaufen.<br />
● Alle Betriebe, die staatliche Flächen gepachtet hatten, haben das Recht, diese Flächen<br />
zu kaufen.<br />
● Die Verkaufspreise sollten nur etwa die Hälfte der aktuellen Marktpreise <strong>für</strong> landwirtschaftlichen<br />
Boden in Ostdeutschland betragen.<br />
Die Privatisierung der staatlichen Flächen begann im Jahr 1994. Allerdings stellte sich<br />
heraus, das dies ein sehr langwieriger Prozess ist. Bis zur Jahresmitte 2010 waren ca.<br />
390 000 ha bzw. ca. 40 %der Flächen an die ehemaligen Eigentümer sowie den aktuellen<br />
Pächtern zu Vorzugspreisen verkauft worden. Weitere 255 000 ha wurden besonders<br />
Buel_3_11.indb 467 17.11.2011 08:13:27
468 Axel Wolz<br />
im Laufe der letzten Jahre zu Marktpreisen verkauft. Aber immer noch ca. 370 000 ha<br />
sind weiterhin verpachtet, in den meisten Fällen zu langfristigen Konditionen und sollen<br />
imLaufe der nächsten Jahre verkauft werden (5). Während der letzten Jahre konnte<br />
eine stetige Steigerung der Bodenpreise inOstdeutschland beobachtet werden. So wurden<br />
jene bestätigt, die<strong>für</strong> einen vorsichtigen Privatisierungsweg eingetreten waren. Allerdings<br />
zeigt diese Entwicklung auch, dass die Einrichtung einer Sonderbehörde der Agrarverwaltung<br />
keine kurzfristige Angelegenheit darstellt, wie ursprünglich geplant, sondern diese<br />
sich zu einer langfristig orientierten Organisation weiter entwickelte.<br />
4 Transformation der landwirtschaftlichen Verbände<br />
Nicht nur die Agrarverwaltung musste im Zuge des Systemwandels und Vereinigung<br />
transformiert werden, sondern auch die Organisationen, die die landwirtschaftliche Bevölkerung<br />
in der ehemaligen DDR repräsentierten. Grob gesagt lassen sich zwei Formen<br />
von Organisationen unterscheiden: politische auf der einen Seite sowie Verbände auf der<br />
anderen. Allerdings ist diese Unterscheidung von eher theoretischer Natur, daindem<br />
sozialistischen System alle offiziell zugelassenen Parteien und Verbände –dem leninistischen<br />
Prinzip entsprechend –als Transmissionsriemen der Partei zu dienen hatten. Alle<br />
Organisationen waren unter dem Dach der Massenorganisationen integriert, das von der<br />
SED dominiert wurden. In diesem Kapitel diskutieren wir die Transformation der politischen<br />
Parteien und Gewerkschaften, die <strong>für</strong> die landwirtschaftliche Bevölkerung von<br />
Bedeutung waren. Der Schwerpunkt liegt auf der Transformation der Bauernverbände. Die<br />
Transformation und spätere Vereinigung der wichtigsten Bauernverbände ist einmalig <strong>für</strong><br />
die Verbandsentwicklung in Deutschland in und nach 1990 (25).<br />
4.1 Politische Parteien und Gewerkschaften<br />
Die DDR war kein Einparteienstaat, sondern mehrere Parteien bestanden nebeneinander.<br />
Man wollte jene Bürger in das politische System integrieren, die sich mit den Zielen der<br />
SED nicht anfreunden konnten.Natürlich waren diese Parteien nicht frei und unabhängig,<br />
sondern unterstützten voll das politische System unter der Führung der SED (als sogenannte<br />
„Blockpartei“). Die Partei, die sich auf die landwirtschaftliche Bevölkerung ausrichtete,<br />
war die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD). Sie wurde im April<br />
1948 gegründet. Ihr Hauptziel war, die landwirtschaftliche Bevölkerung <strong>für</strong> den Aufbau<br />
einer sozialistischen Gesellschaft zu gewinnen.<br />
In der ehemaligen DDR verfügte die DBD <strong>über</strong> eine Quote von ca. 10 %aller Abgeordneten<br />
bzw. 52Vertreter/Innen in der Volkskammer. Nach dem Fall der Berliner Mauer<br />
gab es Bemühungen, sie in eine mitgliederorientierte und unabhängige Partei zu transformieren.<br />
Sie nahm an der ersten freien Wahl zur Volkskammer teil und erhielt 2,2 %der<br />
Stimmen, die sie zur Abordnung von 9Abgeordneten berechtigte. Im Juni 1990 entschieden<br />
die Mitglieder, die Partei auszulösen und der CDU (Ost) beizutreten. Seit jener Zeit<br />
scheint die landwirtschaftliche Bevölkerung, gleichwohl ihre Zahl erheblich abnahm, bei<br />
Wahlen ähnlich im Hinblick auf die Parteien abzustimmen wie der Rest der Bevölkerung.<br />
Alle Personen, die auf den Staatsgütern arbeiteten, galten als landwirtschaftliche Arbeiter<br />
(„Landarbeiter“). Ihre gesellschaftliche Vertretung war die Gewerkschaft Land-, Nahrungsgüterwirtschaft<br />
und Forsten (GLNF), in die (fast) alle eintraten. Die GLNF war Teil<br />
des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), dem Dachverband aller Gewerkschaften<br />
in der ehemaligen DDR. Die Gewerkschaften waren auch Teil der Massenorganisationen<br />
unter der Führungder SED. Ende 1989 hatte die GLNF ca. 600 000 Mitglieder.<br />
Anfang 1990 gab es innerhalb der GLNF Versuche, sie in eine mitgliederorientierte und<br />
Buel_3_11.indb 468 17.11.2011 08:13:27
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />
469<br />
unabhängigeGewerkschaftzutransformieren. Nach derWiedervereinigung wurde jedoch<br />
beschlossen, die GLNF aufzulösen und den Mitgliedern geraten, in die (westdeutsche)<br />
Gewerkschaft <strong>für</strong> Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft (GGLF) einzutreten. Allerdings<br />
taten dies nur ein geringer Teil der ehemaligen Mitglieder (22).<br />
4.2 Bauernverbände<br />
Alle Mitglieder der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurden als arbeitende<br />
Bauern angesehen.Ihre gesellschaftliche Vertretung war die Vereinigung der gegenseitigen<br />
Bauernhilfe (VdgB), in die ebenfalls (fast) alle Mitglied waren. Sie wurde im<br />
Herbst 1945 zur Unterstützung der Bodenreform gegründet. Zu jener Zeit betrieb sie<br />
primär Maschinenstationen zur Unterstützung der Landreformbauern. Später war es ihr<br />
Hauptziel, die sozialistische <strong>Landwirtschaft</strong> zu stärken und den Kollektivierungsprozess<br />
voran zu treiben (2, S. 41). Zum Ende der 1980er-Jahre zählte sie ca. 650 000 Mitglieder.<br />
Als eine bedeutende Massenorganisation stand dem VdgB eine kleine Quote <strong>für</strong> Abgeordnete<br />
inder Volkskammer zu. In der Zeit von 1986–1990 waren dies 14 Abgeordnete.<br />
Nach dem Fall der Berliner Mauer unternahm der Verband große Anstrengungen, sich in<br />
einen mitgliederorientierten Verband zu transformieren. Allerdings sank die Mitgliederzahl<br />
sehr schnell; im Frühjahr 1990 auf ca. 400 000. Schon am 8. März 1990 benannte<br />
sich der Verband in „Bauernverband der DDR e.V.“ um. Ebenso wurde das gesamte Führungspersonal<br />
neu gewählt. Dar<strong>über</strong> hinaus errichtete der Verband regionale Verbände in<br />
Übereinstimmung mit den (noch zu gründenden) Bundesländer; in diesem Sinne kopierte<br />
er die föderative Organisationsstruktur des (westdeutschen) Deutschen Bauernverband<br />
(DBV). Der RegionalverbandThüringen wurde am 23. Juni 1990 gegründet. Ähnlich wie<br />
bei dem Modell der Patenschaften im Zuge des Aufbaus der (Agrar-) Verwaltung unterstützten<br />
westdeutsche Landesverbände des DBV den Neuaufbau; im Falle von Thüringen<br />
waren dies die Landesverbände aus Rheinland-Pfalz, Hessen und Bayern (9).<br />
Zu jener Zeit war die <strong>Landwirtschaft</strong> in der alten Bundesrepublik hochgradig korporativ<br />
verfasst. Ein Verbändenetzwerk unter der Führung des DBV hatte quasi ein Repräsentationsmonopol<br />
im landwirtschaftlichen Sektor.Eine recht enge Zusammenarbeitmit dem<br />
<strong>Landwirtschaft</strong>sministerium (BML) hatte sich im Laufe der Nachkriegszeit entwickelt.<br />
Dieses Repräsentationsmonopol hatte auch seine Bedeutung bei der Ausgestaltung und<br />
Anpassung des GAP. Sogab es Hinweise aus Brüssel, dass eine Verbändekonkurrenz vermieden<br />
werden und auch die ostdeutsche <strong>Landwirtschaft</strong> mit einer Stimme sprechen sollte<br />
(25). Diese Überlegungen müssen auch vor dem Hintergrund der äußerst schwierigen<br />
Lage des Agrarsektors zu jener Zeit gesehen werden. So reagierten die großen Bauernverbände<br />
auf beiden Seiten Deutschlands sehr flexibel in den folgenden Monaten im Hinblick<br />
auf ihre eigene Vereinigung. Allerdings repräsentierten sie ja zwei völlig gegensätzliche<br />
agrarpolitische Leitbilder, d. h. großflächige Kollektivbetriebe auf der einen Seite und<br />
eher kleinflächige bäuerliche Familienbetriebe auf der anderen. Erste Kontakte hatten sich<br />
schon in den 1980er-Jahren entwickelt. Im Jahre 1988 unterzeichneten beide Verbände<br />
eine Übereinkunft <strong>über</strong> ihre zukünftige, zu jener Zeit recht allgemeinen, Zusammenarbeit<br />
(3). Im Frühjahr 1990 besuchte der Vorsitzende des DBV Ostdeutschland. Nach seiner<br />
Rückkehr wurde der Beschluss gefasst, den ostdeutschen Verband zu „adoptieren“. Zu<br />
gleicher Zeit wurden die Landesverbände in Ostdeutschland gegründet.<br />
Rückblickend kann man die Vereinigung der beiden Bauernverband als großen Erfolg<br />
ansehen. Der DBV sicherte sich das Repräsentationsmonopol im landwirtschaftlichen<br />
Sektor. Allerdings musste er einen Wandel seines traditionellen ideologischen Leitbilds<br />
hinnehmen. Dieses Leitbild beinhaltete nicht mehr den bäuerlichen Familienbetrieb, sondern<br />
sehr viel allgemeiner eine auf Privateigentum basierenden Agrarordnung. In diesem<br />
Sinne standen nun die dekollektivierten Großbetriebe Ostdeutschlands als ‚Mehrfami-<br />
Buel_3_11.indb 469 17.11.2011 08:13:27
470 Axel Wolz<br />
lienbetriebe‘ gleichberechtigt neben den herkömmlichen Familienbetrieben (25). Ein<br />
Hauptgrund <strong>für</strong> diese erfolgreiche Vereinigung scheint in der Tatsache zu liegen, dass der<br />
DBV schon in der alten Bundesrepublik heterogene Gruppen von Landwirten integrierte.<br />
Um diese Gruppen ausreichend anEntscheidungsprozessen zu beteiligen, ist er föderativ<br />
strukturiert, sodass jeder Landesverband gleiches Stimmrecht im Vorstand hat. Die föderative<br />
Organisationsstruktur ließ ihn daher sehr viel flexibler auf Veränderungen reagieren<br />
als dies bei einer zentralisierten möglich gewesen wäre (25).<br />
Aber auch der ostdeutsche Verband musste sein traditionelles ideologisches Leitbild<br />
ändern. Auf dem Übergangskongress am 8. März 1990 wurde noch nach der Anerkennung<br />
des genossenschaftlichen Eigentums sowie einem massiven Importschutz vor (westdeutschen)<br />
Importen von Agrar- und <strong>Ernährung</strong>sgütern gerufen. Allerdings wurden auf dem<br />
Kongress Familienbetriebe als eine alternative Produktionsform akzeptiert. ImLaufe des<br />
Sommers erklärte der Verband das Privateigentum an Produktionsfaktoren zum Leitbild;<br />
eine Anpassung, die dem geänderten Leitbild des westdeutschen DBV ziemlich nahe<br />
kam (3). Als die Landesverbände in den neuen Ländern ihre Arbeit aufnahmen, traten sie<br />
jeweils als Landesverband dem DBV bei. Nachdem die fünf Landesverbände beigetreten<br />
waren, konnte der noch bestehende nationale (ostdeutsche) Verband am 21. Dezember<br />
1991 aufgelöst werden (9).<br />
Neben dem ostdeutschen DBV hatten sich noch weitere kleinere Bauernverbände<br />
gegründet. Sie repräsentierten besonders die Neu- und Wiedereinrichter; also das klassischen<br />
Klientel des DBV.Inaller Regel waren sie sich aber untereinander uneins und somit<br />
verhältnismäßig bedeutungslos. Im Laufe der Jahre schlossen sich einige dieser kleineren<br />
Bauernverbände dem DBV an. Zu den verbliebenen eigenständigen Verbänden zählen<br />
der Bundesverband Deutscher Landwirte (VDL) und der Deutsche Bauernbund (DBB).<br />
Der VDL wurde im Sommer 1990 gegründet. Er tritt <strong>für</strong> eine kompromisslose Dekollektivierung<br />
ein (3). Sich selbst versteht er als Vertreter der privaten Landwirte sowie der<br />
bäuerlichen Grundeigentümer in Ostdeutschland. Er sieht alle alternativen Betriebsformen<br />
äußerst kritisch, da diese Relikte der Zwangskollektivierung seien (12). Der im Jahr 1999<br />
gegründete DBB sieht sich als die berufsständische Interessenvertretung der bäuerlichen<br />
Familienbetriebe in den ostdeutschen Bundesländern (13). Beide Verbände tätigen keine<br />
Aussagen <strong>über</strong> die Anzahl ihrer Mitglieder.<br />
Zu anderen Sektoren steht die Vereinigung der Bauernverbände vergleichsweise einmalig<br />
da. So haben die westdeutschen Verbände z. B. im Gesundheitswesen oder im Wissenschaftsbereich<br />
die Übertragung des institutionellen Rahmens der altenBundesrepublik<br />
auf Ostdeutschland durchgesetzt. Allerdings hat in beiden Fällen der Osten nur bedingt<br />
davon profitiert. Das Anliegen, brauchbare und womöglich auch entwicklungsfähige<br />
Ansätze aus der DDR zu <strong>über</strong>nehmen, wurde nicht verfolgt. Im Allgemeinen wurden die<br />
ostdeutschen Verbände durch die westlichen Partner „<strong>über</strong>nommen“; so gab es häufig<br />
einen Export von westdeutschem Personal, um die entscheidenden Positionen zu besetzen<br />
bzw. umostdeutsche Außenstellen zu etablieren. In einigen Bereichen gab es jedoch<br />
<strong>über</strong>haupt keine Organisationen in der ehemaligen DDR, wie z. B. in der Wirtschaft,<br />
die dann von Grund auf neu aufgebaut wurden (25, S. 96–101). Im Agrarsektor jedoch<br />
hat der DBV sehr flexibel auf den Zusammenbruch des sozialistischen Systems und der<br />
Vereinigung reagiert. Er hat „als Verband eine höchst bemerkenswerte Integrations- und<br />
zugleich eine außerordentliche Anpassungsleistung vollbracht“ (25, S. 100). Er ist der<br />
einzig bedeutende Verband Deutschlands, in dem ostdeutsche Vertreter einen gewissen<br />
Einfluss auf die Vereinigung hatten. So ist er auch darin einmalig, dass die ostdeutschen<br />
Landesverbände nur von Ostdeutschen geführt werden und kein Import von Personal aus<br />
dem Westen stattfand.<br />
Die ostdeutschen Landesverbände konnten schnell ihre hohe Lernfähigkeit in der Nutzung<br />
des (westlichen) politischen Systems zum Vorteil ihrer Mitglieder zeigen. Sie nah-<br />
Buel_3_11.indb 470 17.11.2011 08:13:27
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />
471<br />
men maßgeblich Einfluss auf die Ausgestaltung und Änderungen des <strong>Landwirtschaft</strong>sanpassungsgesetzes<br />
sowie des EALG. Sosahen die ersten Entwürfe zum EALG eher eine<br />
Bevorteilung derAlteigentümer vor, während die Pächter,imRegelfall die transformierten<br />
Nachfolgebetriebe der ehemaligen LPGen, nur bedingt Zugang zu den Flächen erhalten<br />
sollten. In dem abschließenden Kompromiss kamen die Alteigentümer nur noch zum Teil<br />
zum Zuge, während die Pächter die Hauptnutznießer des Privatisierungsprozesses wurden.<br />
Der Haupteinflussfaktor schien das Potenzial bzw. die Drohung der ostdeutschen<br />
Landesverbände des DBV zu sein, die öffentliche Meinung großflächig in ihrem Sinne<br />
beeinflussen zu können. In dieser Phase der Transformation, d. h. in der ersten Hälfte der<br />
1990er-Jahre, mit all ihren Enttäuschungen im Hinblick auf die hochgesteckten Erwartungen<br />
zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung, war <strong>für</strong> die Politiker die Bewahrung des<br />
sozialen Friedens eine der wichtigsten Voraussetzungen <strong>für</strong> einen erfolgreichen Entwicklungsprozess<br />
(4). Diese Lobbyarbeit war <strong>für</strong> die neu gegründeten landwirtschaftlichen<br />
Betriebe sehr erfolgreich. <strong>Landwirtschaft</strong>liche Produktion in Ostdeutschland würde heute<br />
wohl völlig anders organisiert, wenn die ostdeutschen Verbandsvertreter nicht so schnell<br />
gelernt hätten, das westdeutsche politische System <strong>für</strong> ihre Ziele zu nutzen.<br />
5 VergleichendeAnalyse zum Wandel der Agrarverwaltung in den<br />
Transformationsstaaten Mittel- und Osteuropas<br />
Die Transformation der Agrarverwaltung zeigt gewisse Parallelen zur Entwicklung in<br />
Mittel- und Osteuropa, allerdings <strong>über</strong>wiegen die Besonderheiten. So strebte auch dort<br />
eine breite Mehrheit der Bevölkerung westeuropäische Normen und Werte sowie eine<br />
Orientierung an die westlichen Demokratiemodelle und -standards an. Ebenso verlieh die<br />
Perspektive einer EU-Mitgliedschaft der EU Autorität in der Übertragung ihrer Normen<br />
und Regeln (11, S. 75–76). In diesem Sinne mussten sich die Inhalte und Funktionen der<br />
Agrarverwaltung sowohl in der ehemaligen DDR wie in den MOEL auf das „rationallegale“<br />
Modell im Sinne der westeuropäischen Tradition ändern (23, S. 33). Allerdings<br />
unterscheidet sich, wie lehmbruCh (24, S. 64–65) bemerkt, der Transformationsprozessin<br />
der ehemaligen DDR von den Veränderungen in Mittel- und Osteuropa am markantesten<br />
durch den radikalen Bruch sowohl im Bereich der administrativen als auch der ökonomischen<br />
Institutionen. In Gegensatz zu jenen Ländern war der Transformationsprozess von<br />
zwei getrennten, aber auch sich gegenseitig beeinflussenden Prozessen geprägt, einerseits<br />
die Transformation des real-sozialistischen Systems in eine pluralistische Demokratie<br />
und Marktwirtschaft, anderseits die Wiedervereinigung mit der alten Bundesrepublik.<br />
Ohne Zweifel war die alte Bundesrepublik zunächst unumstrittenes Vor- und Leitbild <strong>für</strong><br />
den Aufbau politisch-administrativer Institutionen. Sie hatten sich ja bewährt und war<br />
nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus legitimatorisch gestärkt<br />
(14, S. 40). Für die MOEL war die EU das Vorbild, allerdings musste die Anpassung nicht<br />
so radikal vollzogen werden und man konnte sich auf die eigene Verwaltungstradition<br />
stützen.<br />
Mit der Übernahme des föderativen Systems der Bundesrepublik Deutschlands musste<br />
in den neuen Bundesländern die Verwaltungsstruktur auch territorial völlig neu etabliert<br />
werden. Die ehemalige zentralistisch-orientierteBezirksverwaltung wurde komplett abgebaut,<br />
während eine Landesverwaltung parallel geschaffen wurde. Die Transformation der<br />
(Agrar-) Verwaltung implizierte eine komplette Neurekrutierung des Verwaltungspersonals.<br />
Ehemalige Mitarbeiter konnten sich neu bewerben und viele wurden auch <strong>über</strong>nommen.<br />
Allerdings bedeutete die Transformation einen erheblichen Abbau der Verwaltung<br />
besonders auf Kreisebene, sodass das Personal insgesamt stark reduziert wurde. In den<br />
anderen MOEL wurde das Personal zwar auch, wenn auch nicht so stark, abgebaut, aber es<br />
Buel_3_11.indb 471 17.11.2011 08:13:27
472 Axel Wolz<br />
gab keinen Prozess der Neurekrutierung des Personals. Ebenso gab es keine Überprüfung<br />
des Personals im Hinblick auf ihr Verhalten während der sozialistischen Periode.<br />
Bedingt durch den parallelen Prozess der Systemtransformation sowie der Wiedervereinigung<br />
blieb der ehemaligen DDR im Vergleich zu den MOEL wenig Zeit <strong>für</strong> den Institutionenwandel.<br />
Es herrschte ein extrem hoher Zeitdruck <strong>für</strong> Aufklärungs- und Anpassungsprozesse.<br />
Diese Kurzfristigkeit der Zeithorizonte wurde durch zwei Entwicklungen<br />
verstärkt. Zum einen erschien die innere Entwicklung der DDR in der ersten Jahreshälfte<br />
1990 zunehmend durch eine stabilitätsgefährdende Erosion institutioneller Autorität sowie<br />
einem wirtschaftlichen Verfall charakterisiert und zum anderen ließ die Entwicklung in<br />
der Sowjetunion gravierende Ordnungs- und Sukzessionsprobleme erwarten (24). Daher<br />
wurde auf eine schnelle Lösung gedrungen. Das westdeutsche „Erfolgsmodell“ diente als<br />
unumstrittenes Vorbild. Man setzte auf einen Transfer der westdeutschen Institutionen,<br />
mit der Folge, dass die Entscheidungssituation imVergleich zu den Ländern Mittel- und<br />
Osteuropas radikal vereinfacht wurde (24).<br />
Auf der anderen Seite erfuhr die ehemalige DDR eine sehr viel stärkere finanzielle<br />
und logistische Unterstützung von Seiten der alten Bundesrepublik als die anderen Transformationsländer.<br />
Diese mussten mit vergleichsweise bescheidenen EU-Unterstützungsprogrammen<br />
zurecht kommen. Das Konzept der Länderpatenschaften beim Aufbau der<br />
Verwaltung in den neuen Bundesländern stellte eine originelle und innovative Formel des<br />
Institutionentransfers dar (23, S. 43), dies wurde von der EU –auch in einer angepassten<br />
Form –<strong>für</strong> die MOEL nicht angewandt.<br />
6 Fazit und Empfehlungen<br />
Rückblickend spricht vieles da<strong>für</strong>, dass die Transformation der Agrarverwaltung sowie<br />
der landwirtschaftlichen Organisationen als Teil der politisch-administrativen Institutionen<br />
erfolgreich verlaufen ist und zu einer institutionellen Konsolidierung geführt hat<br />
(14). Die Institutionen der alten Bundesrepublik wurden auf die neuen Länder <strong>über</strong>tragen,<br />
wobei die <strong>über</strong>kommenden Institutionen der DDR zerstört wurden (11). Im Hinblick auf<br />
die Agrarverwaltung bedeutete dies, dass die sozialistische „Kader“-Verwaltung abgebaut,<br />
und parallel eine Verwaltung im „rational-legalen“ Sinne der westeuropäischen Tradition<br />
aufgebaut werden musste (23, S. 33). Hinzu kam mit der Wiedererrichtungder Bundesländer<br />
eine Reorganisation der territorialen Einteilung und Entscheidungsstrukturen. In dieser<br />
Zeit des radikalen Umbruchs musste die Agrarverwaltung ihre neuen Aufgaben bestmöglich<br />
ausführen, um kurzfristig den Fortbestand der landwirtschaftlichen Produktion<br />
<strong>über</strong>haupt zu sichern sowie generell die Wettbewerbsfähigkeit der landwirtschaftlichen<br />
Produktion zu steigern. Um diese Aufgaben zu erfüllen, wurde das gesamte Personal neu<br />
rekrutiert, im Zuge dessen sich ehemalige Mitarbeiter neu bewerben konnten. Folgende<br />
Lehren lassen aus der deutschen Erfahrung ziehen:<br />
● Motivierte Mitarbeiter/-Innen aus der ehemaligen DDR konnten eingestellt werden,<br />
die ein hohes Maß an Engagement und Arbeitseinsatz zeigten. Sie waren offen <strong>für</strong> die<br />
neuen Aufgaben und hatten verstanden, dass dieser Neuanfang eine historische Situation<br />
<strong>für</strong> sie selbst und das Land war. Obwohl den Ostdeutschen generell nachgesagt<br />
wurde, dass sie aufgrund des sozialistischen Systems lethargisch seien, legten diese<br />
Personen ein hohes Maß an Entscheidungsinitiative und Handlungskompetenz an den<br />
Tag. Sie konnten auch unter den bescheidenen logistischen Bedingungen improvisieren.<br />
● Die Einstellung von ostdeutschem Personal wurde immer wieder durch die Tatsache<br />
unterbrochen, dass kompetente Personen abrupt entlassen werden mussten, da ihnen<br />
eine informelle Mitarbeit bei der Staatssicherheit nachgewiesen wurde. Die neuen Eli-<br />
Buel_3_11.indb 472 17.11.2011 08:13:27
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />
473<br />
ten inOstdeutschland lehnten indiesem Punkt jeden Kompromiss ab. Diesen Willen<br />
musste man respektieren.<br />
● Dieser erfolgreiche „Institutionentransfer“ wäre ohne die Abordnung von motivierten<br />
Beamten aus der alten Bundesrepublik unmöglich gewesen. Sie kannten das hierarchische<br />
Verwaltungssystem, mussten aber <strong>über</strong> die gleichen Eigenschaften wie ihre<br />
ostdeutschen Kollegen verfügen. Das Patenschaftmodell der Bundesländer erwies sich<br />
als sehr erfolgreich.<br />
● Ebenso wäre der Institutionentransfer bescheiden ausgefallen, wären nicht die vielen<br />
Fort- und Weiterbildungsprogramme <strong>für</strong> die ostdeutschen Kollegen angeboten worden.<br />
Diese beinhalteten: direkte Ausbildung am Arbeitsplatz, Fortbildungskurse und Schulungen<br />
im Haus sowie Ausbildungskurse an der jeweiligen „Patenbehörde“.<br />
Allerdings war man Anfangs bei der Planung der Struktur der Agrarverwaltung im Hinblick<br />
auf ihre Finanzierungzuoptimistisch.Obwohlz.B.die Zahl der landwirtschaftlichen<br />
Kreisstellen im Vergleich zu der Zeit vor 1990 reduziert wurde und nun jede Kreisstelle<br />
<strong>für</strong> mehrere Landkreise zuständig war, war ihre Zahl immer noch zu hoch. Im Laufe der<br />
folgenden Jahre wurde weitere Kreisstellen abgebaut und die Agrarverwaltung effizienter.<br />
Aus dieser Erfahrung kann man die Empfehlung ableiten, gleich zu Beginn verhältnismäßig<br />
konservativ zu planen.<br />
Um negative Auswirkungen des Transformationsprozess auf den landwirtschaftlichen<br />
Sektor abzufedern, können spezialisierte Agrarbehörden etabliert werden. In Deutschland<br />
wurde die Privatisierung des Staatseigentums an land- und forstwirtschaftlichen Flächen<br />
einer gesonderten, neugeschaffenen Behörde <strong>über</strong>tragen. Während bei ihrer Einsetzung<br />
davon ausgegangen wurde, dass die Privatisierung verhältnismäßig schnell durchgeführt<br />
und damit die Behörde wieder aufgelöst werden könnte, erwies sich diese Aufgabe als<br />
äußerst langwierig. Aus diesem Beispiel kann man die Empfehlung ableiten,dass gewisse<br />
Aufgaben mit dem notwendigen administrativen Fachwissen nur dann erfolgreich umgesetzt<br />
werden können, wenn gleich zu Beginn ein langfristiger Ansatz verfolgt wird.<br />
Auf der anderen Seite zeigt das deutsche Beispiel, dass der Institutionentransfer im<br />
Agrarbereich nicht nur eine Einbahnstraße darstellte. Der Vereinigungsprozess innerhalb<br />
des DBV zeigte, dass die ostdeutschen Landwirte, obwohl sie ein völlig konträres Leitbild<br />
repräsentierten, sehr wohl in einer gemeinsamen Organisation integriert werden konnten.<br />
Die Vertreter aus Ostdeutschland lernten sehr schnell das politische System zu nutzen, um<br />
ihre Ziele auch gegen<strong>über</strong> gut organisierten Gegnern durchzusetzen. Der Dekollektivierungsprozess,<br />
aber auch die Privatisierung der staatlichen Flächen hätte wohl einen völlig<br />
anderen Verlauf genommen, wenn die ostdeutschen Landwirte eine alternative Organisation<br />
zum DBV aufgebaut hätten. Aber auch die westdeutsche Seite profitierte von der Vereinigung,<br />
da so kein nennenswerter Konkurrenzverband etabliert wurde. In dieser Hinsicht<br />
kann man die Erfahrung ableiten: weil die ostdeutsche Seite als gleichwertiger Partner<br />
anerkannt wurde, entwickelte er sich zu einem aktiven Gestalter und nicht zu einem passiver<br />
Empfänger im politischen System.<br />
Die Analyse zeigt, dass der institutionelle Wandel in der Agrarverwaltung und den<br />
Agrarverbänden in Ostdeutschland vor und nach der Wiedervereinigung ein Sonderfall<br />
der Transformation aus dem sozialistischen System der zentralen Planwirtschaft in ein<br />
System des demokratischen Pluralismus und Marktwirtschaft darstellt. Die Lehren <strong>für</strong> die<br />
Transformationsländer Mittel- und Osteuropas oder gar der ehemaligen Sowjetunion sind<br />
gering. Allerdings kann die deutsche Erfahrung sehr wohl ein Beispiel <strong>für</strong> eine mögliche<br />
Entwicklung auf der koreanischen Halbinsel sein. Auch hier werden die beiden Prozesse,<br />
d. h. Systemtransformation und Wiedervereinigung, parallel verlaufen und sich nicht –<br />
ähnlich wie in Deutschland –trennen lassen.<br />
Buel_3_11.indb 473 17.11.2011 08:13:27
474 Axel Wolz<br />
Zusammenfassung<br />
Die Transformation in Ostdeutschland war durch zwei getrennte, aber sich auch gegenseitig beeinflussende<br />
Prozesse geprägt. Einerseits die Transformation des real-sozialistischen Systems in eine<br />
pluralistische Demokratie und Marktwirtschaft, anderseits die Wiedervereinigungmit der alten Bundesrepublik.<br />
Gemeinsam bedingten sie einen schnellen und radikalen Bruch mit den bestehenden<br />
Institutionen; u. a. eine komplette Neuausrichtung der Agrarverwaltung. Sie führten nicht nur zu<br />
dem Abbau der sozialistischen „Kader“-Verwaltung und dem Aufbau einer Verwaltung im „rationallegalen“<br />
Sinne (23, S. 33), sondern –parallel –mit der Übernahme der föderativen Struktur der alten<br />
Bundesrepublik zu einem völlig neuen territorialen Aufbau. Die Transformation umfasste jedoch<br />
nicht nur eine komplette Neurichtung der Agrarverwaltung, sondern auch die Etablierung neuer<br />
spezialisierter Behörden. Waren sie zu Beginn nur auf befristete Zeit ausgelegt, erwiesen sie sich<br />
z. T. von permanenter Natur. Neben der Verwaltung mussten sich auch die landwirtschaftlichen<br />
Verbände neu organisieren. Vonbesonderer Bedeutung war die Vereinigung und Neuausrichtung<br />
des Deutschen Bauernverbandes, da beide Ursprungsverbände ein völlig konträres landwirtschaftliches<br />
Leitbild vertraten. Rückwirkend spricht vieles da<strong>für</strong>, dass der institutionelle Wandel in der<br />
Agrarverwaltung und den Agrarverbänden in Ostdeutschland erfolgreich verlaufen ist. Aber, erstellt<br />
einen Sonderfall der Systemtransformation dar. Die Lehren <strong>für</strong> die Transformationsländer Mittelund<br />
Osteuropas sind gering. Allerdings kann die deutsche Erfahrung sehr wohl ein Beispiel <strong>für</strong> eine<br />
mögliche Entwicklung auf der koreanischen Halbinsel sein. Auch hier werden die beiden Prozesse,<br />
d. h. Systemtransformation und Vereinigung, parallel verlaufen und sich nicht trennen lassen.<br />
Summary<br />
Institutional Change in Agricultural Administration and Agricultural Associations in East<br />
Germany Before and After Unification<br />
The transition process in East Germany has been dominated by two separate, but closely-linked<br />
developments, namely the transition of the socialist central planning system into amarket economy<br />
and pluralistic democracy on the one hand, and unification with West Germany onthe other. This<br />
entailed aquick and radical break of the existing institutions and organisations, including acomplete<br />
restructuring of the agricultural administration. This development not only led to adismantling of<br />
the socialist “cadre administration” and the development of an administration in a“rational-legal<br />
sense” (23, p. 33), but also –atthe same time –the adoption of the West German federal structure<br />
which required aterritorial re-organisation from scratch. Besides the restructuring of the “general”<br />
agricultural administration, specialised agencies had to be established, e.g. for the administration of<br />
state-owned agricultural assets. While originally set-up for alimited period only, they proved to be<br />
required on apermanent basis. Besides the agricultural administration, the associations representing<br />
the rural population had to be re-organised. The re-organisation and unification of the German Farmers’<br />
Union is of special significance as the two original associations represented completely different<br />
agricultural systems. Looking back, the transition of the agricultural administration and rural<br />
associations in East Germany seems to have been accomplished successfully. The lessons that can<br />
be derived for other countries in Central and Eastern Europe, however, are modest. The German<br />
experience seems to be of high relevance for the (potential) development on the Korean Peninsula.<br />
Here, both processes, i.e. transitional change and unification, will most probably take place simultaneously<br />
–like in Germany –and will not be able to be executed separately.<br />
Résumé<br />
Changement institutionnel dans l’administration agricole etles associations agricoles en Allemagne<br />
de l’Est avant et après la réunification allemande<br />
La transformation en Allemagne de l’Est s’est caractérisée par deux processus séparés mais<br />
s’influençant mutuellement :d’une part, la transformation du système du socialisme réel en une<br />
démocratie pluraliste et une économie de marché, et d’autrepart, l’unification avec l’ancienne République<br />
fédérale d’Allemagne. Ces deux processus ont provoqué la rupture radicale avec les institutions<br />
existantes àl’époque dont une réorientation totale del’administration agricole. Non seulement<br />
l’administration socialiste «decadres »aété dissoute pour établir une administration dans le sens<br />
légal et rationnel, mais en même temps, en adoptant la structure fédérale de l’ancienne République<br />
fédérale d’Allemagne, l’organisation territoriale acomplètement changé. Outre la réorganisation de<br />
l’administration agricole, des autorités publiques spécialisées sont créées. Initialement prévues pour<br />
une durée limitée, quelques-unes de ces autorités sont devenues des institutions permanentes. Les associations<br />
agricoles, elles-aussi ont dû se réorganiser. L’unification et la réorientation de l’association<br />
Buel_3_11.indb 474 17.11.2011 08:13:27
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />
475<br />
allemande des agriculteurs «Deutscher Bauernverband »ont été d’une importance fondamentale<br />
étant donné que les deux anciennes associations représentaient des modèles du monde agricole<br />
complètement contraires. Avec du recul, on peut constater que le changement institutionnel dans<br />
l’administration agricole et les associations agricoles en Allemagne de l’Est s’est passé apparemment<br />
avec succès. Mais il s’agit bien d’un cas exceptionnel de transformation nepermettant pas de<br />
transposition directe àlasituation dans les pays en train de transformation enEurope centrale et orientale.<br />
Néanmoins, les expériences allemandes peuvent servir d’exemple àl’évolution possible dans<br />
la péninsule coréenne. Là-aussi, probablement, les deux processus, c’est-à-dire la transformation<br />
des systèmes et l’unification, se réaliseront parallèlement sans pouvoir être séparés l’un de l’autre.<br />
Literatur<br />
1. aeiKens, h.,1999: VonOstfriesland zur Börde. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.): Zeitzeugen berichten:<br />
Wirwaren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den neuen Bundesländern<br />
1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen, Bd. 132), S. 9–15.<br />
2. asChOff, g.; henningsen, e., 1996: The German Cooperative System-Its History, Structure and<br />
Strength. Frankfurt, Fritz Knapp (Veröffentlichung der DG Bank Deutsche Genossenschaftsbank, Bd.<br />
15).<br />
3. bammel, O.,1991: Die Meinungen der landwirtschaftlichen Verbände zur künftigen Agrarpolitik in<br />
den Ländern der ehemaligen DDR. In: merl,s.; sChinKe,e.(Hrsg.): Agrarwirtschaft und Agrarpolitik<br />
in der ehemaligen DDR im Umbruch. Berlin, Duncker &Humblot, S. 71–78.<br />
4. beCKmann, v.;hageDOrn, K.,1997: Decollectivisation and privatization policies and resulting structural<br />
changes of agriculture in Eastern Germany. In: sWinnen, J.f.m.; buCKWell, a.; mathiJs, e.<br />
(Hrsg.): Agricultural Privatisation, Land Reform and Farm Restructuring in Central and Eastern Europe.<br />
Aldershot, Ashgate, S. 105–160.<br />
5. Bodenverwertungs- und verwaltungs GmbH (BVVG), 2010: Über 4Milliarden EUR Überschuss in 18<br />
Jahren. Pressemitteilung, 9. Juli 2010 (www.bvvg.de, Abruf: 21. Juli 2010).<br />
6. bOehnKe, h.-J., 1999: Aufbauhilfe –ein großes Erlebnis. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.): Zeitzeugen<br />
berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den neuen<br />
Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen, Bd. 132),<br />
S. 16–22.<br />
7. braCK, g.,1999: Begegnungen sowie Impressionen in Sachsen und Thüringen. In: Agrarsoziale Gesellschaft<br />
(Hrsg.): Zeitzeugen berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und –institutionen<br />
in den neuen Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche<br />
Sozialfragen, Bd. 132), S. 23–34.<br />
8. branDt,W.,1999: Herausforderungen mit nicht vorstellbaren Erfahrungen und Erlebnissen. In: Agrarsoziale<br />
Gesellschaft (Hrsg.): Zeitzeugen berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen<br />
und -institutionen in den neuen Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong><br />
ländliche Sozialfragen, Bd. 132), S. 35–45.<br />
9. breitsChuh, g.; baChmann, D.; egerer, K.; rubaCh, g.; steiner, m.; unger, b.; unger, h.,2005:<br />
Thüringer <strong>Landwirtschaft</strong> nach der Wiedervereinigung Deutschlands –1990 bis 2004. Gera, Druckhaus.<br />
10. Brockhaus, 1974: abc <strong>Landwirtschaft</strong>. Leipzig, Brockhaus, 3. Aufl. (Staatliches Komitee <strong>für</strong> Aufkauf<br />
und Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse), S. 1044.<br />
11. brusis, m.,2010: Institutionentransfer und Regionalstudien-Politikwissenschaftliche Überlegungen.<br />
Osteuropa 60 (9), S. 71–79.<br />
12. Bundesverband Deutscher Landwirte e.v.,2010: Webseite. www.deutsche-Landwirte.de (Abruf: 21.<br />
Juli 2010).<br />
13. Deutscher Bauernbund e.V., 2011: Webseite, www.bauernbund.de (Abruf 25. März 2011).<br />
14. eisen,a.,1996: Institutionenbildung und institutioneller Wandel im Transformationsprozeß. In: eisen,<br />
a.; WOhlmann, h.(Hrsg.): Institutionenbildung in Ostdeutschland: Zwischen externer Steuerung und<br />
Eigendynamik. Opladen, Leske und Buderich, S. 33–61.<br />
15. ernst, J.,1999: Erinnerungen an die Wendezeit. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.): Zeitzeugen berichten:<br />
Wirwaren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den neuen Bundesländern<br />
1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen, Bd. 132), S. 64–69.<br />
16. fOrstner, b.;isermeyer, f.,2000: Transformation of Agriculture in East Germany. In: tangermann,<br />
s. (Hrsg.): Agriculture in Germany. Frankfurt, DLG, S. 61–90.<br />
17. gauDe, g.,1996: Aufbau einer neuen Agrarverwaltung in Sachsen-Anhalt. In: Agrarrecht 23 (3),<br />
S. 69–77.<br />
18. görtemaKer, m.,1996: Probleme der inneren Einigung. In: Bundeszentrale <strong>für</strong> politische Bildung<br />
(Hrsg.): Der Wegzur Einheit –Deutschland seit Mitte der achtziger Jahre. Bonn 1996 (Informationen<br />
zur politischen Bildung, Heft 250), S. 46–55.<br />
Buel_3_11.indb 475 17.11.2011 08:13:27
476 Axel Wolz<br />
19. grOssKOpf;W.,2000: Institutional CharacteristicsofGerman Agriculture. In: tangermann,s.(Hrsg.):<br />
Agriculture in Germany. Frankfurt, DLG, S. 167–185.<br />
20. hOffmann, h.W.,1999: Vonder ersten Stunde an dabei. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.): Zeitzeugen<br />
berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den neuen<br />
Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen, Bd. 132),<br />
S. 124–130.<br />
21. KOCh, C.,1996: Aufbruch. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.): Zeitzeugen berichten: Wir waren<br />
dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den neuen Bundesländern 1990/1991.<br />
Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen, Bd. 132), S. 167–176.<br />
22. KOlt,W.,1999: Devise: Pragmatismus und Improvisation. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.): Zeitzeugen<br />
berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den neuen<br />
Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen, Bd. 132),<br />
S. 177–184.<br />
23. lehmbruCh, g.,1992: Die deutsche Vereinigung: Strukturen der Politikentwicklung und strategische<br />
Anpassungsprozesse: In: KOhler-KOCh, b.(Hrsg.): Staat und Demokratie in Europa. Opladen, Leske<br />
und Buderich, S. 22–46.<br />
24. –, 1996: Die ostdeutsche Transformation als Strategie des Institutionentransfers: Überprüfung und<br />
Antikritik. In: eisen, a.; WOhlmann, h.(Hrsg.): Institutionenbildung in Ostdeutschland: Zwischen<br />
externer Steuerung und Eigendynamik. Opladen, Leske und Buderich, S. 63–78.<br />
25. –, 2000: Verbände im ostdeutschen Transformationsprozeß. In: bührer, W.; granDe, e.(Hrsg.): Unternehmerverbände<br />
und Staat in Deutschland. Baden-Baden, Nomos, S. 88–109.<br />
26. Mitteldeutscher Rundfunk (mDr), 2011: Übersichtskarten. Magdeburg, MDR (www.mdr.de/damals/<br />
archiv,Abruf: 25. Januar 2011).<br />
27. muus, J.,1999: Ein Pensionär wieder im Einsatz. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.): Zeitzeugen<br />
berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den neuen Bundesländern<br />
1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen, Bd. 132), S.<br />
224–231.<br />
28. rOelOffs,b.C.,1999: Vier Jahre in Mecklenburg-Vorpommern. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.):<br />
Zeitzeugen berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den<br />
neuen Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen,<br />
Bd. 132), S. 271–286.<br />
29. sönniChsen, h.-th., 1999: Früher Start einer Landgesellschaft. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.):<br />
Zeitzeugen berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den<br />
neuen Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen,<br />
Bd. 132), S. 323–328.<br />
30. stuhler, e.,2010: Die letzten Monate der DDR. Die Regierung de Maizière und ihr Wegzur Deutschen<br />
Einheit. Berlin, Links Verlag (Bundeszentrale <strong>für</strong> politische Bildung, Bd. 1072).<br />
31. thiele, h.,1998: Dekollektivierung und Umstrukturierung des Agrarsektors in den neuen Bundesländern.<br />
Frankfurt, Alfred Strothe (Agrarwirtschaft Sonderheft 160).<br />
32. WarbeCK,J.,2001: Die Umwandlung der DDR-<strong>Landwirtschaft</strong> im Prozeß der Deutschen Wiedervereinigung.<br />
Frankfurt, Lang (Analysen zum Wandel politisch-ökonomischer Systeme, Bd. 14).<br />
33. Wegge, g.,1999: Eine nicht geprobte Welt-Uraufführung. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.): Zeitzeugen<br />
berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den neuen<br />
Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen, Bd. 132),<br />
S. 348–367.<br />
34. Wehling, h.-g., 1994: Unterschiedliche Kommunalverfassungen in den Ländern. In: Bundeszentrale<br />
<strong>für</strong> politische Bildung (Hrsg.): Kommunalpolitik. Bonn, 1994 (Informationen zur politischen Bildung,<br />
Heft 242), S. 15–22.<br />
35. WilsOn, g.a.; WilsOn, O.J., 2001: German Agriculture in Transition-Society, Politics and Environment<br />
in aChanging Europe. Houndsmill, Pelgrave.<br />
36. zillenbiller, e.,1999: Werben –Überzeugen –Mitgestalten. In: Agrarsoziale Gesellschaft (Hrsg.):<br />
Zeitzeugen berichten: Wir waren dabei –Aufbau von Agrarverwaltungen und -institutionen in den<br />
neuen Bundesländern 1990/1991. Göttingen, Pachnicke (Schriftenreihe <strong>für</strong> ländliche Sozialfragen,<br />
Bd. 132), S. 373–381.<br />
Danksagung<br />
Der Autor dankt seinen ehemaligen und jetzigen Kolleginnen und Kollegen Dr. franzisKa sChaft,<br />
Dr. Jana fritzsCh, Dr. Klaus reinsberg, Dr. eberharD sChulze und Dr. martin petriCK <strong>für</strong> ihre<br />
Kommentare und Informationen bei der Erstellung dieses Beitrages. Ebenfalls dankt der Autor Dr.<br />
geralD thalheim <strong>für</strong> seine Hinweise zu einer früheren Fassung.<br />
Buel_3_11.indb 476 17.11.2011 08:13:27
Institutioneller Wandel der Agrarverwaltung und Agrarverbände in Ostdeutschland<br />
Autorenanschrift: Dr. axel WOlz, Leibniz-Institut <strong>für</strong> Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa,<br />
Theodor-Lieser-Str. 2,06120 Halle (Saale), Deutschland<br />
wolz@iamo.de<br />
Buel_3_11.indb 477 17.11.2011 08:13:27<br />
477
478<br />
Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln –<br />
Verhaltensoptionen im Alltagskontext 1)<br />
Von Axel philipps, Hannover<br />
1 Einleitung<br />
Das Verbraucherverhalten bei Lebensmittelskandalen wird in der aktuellen Forschung<br />
häufig kausal erklärt. In den jeweiligen Modellen beeinflussen die Entwicklung von<br />
Lebensmittelpreisen, die Verunsicherung, das Informationsverhalten oder das Einkommen<br />
der Verbraucher deren Reaktionen. Problematisch an dieser Art der theoretischen und<br />
methodischen Vorgehensweisen ist, dass sie das Verbraucherverhalten nur unzureichend<br />
erklären können und die Situationsauslegungen der Verbraucher unberücksichtigt lassen.<br />
Insbesondere bei Lebensmittelskandalen ist relevant, wie sich die Verbraucher sinnhaft auf<br />
das Verhalten anderer beziehen und daran ihr weiteres Handeln ausrichten. Es ist demzufolge<br />
nicht nur eine Frage wie Verbraucher ihre Handlungsoptionen abwägen, sondern<br />
ebenso wie sie das Verhalten der Skandalisierten und die damit verbundenen Ereignisse<br />
deuten.<br />
Dieser Beitrag widmet sich daher den Verbrauchern und ihren Auslegungen von Skandalen<br />
im Lebensmittelbereich. Im Mittelpunkt stehen ihre Deutungen solcher Ereignisse,<br />
da sie Handlungsoptionen eröffnen bzw. einschränken. Die zentrale Frage lautet also:<br />
Woran orientieren sich Verbraucher in ihrem Handeln während eines Lebensmittelskandals?<br />
Dazu werden im nächsten Abschnitt die Genese und Struktur von Skandalen vorgestellt,<br />
um daran anschließend die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen zum Verbraucherverhalten<br />
bei Lebensmittelskandalen zu diskutieren. Da die bisherige Forschung<br />
nur unzureichend die Handlungen der betroffenen Verbraucher erklären kann, greife ich<br />
<strong>für</strong> ein Verständnis des alltäglichen Umgangs mit Lebensmittelskandalen auf die theoretischen<br />
Annahmen des Soziologen alfreD sChütz (57; 58) zurück. Das Konzept der Alltagsroutine<br />
fließt dabei in die Auswertung der Ergebnisse von offenen, leitfadengestützten<br />
Interviews mit Verbrauchern ein.<br />
Während der Auswertung konnten sechs Deutungsmuster <strong>für</strong> Lebensmittelskandale<br />
rekonstruiert werden, die jeweils unterschiedliche Handlungsoptionen eröffnen. Der Beitrag<br />
schließt mit einer Diskussion der Ergebnisse ab.<br />
2 Genese und Struktur von Skandalen<br />
Lebensmittelskandale gehören seit der Industrialisierung zur modernen Gesellschaft.<br />
Überspitzt könnte man auch sagen, dass die Skandale im Lebensmittelbereich geradezu<br />
die industrialisierte Gesellschaft prägen und kennzeichnen. Insbesondere die Veränderung<br />
von Produktionsweisen, als auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse boten den<br />
Konsumenten verstärkt Anlass, sich <strong>über</strong> die Herstellungs- und Verarbeitungsweisen von<br />
Lebensmitteln zu empören.<br />
Allgemein gehen Lebensmittelskandale auf zwei historische Veränderungen zurück.<br />
Erstens konnten lokale Gerüchte und Skandalisierungen mit der Herausbildung von Mas-<br />
U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0478 $2.50/0<br />
Buel_3_11.indb 478 17.11.2011 08:13:27
Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />
479<br />
senmedien eine größere Öffentlichkeit erreichen. Mit der Möglichkeit einer <strong>über</strong>regionalen<br />
Informationsverbreitung vergrößerten sich somit die erregbare Öffentlichkeit und die<br />
Konsequenzen aus Skandalen (vgl. 42). Zweitens wird ebenfalls im 19. Jahrhundert, mit<br />
dem Übergang von der Selbstversorgung zur Verbraucherwirtschaft, eine weitere Voraussetzung<br />
<strong>für</strong> Skandale geschaffen. Gemeint sind vor allem die Prozesse der Industrialisierung<br />
und Technisierung (vgl. 1). Damit verbunden kam es zu einer Intensivierung und<br />
Rationalisierung der <strong>Landwirtschaft</strong>, einer industrialisierten Nahrungsmittelproduktion<br />
sowie der Entwicklung von Konservierungs- und Kühltechniken. Diese Prozesse wurden<br />
begleitet von bahnbrechenden Erkenntnissen in den wissenschaftlichen Disziplinen Biologie<br />
und Chemie hinsichtlich der Entdeckung von Parasiten und Bakterien sowie zu den<br />
Möglichkeiten ihrer Bekämpfung.<br />
Zugleich traten mit dieser Entwicklung zwei neue Phänomene auf. Einerseits wurden<br />
neue Kriterien und Anforderungen hinsichtlich der Qualität von Nahrungs- und Lebensmitteln<br />
parallel mit den wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden eingeführt. Anfänglich<br />
sprach man beispielsweise vom „Wert“ bestimmter Nahrungsmittel. Hier war und ist<br />
vor allem die Rede vom Nährwert, Kalorienwert oder <strong>Ernährung</strong>swert. Erst Jahrzehnte<br />
später wurde dann ein abstrakter, die Einzelqualitäten zusammenfassender Gesamtbegriff<br />
geprägt: Lebensmittelqualität (vgl. 60).<br />
Andererseits nahmen seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Ängste sowie Gegenströmungen<br />
zu, die die Intensivierung und Industrialisierung der <strong>Landwirtschaft</strong> und Lebensmittelproduktion<br />
begleiten. Insbesondere neue wissenschaftliche Erkenntnisse brachten<br />
alternative Vorstellungen und Sichtweisen in verschiedenen Phasen 2) hervor,die daraufhin<br />
den künftigen gesellschaftlichen Diskurs mitbestimmten.<br />
Neben den historischen Entwicklungen zeichnen sich Skandale durch eine bestimmte<br />
Struktur aus, in deren Zentrum der Skandal als „Ärgernis“ 3) steht.Ein Skandalist dabei ein<br />
Ärgernis <strong>für</strong> den Skandalisierten, dessen Verhalten zum Gegenstand des Skandals wird,<br />
sowie <strong>für</strong> die Skandalierer und die Skandalrezipienten, die sich <strong>über</strong> das Verhalten des<br />
Skandalisierten empören und dieses anprangern.<br />
Die Trias des Skandals aus Skandaliertem, Skandalierer und Skandalrezipient entspricht<br />
den grundlegenden Elementen des Skandals:moralische Verfehlungen, Enthüllung<br />
und Empörung (vgl. 29; 32). Daher möchte ich kurz auf diese Elemente eingehen.<br />
Es gilt als unbestritten, dass der Ausgang eines Skandals in einer Normverletzung<br />
bzw. „moralischen Verfehlung“ liegt. Dabei kann es sich um die Erschütterung sozial<br />
verbindlicher Wertesysteme oder um die Ahndung bzw. Verfestigung von Normen „aus<br />
der Grauzonedes Ungeregelten“ (47, S. 276) handeln. Die Einbeziehung des Moralischen<br />
hat zumindest zur Folge, dass es sich bei einem Skandal nicht nur einfach um eine Verfehlung<br />
jedweder Art handelt, sondern zugleich um einen Konflikt zwischen verschiedenen<br />
Interessen, zwischen Herrschenden und Beherrschten bzw. zwischen verschiedenen<br />
Wertegemeinschaften.<br />
Zusammenfassend kann festgestellt werden, ein Skandal ist kein einfacher Missstand,<br />
sondern verbindet damit zugleich eine moralische Infragestellung sozialer Werte und Normen.<br />
Die „Enthüllungen“ im heutigen Maßstab wären ohne die Veränderungen der medialen<br />
Vermittlung nicht möglich. Gerüchte und Klatsch würden den kleinen Kreis der Vertrauten<br />
kaum verlassen. Erst mit der Herausbildung von Massenmedien wie Tageszeitungen,<br />
Radio und Fernsehen erreichen Informationen ein breites Publikum, was somit auch die<br />
Skandalierung <strong>über</strong> das Private bzw. Regionale hinaus ermöglicht (42, S. 7). Die „Skandalierer“<br />
in Form des organisierten Publikums sind jedoch nicht nur die Massenmedien,<br />
sondern ebenso die sozialen Bewegungen oder die Staatsanwaltschaft. Deren Ziele sind<br />
die Entschleierung von Missständen. Eng damit verknüpft ist zumindest eine gewisse<br />
Kontrolle und Wachsamkeit.<br />
Buel_3_11.indb 479 17.11.2011 08:13:28
480 Axel Philipps<br />
Gegen die Vorstellung einer Aufklärung des Publikums lassen sich jedoch Bedenken<br />
anführen. So unterliegt die Verarbeitung und Selektion von Informationen der Logik der<br />
Massenmedien (vgl. 16; 34). In der Folge verhindern die Jagd nach neuen Informationen<br />
und die Konkurrenz untereinander zumeist gründliche Recherchen und produzieren<br />
schnelle Ergebnisse. Beispielsweise wird im Skandal ein Missstand aufgegriffen und mit<br />
einer moralischen Aufladung wiedergegeben. Dabei legt eine Kurzmeldung den Grundstein<br />
<strong>für</strong> eine Geschichte mit spekulativen Hintergründen und Vermutungen. Eine breite<br />
und kontinuierliche Präsentation des Vorfalls in den Medien bewirkt darauf seine Verstärkung.<br />
Die glaubhafte Übertreibung des Missstandes soll zwar Spekulatives beseitigen,<br />
zugleich ist aber eine frühzeitig gefestigte Sichtweise erforderlich. Schließlich bilden<br />
sich noch in der Phase der Unsicherheit aufgrund weniger Informationen selbst bestärkende<br />
Glaubensgemeinschaften heraus, die ihre eigenen Sichtweisen auf die Ereignisse<br />
verteidigen. Entgegen des Typus des Aufklärers spricht Kepplinger daher vielmehr von<br />
„Geschichtenerzählern“ (34, S. 142).<br />
Gegen eine Aufklärung und Einsicht durch Skandalisierungen sprechen also einerseits<br />
die Selektionsmechanismen und die Eigenlogik der Medienberichterstattung, aber auch<br />
die Beobachtung, dass andererseits Skandale kaum dauerhafte Verhaltensänderungen in<br />
der Bevölkerung auslösen.<br />
Ungeachtet dessen nimmt die Bevölkerung als erregbare Öffentlichkeit einen gewichtigen<br />
Platz in fast jeder Abhandlung <strong>über</strong> Skandale ein. Denn, erst durch das „Überspringen“<br />
der moralischen Anklage des Skandalierers auf den Skandalrezipienten kann aus<br />
einer Verfehlung ein Skandal werden (29, S. 18). Dieses Überspringen setzt jedoch zwei<br />
Bedingungen voraus. Erstens bleiben Missstände solange negative Kurzmeldungen <strong>über</strong><br />
Verfehlungen wie sie nicht zum Gegenstand moralischer Spekulationen und Übertreibungen<br />
gemacht werden. Der mediale Skandal braucht aber seine Geschichte, die visuell und<br />
verbal den Bericht verstärkt. Wahrheit und somit die Aufklärung im Skandal besitzt dann<br />
keine Chance. Sie gehen vielmehr in den <strong>über</strong>triebenen und teilweise gänzlich falschen<br />
Darstellungen unter. Erst mit dem Ende des Skandals können sich Fakten Geltung verschaffen;<br />
diese stoßen im Regelfall dann aber auf keine große öffentliche Resonanz mehr.<br />
Zweitens setzt eine Skandalierung Sensibilität in der Öffentlichkeit voraus. So müssen<br />
sich Wortführer einer Wertkrise bzw. Skandalierer an gleichgerichteten Haltungen in der<br />
Bevölkerung orientieren und diese ansprechen. Eine Skandalierung entsteht somit nicht<br />
spontan und unvorbereitet, sondern sie greift nur, wenn gewisse Wertdispositionen und<br />
Erwartungen in der Bevölkerung vorhanden sind.<br />
Die Betonung von gleichgerichteten Haltungen und Wertdispositionen in der Bevölkerung<br />
verweist darauf, dass bei einem Skandal nicht die gesamte Bevölkerung von der<br />
Erregung erfasst wird. Vielmehr gehört eine „fragmentierte Öffentlichkeit“ (48, S. 6) zu<br />
den Regelmäßigkeiten und Mustern von Skandalen.<br />
3 Stand der Forschung<br />
Der Zusammenhang von Skandalereignis, die damit verbundene <strong>Berichte</strong>rstattung in den<br />
Massenmedien und das Verbraucherverhalten waren Gegenstand verschiedener Untersuchungen<br />
(vgl. 8; 13; 15). Einige Untersuchungen haben sich mit ganz unterschiedlichen<br />
Skandalen beschäftigt. So liegen einzelne Studien zur Alar-Krise (26; 51), zum Nestlé-<br />
Milchpulverskandal (25) oder zum Nitrofen-Skandal (14) vor. Die Arbeit von linzmaier<br />
(40) sticht dabei durch ihren breiten Fokus auf die <strong>Berichte</strong>rstattung <strong>über</strong> Lebensmittelskandale<br />
unter Berücksichtigung der Verbraucherverunsicherung heraus. Zur Analyse<br />
medialer Risikoprofile baut die Studie auf Interviews in vier Fokusgruppen auf, in denen<br />
sich die Gesprächsteilnehmer zu Lebensmittelskandalen und ihren Umgangsweisen äußer-<br />
Buel_3_11.indb 480 17.11.2011 08:13:28
Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />
481<br />
ten. ZentralesAnliegen der Gruppengespräche war die Ausarbeitung von verbraucherspezifischen<br />
Risikoattributen. Damit sollten die Faktoren identifiziert werden, die die Risikowahrnehmungvon<br />
Lebensmittelskandalenbeeinflussen.Dabei zeigtsich, dass dieBefragten<br />
unterschiedliche Risikoattribute mit verschiedenen Lebensmittelskandalen verbinden.<br />
Unabhängig davon hat linzmaier inhaltsanalytisch untersucht, ob die <strong>Berichte</strong>rstattung<br />
die identifizierten Risikoattribute vermitteln. Aufgrund ihrer Ergebnisse ist anzunehmen,<br />
dass vor allem Verweise in der <strong>Berichte</strong>rstattung auf die räumliche Nähe, die Härte der<br />
politischen Maßnahmen, die räumliche Ausdehnung der Missstände die Risikowahrnehmung<br />
beeinflussen (40, S. 165). Weiterhin nennt sie neben den inhaltlichen Attributen als<br />
Verunsicherungspotenziale bei den Verbrauchern die Intensivierungen der <strong>Berichte</strong>rstattung<br />
und den Einsatz aufmerksamkeitsgenerierender Mittel (Platzierung, Layout, Foto<br />
etc.). Diese Faktoren hätten insbesondere in der BSE-Krise gewirkt.<br />
Die Dominanz des BSE-Themas spiegelt sich ebenfalls in der Zahl der Forschungsarbeiten<br />
zur BSE-Krise wider. Hier stechen vor allem Untersuchungen zum Verbraucherverhalten<br />
im Kontext der <strong>Berichte</strong>rstattung <strong>über</strong> BSE hervor (vgl. 11; 17; 24; 28; 31; 50;<br />
55; 68). Beispielsweise hat hagenhOff (24, S. 210) die <strong>Berichte</strong>rstattung <strong>über</strong> BSE in den<br />
deutschen Printmedien zwischen 1990 und 2002 untersucht und festgestellt, dass in diesem<br />
Zeitraum die Häufigkeit der Artikel zum Thema BSE schwanken. Es gibt Zeiten mit<br />
keinen bzw. verhältnismäßig wenigen Beiträgen und Zeiten mit markanten Spitzen, die in<br />
einem engen Zusammenhangmit bestimmten Ereignissen stehen. Artikelhäufungen finden<br />
sich 1996 mit der Meldung, dass eine mögliche Übertragungsgefahr auf den Menschen<br />
bestehe sowie 2001 nach Bekanntgabe des ersten BSE-erkrankten Rindes in Deutschland.<br />
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch WilDner (68). Sie hatte alle erschienenen Artikel<br />
aus einer Auswahl an <strong>über</strong>regionalen und regionalen Zeitungen und Zeitschriften <strong>für</strong><br />
den Zeitraum von 1990 bis 1998 in einen BSE-Index zusammengefasst. Auch hier lässt<br />
sich eine vergleichbare Häufigkeitsverteilung der Beiträge <strong>über</strong> die Zeit erkennen (vgl. 18<br />
<strong>für</strong> Großbritannien).<br />
Diese Entwicklungen in der <strong>Berichte</strong>rstattung stehen in einem signifikanten Zusammenhang<br />
mit der Abwanderung der Verbraucher zu anderen Fleischsorten und Nahrungsmitteln<br />
(z. B. Geflügelfleisch) in Deutschland.<br />
Die BSE-<strong>Berichte</strong>rstattung hatte demnach einen negativen Einfluss auf die Rind-,<br />
Kalbsfleisch- und Wurstwarennachfrage. Deutliche Auswirkungen traten beispielsweise<br />
im April 1996 auf, nachdem Wissenschaftler einen möglichen Zusammenhang zwischen<br />
BSE und den an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit erkrankten Menschen bekanntgaben<br />
(68, S. 49). Ebenso brach der Rindfleischabsatz auf dem deutschen Markt um 70 %Ende<br />
2000 mit der Nachricht von BSE-erkrankten Rindern in Deutschland spürbar ein (53; 50,<br />
S. 461). Aber auch hier erholte sich die Rindfleischnachfrage innerhalb weniger Monate.<br />
Es ist daher naheliegend, nach den Gründen <strong>für</strong> dieses Verbraucherverhalten zu fragen.<br />
Eine oft herangezogene Erklärung ist die Verunsicherung der Verbraucher (vgl. 7).<br />
Beispielsweise stellte das Institut <strong>für</strong> Demoskopie Allensbach im Januar 2001 nach<br />
Bekanntgabe des ersten BSE-Falles in Deutschland in einer repräsentativen Umfrage fest,<br />
dass sich in der Hochphase 87 %der deutschen Bevölkerung nicht ausreichend vor BSE<br />
geschützt fühlten (vgl. 49). Interessant ist dabei (vgl. Tab. 1), dass im Gegensatz zum<br />
hohen Anteil der Verunsicherten 32 %der Befragten aussagten, kein Rindfleisch mehr<br />
gegessen zu haben, 35 %hätten zeitweise weniger Rindfleisch konsumiert und <strong>für</strong> ca. ein<br />
Viertel der Befragten hätte sich nichts geändert (56, S. 197). Zugleich ist damit aber die<br />
Gruppe derjenigen, die auf Rindfleisch ganz bzw. teilweise verzichteten, größer als im<br />
Sommer 1996 bei Meldung der Übertragungsgefahr auf den Menschen und gleichzeitiger<br />
Verortung des BSE-Problems als rein britisches. Damals gaben 15 %der Befragten an,<br />
kein Rindfleisch mehr zu essen. 38 %aßen ihren Angaben zufolge weniger Rindfleisch<br />
und 41 %veränderten ihre Essgewohnheiten bezogen auf Rindfleisch nicht. Noch konkre-<br />
Buel_3_11.indb 481 17.11.2011 08:13:28
482 Axel Philipps<br />
Tabelle 1. <strong>Ernährung</strong>sgewohnheiten in der BSE-Krise (Angaben in %)<br />
Bevölkerung insgesamt<br />
Juli 1996 Januar 2001<br />
Esse kein Rindfleisch mehr 15 32<br />
Esse weniger Rindfleisch 38 35<br />
Hat sich nichts geändert 41 25<br />
Esse grundsätzlich kein Rindfleisch 5 4<br />
Esse vegetarisch - 3<br />
andere Antwort, keine Angabe 1 1<br />
Quelle: 49, S. 272; eigene Darstellung<br />
ter werden KafKa und vOn alvensleben (31) in ihrer Studie zu Verbraucherverunsicherung.<br />
In den Befragungen zur Verunsicherung bei Nahrungsmitteln 1988, 1994 und 1997<br />
kommen sie zu folgenden Ergebnissen: Erstens wäre zwischen diesen Zeitpunkten ein<br />
Rückgang der Verunsicherung festzustellen und zweitens konnte ein Zusammenhang zwischen<br />
der abnehmenden Häufigkeit des Fleischkonsums und der Zunahme an Unsicherheit<br />
nicht bestätigt werden. Sie gehen daher, zumindest <strong>für</strong> die 1990er–Jahre, von einer eher<br />
geringen Bedeutung der Verunsicherung auf den Fleischkonsum in der BSE-Krise aus.<br />
Generell zeigen die Zahlen deutlich, dass der Verzicht auf Rindfleisch mit einer möglichen<br />
Gefährdung in unmittelbare Nähe (1996: britisches Problem, 2000: auch in Deutschland)<br />
zunahm. Ungeachtet dessen decken sich die Zahlen der Verunsicherten nicht mit<br />
dem Anteil derjenigen, die zeitweise oder auf Dauer verzichteten. Aus der Verunsicherung<br />
der Verbraucher ergibt sich also nicht zwangsläufig eine nachhaltige und grundlegende<br />
Verhaltensveränderung.<br />
Wie steht es dann mit einem zumindest gesteigerten Problembewusstsein der Bevölkerung?<br />
hagenhOff hatte ebenfalls den Einfluss der <strong>Berichte</strong>rstattung <strong>über</strong> BSE auf das<br />
Problembewusstsein der Bevölkerung untersucht. Sie vermutete einen Zusammenhang<br />
zwischen einer Sensibilisierung und dem Gefühl der Betroffenheit, welches die Massenmedien<br />
erzeugen. Demnach würde das Problembewusstsein der Laien durch Dramatisierungen,<br />
Emotionalisierungen, Diskreditierungen aus polarisierenden Einschätzungen<br />
und dem Zurückhalten widersprüchlicher Informationen geweckt. Aus ihrem Vergleich<br />
der Medienberichterstattung und der Bevölkerungsmeinung schlussfolgert sie schließlich,<br />
„dass das Problembewusstsein der Bevölkerung <strong>über</strong> BSE immer dann besonders hoch<br />
war, wenn die Printmedien-<strong>Berichte</strong>rstattung sehr intensiv ausgefallen ist“ (24, S. 210).<br />
Ein gesteigertes Problembewusstsein muss jedoch kein allgemein erhöhtes, aktives<br />
Informationsverhalten bedeuten. Zu diesem Ergebnis kommt meyer-hullmann (46) in<br />
ihrer Untersuchung des Informationsverhaltens der Konsumenten zwischen 1993 und<br />
1995. Trotz der Angst vor gesundheitlichem Schaden durch erkrankte Rinder, einer ausführlichen<br />
Darstellung der Ereignisse um BSE in der Tagespresse und einer hohen Nutzung<br />
der Massenmedien stellt sie in ihrer Studie fest, dass ein „Mangel an Informiertheit“<br />
bei den Verbrauchern zu beobachten sei. Allein die anteilsmäßig kleine Gruppe der<br />
„<strong>Ernährung</strong>sbewussten“ zeichnete sich durch eine gesteigerte, aktive Informationssuche<br />
aus. Der weit größere Teil der Befragten teilte dagegen ein eher passives Informationsverhalten<br />
und geringe Kenntnisse zu BSE.<br />
Weiteren Aufschluss <strong>über</strong> das Verbraucherverhalten geben ebenfalls Untersuchungen<br />
zu Kaufentscheidungen bei Lebensmittelskandalen. Einerseits verweisen Studien zur<br />
Reaktion auf die Gefährdung durch BSE auf eine allgemeine Tendenz zur Präferenz <strong>für</strong><br />
Buel_3_11.indb 482 17.11.2011 08:13:28
Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />
483<br />
die Lokalität bei den Konsumenten. Die „garantierte Herkunft“ sowie der Einzelfachhandel<br />
wurden inverschiedenen europäischen Ländern verstärkt als Einkaufskriterium <strong>für</strong><br />
Frischfleisch angeführt [z. B. <strong>für</strong> Schweden (36), <strong>für</strong> Schottland (44) und <strong>für</strong> Deutschland<br />
(54)]. Andererseits können Realeinkommen, Verbraucherpreise <strong>für</strong> Rindfleisch und <strong>für</strong><br />
Substitutionsgüter das Kaufverhalten nur unzureichend erklären (vgl. 17; 28).<br />
Qualitative Studien haben schließlich verstärkt typische Konsummuster und Kontextzusammenhänge<br />
bei der Bewältigung der BSE-Krise in Deutschland (2; 10) und Großbritannien<br />
(12) untersucht. Ziel der Studien war jeweils, bestimmte Ess- bzw. Konsumgewohnheiten<br />
bei unterschiedlichen Verbrauchergruppen (regionale bzw. milieuspezifische<br />
Differenzen) zu rekonstruieren. Bei keiner dieser Studien stand eine systematische<br />
Rekonstruktion der Umgangsweisen im Vordergrund, sondern diese war ein Teilaspekt<br />
anderer Forschungsfragen oder nachträglich an das Material gerichtet. Dennoch haben die<br />
Untersuchungen verschiedene Umgangs- und Sichtweisen identifiziert. Diese reichen von<br />
reinen Verzichtleistungen <strong>über</strong> Abwanderungen zu Substitutionsgütern und Vertrauen in<br />
regionale oder ökologisch erzeugte Produkte bis zu kritischen Distanzierungen von den<br />
Medienberichterstattungen <strong>über</strong> Lebensmittelskandale. Weiterhin deuten sich im Rahmen<br />
dieser Studien Beziehungen zwischen bestimmten Haltungen und Umgangsweisen an.<br />
Beispielsweise wird auf Relationen zwischen erhöhter Aufmerksamkeit <strong>für</strong> Lebensmittelskandale<br />
und alternativen Konsumverhalten oder negativen Einstellungen gegen<strong>über</strong><br />
der konventionellen <strong>Landwirtschaft</strong> hingewiesen (vgl. 31). Solche Beziehungen legen<br />
nahe, dass unterschiedliche soziale Gruppen verschiedene Umgangsweisen mit Lebensmittelskandalen<br />
hervorbringen.<br />
In der BSE-Krise haben die Verbraucher also durchaus Kenntnis von dem berichteten<br />
Ereignis inden Massenmedien genommen. Sie haben sich aber nicht zwingend eingehender<br />
mit dem BSE-Phänomen beschäftigt. Zugleich stehen die Häufigkeiten der <strong>Berichte</strong>rstattung<br />
<strong>über</strong> die BSE-Krise in einem engen Zusammenhang mit den Einbrüchen der<br />
Rind-, Kalbsfleisch-, Wurst- und Wurstwarennachfrage. Wie lässt sich daher das Verbraucherverhaltenverstehen?<br />
Bei der BSE-Krise haben die hervorgerufenen Verunsicherungen<br />
weder bei allen verunsicherten Verbrauchern zu einem Verzicht auf Rindfleisch geführt,<br />
noch haben die Verzichterklärungen lange vorgehalten. Aufschlussreich dürfte daher die<br />
Betrachtung von alltäglichen Deutungen der Verbraucher sein und mit welchen Strategien<br />
und Praktiken sie auf Lebensmittelskandale reagieren.<br />
Zentrale Ergebnisse der Verbraucherforschung<br />
Skandale im Lebensmittelbereich lösen unterschiedliche Reaktionen bei den Verbrauchern<br />
aus: dauerhafter, zeitweiliger oder gar kein Verzicht von skandalisierten<br />
Lebensmitteln.<br />
Die Relevanz solcher Skandale hängt <strong>für</strong> die Verbraucher von verschiedenen Faktoren<br />
ab: von der räumlichen Nähe, der räumlichen Ausdehnung von Missständen, der Härte<br />
politischer Maßnahmen, der Aufbereitungsweise in den Massenmedien sowie den<br />
Konsumpräferenzen und Wertdispositionen der Verbraucher.<br />
Eine vermehrte <strong>Berichte</strong>rstattung während eines Lebensmittelskandals hat einen<br />
negativen Einfluss auf die Verbrauchernachfrage des skandalisierten Lebensmittels. Es<br />
besteht jedoch kein Zusammenhang zwischen dem Grad von Verbraucherverunsicherung<br />
und der Art des Verbraucherverhaltens.<br />
Eine intensive Printmedien-<strong>Berichte</strong>rstattung <strong>über</strong> einen Lebensmittelskandal erhöht<br />
das Problembewusstsein der Bevölkerung. Die erhöhte Sensibilisierung löst aber keine<br />
gesteigerte, aktive Informationssuche bei allen Verbrauchern aus.<br />
Buel_3_11.indb 483 17.11.2011 08:13:28
484 Axel Philipps<br />
4 Verbraucherverhalten verstehen<br />
Um das Verbraucherverhalten im Gegensatz zu objektiv kausalen Erklärungsmodellen<br />
(Einfluss von Preisen, Einkommen etc.) verstehend zu erklären, sind die subjektiven<br />
Sinnzusammenhänge der Handelnden zu rekonstruieren (67, S. 4). Im Anschluss an die<br />
Wissenssoziologie agieren und handeln die Individuen intersubjektiv miteinander in einer<br />
gemeinsam geteilten Sinnwelt (vgl. 6; 57; 58). Diese ausgezeichnete Wirklichkeit ist die<br />
Alltagssphäre. Sie zeichnet sich gegen<strong>über</strong> anderen Sinnsphären (Kunst, Wissenschaft,<br />
Religion etc.) dadurch aus, dass sie <strong>für</strong> jedermann selbstverständlich, fraglos und bis auf<br />
Weiteres unproblematisch ist. „Sie ist die Welt der vertrauten Themen, der vertrauten<br />
Auslegungen und sogar meine Motivsysteme, die mein Handeln beherrschen, sind habituelle<br />
Besitze von früheren Erfahrungen und bisher erfüllten Erwartungen.“ (57, S. 184 f.).<br />
Die Alltagswelt bildet dabei die grundlegende Sphäre, in der die Menschen mit anderen<br />
Menschen leben und agieren. Im Alltag agieren heißt, Routinetätigkeiten auszuführen. Im<br />
Alltag wenden wir erprobte Handlungsrezepte in vertrauten Situationen und <strong>für</strong> bekannte<br />
Probleme an. Der Grund <strong>für</strong> das vertraute Agieren im Alltag liegt darin, dass frühere<br />
Erfahrungen als erworbenes Wissen <strong>über</strong> typische Merkmale einer Situation oder eines<br />
Gegenstandes in einem Wissensvorrat abgelegt sind. Vertrautheit erwächst dann aus der<br />
Möglichkeit, neue Erfahrungen hinsichtlichihrer typischen Aspekte auf den bereits erworbenen<br />
Wissensvorrat zu beziehen (vgl. 58, S. 25).<br />
Erst wenn die Erwartungen im routinierten Alltagsvollzug von etwas Unvertrautem<br />
durchkreuzt werden, wird uns ein Aufmerksamkeitswechsel auferlegt. Wir müssen uns<br />
dem Problem zuwenden, um uns Gewissheit im Sinne von Vertrautheit zu verschaffen.<br />
Wie und in welchem Ausmaß das Problem aber relevant ist, hängt von dem biografisch<br />
geprägten und abgelegten Wissens- und Erfahrungsvorrat ab. Individuen können daher<br />
ein Ereignis unterschiedlich erleben. Für den einen erwächst daraus kein Problem –er<br />
steht der Situation indifferent gegen<strong>über</strong> und seine Alltagsroutine bleibt unverändert. Für<br />
jemand anderen mag diese Situation ungewohnt erscheinen und wird daher zum Auslöser,<br />
das Ereignisneu auszulegen und die neuartige Erfahrung im Wissensvorrat einzubetten. In<br />
der neuartigen Situation sucht der Verunsicherte nach Ähnlichkeiten mit früheren Erfahrungen,<br />
um auf diesem Wege die Situation einzuordnen und typische Problemlösungen <strong>für</strong><br />
ähnliche Situationen zu aktivieren (57, S. 65; 58, S. 137 ff.). 4)<br />
In diesem Sinne bedeutet der Normbruch im Skandal <strong>für</strong> manche Verbraucher eine<br />
Infragestellung der Erwartungshorizonte an ein Geschehnis. Er steht vor der Frage: „Wie<br />
ist die Situation zu verstehen und wie ist damit umzugehen?“ Die Erwartungen werden<br />
erschüttert und nötigen zueiner Neudefinition der Situation. Diese Neudefinition kann<br />
Zeit in Anspruch nehmen, wenn man die Geschehnisse nicht gleich im Lichte früherer<br />
Erfahrungen deuten und einordnen kann (2, S. 38).<br />
Frühere Skandale können zum Beispiel helfen, neue Skandale einzuordnen und<br />
bestimmte Verhaltensweisen zu aktivieren. In diesem Sinne sind dann Skandale in der Vergangenheit<br />
Schablonen <strong>für</strong> die Bewältigung der gegenwärtigen Situation (35). Der Rückgriffauf<br />
solche Schablonen eröffnet aber in aller Regel keinen Spielraum <strong>für</strong> Reflexionen,<br />
sondern ermöglicht vor allem die Verknüpfung mit anderen Ereignissen. Der Umgang mit<br />
dem neuen Skandal wird durch die Vereinfachung, Verzerrung sowie Verringerung alternativer<br />
Deutungsweisen vielmehr erleichtert.<br />
Um das Verbraucherhandeln bei Lebensmittelskandalen zu verstehen, werden alltägliche<br />
Situationsauslegungen von Skandalereignissen rekonstruiert. Insbesondere bei Verbrauchern,<br />
deren routinierte Handlungen durch Lebensmittelskandale durchkreuzt wurden,<br />
wäre zu erwarten, dass solche Ereignisse zu einem Aufmerksamkeitswechsel und<br />
einer Auseinandersetzung mit der Situation führen. Im Unterschied zur Indifferenz gegen-<br />
Buel_3_11.indb 484 17.11.2011 08:13:28
Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />
485<br />
<strong>über</strong> einer Situation bedeutet ein Aufmerksamkeitswechsel, dass die jeweilige Situation<br />
vom Individuum vor dem Hintergrund früherer Erfahrungen gedeutet und eingeordnet<br />
wird. Bei veränderten Situationsdeutungen eröffnen sich schließlich sogar alternative<br />
Handlungsoptionen bzw. andere werden unwahrscheinlicher. Weiterhin lassen milieuspezifische<br />
Erfahrungen und Ressourcen erwarten, dass diese einen Einfluss auf die Situationsauslegungen<br />
und damit auf den Umgang mit Lebensmittelskandalen haben.<br />
5 Deutungsmuster der Verbraucher<br />
Die Rekonstruktion von Situationsauslegungen der Verbraucher im Kontext von Lebensmittelskandalen<br />
beruht auf 50 Leitfadeninterviews, die der Autor in einem Zeitraum von<br />
Februar 2004 bis April 2005 an verschiedenen Orten in Deutschland durchführte. Die<br />
Auswahl der Interviewpersonen war von der Annahme geleitet, dass verschiedene soziale<br />
Milieus unterschiedliche Alltagsroutinen und damit differierende Orientierungen und<br />
Handlungsoptionen hervorbringen (vgl. 9; 66). Dazu wurden Gesprächspersonen einerseits<br />
in stark kontrastierenden sozialen Milieus und andererseits <strong>für</strong> minimale Kontrastierungen<br />
innerhalb der gleichen Milieus gesucht. Sobald ein Zugang zu einem sozialen Milieu hergestellt<br />
werden konnte, wurden die Interviews <strong>über</strong> das Schneeballverfahren rekrutiert.<br />
Eine weitere Differenzierung der Interviewauswahl erfolgte entlang der Unterscheidung<br />
Ost- und Westdeutschland, da aufgrund historisch bedingter Verhältnisse unterschiedliche<br />
Ausrichtungen der Milieuverteilungen zuerwarten waren. Für Westdeutschland wurden<br />
Personen aus folgenden Milieus interviewt: das postmoderne Milieu, das konservativtechnokratische<br />
Milieu, das unangepasste traditionslose Arbeitnehmermilieu und das<br />
statusorientierte traditionslose Arbeitnehmermilieu (vgl. 66). Die Verteilung der sozialen<br />
Milieus in Westdeutschland unterscheidet sich von Ostdeutschland. Dort entsprechenjene<br />
Milieus dem links-intellektuell-alternativen Milieu, das DDR-verwurzelte Milieu sowie<br />
das undifferenzierte traditionslose Arbeitnehmermilieu. Eine kontrastierende Differenzierung<br />
in den unteren Milieus ergibt sich erst auf der untersten Ebene der „respektablen“<br />
Volksmilieus: das hedonistische Milieu und das kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu<br />
(vgl. 65). 5)<br />
Die qualitativen Interviews wurden leitfadengestützt durchgeführt. Dies gestattet eine<br />
fokussierte Thematisierung relevanterFragestellungen und lässt zugleich den interviewten<br />
Personendie Möglichkeit,ihre Sichtweisen und Darstellungen eigenständig zu strukturieren<br />
(vgl. 20; 38; 45). In den Gesprächen wurden die Interviewten gebeten, ihre Erfahrungen<br />
und Erlebnisse mit Lebensmittelskandalen zu schildern. Wiesie Lebensmittelskandale<br />
erlebt haben und was sie mit den jeweiligen Ereignissen verbinden. Den befragten Personen<br />
wurden keine Skandale vorgegeben, sodass sie sich auf jene beziehen konnten, die<br />
auch eine Resonanz bei ihnen ausgelöst haben und in Erinnerung geblieben sind. Aus den<br />
individuellen Schilderungen der erlebten Situationen hinsichtlich der Lebensmittelskandale<br />
wurden in der Auswertung die individuellen Deutungen der Ereignisse rekonstruiert.<br />
Aus den Situationsauslegungen lassen sich Handlungsoptionen ableiten und in einen Sinnzusammenhang<br />
mit den beschriebenen Verhaltensweisen bringen.<br />
Die Audioaufzeichnungen wurden protokolliert und teilweise transkribiert. Bei besonders<br />
anschaulichen und aufschlussreichen Fällen erfolgte eine vollständige Transkription<br />
(n =29). Das dadurch gewonnene Interviewmaterial wurde anschließend in thematisch<br />
untergliederten Dossiers verdichtet, d. h. die Interviewaussagen wurden paraphrasiert und<br />
mit Belegzitaten gestützt. Die Dossiers bildeten die Grundlage<strong>für</strong> den Auswertungsschritt<br />
Rekonstruktion distinkter Deutungsmuster (vgl. 27; 33). Die Typenbildung basierte auf<br />
jenen Kategorien, die die individuellen Einordnungen der Ereignisse, die angeführten<br />
Gegenbilder und die genannten Reaktionen umfassen. Die anderen thematischen Kate-<br />
Buel_3_11.indb 485 17.11.2011 08:13:28
486 Axel Philipps<br />
gorien wie Informationsverhalten, Medienwahrnehmung, Aufforderungen an andere,<br />
Essgewohnheiten, richtige Mahlzeit und soziokultureller Kontext wurden nachgeordnet<br />
einbezogen.<br />
Innerhalb des Interviewmaterials ist auffällig, dass mit der Frage nach Lebensmittelskandalen<br />
die Befragten Skandale in einer unterschiedlichen Bandbreite nennen. Die<br />
BSE-Krise ist immer noch vor allen anderen in Erinnerung. Zumeist wird der BSE-Skandal<br />
von den Befragten als Erstes genannt oder sie stellen dessen Besonderheit wie folgt<br />
heraus: „BSE war ja auch ein großer Skandal“, „der große zentrale Hammer“ oder BSE<br />
war „wirklich der größte Skandal“. Insbesondere die medial vermittelten Bilder von Massenschlachtungen<br />
sind in konkreter Erinnerung geblieben (40, S. 98; 46, S. 102). Zugleich<br />
macht das Ergebnis deutlich, dass sie ebenso negative Meldungen <strong>über</strong> die Maul- und<br />
Klauenseuche (MKS) oder die Vogelgrippe zu den Lebensmittelskandalen zählen, die<br />
streng genommen gar keine Lebensmittelskandale waren, da sie auf keine moralischen<br />
Verfehlungen zurückgehen. Diese Nennungen gehen möglicherweise auf zwei Gründe<br />
zurück. Entweder drückt sich in diesen Nennungen von MKS oder Vogelgrippe die Zuversicht<br />
aus, dass solche Phänomene kontrollierbar wären und es daher eine institutionelle<br />
Verantwortlichkeit da<strong>für</strong> geben muss. Oder,diese Ereignisse haben sich in das Gedächtnis<br />
eingegraben, weil sie mit Horror-Etiketten, in Katastrophen-Collagen oder mittels optischer<br />
Übertreibungen medial skandalisiert wurden (34, S. 36 f.).<br />
Die Interviewten haben also zumindest von Lebensmittelskandalen gehört und können<br />
sich daran erinnern. Manche dieser Skandale liegen bereits zeitlichweit zurück (z. B. Glykol<br />
in Wein, Maschinenöl in Speiseöl), sodass nur ein kleiner Teil der Befragten sich darauf<br />
bezieht, während andere Skandale, insbesondere der jüngeren Zeit, vermehrt genannt<br />
werden und teilweise den Alltag und die Essgewohnheiten der Interviewtendurchkreuzten.<br />
Im Folgenden werden sechs Deutungsmuster im Zusammenhang mit Lebensmittelskandalen<br />
beschrieben. Die Situationsauslegungen wurden aus den Interviews rekonstruiert.<br />
Die Interviews fanden im aller Regel nicht zeitgleich mit einem Lebensmittelskandal<br />
statt. In der Folge beziehen sich die Interviewaussagen reflexiv auf bereits zurückliegende<br />
Ereignisse.<br />
5.1 Indifferent bleiben<br />
Ungeachtet vom Auftreten und der Kenntnis von Lebensmittelskandalen wird nicht jedem<br />
Skandaldie gleiche Aufmerksamkeit zuteil. In manchen Fällen schenken Verbraucher solchen<br />
Ereignissen in ihrem Alltag keine Beachtung. Sie bleiben gegen<strong>über</strong> den negativen<br />
Meldungen und <strong>Berichte</strong>n indifferent. Aus dem Rückblick dieser Verbrauchergruppe haben<br />
die Skandale nach eigener Aussage keine Verunsicherungen ausgelöst, da bestimmte Speisen<br />
oder Versorgungsprobleme generell nicht zur Alltagsroutine gehören. Die BSE-Krise<br />
löste beispielsweise bei jüngeren Konsumenten keinen Aufmerksamkeitswechsel aus, da<br />
andere (Familie, Gemeinschaftsverpflegung) <strong>für</strong> ihre Versorgung zuständig waren oder<br />
sind.<br />
Ich habe mich persönlich bis jetzt relativ wenig damit auseinandergesetzt, weil<br />
ich es einfach so hingenommen hab […] als jetzt BSE war [...] da war ich ja<br />
noch ein ganzes Eck jünger und da hat die Mutter sowieso noch viel mehr<br />
bestimmt, was es zu Essen gibt [...] da wurde dann schon so von der Familie<br />
aus, dadurch, dass die Mutter das plant, Rindfleisch ein bisschen gemieden<br />
(Herr pOhl, Berufsschüler). 6)<br />
Die BSE-Krise hatte die Alltagsroutine dieser Gruppe von Befragten nicht erschüttert.<br />
Zwar registrieren sie solche Ereignisse, diese führen aber nicht dazu, dass man die Aufmerksamkeit<br />
darauf richtet, die Situation im Alltagskontext auslegt und Handlungsoptionen<br />
gegeneinander abwiegt.<br />
Buel_3_11.indb 486 17.11.2011 08:13:28
Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />
5.2 Regionale Produkte kaufen<br />
487<br />
In Deutschland blieb der Konsum von Rindfleisch während der BSE-Krise konstant,<br />
sobald das Fleisch aus einer gesicherten Region kam. In dieser Situationsauslegung gelten<br />
die Produkte und Menschen der unmittelbaren Region als „sicher“. Die Zuversicht in<br />
die Produkte der näheren Umgebung ist zugleich mit einer Skepsis und Abwertung der<br />
Fremde oder des Auslands gekoppelt, wobei das Gegensatzpaar Region und Fremde vor<br />
allem zwischen Transparenz und Undurchsichtigkeit unterscheidet. Mit einer größeren<br />
räumlichen Nähe scheinen dagegen die Zuversicht und das Vertrauen zu wachsen. Die<br />
Auslegung dürfte mit der Hoffnung des Individuums zusammenhängen, dass man die<br />
Möglichkeit einer persönlichen Situationskontrollevor Ort habe. Natürlich gibt es Gegenbeispiele,<br />
welche die Befragten kennen. Es kommt jedoch nicht nur auf dieses räumliche<br />
Verhältnis an, ebenso muss man die Identifikation und Sympathie mit der Region sowie<br />
das „Elefantengedächtnis“ (19, S. 223) sedimentierter Erfahrungen gegen<strong>über</strong> einer sich<br />
schnell verändernden Welt einbeziehen. So vertraut eine Gesprächsperson auf die Produkte<br />
und Menschen aus ihrer Region, weil „da weiß ich wo sie her sind –mehr oder<br />
weniger, ich bin eigentlich bis jetzt gut (damit) gefahren“ (Frau Ott, Rentnerin). Eine<br />
andere Gesprächsperson sagt aus:<br />
Na, wie gesagt, wenn es aus der heimischen Produktion kommt, dann weiß<br />
ich, das ist von hier, das ist hier aufgewachsen, gefüttert worden oder ist hier<br />
geerntet worden. Dann sage ich, kann ich (davon) ausgehen, dass es sicher ist,<br />
sage ich es mal so. Ich meine, hundertprozentig wahrscheinlich auch nicht, aber<br />
zumindest hat man ein anderes Gefühl, als wenn es von außerhalb kommt (Herr<br />
lehmann, Polier auf einer Baustelle).<br />
Die Region erhält also einen Vertrauensvorschuss, welcher auch bei Gegensätzlichem<br />
aufrecht erhalten wird, da Unsicheres mit dem Fremden und Sicheres mit dem Vertrauten<br />
–die unmittelbare Region –verbunden wird. Mit der Kaufentscheidung <strong>für</strong> Produkte aus<br />
der Region lässt sich somit die gewohnte Alltagsroutine aufrecht erhalten.<br />
5.3 Alternative Produkte konsumieren<br />
Für eine andere Gruppe von Verbrauchern bestätigen und bestärken Lebensmittelskandale<br />
die Sichtweise, dass solche Phänomene eng mit der systematischen Entfremdung der konventionell<br />
produzierenden <strong>Landwirtschaft</strong> und <strong>Ernährung</strong>sindustrie von den »natürlichen«<br />
Kreisläufen und Prozessen zusammenhängen. Gesunde und unproblematische Lebensmittel<br />
könnten im Gegensatz nur erzeugt werden, wenn sich die Produktionsweise an den<br />
„natürlichen“ Verhältnissen orientiere.<br />
Einen solchen Zusammenhang zwischen der konventionell produzierenden <strong>Landwirtschaft</strong><br />
und Lebensmittelskandalen beschreibt beispielsweise Frau heiner in ihrem Interview<br />
wie folgt:<br />
Na, völlig ungesunde Bedingungen eigentlich indieser Tierhaltung, da stimmt<br />
ja irgendwie was nicht. […] Na, ungesund ist <strong>für</strong> mich aus dem Gleichgewicht.<br />
Völlig aus dem Gleichgewicht […] diese Massentierhaltungen, was die <strong>für</strong> Futter<br />
kriegen, in was <strong>für</strong> Zeiten die schlachtreif sein müssen, dies ist völlig aus<br />
dem natürlichen Rhythmus (Frau heiner, erwerbslos).<br />
Dementsprechend konsumieren Verbraucher mit dieser Sichtweise bewusst frische, unbehandelte<br />
bzw. inihrem Verständnis natürliche Waren („Frisches, was auch wirklich so<br />
wächst“). Da diese Personengruppe Lebensmittelskandale zumeist als Folge der konventionellen<br />
<strong>Landwirtschaft</strong> beobachtet, bieten Lebensmittel aus alternativen Erzeugungsprozessen<br />
aus ihrer Sicht eine gewisse Distanz zu der mutmaßlichen Gefahrenquelle. Wenn<br />
man bis dahin noch teilweise konventionell erzeugte Produkte erworben hat, fühlt man<br />
Buel_3_11.indb 487 17.11.2011 08:13:28
488 Axel Philipps<br />
sich schließlich mit der Abwanderung zu alternativerzeugten Lebensmitteln auf der sicheren<br />
Seite.<br />
5.4 Vertrauen in institutionelle Kontrollen<br />
In einem anderen Kontext ist eine Umstellung der zu konsumierenden Lebensmittel nicht<br />
nötig, daaus Sicht der Befragten ein Skandal bereits den Nachweis liefert, dass jemand<br />
kontrolliert und damit dem Problem nachgeht. Zwar mögen die Erzeuger und Händler<br />
durch ihre Gewinnorientierung Fehlverhalten und Abweichungen verursachen; die relevanten<br />
Institutionen, Einrichtungen oder Behörden zur Kontrolle erweisen aber gerade<br />
dadurch ihreHandlungsfähigkeit,dasssie solcheMissstände aufzeigen undandie Öffentlichkeit<br />
bringen.<br />
Ja, man muss sich einfach wirklich drauf verlassen, dass das schon in Ordnung<br />
geht und jemand das kontrolliert und dass die Firmen, die das herstellen, auch<br />
daran interessiert sind, saubere und ordentliche Produktezuliefern, weil, das in<br />
ihrem Interesse ist, […] weil <strong>für</strong> mich auch solche Geschichten immer deutlich<br />
machen, dass jemand da ist, der das kontrolliert. Weil sonst, ja, wenn so was<br />
entdeckt wird, dann hat ja jemand vorher nachgekuckt. Das finde ich dann auch<br />
schon ein beruhigendes Gefühl (Herr faber, Student).<br />
So vermitteln unternehmerisches Eigeninteresse und durchgeführte Kontrollen <strong>für</strong> diese<br />
Befragten die Gewissheit, dass mit den Skandalen im Lebensmittelbereich eine Ursachenbekämpfung<br />
einsetzt und Sorgen ausgeblendet werden können. Solange also dieses Vertrauen<br />
in die staatliche, wissenschaftliche oder technische Beherrschbarkeit des Problems<br />
besteht, werden Lebensmittelskandale kaum wahrgenommen und haben keinen Einfluss<br />
auf die Handlungen und <strong>Ernährung</strong>sgewohnheiten der Verbraucher.<br />
5.5 Expertenwissen beschaffen<br />
Für eine andere Gruppe ist die Deutung von Lebensmittelskandalen nicht so unvermittelt<br />
klar.Sie suchen Experten als unabhängige Autoritäten auf, um sich an deren Situationsauslegung<br />
zu orientieren. Man sichert sich also die eigenen Handlungen durch bereitgestellte<br />
Risikoeinschätzungen ab. Zu dieser Kategorie von Experten zählen vor allem Ärzte und<br />
Naturwissenschaftler.<br />
Informieren. Nicht alles glauben, was in der Zeitung steht. Das ist vielleicht<br />
die wichtigste Message, die man da geben kann. Und am besten natürlich mit<br />
Leuten, die sich auch ein bisschen auskennen, wobei wir es ja nicht so schwer<br />
haben, da im medizinischen Bereich. Wirhaben <strong>Ernährung</strong>swissenschaftler hier<br />
<strong>über</strong>all und die, das denke ich schon, dass die einem kompetente Informationen<br />
geben. (Herr thOm, Psychotherapeut).<br />
Insofern kann sich die Umgangsweise mit einem Lebensmittelskandal vor und nach der<br />
Konsultation eines Experten unterscheiden. Ein kurzfristiger Verzicht kann durch eine<br />
andere Reaktion abgelöst werden, sobald eine „sachkundige“ Situationseinschätzung vorliegt.<br />
5.6 Selektiver Verzicht als Reaktion auf die mediale <strong>Berichte</strong>rstattung<br />
Andere sind durch die Nachrichten und Bilder <strong>über</strong> Lebensmittelskandale sensibilisiert<br />
und beunruhigt. Die Verunsicherung führt jedoch nicht dazu, dass sie sich mit möglichen<br />
Zusammenhängen eingehender beschäftigen oder die eigenen <strong>Ernährung</strong>sgewohnheiten<br />
nachhaltig ändern. Vielmehr stellt der Verzicht auf ein skandalisiertes Lebensmittel <strong>für</strong><br />
die Befragten keine große Einschränkung dar, weil die Nahrungsaufnahme nur zum<br />
Buel_3_11.indb 488 17.11.2011 08:13:28
Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />
489<br />
Erhalt derArbeits- und Lebenskraft dient. Eswerden also keine bestimmten Präferenzen<br />
oder Vorstellungen (z. B. gesundes, unbehandeltes oder lokal verankertes Essen) durchkreuzt,<br />
wenn man den möglichen Konsequenzen aus einem Lebensmittelskandal durch<br />
Ausweichen auf andere Lebensmittel begegnet. Letztendlich verblassen die Beunruhigung<br />
und die damit verbundene Verzichtleistung, sobald der Skandal aus den Massenmedien<br />
verschwindet, weil es kein weiterführendes Interesse an dem Thema gibt.<br />
Was einem natürlich immer einfällt ist diese konjunkturelle Sache, dass sich<br />
ja möglicherweise objektiv wenig verändert hat, aber es trotzdem nicht mehr<br />
medial diskutiert wird. Was auch bei mir Wirkungen hat. Also wenn es nicht<br />
mehr diskutiert wird, ist es auch erst mal <strong>für</strong> mich irgendwie weg vom Fenster.<br />
Also ich denke jetzt nicht an das Ozonloch, obwohl es noch da ist (Herr tamme,<br />
Doktorand).<br />
6 Diskussion der Ergebnisse<br />
Bei den verschiedenen Deutungsmustern haben Lebensmittelskandale auf unterschiedliche<br />
Art und Weise Irritationen ausgelöst. Diejenigen, die bei solchen Skandalen indifferent<br />
blieben, nahmen zwar die Ereignisse wahr, legten sie aber nicht mit früheren Erfahrungen<br />
aus. Es kam also zu keinem Aufmerksamkeitswechsel. In den anderen Fällen lösten<br />
Skandalmeldungen <strong>über</strong> Lebensmittel Irritationen im Alltag aus. In diesen Fällen setzten<br />
die Befragten Lebensmittelskandale in der einen oder anderen Form in einen Kontext mit<br />
früheren Erfahrungen und damit verbundenen Erwartungen. In der Folge haben sie sich<br />
mal mehr oder mal weniger eingehend mit der Situation beschäftigt und Handlungsoptionen<br />
bewusst ineinen Situationszusammenhang gebracht.<br />
Die Deutungsmuster derjenigen, die sich irritieren ließen und sich um eine Auslegung<br />
der Skandalsituation bemühten, unterscheiden sich weiterhin hinsichtlich ihrer reflektierten<br />
Handlungsoptionen.Demnach sind in einem Teil der Situationsauslegung Möglichkeiten<br />
einer individuellen Einflussnahme angelegt und im anderen nicht.<br />
Insbesondere die Auslegungen von Lebensmittelskandalen, die diese als Folgen der<br />
konventionellen <strong>Landwirtschaft</strong> und aufgrund räumlicher Ferne einordnen, eröffnen Optionen<br />
der individuellen Einflussnahme. ImRahmen dieser Deutungen lassen sich solche<br />
Skandale durch Handlungsoptionen begegnen, die das Gegenteil bedeuten: Produkte<br />
einer alternativen landwirtschaftlichen Erzeugungsweise (z. B. ökologischer Landbau)<br />
oder aus der Region konsumieren. Die Einzelnen können somit im Rahmen von Kaufentscheidungen<br />
individuell zwischen verschiedenen Produkten wählen. Ebenso verschaffen<br />
sich diejenigen Voraussetzungen <strong>für</strong> individuell kontrollierbare Handlungsoptionen, die<br />
Experten konsultieren. Auf Basis des Expertenwissens lassen sich Ereignisse, wie Lebensmittelskandale,<br />
individuell danach beurteilen, welches Verhalten riskant ist und welches<br />
nicht.<br />
Im Fall von Situationsauslegungen, die sich bei Lebensmittelskandalen an der <strong>Berichte</strong>rstattung<br />
orientieren oder auf die institutionellen Kontrollmechanismen vertrauen, bleiben<br />
die Handlungsoptionen außerhalb der individuellen Einflussnahme. Die Einzelnen<br />
können auf solche Skandale nur reagieren, indem sie sich an den Gegebenheiten orientieren.<br />
Ihre Verhaltensmöglichkeiten hängen von den Handlungen anderer (z. B. Staat,<br />
Unternehmen, Massenmedien) ab.<br />
Die Möglichkeiten, auf einen Lebensmittelskandal individuell Einfluss nehmen zu<br />
können oder nicht, wirken sich auf das Beschaffen von Informationen aus. Im Fall von<br />
individuell kontrollierbaren Handlungsoptionen (alternative bzw. regionale Produkte<br />
konsumieren, Experten konsultieren) sichern weitere Informationen die Entscheidungsmöglichkeiten<br />
ab. Beispielsweise lassen sich die gewählten Handlungsoptionen durch<br />
Buel_3_11.indb 489 17.11.2011 08:13:28
490 Axel Philipps<br />
Hintergrundinformationen prüfen und bestätigen. Eröffnen Situationsauslegungen jedoch<br />
keine individuellen Einflussoptionen (z. B. bei Orientierung an der <strong>Berichte</strong>rstattung oder<br />
Vertrauen in institutionelle Kontrollmechanismen), sondern machen die Handlungsmöglichkeiten<br />
von externen Gegebenheiten abhängig, sind weiterführenden Informationen<br />
<strong>für</strong> die Handlungsausrichtung nicht relevant. Für die individuelle Reaktion ist nur von<br />
Bedeutung, ob der Lebensmittelskandal (noch) ein Thema in der medialen Öffentlichkeit<br />
(Printmedien, Fernsehen, Radio) ist oder nicht.<br />
Diese Beobachtungen lassen sich auf die Erkenntnisse <strong>über</strong> das Verhalten von Verbrauchern<br />
bei Lebensmittelskandale <strong>über</strong>tragen. Teilweise waren Erklärungen <strong>für</strong> Zusammenhänge<br />
von <strong>Berichte</strong>rstattungen <strong>über</strong> solche Ereignisse und individuelle Verhaltensweisen<br />
offen geblieben.<br />
Beispielsweise hatten die Verbraucher durchgehend von solchen Ereignissen Kenntnis<br />
und waren verunsichert, ohne sich weitere Informationen zu beschaffen. Trotz Verbraucherverunsicherung<br />
eignete sich nur ein geringer Teil der Verbraucher Hintergrundwissen<br />
an (46, S. 242). Berücksichtigt man die Situationsauslegungen, sind Hintergrundinformationen<br />
nur <strong>für</strong> diejenigen relevant, die alternative bzw. regionale Produkte konsumieren<br />
oder Experten konsultieren, da mit diesen Handlungsoptionen Möglichkeiten einer<br />
individuellen Einflussnahme auf Ereignisse verbunden sind, die durch weiteres Wissen<br />
abgesichert und bestätigt werden. Inden Fällen von Indifferenz, Vertrauen in institutionelle<br />
Kontrollen und der Orientierung an der <strong>Berichte</strong>rstattung haben die Verbraucher<br />
zwar Kenntnis von den Ereignissen, sie rufen aber keine weiterführenden Informationen<br />
ab. Orientieren sich die Verbraucher an der <strong>Berichte</strong>rstattung, dann ist nur relevant, ob die<br />
Ereignisse (noch) in der medialen Öffentlichkeit sind oder nicht. Die anderen Deutungsmuster<br />
schließen keine Verhaltensänderung ein, sodass kein Bedarf an weiterführendem<br />
Orientierungswissen besteht.<br />
Weiterhin wurde beobachtet, dass Verzichtserklärungenkaum von Dauer sind (vgl. 31;<br />
49). Anfänglich formulierte Verzichtserklärungen auf unbestimmte Zeit ändern sich mit<br />
den Situationsauslegungen. Verzicht als Verhaltensoption verliert beispielsweise bei einer<br />
Orientierung an der Berichtserstattung mit dem Verschwinden der Ereignisse aus der<br />
medialen Öffentlichkeit an Bedeutung. Ebenso eröffnen sich individuelle Handlungsoptionen<br />
im Verlauf von Situationsauslegungen, die Lebensmittelskandale als Konsequenzen<br />
der konventionellen <strong>Landwirtschaft</strong>, als Folgen von undurchsichtigen Ereignissen in<br />
der Fremde einordnen oder wenn Experten konsultiert werden. Mit dem Abschluss der<br />
Situationsdeutung können dann neben den Verzichtshandlungen weitere Möglichkeiten<br />
bereitstehen. barlösius und philipps hatten zum Beispiel beobachtet, dass mit einigen<br />
Situationsauslegungen der BSE-Krise Orientierungsphasen verbunden waren. Demnach<br />
wurden anfängliche Verzichtsleistungen durch andere Verhaltensmuster abgelöst, sobald<br />
die Befragten den BSE-Skandal gedeutet hatten (2, S. 38).<br />
Schließlich zeigen Studien zur BSE-Krise, dass zwischen der Häufigkeit der <strong>Berichte</strong>rstattung<br />
<strong>über</strong> den BSE-Skandal und dem Verzehr von Fleisch und Wurstwaren ein umgekehrt<br />
proportionaler Zusammenhang bestand. Demnach verzichteten Verbraucher besonders<br />
häufig auf Fleisch und Wurstwaren, wenn in den Printmedien vermehrt <strong>über</strong> die<br />
BSE-Krise berichtet wurde (50, S. 461; 68, S. 49). Diese Beziehung deckt sich vor allem<br />
mit der Orientierung an der <strong>Berichte</strong>rstattung. Die Befragten verzichteten auf betroffene<br />
Lebensmittel, solange die Ereignisse ein Thema in der medialen Öffentlichkeit waren.<br />
Mit der abnehmenden Häufigkeit von <strong>Berichte</strong>rstattungen <strong>über</strong> einen Lebensmittelskandal<br />
verringerte sich auch die Relevanz der Ereignisse <strong>für</strong> die Verbraucher. Des Weiteren dürften<br />
besonders intensive <strong>Berichte</strong>rstattungen bei Situationsauslegungen mit individuellen<br />
Einflussmöglichkeiten anfänglich zu einem Verzicht geführt haben, der jedoch durch alternative<br />
Verhaltensweisen abgelöst wurde, sobald die Deutung der Situation abgeschlossen<br />
war.<br />
Buel_3_11.indb 490 17.11.2011 08:13:28
Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />
491<br />
Weiterhin bestätigen die beschriebenen Auslegungen von Lebensmittelskandalen und<br />
die individuellen Umgangsweisen der Befragten die identifizierten Kontextualisierungen<br />
und Wissensformen (vgl. 2; 10). Frühere Untersuchungen hatten sich hauptsächlich den<br />
Essgewohnheiten bestimmter sozialer Gruppen (10) oder in unterschiedlichen regionalen<br />
Räumen (2; 12) gewidmet und sich nur in Teilfragen mit dem alltäglichen Umgang mit<br />
Lebensmittelskandalen beschäftigt. Ungeachtet dessen bewegen sich die rekonstruierten<br />
Deutungsmuster und damit verbundene Handlungsoptionen im Rahmen der von giDDens<br />
postulierten Optionen (21), wie in der Spätmoderne dem Mangel an Kontrolle in kritischen<br />
Situationen zu begegnen sei. Nach giDDens könne das Vertrauen entweder durch<br />
den Rückgriff auf Expertenwissen oder durch Abwägungen der Handlungsrisiken wieder<br />
hergestellt werden. Diese Muster lassen sich empirisch wiederfinden im Vertrauen in<br />
Expertenwissen, dem Systemvertrauen in die Kontrollmechanismen zur Einhaltung vorgegebener<br />
Richtlinien in Erzeugungs- und Herstellungsprozessen, der Zuversicht in die<br />
Region mit ihren Produkten und Erzeugern oder in alternative Erzeugungsweisen sowie<br />
den Abwägungen der Wahrscheinlichkeit bzw. der räumlichen Distanz zu Gefahren.<br />
Die Optionen giDDen’s zur Wiederherstellung von Vertrauen in der Spätmoderne<br />
müssen jedoch empirisch um die (teilweise skeptischen) Orientierungen an der medialen<br />
<strong>Berichte</strong>rstattung erweitert werden. Neben der empirischen Rekonstruktion dieser<br />
Option sprechen drei weitere Gründe <strong>für</strong> eine Berücksichtigung. Erstens werden Lebensmittelskandale<br />
vor allem durch die mediale <strong>Berichte</strong>rstattung vermittelt und unterliegen<br />
damit den dort operierenden Selektionsmechanismen (40, S. 102; 63). Zweitens scheint<br />
eine Beziehung zwischen der Fernsehnutzungsdauer und der Bereitschaft zur Umstellung<br />
der Essgewohnheiten infolge eines Lebensmittelskandals zu bestehen. Ergebnisse<br />
zeigen, dass die Befragten, die tendenziell täglich mehr Fernsehen schauen als andere,<br />
ihre Essgewohnheiten häufiger vor<strong>über</strong>gehend umstellen (56, S. 199). Möglicherweise<br />
orientiert sich diese Verbrauchergruppe stärker an der medialen <strong>Berichte</strong>rstattung <strong>über</strong><br />
Lebensmittelskandale und folgt dabei in ihrem Verbraucherverhalten der Kurzlebigkeit<br />
des Nachrichtenwerts. Drittens nehmen virtuelle Risiken (vgl. 41) stärker zu. Die digitale<br />
Reproduzierbarkeit ermöglicht uneingeschränkte Verwandlungen und Veränderungen<br />
bereitgestellter Informationen, die die Trennung zwischen realen und postulierten Risiken<br />
verwischen. Mittels der digitalen Form der massenmedialen Darstellung der Wirklichkeit<br />
gehe es schließlich weniger um die Erfassung der Realität, sondern vermehrt um die<br />
zeitweise Erzeugung einer Aufmerksamkeit <strong>für</strong> bestimmte Ereignisse. Vordiesem Hintergrund<br />
ist eine Zurückhaltung bei der Durchdringung der massenmedialen <strong>Berichte</strong>rstattung<br />
im Alltag geradezu sinnvoll, um ein gewisses Maß an Situationskontrolle aufrecht<br />
zu erhalten.<br />
Der distanzierte Umgang mit der Informationsbereitstellung der Massenmedien stellt<br />
auch die Relevanz der unabhängigen Variable Informationsbeschaffung <strong>für</strong> die Erklärung<br />
von Verbraucherverhalten bei Lebensmittelskandalen infrage. Bereits in den quantitativen<br />
Erklärungsmodellen konnte diese Einflussgröße die Handlungen der Verbraucher nur<br />
unzureichend erklären. Dieser Umstand mag damit zusammenhängen, dass die Informationen<br />
der medialen <strong>Berichte</strong>rstattung nur selektiv (Thema/kein Thema) herangezogen<br />
werden.<br />
Wenig aufschlussreich <strong>für</strong> die Rekonstruktion der Deutungsmuster bei Lebensmittelskandalen<br />
waren die milieuspezifischen Differenzierungen. Während das Beschaffen<br />
von Expertenwissen oder die Orientierung am alternativen Konsum zwar Beziehungen zu<br />
höheren Bildungsabschlüssen aufweisen, ergeben sich zwischen den anderen Deutungsmustern<br />
und den sozialen Herkunftsmilieus keine klaren Relationen. Demnach scheinen<br />
die einzelnen sozialen Milieus keine spezifischen Erfahrungen oder Wissensformen <strong>für</strong><br />
den Umgang mit Lebensmittelskandalen zu vermitteln. 7) Hinsichtlich der Ost-West-Differenz<br />
konnten ebenfalls keine markanten Unterschiede festgestellt werden. Indiesem<br />
Buel_3_11.indb 491 17.11.2011 08:13:28
492 Axel Philipps<br />
Zusammenhang existierte unter den ostdeutschen Gesprächspersonen jedoch eine Erklärung<br />
<strong>für</strong> das Entstehen von Lebensmittelskandalen, die nur im historischen Kontext der<br />
DDR-Vergangenheit verständlich wird. So führten sie unabhängig voneinander die „Seuchenmatten“<br />
in den Stallanlagen der ehemaligen DDR ins Feld. Diese seien ein Ausdruck<br />
<strong>für</strong> die Sicherheit und Ordnung gewesen, die heute fehlt und somit den Gefahren von<br />
außen „Tür und Toröffnet“.<br />
Dennoch sind Lebensmittelskandale keine Ereignisse, die alle Verbraucher gleichermaßen<br />
beschäftigen. Ein Teil der Verbraucher bleibt solchen Skandalen indifferent gegen<strong>über</strong>,<br />
während sie bei anderen Verbrauchern die alltägliche Routine und die Essgewohnheiten<br />
durchkreuzen und damit die Aufmerksamkeit auf die irritierende Situation lenken. In der<br />
Folge gibt es Versuche, Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Weiterhin muss beachtet<br />
werden, dass es keinen spezifischen Typus von Lebensmittelskandalen gibt, der exemplarisch<br />
<strong>für</strong> alle anderen Skandale steht. Zwar dürften sich die Deutungen vieler Skandale<br />
nach der BSE-Krise an diesem Ereignis orientiert haben; letztlich löst jeder Skandal aber<br />
andere Irritationen aus und beschränkt damit das Überspringen der Empörung auf einzelne<br />
und oft verschiedenartige Verbrauchergruppen.<br />
7 Fazit<br />
Generell darf die Relevanz von Lebensmittelskandalen im Alltag vermutlich nicht <strong>über</strong>schätzt<br />
werden. Bereits tullOCh und luptOn hatten in ihrer Studie zu Risiken im Alltag<br />
darauf hingewiesen, dass persönliche Veränderungen durch Migration, Flucht oder Alterung<br />
eine größere Bedeutung <strong>für</strong> die Menschen haben als BSE, Tschernobyl oder die<br />
Umwelt allgemein (64, S. 41 f.).<br />
Es ist zu erwarten, dass kommende Skandale von den Individuen im Horizont ihrer<br />
früheren Erfahrungen gedeutet werden. Daraus ergibt sich <strong>für</strong> die Lebensmittelskandalforschung<br />
die Frage, ob sich möglicherweise bestimmte Deutungen und Handlungsoptionen<br />
verfestigt haben. Dieses Phänomen würde nicht nur Unsicherheitsabsorption durch<br />
Reduzierung von Komplexität <strong>für</strong> die Alltagspraxis bedeuten, sondern damit wären auch<br />
bestimmte Verhaltensmuster bei Lebensmittelskandalen erwartbar.Diese These muss aber<br />
dem Sachverhalt Rechnung tragen, dass der Begriff Lebensmittelskandal zu unspezifisch<br />
ist, da er sehr unterschiedliche Bereiche der Erzeugung, Herstellung, Verarbeitung und<br />
Verbreitung von Lebensmitteln einschließt und in diesen Zusammenhängen vieles zum<br />
Skandal werden kann. Die Anlässe <strong>für</strong> Irritationen der Alltagsroutine sind zu verschieden,<br />
um von <strong>über</strong>tragbaren Situationsauslegungenauszugehen. Hier könnte eine Spezifizierung<br />
von Lebensmittelskandalen durch Differenzierung den Erkenntnisbeitrag erhöhen.<br />
Zusammenfassung<br />
Lebensmittelskandale lassen sich in drei Elemente zerlegen. AmAnfang steht eine moralische Verfehlung<br />
von Menschen oder Unternehmen beim Umgang mit Lebensmitteln. Aus diesem Missstand<br />
wird ein Skandal, wenn Skandalierer das Thema öffentlich machen und ein empörtes Publikum finden.<br />
In diesem Skandal-Dreieck beschäftigt sich der Beitrag mit den Verbrauchern und ihren Reaktionen.<br />
Während die bisherigen Untersuchungen nur begrenzt das Verbraucherverhaltenbei Skandalen<br />
<strong>über</strong> die Verunsicherung, das Informationsverhalten, das Einkommen oder die Preise erklären können,<br />
wird hier versucht, die Handlungsoptionen (dauerhafter, zeitweiser bzw. kein Verzicht) aus den<br />
alltäglichen Situationsauslegungen der Verbraucher zu verstehen. Dazu wurden Leitfadeninterviews<br />
zu den Erfahrungen mit Lebensmittelskandalen geführt. Anhand der Aussagen wurde eine Typologie<br />
von sechs Deutungsmustern rekonstruiert.<br />
Buel_3_11.indb 492 17.11.2011 08:13:28
Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />
Summary<br />
Food scandals and consumer behaviour options in everyday situations<br />
493<br />
Food scandals consist of three elements. At the beginning of food scandals there is human or<br />
organizational misconduct concerning food. Such events become scandals if scandalmongers make<br />
such an event public and find an audience. The article focuses on the audience and their reactions<br />
as consumers. Past research has provided little explanation for consumer reactions regarding insecurity,<br />
information behaviour, income or prices. However, based on consumers’ interpretations of<br />
food scandals, consumer options such as total, temporary or no abstinence of food at the centre of<br />
scandals are reconstructed in the article. Fifty open interviews were conducted and analysed in order<br />
to determine patterns in respect of consumer interpretation. In the study,six patterns of interpretation<br />
were identified.<br />
Résumé<br />
Scandales alimentaires et les possibilités d’agir des consommateurs dans la vie quotidienne<br />
Les scandales alimentaires peuvent être divisés en trois éléments. Àl’origine du scandale se trouve<br />
une faute morale commise par des personnes ou des entreprises concernant le traitement de denrées<br />
alimentaires. La faute devient un scandale au moment où elle soulève l’indignation publique après<br />
avoir été rendue publique par les scandalisateurs. Analysant cette relation triangulaire, la présente<br />
étude met l’accent sur les consommateurs et leurs réactions. Alors que les études précédentes n’ont<br />
expliqué qu’en partie le comportement des consommateurs en étudiant des facteurs tels que le manque<br />
de confiance au moment d’un scandale, le comportement d’information, les revenus ou les prix,<br />
l’objectif de cette étude est de comprendre les possibilités d’agir des consommateurs (abstention<br />
permanente, temporaire ou aucune abstention) en se basant sur les interprétations des consommateurs<br />
dans la vie quotidienne. Dans ce but, des entretiens guidés sur les expériences lors de scandales alimentaires<br />
ont été menés. Les réponses ont permis d’identifier six patrons d’interprétation.<br />
Literatur<br />
1. barlösius,e., 2011:Soziologie des Essens: Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die<br />
<strong>Ernährung</strong>sforschung. 2. vollständig <strong>über</strong>arbeitete Auflage, Weinheim (Juventa).<br />
2. –; philipps, a., 2006: „Eine Zeit lang haben wir kein Rindfleisch gegessen.“ BSE zwischen Alltagsbewältigung,<br />
politischer Krise und medialer Skandalisierung. In: Zeitschrift <strong>für</strong> Agrargeschichte und<br />
Agrarsoziologie, Heft 1, Jg. 54, 23–35.<br />
3. baumann, z., 1992: :Moderne und Ambivalenz. Hamburg (Hamburger Ed.).<br />
4. beCK, u., 1986: Risikogesellschaft. Frankfurt am Main (Suhrkamp).<br />
5. –, 1988 : Gegengifte. Frankfurt am Main (Suhrkamp).<br />
6. berger,p.; luCKmann,t., 1973: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der<br />
Wissenssoziologie. 3.Aufl. Frankfurt amMain (Fischer).<br />
7. bergmann, K., 2000: Der verunsicherte Verbraucher. Berlin, Heidelberg (Springer).<br />
8. bösChen,s.; viehöver,W.; zinn ,J., 2003:Rinderwahnsinn. Können Gesellschaften aus Krisen lernen?<br />
In: Berliner Journal <strong>für</strong> Soziologie Heft 1, Jg.13, 35–58.<br />
9. bOurDieu, p., 1999: Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main (Suhrkamp).<br />
10. brunner, K.-m.; KrOpp, C.; sehrer, W., 2007: Wege zu nachhaltigen <strong>Ernährung</strong>smustern. Zur Bedeutung<br />
von biographischen Umbruchsituationen und Lebensmittelskandalen <strong>für</strong> den Bio-Konsum.<br />
In: Karl-Werner branD (Hg.), Die neue Dynamik des Bio-Marktes. München (Oekom),145–196.<br />
11. burtOn, m.; trevOr y.,1996: The Impact of BSE on the Demand for Beef and other Meats in Great<br />
Britain. In: Applied Economics, Heft 6, Jg. 28, 687–693.<br />
12. Caplan, p., 2000: “Eating British Beef with Confidence”: AConsideration of Consumers’ Responses<br />
to BSE in Britain. In: pat Caplan (Hg.), Risk Revisited, London, Sterling (Pluto Press) 184–203.<br />
13. CarsOn, m., 2004: From common market to social Europe? Stockholm (Stockholm University).<br />
14. Deising,f., 2003:„Der Nitrofen-Skandal –Zur Notwendigkeit genossenschaftlicher Kommunikationsstrategien.“<br />
IfG-Arbeitspapier 31, Münster.<br />
15. Dressel, K., 2002: BSE –the new dimension of uncertainty: the cultural politics of science and decision<br />
making. Berlin (ed. Sigma).<br />
16. DunWOODy,s.;peters, h. p.,1993: Massenmedien und Risikowahrnehmung. In: ulriKe beCKer (Hg.),<br />
Risiko ist ein Konstrukt. München (Knesebeck) ,317–341.<br />
17. eCKert, s., 1998: Ökonomische Effekte von Lebensmittelskandalen. Das Beispiel BSE. Gießen .<br />
Buel_3_11.indb 493 17.11.2011 08:13:28
494 Axel Philipps<br />
18. elDriDge,J.; reilly,J., 2003: Risk and relativity: BSE and the British Media. In: niCK piDgeOn,rOger<br />
KaspersOn,paul slOviC (Hg.), The Social Amplification of Risk. Cambridge (Cambridge Univ.Press),<br />
138–155.<br />
19. enzensberger, h.m., 1985: Politische Brosamen. Frankfurt am Main (Suhrkamp), hier 223.<br />
20. fliCK, u., 1999: Qualitative Forschung. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt).<br />
21. giDDens,a., 1996: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main (Suhrkamp).<br />
22. –, 1991: Modernity and Self-Identity. Stanford (Standford Univ. Press).<br />
23. –, 1995: Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt am Main, New York (Campus), hier 36.<br />
24. hagenhOff, v., 2003:Analyse der Printmedien-<strong>Berichte</strong>rstattung und deren Einfluss auf die Bevölkerungsmeinung:<br />
Eine Fallstudie <strong>über</strong> die Rinderkrankheit BSE 1990–2001. Hamburg (Kovacs) 2003.<br />
25. harrisOn, p., 1986: Das Imperium Nestlé. Noerdlingen (Greno) 1986.<br />
26. herrmann,r.; WarlanD,r.; sterngOlD,a., 1997:Who reacts to food safety scares? Examine the Alar<br />
Crisis. In: Agribusiness, Heft 5, Jg. 13, 511–520.<br />
27. hilDebranD, b., 1991: Fallkonstruktive Forschung. In: uWe fliCK, ernst vOn KarDOrff, heiner<br />
Keupp, lutz vOn rOsenstiel, stephan WOlff (Hg.), Handbuch qualitative Sozialforschung, Weinheim<br />
(Juventa), 256–260.<br />
28. hOff, K.; Claes, r., 1997: Der Einfluß von Skandalen und Gemeinschaftswerbung auf die Nachfrage<br />
nach Rindfleisch, In: Agrarwirtschaft, Jg. 46, 332–343.<br />
29. hOnDriCh, K.-O., 2002: Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals.<br />
Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2002.<br />
30. imhOf, K., 2002: Medienskandale als Indikatoren sozialen Wandels. Skandalisierungen in den Printmedien<br />
im 20. Jahrhundert. In: KOrnelia hahn (Hg.), Öffentlichkeit und Offenbarung: Eine interdisziplinäre<br />
Mediendiskussion. Konstanz (UVK), 73–98.<br />
31. KafKa, C.; vOn alvensleben, r., 1998: Consumer Perception of Food-Related Hazards and the Problem<br />
of Risk Communication. Universität Kiel (Institut <strong>für</strong> Agrarökonomie).<br />
32. Käsler, D., 1991: Der Skandal als politisches Theater. In: DirK Käsler (Hg.), Der politische Skandal.<br />
Opladen (Westdeutscher Verlag) 1991, 9–68.<br />
33. Kelle, u.; Kluge, s., 1999: VomEinzelfall zum Typus. Opladen (Leske+Burdich).<br />
34. Kepplinger, h.m., 2001: Die Kunst der Skandalsierung und die Illusion der Wahrheit. München<br />
(Olzog).<br />
35. Kitzinger, J., 2000: Media templates: patterns of association and the (re)construction of meaning over<br />
time. In: Media, Culture &Society, Heft 1, Jg. 22, 61–84.<br />
36. KJaernes, u,1999: Food risks and trust relations. In: Sociologisk Tidsskrift, 7, 265–284.<br />
37. König, W., 2000: Geschichte der Konsumgesellschaft. Stuttgart (Franz Steiner).<br />
38. lamneK, s., 2002: Qualitative Interviews. In: eCKarD König, peter zeDler (Hg.), Qualitative Forschung:<br />
Grundlagen und Methoden, 2. Aufl. Weinheim, Basel (UTB), 157–193.<br />
39. lash, s.; Wynne, b., 1992: introduction. In: ulriCh beCK (Hg.), Risk Society: Towards aNew Modernity,<br />
London, Thousand Oaks, New Dehli (SAGE) 11–8.<br />
40. linzmaier, v., 2007: Lebensmittelskandale in den Medien. Risikoprofile und Verbraucherverunsicherung.<br />
München (Nomos), 165.<br />
41. lOOn, J.van,2000: Virtual Risks in an Age of Cybernetic Reproduction. In: barbara aDam, ulriCh<br />
beCK, JOOst van lOOn (Hg.), The Risk Society and Beyond, London, 65–182.<br />
42. lull,J.; hinerman,s., 1997:The Search for Scandals. In: James lull,stephen hinerman (Hg.), Media<br />
Scandals: morality and desire in the popular culture marketplace. Cambridge (Polity Press), 1–33.<br />
43. luptOn, D., 1999: Risk, London, New York (Routledge).<br />
44. maCintyre, s.; reilly, J.; miller, D.; Eldridge, J., 1998: Food choice, food scares, and health: The<br />
role of the media. In: Ann Murcott (Hg.), The Nation’sDiet: The social science of food choice, London<br />
(Longman), 228–249.<br />
45. marOtzKi, W., 2003: Leitfadeninterviews. In: Ralf Bohnsack, Winfried Marotzki, Michael Meuser<br />
(Hg.), Hauptbegriffe Qualitative Sozialforschung. Opladen (Budrich),114.<br />
46. meyer-hullmann, K., 1999: Lebensmittelskandale und Konsumentenreaktionen. Frankfurt am Main<br />
(P. Lang).<br />
47. mOser, h., 1989 (Hg.): L’Eclat c’est moi. Weinheim (Deutscher Studien Verlag), 276.<br />
48. –, 1990: Skandalogie –Beiträge zu einem neuen Forschungsbereich der Politischen Psychologie. In:<br />
PP Aktuell, Jg. 9, 3–13, hier 6.<br />
49. nOelle-neumann,e.; KöCher,r., 2002: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 11,1998–2002. München<br />
(Saur).<br />
50. OlbriCh, r.; vOerste,a., 2006: Medienberichterstattung <strong>über</strong> Lebensmittelskandale und Kaufverhalten.<br />
In: <strong>Berichte</strong> <strong>über</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>, Heft 3/2006, Bd. 84, 455–468.<br />
51. O’rOurKe, D.,1990: Anatomy of aDisaster. In: Agribusiness Heft 5, Jg. 6, 417–424.<br />
52. philipps, a., 2008: BSE, Vogelgrippe &Co. „Lebensmittelskandale“ und Verbraucherverhalten, Bielefeld<br />
(Transcript).<br />
Buel_3_11.indb 494 17.11.2011 08:13:29
Lebensmittelskandale und Verbraucherhandeln – Verhaltensoptionen im Alltagskontext<br />
495<br />
53. Pressemitteilung der Gesellschaft <strong>für</strong> Konsumforschung (GfK), 2001: Ein Jahr danach –Rindfleisch<br />
ist wieder angesagt. GfK-Studie zum häuslichen Konsum von Fleisch und anderen Lebensmittelnnach<br />
BSE, Pressemitteilung der GfK. http://gfk.com/group/press_information/press_releases/00309/index.<br />
de.html, Zugriff am01.03.2003.<br />
54. prObst, f.W., 1997: Vorausschau auf den Rindermarkt. In: Agrarwirtschaft, Heft 8, Jg. 46, 314–319.<br />
55. reilly, J., 2003: Food risks, public policy and the mass media. In: peter s. beltOn, teresa beltOn<br />
(Hg.), Food, science and society, Berlin, Heidelberg (Springer), 71–90.<br />
56. rössler, p.; lüCKe, s.; linzmaier, v., 2006: <strong>Ernährung</strong> im Fernsehen. Darstellung und Wirkung: eine<br />
empirische Studie. München (Fischer).<br />
57. sChütz,a., 1982: Das Problem der Relevanz. Frankfurt am Main (Suhrkamp).<br />
58. –; luCKmann,t., 1991: Strukturen der Lebenswelt. Band 1, 4. Aufl., Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1.<br />
59. sChütze, Ch., 1985: Skandal. Eine Psychologie des Unerhörten. Bern, München (Scherz).<br />
60. spieKermann, u., 1998: Was ist Lebensmittelqualität? In: <strong>Ernährung</strong>s-Umschau, 45, 198–205.<br />
61. –, 2004: Die Normalität des (Lebensmittel-)Skandals. In: Hauswirtschaft und Wissenschaft, 524,<br />
60–69.<br />
62. teuteberg, h.-J., 1988: Die Begründung der <strong>Ernährung</strong>sindustrie. In: hans-Jürgen teuteberg, günter<br />
Wiegelmann (Hg.), Unsere tägliche Kost, Münster (Coppenrath), 291–302.<br />
63. thOmpsOn, J. b., 1997: Scandals and Social Theory. In: James lull, stephen hinerman (Hg.), Media<br />
Scandals, Cambridge (Polity Press) 34–64.<br />
64. tullOCh, J.; luptOn, D., 2003: Risk and Everyday Life, London, Thousand Oaks, New Dehli (SAGE).<br />
65. vester, m.; hOfmann, m.; zierKe, i., 1995: Soziale Milieus in Ostdeutschland: Gesellschaftliche<br />
Strukturen zwischen Zerfall und Neubildung. Köln (Bund). vester et al., Soziale Milieus im Strukturwandel.<br />
66. vester, m.; Oertzen vOn, p.; geiling, h.; hermann, t.; müller, D., 2001: Soziale Milieus im gesellschaftlichen<br />
Strukturwandel. Frankfurt am Main (Suhrkamp).<br />
67. Weber, m., 1972: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. (5. rev.Aufl.),<br />
Tübingen (Mohr).<br />
68. WilDner, s., 2002: Der Einfluss der BSE-<strong>Berichte</strong>rstattung auf die Nachfrage von Fleisch und Fisch.<br />
In: <strong>Berichte</strong> <strong>über</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>, Heft 1/2002, Bd. 80, 40–52.<br />
Fußnoten<br />
1 Für Diskussionen und Kommentare zum Gegenstand des Beitrags möchte ich eva barlösius,<br />
helena flam, alex theile und den anonymen Gutachtern danken. Die Verantwortung <strong>für</strong> den<br />
Inhalt liegt natürlich allein beim Autor.<br />
2) spieKermann (61) unterscheidet zwischen fünf Phasen. Dabei fällt die erste Phase in die Zeit<br />
zwischen ca. 1925 und 1940. Unter dem Eindruck der 1911 entdeckten Vitamine hätte sich<br />
beispielsweise die Wertigkeit konservierter und gewerblich hergestellter Produkte geändert.<br />
Diese erschienen nun als »entwertete« Nahrung. Dagegen erhielten insbesondere Frischkost und<br />
pflanzliche Lebensmittel seitdem gerade in den bürgerlichen Haushalten eine gesteigerte Wertschätzung.<br />
Eine neue Phase setzte in den späten 1950er-Jahren mit der öffentlichen Thematisierung<br />
von Chemie im Haushalt, in der Nahrung, <strong>Landwirtschaft</strong> und Produktion ein. Der Einsatz<br />
von Chemie galt nicht mehr als Problemlösung, sondern ihr vermehrter Einsatz wurde nun als<br />
Gesundheitsgefahr wahrgenommen. Zwischen 1965 bis 1975 hätten vor allem der Einsatz von<br />
DDT (Insektizid Dichlordiphenyltrichlorethan) und die Massentierhaltung in neuer Form Empörungen<br />
und Diskussionen in der Öffentlichkeit ausgelöst. Ähnlich wie beim intensiven Einsatz<br />
von Chemie wurde ab diesem Zeitpunkt die industrialisierte <strong>Landwirtschaft</strong> problematisiert und<br />
negativ belegt. Seit den 1980er-Jahren würde sich aufgrund von Umweltgefahren (Tschernobyl,<br />
Luft- und Gewässerverschmutzung), die die nationalen Grenzen <strong>über</strong>schreiten,die Aufmerksamkeit<br />
verstärkt auf die Lebensmittelqualität richten. Die Wahrnehmung globaler Gefahren (insbesondere<br />
durch die Umweltbewegung geprägt) hätte damit auch die Einschätzung von Qualitätskriterien<br />
verändert. Schließlich speise sich seit den Anfängen der 1990er Jahre die Empörung<br />
<strong>über</strong> den systematischen (und vielfach illegalen) Einsatz von Medikamenten und Mastmitteln in<br />
der Tierproduktion aus der Diskrepanz zwischen einer arbeitsteiligen, billigen Produktion und<br />
dem Wunsch nach »Natur« bzw. einem Tierleben in Würde. Weiterhin beobachtet imhOf (30)<br />
<strong>für</strong> die Jahrtausendwende eine ununterbrochene Skandalierung ökonomischer Akteure. Neben<br />
Debatten <strong>über</strong> Fusionen, Managergehälter und Steuerflucht begünstige diese Entwicklung auch<br />
die moralische Aufladung des Konsums. Sowürden sich die Firmen in Marketingkampagnen<br />
zur umweltschonenden Produktion, zur Gleichberechtigung und Frauenförderung bekennen. Die<br />
Unternehmen verbinden somit nicht nur die Werte Qualität und Sicherheit mit ihren Produkten,<br />
sondern die Moral ist allgemein zueinem Bestandteil des Konsums geworden.<br />
Buel_3_11.indb 495 17.11.2011 08:13:29
496 Axel Philipps<br />
3) Seinen Ursprung hat der Begriff Skandal im Griechischen »skandalon«. Dort steht er <strong>für</strong> das<br />
Stellholz an der Falle, die zuschnappt, wenn sie berührt wird. In neuerer Zeit ist der gebräuchlichste<br />
Sinn von „skandalon“ bzw. lateinisch „scandalum“ das »Ärgernis« (59).<br />
4) Aktuelle Ansätze betonen ebenfalls die Relevanz früherer Erfahrungen und des erworbenen<br />
Wissens. Zwar verweisen jüngere Gesellschaftsanalysen darauf, dass sich die verfügbaren Gewissheiten<br />
tendenziell auflösen (3) bzw. die Grenzen des Expertenwissens sichtbar werden (4;<br />
5; 21; 23), zugleich ändert sich nach giDDens nur die Praxis der alltäglichen Routinen. In der<br />
Spätmoderne werden die Praktiken, die zuvor als routinisierteHandlungen stillschweigend, fraglos<br />
und selbstverständlich angewendet wurden, auf der Grundlage permanent neu einlaufender<br />
Informationen ständig <strong>über</strong>prüft und verbessert (23; S. 54). Im Fall eines Scheiterns dieser praktiziertenRoutinen<br />
kann ein Mangel an Handlungskontrolle entstehen. Nach giDDens haben Laien<br />
in der Spätmoderne die Option, in unpersönliche Prinzipien und Expertenwissen (Statistiken,<br />
Therapien, Grenzwerte) zu vertrauen oder auf eigene Abwägungen der Risiken zu setzen (21,<br />
S. 129 f.). Wie Laien Risiken konkret wahrnehmen und beurteilen, hängt jedoch von lokalen,<br />
privaten, alltäglichen und intimen Umständen und Kontexten ab (vgl. 43; 64). lash und Wynne<br />
reservieren daher <strong>für</strong> die Risikoeinschätzungen von Laien und Nicht-Experten den Begriff der<br />
„private reflexivity“ (39, S. 8).<br />
5) Aus Platzgründen verweise ich <strong>für</strong> weitere Ausführungen zu den ausgewählten sozialen Milieus<br />
auf philipps [52].<br />
6) Die Namen aller Interviewpersonen wurden geändert. Weiterhin wurde die mündliche Sprache<br />
in den Interviewpassagen geglättet, um die Lesbarkeit zu verbessern.<br />
7) Für eine ausführliche Diskussion dieser Ergebnisse siehe philipps [52].<br />
Autorenanschrift: Dr. axel philipps, Leibniz Universität Hannover, Institut <strong>für</strong> Soziologie,<br />
Schneiderberg 50, 30167 Hannover, Deutschland<br />
a.philipps@ish.uni-hannover.de<br />
Buel_3_11.indb 496 17.11.2011 08:13:29
Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in<br />
Aserbaidschan<br />
Von elMAn MurAdOv, Berlin<br />
1 Einführung<br />
U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0005–9080/11/8903-0497 $ 2.50/0<br />
497<br />
Der <strong>Landwirtschaft</strong>s- und Viehsektor ist neben dem Erdölsektor einer der wichtigsten<br />
Bereiche <strong>für</strong> die sozial-ökonomische Entwicklung Aserbaidschans. Aserbaidschan hat<br />
seine große Vielfalt an hochwertigen landwirtschaftlichen Produkten, dem reichhaltigen<br />
Boden und den verschiedenen regionalen Klimabedingungen zu verdanken. So trifft<br />
man in Aserbaidschan auf neun von elf weltweit vorhandenen Klimaarten. Diese Vielfalt<br />
reicht von den Subtropen bis hin zur Tundra. Das heißt, dass es in manchen Regionen<br />
innerhalb einer Saison möglich ist, mehr als eine Ernte zu erzielen. Zusammengefasst ist<br />
festzustellen, dass das aserbaidschanische Klima <strong>für</strong> eine vielfältige landwirtschaftliche<br />
Produktion geeignet ist. Es wird eine große Vielfalt an Produkten, insbesondere Weizen,<br />
Baumwolle, Tabak, Tee, Oliven, Obst und Gemüse erzeugt. Die Agrarproduktion reicht<br />
<strong>für</strong> den Inlandsbedarf vollkommen aus.<br />
Nach der Besetzung durch die Sowjetunion im Jahre 1920 wurde auch in Aserbaidschan<br />
der Privatbesitz an Grund und Boden abgeschafft. Im <strong>Landwirtschaft</strong>ssektor wurden<br />
die Betriebsformen der Kolchosen (kollektive Betriebe) und Sowchosen (staatliche<br />
Betriebe) eingeführt. Diese waren zwar grundsätzlich in staatlichem Besitz, wurden aber<br />
als Genossenschaften geführt. Während dieser Periode wurde von der Zentralregierung<br />
geplant, welche Waren wo und von wem hergestellt und wohin diese zu transportieren<br />
sind.<br />
Die Region Lenkeran, im südlichen Teil des Landes, unweit des Iran, ist <strong>für</strong> Gemüseanbau<br />
wie, Tomaten, Paprika, Kohl und weitere Gemüsearten besonders geeignet. Sie<br />
erhielt den Ruf des „Gemüsegartens der gesamten Sowjetunion“. Gemüse wurde auch in<br />
den Kolchosen und Sowchosen der Regionen Guba, Hacmaz und Masalli angebaut. Für<br />
den sowjetischen Markt lieferte Aserbaidschan pro Jahr 500 000–600 000 t Gemüse (23).<br />
Tabelle 1. <strong>Landwirtschaft</strong>liche Fläche in Aserbaidschan (2010)<br />
Fläche <strong>Landwirtschaft</strong>liche Fläche<br />
in 1 000 ha<br />
Anteil<br />
Gesamtfläche 8 641 100 %<br />
Ackerland 4 588 53,1 %<br />
bewässerte Fläche 3 200 37 %<br />
Saatfläche 1 622 18,8 %<br />
Forst 1 037 12 %<br />
erodierte Fläche<br />
Quelle: 19<br />
3 610 41,8 %<br />
Buel_3_11.indb 497 17.11.2011 08:13:29
498 Elman Muradov<br />
Im Jahr 2010 exportierte Aserbaidschan landwirtschaftliche Produkte und Lebensmittel<br />
im Wert von 42,3 Mio. € . Die wichtigsten Importländer waren und sind Russland, die<br />
Ukraine, die Türkei und Kasachstan. Zu den Hauptexportprodukten zählten 2010 Gemüse<br />
mit rd. 54 300 t, 64 000 t Kartoffeln und 187 200 t Obst (22).<br />
Seit 1995 haben die Entwicklungen in der landwirtschaftlichen Produktion zahlreiche<br />
Veränderungen in der Produktionsstruktur mit sich gebracht. So ist der Anbau von Baumwolle,<br />
Tabak und Nutzpflanzen bis 2010 zurückgegangen, während die Produktion von<br />
Zuckerrüben um das 7,7-Fache, die Produktion von Gemüse um das 10,3-Fache und die<br />
Produktion von Kartoffeln um das 6,1-Fache anstieg (15).<br />
In den 1970er- und 1980er-Jahren wurden jedes Jahr fast 0,6 Mio. t Baumwolle produziert<br />
(4). In der darauf folgenden Übergangsphase der landwirtschaftlichen Produktion<br />
zur Marktwirtschaft und der darauf folgenden Globalisierung der Märkte zwangen<br />
die niedrigen Weltmarktpreise Aserbaidschan dazu, seine Baumwollproduktion erheblich<br />
zurückzufahren.<br />
Die Produktionsmenge bei Getreide stieg in der Sowjetzeit rapide an. Pro Jahr erreichte<br />
man in den 1970er- und 1980er-Jahren 1 Mio. t. Zwischen 1913 und 1970 erhöhte sich die<br />
erzielte Erntemenge je ha um das Dreifache. Anstatt jedoch das Ernteergebnis weiter zu<br />
verbessern, hat die sowjetische Zentralregierung ihren Kurs gewechselt und der Getreideerzeugung<br />
keinen Wert mehr beigemessen. Moskau beauftragte vielmehr die Kolchosen<br />
und Sowchosen, den Weinanbau <strong>für</strong> die Weinindustrie voranzutreiben.<br />
Ein schrumpfender Produktionsbereich war auch der Reisanbau. Traditionell wurde<br />
Reis in den südlichen Regionen, aber auch in den Ausläufern des Gagavuz Gebirges im<br />
Norden angebaut. Während der Sowjetzeit wurde jedoch in anderen Republiken der ehemaligen<br />
Sowjetunion ausreichend Reis produziert, sodass der Anbau in Aserbaidschan<br />
gestoppt wurde.<br />
In den 1970er-Jahren wurde in der <strong>Landwirtschaft</strong> speziell auf den Weinanbau und<br />
die Produktion hochwertigen Weins Wert gelegt. Deshalb wurden ca. 70 000–80 000 ha<br />
landwirtschaftliche Nutzfläche <strong>für</strong> die Rekultivierung von Weinanbauflächen reserviert.<br />
Das damalige Ziel bestand darin, jährlich <strong>über</strong> 3 Mio. t Weintrauben zu ernten (5).<br />
Während der Zeit des sowjetischen Regimes gab es infolge der zentralistischen Agrarpolitik<br />
Moskaus in Aserbaidschan drei landwirtschaftliche Entwicklungsschwerpunkte:<br />
die Erschließung von Baumwollplantagen, Weinplantagen und Gemüseplantagen. Die<br />
erzeugten Produkte wurden <strong>über</strong>wiegend exportiert. Nur ein ganz kleiner Anteil wurde<br />
<strong>für</strong> den Eigenbedarf Aserbaidschans zurückbehalten. Auf diese Weise hat Moskau immer<br />
versucht, Aserbaidschan unter seiner Kontrolle zu halten.<br />
Im Ausgleich da<strong>für</strong> hat Aserbaidschan jedes Jahr rund 1 200 000 t Milch- und 35 000–<br />
40 000 t Fleischerzeugnisse aus dem sowjetischen Unionsfonds erhalten. Normaler Weise<br />
hätte <strong>für</strong> die Viehzucht zur Sicherung der Selbstversorgung Aserbaidschans Tierfutter<br />
erzeugt werden müssen. Dies wurde von der sowjetischen Verwaltung jedoch nicht<br />
genehmigt. Das war ein Grund da<strong>für</strong>, dass in Aserbaidschan, verglichen mit der gesamten<br />
UdSSR, sehr wenig Fleisch- und Milchwaren konsumiert wurde: während der jährliche<br />
durchschnittliche Fleischverbrauch in der Sowjetunion bei etwa 65 kg/Kopf lag, betrug<br />
dieser Anteil in Aserbaidschan nur rund 37 kg/Kopf (23).<br />
Nachdem die Ära der UdSSR zu Ende gegangen und die makroökonomische und politische<br />
Stabilität wiederhergestellt worden war, beschleunigte die Regierung Reformen<br />
in der <strong>Landwirtschaft</strong>. 1995 wurde da<strong>für</strong> die entsprechende gesetzliche Grundlage, das<br />
<strong>Landwirtschaft</strong>sreformgesetz beschlossen. Zu den Reformen zählten unter anderem ein<br />
Landgesetz, ein Besitzzuweisungsgesetz sowie ein Dorfbetriebsgesetz. Nach der Unabhängigkeit<br />
hat Aserbaidschan als einziger GUS-Staat die Privatisierung auch in der <strong>Landwirtschaft</strong><br />
vollzogen, während in Kasachstan, Usbekistan und anderen Republiken die<br />
Buel_3_11.indb 498 17.11.2011 08:13:29
Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />
Tabelle 2. Anteil der <strong>Landwirtschaft</strong> am BIP (in %)<br />
Jahr % Jahr %<br />
1993 28,4 2002 14,2<br />
1994 32,9 2003 13,1<br />
1995 27,2 2004 11<br />
1996 27,5 2005 9<br />
1997 21,6 2006 6,9<br />
1998 18,7 2007 6,5<br />
1999 18,4 2008 5,6<br />
2000 16,1 2009 6,7<br />
2001<br />
Quelle: 19<br />
14,7 2010 5,4<br />
499<br />
Ländereien per Pacht-, Miet- oder Leasingverträgen <strong>für</strong> die individuelle Nutzung zur Verfügung<br />
gestellt wurden.<br />
Zu Beginn der Reformen zählte die aserbaidschanische <strong>Landwirtschaft</strong> 983 Kolchosen<br />
sowie 820 Sowchosen mit einer durchschnittlichen Flächenausstattung von 1780 ha (15).<br />
Diese Ländereien sind heute größtenteils vom Staatsbesitz in den Privat- oder Kollektivbesitz<br />
<strong>über</strong>gegangen. Nach den Angaben des aserbaidschanischen <strong>Landwirtschaft</strong>sministeriums<br />
sind bereits <strong>über</strong> eine Mio. Menschen in den Besitz von landwirtschaftlichen<br />
Nutzflächen gekommen und die Anzahl der Bauernhöfe mit einer durchschnittlichen Flächenausstattung<br />
von 1,5–2 ha ist auf 40 000 gestiegen. Die kleinen privaten Hauswirtschaften<br />
prägen die Betriebsstruktur. Sie bewirtschaften 19 % der landwirtschaftlichen<br />
Nutzfläche und bauen vorwiegend Obst, Gemüse, Kartoffeln an und erzeugen Milch zur<br />
Selbstversorgung. Überschüsse werden auf dem lokalen Markt verkauft. Allerdings entstanden<br />
auch große Agrarbetriebe, die inzwischen 100 000 ha bewirtschaften.<br />
Nach dem Ende der UdSSR hatte Aserbaidschan seinen Marktanteil in den GUS-<br />
Staaten größtenteils verloren und geriet deshalb in Produktionsschwierigkeiten. Die landwirtschaftliche<br />
Produktivität ging in den Jahren 1990–1995 um 48 % zurück, so auch<br />
der Anteil der <strong>Landwirtschaft</strong> am Bruttoinlandsprodukt in den Jahren 1993–2005 (vgl.<br />
Tab. 2). Dieser Rückgang konnte jedoch durch die <strong>Landwirtschaft</strong>sreformen gestoppt werden.<br />
Die Reformen führten ab 1996 wieder zu einer Steigerung der landwirtschaftlichen<br />
Produktivität.<br />
Durch die Privatisierung der <strong>Landwirtschaft</strong> werden heute 99,8 % der Agrarprodukte<br />
von der Privatwirtschaft hergestellt. Um die Produktivität der <strong>Landwirtschaft</strong> weiter anzukurbeln,<br />
hat das aserbaidschanische <strong>Landwirtschaft</strong>sministerium eine neue Politik nach<br />
den Empfehlungen der Weltbank, Islamischen Fortschrittsbank und Europäischen Bank<br />
<strong>für</strong> Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) sowie anderen internationalen Finanzinstitutionen<br />
in Angriff genommen. Einige landwirtschaftliche Erzeugnisse, deren Produktion<br />
während des Sowjetregimes eingeschränkt worden war, wurden nun wieder verstärkt<br />
angebaut. So sind die Anbauflächen <strong>für</strong> Getreide, Hülsenfrüchte, Gemüse, Kartoffeln und<br />
Wassermelonen in den vergangenen zehn Jahren stark erweitert worden und die Ernteerträge<br />
stiegen dementsprechend. Im Jahr 2009 wurde beispielsweise im Vergleich zu 1995<br />
die 2,7-fache Menge Weizen geerntet. Gleichzeitig ist die Gemüseproduktion fast um das<br />
Dreifache erhöht worden. Bei Rüben, Kartoffeln und Wassermelonen gab es Ertragssteigerungen<br />
um das 6,9-, 6,8- beziehungsweise das 9,7-Fache. Gleichzeitig konnte die Qualität<br />
Buel_3_11.indb 499 17.11.2011 08:13:29
500 Elman Muradov<br />
der landwirtschaftlichen Erzeugnisse erhöht und die Produktivität des Sektors gesteigert<br />
werden. Bei Getreide und Hülsenfrüchten ist eine Steigerung um das 1,7-Fache, bei Kartoffeln<br />
um das 1,4-Fache erzielt worden und im Obstanbau wurde die Produktivität sogar<br />
mehr als verdoppelt. Auch die Verbesserung der Exportmöglichkeiten <strong>für</strong> Agrarprodukte<br />
und weiter verarbeitete Erzeugnisse trugen zur Produktionssteigerung im Agrarsektor und<br />
zur Erhöhung der Qualität bei. Im Vergleich zu 2003 stieg die Agrarproduktion im Jahr<br />
2009 um das 3,5-Fache (1).<br />
2 Erzeugung ausgewählter pflanzlicher Produkte<br />
Weintrauben: Bis 1985 war der Weintraubenanbau einer der am Weitesten entwickelten<br />
Agrarbereiche in Aserbaidschan. Zu dieser Zeit waren der Weinanbau (zur Fruchtversorgung<br />
der Bevölkerung) und die Weinherstellung einer der wichtigsten und ertragreichsten<br />
<strong>Landwirtschaft</strong>ssektoren. Während der Sowjetzeit (bis 1990) gab es 275 000 ha Weinanbaufläche<br />
im Land. Damit produzierte Aserbaidschan pro Jahr bis zu 2 Mio. t Weintrauben.<br />
Während der Gorbatschow-Periode wurde dem Alkoholismus der Kampf angesagt, weshalb<br />
in Aserbaidschan 150 000 ha der Weinanbaufläche stillgelegt wurden (14). Nach dem<br />
Untergang der Sowjetunion wurden die Weinanbauflächen umgenutzt; auf diesen Flächen<br />
wurde zusätzlich Getreide angebaut. Während der Zeit der UdSSR war die Agrarwirtschaft<br />
Aserbaidschans von großer Bedeutung. Doch durch die instabile politische Lage nach dem<br />
Niedergang der Sowjetunion und die Besetzung der Berg-Karabach-Region durch Armenien<br />
im Jahr 1993 gingen 20 % der Agrarflächen verloren und damit bedeutende Anbauflächen<br />
<strong>für</strong> Gemüse, Obst und Wein. Da sich mit dem Verkauf von Weintrauben bzw. von<br />
Wein nicht viel Geld verdienen lässt, ist das Interesse an der Weinproduktion erloschen.<br />
So sind heute in Aserbaidschan nur noch 7700 ha Weinanbaufläche vorhanden. Damit der<br />
Weinanbau wieder attraktiver wird, wurde dieser in das staatliche Förderprogramm einbezogen.<br />
Inzwischen konnte der Weinbau u. a. in den Regionen Celilabad, Tovuz, Schamkir,<br />
Agstafa, Kazakh, Schamakhi und Samukh wiederbelebt werden.<br />
Haselnüsse: Von den in Aserbaidschan erzeugten Agrarprodukten ist unter anderem die<br />
Haselnuss besonders hervorzuheben. Die Anbauflächen <strong>für</strong> Nüsse und Haselnüsse umfassen<br />
<strong>über</strong> 27 000 ha. Jedes Jahr werden in Aserbaidschan weitere 410 bis 580 ha <strong>für</strong> die<br />
Nuss- und Haselnussproduktion erschlossen. Wirtschaftlich bedeutsam ist der Nussanbau<br />
in der Zagatala-Region. Nüsse und Haselnüsse werden aber auch in der Nähe von Baku<br />
sowie in Guba und Khacmaz angebaut. Die Nuss- und Haselnussernte deckt die Binnennachfrage.<br />
Dar<strong>über</strong> hinaus werden rund 7000 bis 10 000 t exportiert; 65 % der Ernte in die<br />
EU. Aserbaidschan belegt hinsichtlich der Produktionsmenge von Haselnüssen weltweit<br />
den 5. Platz (6). Die ersten drei Plätze gehen an die Türkei, Italien und Spanien. 3 % der<br />
weltweiten Haselnussproduktion entfällt auf Aserbaidschan.<br />
Zuckerrüben: Vor dem Sowjetregime war der Zuckerrübenanbau in Aserbaidschan<br />
weit verbreitet. Da jedoch die Ukraine im großen Stil Zuckerrüben anbaute und damit<br />
den gesamten Markt der UdSSR belieferte, wurde der Zuckerrübenanbau in Aserbaidschan<br />
so gut wie eingestellt. Inzwischen ist die Zuckerrübe wieder zu einem beliebten<br />
Anbauprodukt geworden. So steigerte Aserbaidschan seine Zuckerrübenproduktion sei<br />
2006 kontinuierlich (vgl. Tab. 3) . Die Zuckerrübe wird vorwiegend in den Regionen<br />
Nachitschewan, Beylagan, Sabirabad, Imischli und Salyan angebaut.<br />
Im Jahr 2003 hat die „Azersun Holding“ den Bau der ersten Zuckerfabrik in Aserbaidschan<br />
im Bezirk Imischli eingeleitet. 2006 konnte der Bau fertiggestellt werden. Heute<br />
werden in Imischli täglich rd. 1000 t Zucker produziert. Die Bezirksverwaltung hat <strong>für</strong><br />
den Zuckerrübenanbau 300 ha zur Verfügung gestellt. 70 % der <strong>für</strong> die Zuckerproduktion<br />
benötigten Rohstoffe werden derzeit in Imischli selbst produziert, die restlichen 30 %<br />
Buel_3_11.indb 500 17.11.2011 08:13:29
Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />
Tabelle 3. Zuckerrübeproduktion in Aserbaidschan<br />
Jahr Anbaufläche durchschnittlicher<br />
Ertrag/ha<br />
Gesamtproduktion<br />
ha in t in t<br />
2006 6 000 12 72 000<br />
2007 6 000 25 150 000<br />
2008 6 600 27,5 181 500<br />
2009 8 000 24 191 500<br />
2010<br />
Quelle: 19<br />
8 500 30 256 500<br />
501<br />
werden aus Brasilien importiert. Die inländische Zuckernachfrage beträgt 180 000 t pro<br />
Jahr. Der Produktions<strong>über</strong>schuss von rd. 140 000 t wird in die GUS-Länder exportiert.<br />
Schwarztee: In den 1930er-Jahren wurde im Land der Grundstein <strong>für</strong> die Produktion<br />
von Schwarztee gelegt, da in den Regionen Lenkeran-Astara ein optimales subtropisches<br />
Klima herrscht. Ende der 1960er-Jahre bzw. Anfang 1970er-Jahre erreichte die Produktion<br />
von Schwarztee ihren höchsten Stand (3). Nachdem Aserbaidschans Schwarzteeproduktion<br />
in den 1970er-Jahren bei ca. 34 000 t gelegen hatte, fiel die Produktion im Laufe<br />
der Zeit bis auf 400 t (s. Tab. 4). Der Grund <strong>für</strong> diesen enormen Rückgang lag an den<br />
fehlenden gut funktionierenden Verarbeitungs- und Fermentierungsfabriken <strong>für</strong> Tee in<br />
Aserbaidschan.<br />
Durch den Verkauf der Teefabriken an türkische Firmen wurden die notwendigen Voraussetzungen<br />
<strong>für</strong> die Verarbeitung von Tee schrittweise geschaffen; die Bauern begannen<br />
wieder Tee anzubauen. In diesen Fabriken wird Schwarztee aus Aserbaidschan, der Türkei<br />
und Indien gemischt und auf den Markt gebracht. Im Rahmen des Staatsprogramms <strong>für</strong><br />
den sozioökonomischen Fortschritt der Regionen ist vorgesehen, dass der Teeanbau und<br />
die -produktion um Lenkeran und Astara in den südlichen Teilen des Landes entwickelt<br />
und mit Subventionen gefördert wird. Dies ist notwendig, weil nach der Unabhängigkeit<br />
Aserbaidschans die Schwarzteeerzeugung wegen Vernachlässigung nicht mehr wettbewerbsfähig<br />
war. Allein in Lenkeran werden <strong>für</strong> den Teeanbau 1000 ha Fläche rekultiviert.<br />
Damit die Teefabriken um Lenkeran und Astara ihren Betrieb wieder aufnehmen konnten,<br />
wurde ihnen ausreichend Investitionsvermögen zu Verfügung gestellt. Dabei spielt <strong>für</strong> das<br />
Wachstum der Teeproduktion die „Azersun Holding“ eine sehr wichtige Rolle.<br />
Baumwolle: Aserbaidschan gehört zu den Ländern, in denen schon seit Jahrhunderten<br />
Baumwolle angebaut und verarbeitet wird. In den Jahrzehnten der Sowjetherrschaft wurde<br />
ein Großteil der Stickstoff-Düngemittel sowie Erntemaschinen samt ihrer Ersatzteile aus<br />
dem Ausland, wie z. B. Russland und Usbekistan importiert. Diese Importe waren nach<br />
dem Zusammenbruch der Sowjetunion jedoch nicht mehr leistbar, sodass die Baumwollproduktion<br />
stark zurückging.<br />
Die potenzielle Baumwollproduktion liegt jährlich bei 830 000 t. Obwohl zahlreiche<br />
Baumwollplantagen vorhanden sind, gibt es wenige Verarbeitungsstätten. So werden 70 %<br />
der Baumwollernte als Rohstoff, exportiert. Bei der Baumwollproduktion gibt es verschiedene<br />
Probleme. Beispielsweise wird die Baumwolle bis zu 35 % in Handarbeit auf den<br />
Feldern gepflückt. Außerdem kann der Parasitenbefall nicht ausreichend unter Kontrolle<br />
gehalten werden, wie es bei fast allen Monokulturen weltweit vorkommt. Dieselben Probleme<br />
gibt es auch bei der Schwarztee- und bei der Tabakproduktion.<br />
Buel_3_11.indb 501 17.11.2011 08:13:29
502 Elman Muradov<br />
Tabak: Aserbaidschan ist ein traditionelles Tabakanbauland. Während der Sowjetära<br />
wurden jährlich 45 000 bis 65 000 t Tabak produziert, wovon 35 000 bis 40 000 Tonnen<br />
exportiert wurden (3). Die Produktion von Tabak verringerte sich bis zum Jahr 2009 auf<br />
2500 t und steigt danach nur sehr langsam an (s. Tab. 4). Innerhalb des Landes wird die<br />
Tabakwirtschaft hauptsächlich in der Region Scheki-Zagatala betrieben. Aserbaidschan<br />
kann dieses Produkt aufgrund der hohen Binnennachfrage bisher jedoch nicht ins Ausland<br />
exportieren. Hierzu müssten rd. 20 000–25 000 t Tabak im Land hergestellt werden.<br />
Die Binnennachfrage beläuft sich auf 10 Mrd. Zigaretten jährlich. Aserbaidschan kann<br />
hingegen nur 2600 t Tabak pro Jahr (in 2009) erzeugen – eine Menge die lediglich 30 %<br />
der Binnennachfrage deckt. 70 % der Nachfrage nach Tabak müssen aus Importen gedeckt<br />
werden.<br />
Es gibt zzt. sechs Tabakfermentierungsfabriken, die <strong>über</strong> eine Outputkapazität von<br />
48 000 t verfügen. Da die Tabakblattqualität der aserbaidschanischen Ernte jedoch als<br />
minderwertig eingestuft wird, führen die inländischen Zigarettenproduzenten den gesamten<br />
Rohstoff aus dem Ausland ein.<br />
Kartoffeln: Die Anbaufläche <strong>für</strong> Kartoffeln stark ausgeweitet, so dass die Produktion<br />
bis zum Jahr 2009 gegen<strong>über</strong> 1990 um das 5,3-Fache gesteigert werden konnte. Als Ausfuhrländer<br />
sind insbesondere Russland und andere Nachbarstaaten zu nennen.<br />
Oliven: Bei der Olivenproduktion besteht das Problem, dass das Ernten und die Weiterverarbeitung<br />
der Frucht nicht auf einem zufriedenstellenden Niveau betrieben wird. Es<br />
ist jedoch zu erwarten, dass der inländische Olivenölbedarf gedeckt werden kann, sobald<br />
Tabelle 4. <strong>Landwirtschaft</strong>liche Produktion (in 1000 t)<br />
Jahr Getreide Baum- Tabak Wein- Tee ZuckerKartof- Gemüse Obst<br />
wolletraubenrübenfeln<br />
1990 1 413,6 542,9 52,9 1 196,4 30,7 - 185,2 856,2 367,4<br />
1991 1 346,4 539,7 57,3 1 125,6 26,6 - 179,9 805,3 498,3<br />
1992 1 337,2 336,3 52,3 607,0 22,6 19,8 156,0 555,1 400,9<br />
1993 1 147,9 284,5 44,9 411,3 24,0 11,6 152,2 487,8 346,4<br />
1994 1 039,2 283,7 20,8 313,8 19,4 17,8 150,3 482,9 323,5<br />
1995 921,4 274,1 11,7 308,7 9,4 28,1 155,5 424,1 324,4<br />
1996 1 018,3 274,4 11,2 275,0 3,0 40,1 214,6 570,0 321,2<br />
1997 1 127,1 124,6 15,1 145,3 1,6 33,7 223,4 495,4 330,9<br />
1998 950,3 112,9 14,6 144,2 0,9 41,4 312,5 502,3 390,6<br />
1999 1 098,3 96,8 8,6 112,5 2,7 42,2 394,1 670,8 436,5<br />
2000 1 540,2 91,5 17,3 76,9 1,1 46,7 469,0 780,8 477,0<br />
2001 2 016,1 83,6 12,7 68,1 1,4 41,3 605,8 916,4 497,5<br />
2002 2 195,7 80,4 3,3 62,1 1,4 115,8 694,9 974,6 516,8<br />
2003 2 057,8 99,6 4,7 65,0 0,9 84,6 769,0 1 046,3 572,1<br />
2004 2 158,2 135,7 6,5 54,9 1,0 156,8 930,4 1 076,2 420,4<br />
2005 2 126,9 196,4 7,1 79,7 0,7 186,5 1 083,1 1 126,6 625,1<br />
2006 2 078,3 130,1 4,8 94,1 0,6 169,3 999,3 1 185,8 661,4<br />
2007 2 004,4 98,9 2,9 103,4 0,4 141,9 1 037,3 1 227,3 417,6<br />
2008 2 498,3 55,4 2,5 115,2 0,3 190,7 1 077,1 1 228,3 407,7<br />
2009 2 988,3 30,9 2,6 128,4 0,4 182,3 983 1 177,9 410,8<br />
Quelle: 19<br />
Buel_3_11.indb 502 17.11.2011 08:13:29
Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />
503<br />
gut ausgestattete Betriebe <strong>für</strong> die Ernte und das Verwerten entstehen. Zusätzlich müsste<br />
verhindert werden, dass Olivenbaum-Plantagen weiterhin geschädigt oder gar gerodet<br />
werden.<br />
In den Regionen von Kobustan, Sirvan, Mugan und Abscheron sind einige Gebiete <strong>für</strong><br />
Olivehaine geeignet. Für die kommenden 10 bis 15 Jahre hat Aserbaidschan das Potenzial,<br />
die Olivenproduktion weiter zu entwickeln. Im Rahmen des „Staatlichen Programms <strong>über</strong><br />
die zuverlässige Lebensmittelversorgung der Republik Aserbaidschan 2008–2015“ ist eine<br />
neue Olivenanbaufläche von 50 ha vorgesehen.<br />
Das größte Problem der Olivenbauern und -produzenten besteht darin, dass es kaum<br />
verfügbares Kapital gibt. So versucht das <strong>Landwirtschaft</strong>sministerium, in jeder Region<br />
Kreditvereine zu gründen. Nur so können die in der <strong>Landwirtschaft</strong> nötigen Einkäufe<br />
gedeckt werden.<br />
2.1 Entwicklungspotenziale<br />
Im Rahmen des regionalen Entwicklungsprogramms (2009–2013) werden speziell <strong>für</strong><br />
Bauern angepasste Kredite gewährt, mit denen die Einführung des technischen Fortschritts<br />
in der <strong>Landwirtschaft</strong> unterstützt wird. 2010 wurden 1303 Investitionsprojekte <strong>für</strong> die<br />
<strong>Landwirtschaft</strong>sproduktion in Höhe von 55,6 Mio. AZN (Aserbaidschan-Manat), ca. 69,5<br />
Mio. US $ und 43 Investitionsprojekte <strong>für</strong> die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte<br />
in Höhe von 15,8 Mio. AZN, rd. 19,7 Mio. US $ finanziert (22).<br />
Die <strong>Landwirtschaft</strong> Aserbaidschans verfügt <strong>über</strong> enorme Entwicklungsmöglichkeiten,<br />
sofern in die gegenwärtigen Probleme bewältigen werden. Die Klimaverhältnisse und der<br />
Boden sind <strong>für</strong> die Erzeugung von hochwertigen Agrarprodukten gut geeignet. Sobald die<br />
noch spürbare Übergangsphase bewältigt ist, wird auch die Produktivität steigen. Wenn<br />
zusätzlich noch der Bedarf an Getreide, Dünge- Pflanzenschutzmitteln, und technische<br />
Ausrüstung gedeckt und die Marktfähigkeit der Erzeugnisse erreicht wird, ist im Agrarsektor<br />
ein großer Fortschritt zu erwarten. Obwohl fast 40 % der Bevölkerung in der<br />
<strong>Landwirtschaft</strong> tätig sind, sinkt der Beitrag zum BIP (vgl. Tab. 2).<br />
Während das durchschnittliche monatliche Einkommen eines Arbeiter bei 372 US $<br />
liegt, ein Produktionsmitarbeiter in der Industrie 667 US $ und ein Bauarbeiter 453 US $<br />
verdient, erhält ein Beschäftigter in der <strong>Landwirtschaft</strong> nur 67 US $. Das Einkommen<br />
eines Bauern/Landarbeiters liegt somit bei nur etwa 18 % eines Arbeiters, rd. 15 % eines<br />
Bauarbeiters und rd. 10 % eines Produktionsmitarbeiters. Der durchschnittliche Gewinn<br />
eines kleinen landwirtschaftlichen Betriebs beträgt nur rund 120 AZN (150 US $ ) monatlich.<br />
Ein in der <strong>Landwirtschaft</strong> beschäftigter Aserbaidschaner kann kaum seine eigene<br />
Familie ernähren, während ein deutscher Landwirt 133 Personen ernähren kann (13).<br />
Nachdem der Beitrag des Agrarsektors zur Gesamtwirtschaft abnimmt, zugleich jedoch<br />
noch immer den größten Anteil an Beschäftigten innehat, sind verschiedene Reformen<br />
angestoßen worden. So wird die Infrastruktur <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> verbessert und<br />
Forschungs- und Bildungsaktivitäten sowie privatwirtschaftliche Investitionen werden<br />
gefördert. Daneben werden die Bauern mit Maschinen und Ausrüstung unterstützt. Die<br />
aserbaidschanische Regierung stellt jährlich 100 Mio. US $ <strong>für</strong> die Förderung der privaten<br />
<strong>Landwirtschaft</strong> bereit. 50 % der landwirtschaftlichen Betriebsmittel wie Benzin,<br />
Schmiermittel und Dünger werden von der Regierung subventioniert. Weizenproduzenten<br />
erhalten 49 US $ pro ha. Das <strong>Landwirtschaft</strong>sministerium wurde neu strukturiert, damit<br />
eine bessere und effektivere Politik betrieben werden kann.<br />
Der konjunkturelle Aufschwung, den 1996 die Industrie erfuhr, erreichte die <strong>Landwirtschaft</strong><br />
erst 1998. Hier setzte sich der Aufwärtstrend jedoch bis zum Jahr 2010 fort. Diese<br />
positive Entwicklung ist zum Teil auch den internationalen Investitionen geschuldet.<br />
Buel_3_11.indb 503 17.11.2011 08:13:29
504 Elman Muradov<br />
Um die ökonomische Unabhängigkeit und das Vertrauen im Lande zu festigen, ist der<br />
Agrarsektor von größter Bedeutung, weshalb dieser Bereich seit 2001 – mit Ausnahme<br />
der Bodensteuer – von jeglichen Abgaben befreit ist. Diese Befreiung ist auch Bestandteil<br />
des regionalen Staatsprogramms <strong>für</strong> den Zeitraum von 2009–2013.<br />
Die neu entstandenen <strong>Landwirtschaft</strong>sbetriebe produzieren vermehrt Erzeugnisse in<br />
verbesserter Qualität und im größeren Umfang. Dies ermöglicht Arbeitsplätze in neuen<br />
und modernen Verarbeitungstrieben und auch im Dienstleistungssektor zu schaffen. Das<br />
Ministerium <strong>für</strong> <strong>Landwirtschaft</strong> wird dabei durch eine moderne Gesetzgebung unterstützt,<br />
die die politischen Rahmenbedingungen auch <strong>für</strong> Familienbetriebe und die Exportmöglichkeiten<br />
<strong>für</strong> landwirtschaftliche Produkte verbessern soll. Bäuerliche Familienbetriebe<br />
werden durch verschiedene Beratungsmaßnahmen und kleine Investitionszuschüsse unterstützt,<br />
um so das Bewusstsein da<strong>für</strong> zu stärken, dass auch Kleinbetriebe bei entsprechender<br />
Unterstützung ein ausreichendes Einkommen erzielen können und gute Entwicklungschancen<br />
haben.<br />
Die Strategie <strong>für</strong> die Entwicklung der <strong>Landwirtschaft</strong> ist unter anderem im „Staatlichen<br />
Programm <strong>über</strong> die zuverlässige Lebensmittelversorgung der Republik Aserbaidschan<br />
2008–2015“ sowie im „Staatlichen Programm zur sozioökonomischen Entwicklung der<br />
Rayons der Republik Aserbaidschan 2009–2013“ abgefasst. Demnach liegt der Fokus der<br />
Programme auf die Produktion von Nutzpflanzen (Weizen, Gemüse, Baumwolle, Wein,<br />
Tee, Obst, Tabak etc.), die Entwicklung und Ausweitung der Schaf-, Ziegen- und Geflügelzucht<br />
sowie die Steigerung der Produktion und Verbesserung der Qualität von Milcherzeugnissen.<br />
Die Flurbereinigung und Förderung von größeren landwirtschaftlichen<br />
Betrieben durch staatliche Fonds werden in den Programmen als wichtige Instrumente<br />
<strong>für</strong> die Steigerung der Effizienz der landwirtschaftlichen Produktion hervorgehoben. Die<br />
Betriebe sollen u. a. auch mit ausreichend hochwertigen Saatgut beliefert werden, um die<br />
kontinuierliche Brotversorgung der Menschen in Aserbaidschan zu verbessern.<br />
Die Auswirkungen der Reformen sind bereits spürbar. Dennoch ist festzuhalten, dass<br />
Aserbaidschan bisher nur 80–85 % des <strong>für</strong> den Eigenbedarf benötigten Getreides selbst<br />
produziert und den Rest importiert. Dennoch konnte Aserbaidschan im Jahr 2002 zum<br />
ersten Mal Weizen (640 000 t) exportieren (23). Obst und Gemüse werden im größeren<br />
Umfang exportiert.<br />
Die Produktivität der aserbaidschanischen Agrarproduktion ist durch die Reformen in<br />
den letzten Jahren stetig gestiegen ist. Bei einem Vergleich der erzeugten Agrargüter im<br />
Jahr 2009 mit dem Jahr 1995 ist zu beobachten, dass mengenmäßig ein bemerkenswerter<br />
prozentualer Zuwachs erreicht wurde. Die Produktion von Zuckerrüben ist bspw. um das<br />
7,7-Fache, die Produktion von Gartenpflanzen um das 10,3-Fache und die Produktion von<br />
Kartoffeln um das 6,1-Fache gewachsen (vgl. Tab. 4). 2010 hat die Nutzpflanzen- und<br />
Obstproduktion im Vergleich zu 1995 um das 2,8- bzw. 2,2-Fache zugenommen. Seit<br />
1996 wurde die Qualität der landwirtschaftlichen Erzeugnisse ständig verbessert und das<br />
Produktionsvolumen stetig erhöht. Aktuell ist der Anstieg in der Weizenproduktion von<br />
besonderer Bedeutung. So wurden im Jahre 2010 656 500 Hektar (rd. 41 % des gesamten<br />
Saatfläche, vgl. Tab. 1) <strong>für</strong> den Weizenanbau genutzt (9).<br />
3 Schwachstellen und Problembereiche sowie Reformaktivitäten im<br />
<strong>Landwirtschaft</strong>ssektor<br />
Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, die bisherige Entwicklung des Agrarsektors in Aserbaidschan<br />
zu analysieren und deren Schwachstellen und Problembereiche zu identifizieren.<br />
Des Weiteren sollen passende Verbesserungsvorschläge sowie Entwicklungsstrategien<br />
zur Optimierung der Produktionsmöglichkeiten herausgearbeitet werden.<br />
Buel_3_11.indb 504 17.11.2011 08:13:29
Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />
505<br />
Nahezu der gesamte Viehbestand des Landes wurde bis zum Jahr 1996 an die Privatwirtschaft<br />
verteilt (99,8 % des Großviehs und 98 % des Kleinviehs). Der Rest wurde <strong>für</strong><br />
die Zucht einbehalten.<br />
Nach der Unabhängigkeit war die Großviehhaltung sehr lukrativ. Derzeit ist die Viehwirtschaft<br />
so weit entwickelt, dass die Inlandsnachfrage weitgehend gedeckt werden<br />
kann, obwohl der Markt bis einschließlich 1998 sehr instabil war. Bei dem Vergleich<br />
des Zeitraums von der Sowjetära bis zu dem Jahr 1998 ist zu erkennen, dass die Fleisch-<br />
und Milchwarenerzeugung wesentlich gestiegen ist (Tab. 5). Die Erzeugung erfolgt zum<br />
größten Teil von privaten Bauern. Seit 1998 steigt die Großtierhaltung stetig. Außerdem<br />
wurde die Qualität der Milchprodukte laufend verbessert. So produzieren aserbaidschanische<br />
Firmen mehr als 15 verschiedene Milchprodukte (z. B. Joghurt, Käsesorten, Sahne,<br />
Butter, usw.).<br />
Tabelle 5 zeigt die Entwicklung der Erzeugung von ausgewählten Produkten der Tierproduktion<br />
in Aserbaidschan. Danach hat sich im dargestellten Zeitraum der Viehbestand<br />
vom Umfang her beachtlich entwickelt. Die Agrarreformen haben auch die Entwicklung<br />
der Nutztierhaltung positiv beeinflusst, d. h. einen Produktionswandel in der Viehwirtschaft<br />
herbeigeführt. So betrug die Zahl der Rinder im Jahr 2010 2 637 400. Sie ist damit<br />
um das 1,6-Fache gegen<strong>über</strong> 1995 gestiegen. Die Anzahl der Schafe und Ziegen ist im<br />
Tabelle 5. Entwicklung der Erzeugung von Produkten der Tierproduktion<br />
Jahr Fleisch Milch Eier<br />
(in 1 000 t) (in 1 000 t) (in Mio. Stück)<br />
1190 175,5 970,4 985,3<br />
1991 153,5 947,7 958,2<br />
1992 112,7 850,4 812,2<br />
1993 92,5 798,5 584,5<br />
1994 84,4 783,7 494,0<br />
1995 82,0 826,5 455,8<br />
1996 85,7 843,3 477,3<br />
1997 90,5 881,5 492,4<br />
1998 99,9 946,5 509,0<br />
1999 104,6 993,4 526,3<br />
2000 108,7 1 031,1 542,6<br />
2001 114,1 1 073,7 555,5<br />
2002 124,6 1 119,9 561,6<br />
2003 134,4 1 167,8 670,6<br />
2004 154,5 1 167,8 670,6<br />
2005 262,8 1 251,9 874,6<br />
2006 273,6 1 299,5 760,9<br />
2007 293,9 1 201,3 979,3<br />
2008 302,8 1 381,6 1 008,7<br />
2009<br />
Quelle: 19<br />
305,1 1 433,1 1 209,4<br />
Buel_3_11.indb 505 17.11.2011 08:13:30
506 Elman Muradov<br />
selben Zeitraum um das 1,8-Fache angewachsen und beträgt nunmehr 8 463 100. Neben<br />
dem zahlenmäßigen Anstieg sind auch Output und Produktivität in der Viehzucht verbessert<br />
worden. Bis 2010 stieg im Vergleich zu 1995 die Produktion von Fleischerzeugnissen<br />
um das 2,9-Fache, Wolle um das 1,7-Fache und Eier um das 2,6-Fache gestiegen<br />
(24). Aserbaidschan führt kein Rotfleisch ein, da<strong>für</strong> aber Hühnerfleisch. Importiert werden<br />
24 % des Fleischgutes und insgesamt und 35 % der Eier, die im Lande konsumiert werden.<br />
Die Entwicklung der Fleischproduktion war bis zum Jahr 1995 negativ, was auch <strong>für</strong> die<br />
Produktion von Eiern zutraf. Hauptursachen dieser Verringerung waren:<br />
● Der Abbau der planwirtschaftlichen Lenkung ohne gleichzeitigen Aufbau marktwirtschaftlicher<br />
Institutionen,<br />
● der Abbruch von Lieferbeziehungen zwischen den Betrieben innerhalb der aus der<br />
ehemaligen UdSSR hervorgegangenen Staaten sowie im zwischenstaatlichen Handel,<br />
● hoher Importdruck durch Wegfall der außenwirtschaftlichen Abschottung,<br />
● der immer deutlicher werdende Rentabilitätsmangel von breiten Teilen der Produktion<br />
beim Übergang zu Weltmarktpreisen.<br />
Ab 1996 kam es wieder zu einer positiven Entwicklung bei der Erzeugung dieser Produkte.<br />
Bei Milchprodukten ist zu erkennen, dass nach 1997 bereits eine Wachstumsphase eintrat.<br />
Zwischen 1997–2009 nahm die produzierte Menge stetig zu und 1999 wurde bereits das<br />
Niveau von 1990 <strong>über</strong>schritten. Wachstumsmotor waren die 1995 durchgeführten Agrarreformen,<br />
die 1996 eingeführten Einfuhrzölle <strong>für</strong> Lebensmittelprodukte und die Regelung,<br />
dass es keine Erwerbsmöglichkeiten in ländlichen Räumen ohne <strong>Landwirtschaft</strong> gibt.<br />
3.1 Probleme im <strong>Landwirtschaft</strong>ssektor<br />
Obwohl die Klimabedingungen <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> günstig sind und eine ganzjährige<br />
Bewirtschaftung ermöglichen, sind nur 53,1 % des Bodens <strong>für</strong> die Agrarwirtschaft geeignet.<br />
Die Analysen zeigen, dass von Jahr zu Jahr immer weniger Ackerfläche zur Verfügung<br />
steht – derzeit 0,20 ha pro Kopf. In manchen Regionen wie Lenkeran, Astara, Abseran und<br />
der Autonomen Republik Nahcivan stehen pro Kopf gar nur 0,04–0,12 ha zur Verfügung.<br />
Da sich der Großteil der <strong>für</strong> Ackerbau geeigneten Böden in einer kontinental-trockenen<br />
Zone befindet, ist es schwierig, wettbewerbsfähige Güter herzustellen, ohne Bewässerungssysteme<br />
zu errichten. Zur Erfüllung der agrarpolitischen Ziele einer entwickelten<br />
<strong>Landwirtschaft</strong> werden moderne Bewässerungs- und Drainagetechniken benötigt.<br />
Moderne Bewässerungsverfahren werden in Aserbaidschan zurzeit noch nicht verwendet,<br />
sodass der Salzgehalt im Boden stetig steigt. Hinzu kommt die Erosion des Bodens. Dies<br />
trifft besonders <strong>für</strong> die Tiefebene zum Kaspischen Meer sowie <strong>für</strong> das Gebiet zwischen<br />
Kür und Araz zu, wo der Boden immer salzhaltiger wird bzw. unter Wasser und demzufolge<br />
landwirtschaftlich nicht mehr genutzt werden kann.<br />
Obwohl in Aserbaidschan eine Fläche von 3,2 Mio. ha bewässert werden kann, werden<br />
gegenwärtig lediglich 1,45 Mio. ha bewässert. Da der Meeresspiegel des Kaspischen<br />
Meeres im Steigen begriffen ist (er stieg allein im Jahr 2004 um 8 cm), wurden von<br />
den 1,45 Mio. ha bewässerter Flächen 47 % unterschiedlich stark geschädigt. 385 000 ha<br />
(26,5 %) sind so stark geschädigt, dass eine Rekultivierung unmöglich ist. Und es ist<br />
damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren weitere Ackerflächen durch das Ansteigen<br />
des Meeresspiegels unbrauchbar werden. Ein weiteres Problem stellt die fortschreitende<br />
Versalzung der Böden dar. Aktuell sind davon 115 000 ha bedroht. Der jährliche Schaden<br />
durch Versalzung wird mit 3 Mio. US $ beziffert. Aufgrund der aufgezeigten Probleme<br />
liegen 150 000 ha Tabak- und Baumwollplantagen sowie 170 000 ha Weinplantagen brach<br />
(23).<br />
Ein wesentliches Problem der aserbaidschanischen <strong>Landwirtschaft</strong> besteht darin, dass<br />
ihre technische Infrastruktur in den letzten Jahren geschwächt wurde. Zahlreiche Land-<br />
Buel_3_11.indb 506 17.11.2011 08:13:30
Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />
507<br />
maschinen sind inzwischen stark veraltet. Ersatzteile sind schwierig zu beschaffen, sodass<br />
die Landtechnik nicht mehr ausreichend gewartet und instand gesetzt werden kann. Ein<br />
Umstand, der sich negativ auf die Ernte auswirkt. Wie bereits beschrieben, ist Aserbaidschan<br />
<strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong> besonders geeignet. Der Mangel an modernen Landmaschinen<br />
und andere Technik, eine mangelhafte Verwaltung sowie die die unzureichende<br />
Verwendung von Qualitätssaatgut, Dünge- und Pflanzenschutzmittel (der Bedarf an Düngemittel<br />
wird etwa nur zu 4–5 % gedeckt) führen dazu, dass die Potenziale des Landes<br />
nicht ausreichend genutzt werden können.<br />
Um die <strong>Landwirtschaft</strong> weiter zu stärken, ist es notwendig, den Bauern finanzielle<br />
Unterstützung zu gewähren und bei Erzeugung und Verkauf der Produkte behilflich sein.<br />
Dabei muss auf die weltweit bereits angewandten Problemlösungsverfahren zurückgegriffen<br />
werden (5). Ziel dieser Problemlösungsverfahren sollte es sein, kleine und mittlere<br />
landwirtschaftliche Betriebe dabei zu unterstützen, ihre Marktchancen zu verbessern und<br />
die Wertschöpfung im ländlichen Raum zu steigern.<br />
3.2 Reformaktivitäten in der <strong>Landwirtschaft</strong><br />
Im Rahmen der aserbaidschanischen <strong>Landwirtschaft</strong>sreformen wurden u. a. folgende<br />
Maßnahmen durchgesetzt:<br />
● Die Landreform, d. h. die Schließung der Kolchosen und Sowchosen,<br />
● kostenlose Verteilung des Bodens an die Dorfbewohner,<br />
● Liberalisierung der Preise und<br />
● Privatisierung der Betriebe, die die Produkte der <strong>Landwirtschaft</strong> verarbeiten.<br />
Ferner wurden Maßnahmen beschlossen, die den Fortschritt in der <strong>Landwirtschaft</strong><br />
beschleunigen.<br />
Dazu gehört, dass von Jahr zu Jahr ein immer größerer Anteil des Staatsbudgets <strong>für</strong><br />
die Entwicklung der Land- und Viehwirtschaft zur Verfügung gestellt wird. Diese zunehmende<br />
Unterstützung hat den positiven Effekt, dass sich der Sektor schneller erholt (1).<br />
So betrug der Anteil des <strong>Landwirtschaft</strong>sbudgets am Staatshaushalt im Jahre 2006 3,4 %<br />
und im Jahre 2011 3,5 %.<br />
Um aus den verfügbaren natürlichen Ressourcen des Bodens effektiven und langfristigen<br />
Nutzen zu ziehen, werden folgende Maßnahmen umgesetzt:<br />
a) die Verbesserung der Bewirtschaftung sowie der Qualität der Agrarflächen und<br />
b) die Verminderung der Erzeugungs- und Produktionskosten.<br />
Die Bereitstellung und der Einsatz moderner Agrartechnik soll vor allem die hohe Arbeitsbelastung<br />
der Landwirte verringern und die Produktionskosten senken. Laut Beschluß<br />
des Ministerkabinetts ist deshalb der Import von Agrartechnik von Einfuhrzöllen befreit<br />
(8).<br />
Um die Effizienz der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte zu verbessern, werden<br />
auf dem Land Bauernverbände gegründet, und ein situationsspezifischer Beratungsservice<br />
vor Ort angeboten. Auch Mikrokreditsysteme werden organisiert und funktionsfähig<br />
gemacht damit die Kanalisations-, Bewässerungs- und Drainagesysteme modernisiert<br />
werden können. Dies alles wurde und soll mit verschiedenen Programmen und Projekten<br />
verwirklicht werden.<br />
Das „Projekt <strong>für</strong> die Privatisierung der Betriebe in sechs Regionen von Aserbaidschan“,<br />
das 1996 von der Regierung initiiert wurde, ist im Jahr 2003 erfolgreich beendet<br />
worden. Im Rahmen des Projekts wurden insgesamt 28,82 Mio. US $ <strong>für</strong> die Umwandlung<br />
der Betriebe verwendet. Die Weltbank und der Internationale <strong>Landwirtschaft</strong>sabwicklungsfonds<br />
(IFAD) waren die Kreditgeber des Projektes. Die Kredite wurden in 113<br />
Regionsdörfern des Projekts an private Bauern und die neu gegründeten Bauernverbände<br />
ausgereicht.<br />
Buel_3_11.indb 507 17.11.2011 08:13:30
508 Elman Muradov<br />
Vom Ministerrat Aserbaidschans wurde <strong>für</strong> den Zeitraum von 2002–2006 das Programm<br />
<strong>für</strong> „den Fortschritt des <strong>Landwirtschaft</strong>sektors in Aserbaidschan“ (State Program<br />
of Development of Agrarian Sector in Azerbaijan) beschlossen, dessen erfolgreiche Ausführung<br />
einen dynamischen Fortschritt der Land- und Viehwirtschaft gewährleisten sollte<br />
(11). Ziel des Programms war die Förderung einer wettbewerbsfähigen <strong>Landwirtschaft</strong>,<br />
die Qualitätssteigerung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und die Verbesserung der<br />
Exportmöglichkeiten <strong>für</strong> landwirtschaftliche Produkte.<br />
Im August 2004 wurde zwischen der aserbaidschanischen Regierung und der Weltbank<br />
ein „Projekt <strong>für</strong> Agrarinvestitionen“ unterschrieben. Dieses Projekt ist <strong>für</strong> die Verbesserung<br />
der sozioökonomischen Situation der Landbevölkerung von wesentlicher Bedeutung.<br />
Das Projekt dient zur Initiierung und Finanzierung von Mikroprojekten in den Agrarbetrieben.<br />
Diese Mikroprojekte können mit bis zu max. 10 000 US $ gefördert werden.<br />
In den letzten Jahren wurden zusätzliche Finanzdienstleistungen <strong>für</strong> die <strong>Landwirtschaft</strong>sregionen<br />
geschaffen. So wurde die Errichtung von 78 Bankfilialen in den Regionen<br />
genehmigt. Gleichzeitig wurde <strong>für</strong> andere Institutionen in den ländlichen Regionen<br />
finanzielle Hilfestellung geleistet.<br />
Zur Verbesserung der Viehwirtschaft, wurde aus den Niederlanden das Verfahren der<br />
künstlichen Befruchtung mit den dazugehörigen Geräten und Anlagen eingeführt. Durch<br />
Impfungen des Viehs sowie Veredelung der Rassen sind der landesweite Viehbestand sowie<br />
die Produktivität der Viehwirtschaft in den letzten Jahren stabiler geworden. Parallel dazu<br />
hat der Verwaltungsapparat die Kontrolle <strong>über</strong> die staatlichen Laboratorien verbessert<br />
und die Quarantäne-Kontrolle an den Grenz<strong>über</strong>gängen verstärkt, um die Nahrungsmittelsicherheit<br />
zu gewährleisten und die gesunde <strong>Ernährung</strong> der Bevölkerung zu verbessern.<br />
Dennoch muss eingeschätzt werden, dass trotz der vielfältigen Unterstützungsmaßnahmen<br />
im Rahmen der Programme, die landwirtschaftlichen Betriebe noch immer nicht<br />
Ihre mögliche potenzielle Produktionskapazität erreicht haben. Gründe da<strong>für</strong> sind in der<br />
Hauptsache die mangelhaften Produktionsbedingungen und die ineffektive Nutzung der<br />
Produktionsmöglichkeiten.<br />
Im Staatsprogramm <strong>für</strong> die Jahre 2009–2013 wurden davon ausgehend <strong>für</strong> den Land-<br />
und Viehwirtschaftssektor folgende Ziele definiert (21):<br />
● Durch ausländisches Kapital sollen in allen Großstädten des Landes Großmärkte entstehen<br />
und daneben soll das ausländische Kapital <strong>für</strong> den Bau von Stickstoffdüngemittelfabriken<br />
genutzt werden.<br />
● Die Verbesserung der Standort-Attraktivität <strong>für</strong> ausländisches Kapital, um dringend<br />
benötigte <strong>Landwirtschaft</strong>smaschinen anzuschaffen und Ersatzteile herstellen zu können.<br />
● Die Heranziehung von Fremdkapital <strong>für</strong> die Errichtung der elf wichtigsten Bodenbewässerungssysteme<br />
bzw. deren Sanierung.<br />
● Der Aufbau von Produktionseinrichtungen <strong>für</strong> Kleinbauern in den Dörfern, damit die<br />
Kleinbetriebe mit der Erzeugung von Fleisch, Milch, Obst und Gemüse zur besseren<br />
Versorgung der Bevölkerung beitragen können.<br />
● Die Errichtung von Betrieben, <strong>für</strong> die Herstellung von Verpackungsmaterial (wie z. B.<br />
Flaschen, Plastik, Schachteln, u. a.) <strong>für</strong> die landwirtschaftliche Produkte verarbeitende<br />
Industrie.<br />
● Die Lenkung des ausländischen Kapitals auf den Bau von Zuckerfabriken, damit der<br />
Bedarf der Bevölkerung wie auch der Nahrungsmittelindustrie an Zucker gedeckt werden<br />
kann.<br />
● Die Erhöhung der Zahl der regionalen Bildungsanstalten und Forschungsinstitute <strong>für</strong><br />
die <strong>Landwirtschaft</strong>, der Produktionseinrichtungen <strong>für</strong> hochwertiges Saatgut und <strong>für</strong> die<br />
Bereitstellung genetisch hochwertiger Zuchttiere; die Modernisierung bzw. der Ausbau<br />
der Infrastruktur, sowie der technischen Produktion – auch durch entsprechende<br />
Buel_3_11.indb 508 17.11.2011 08:13:30
Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />
509<br />
Forschungsprojekte (Verbesserung der Saatgutbasis, Modernisierung der Infrastruktur<br />
im Bereich Tierzüchtung).<br />
● Erzielung von Fortschritten in der sozioökonomischen Situation der Regionen sowie<br />
der Sozialstruktur; wobei die Finanzierung der Renovierung und des Neubaus von<br />
Wohnungen und Stallungen mit eingeschlossen ist.<br />
● Die Neuanlage von Weinanbauflächen und die Errichtung von Weinfabriken.<br />
● Die Verbesserung der Infrastruktur <strong>für</strong> den Pflanzenschutz.<br />
● Die Förderung der Tiergesundheitseinrichtungen.<br />
● Die Gründung von agrartechnischen Stationen (Agroservices), wobei die Dienstleistungen<br />
auf eine Größenordnung von 500–700 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche zugeschnitten<br />
sein soll.<br />
● Die Gründung von Betrieben <strong>für</strong> die Erzeugung von Kartoffelstärke.<br />
● Die Lenkung von Auslandskapital an Futtermittelfabriken, um die Eier- und Geflügelfleischproduktion<br />
zu entwickeln.<br />
Mit dem „Land- und Viehwirtschaftsprogramms“ sollte grundsätzlich, eine positive Investitionsatmosphäre<br />
geschaffen werden.<br />
Um die Produktivität der <strong>Landwirtschaft</strong> zu erhöhen sowie die Betriebsanzahl in diesem<br />
Sektor zu steigern, wurden Erzeuger von <strong>Landwirtschaft</strong>sprodukten bis 2008 von<br />
jeglichen Steuern, mit Ausnahme der Grundsteuer, befreit.<br />
Die staatlichen Subventionen <strong>für</strong> den Agrarsektor und die Lebensmittel verarbeitende<br />
Industrie werden jährlich aufgestockt. In den Jahren 2007–2009 wurde den Weizen- und<br />
Reisproduzenten 205,8 Mio. AZN (247 Mio. US $ ) als Finanzhilfe <strong>für</strong> den Kauf von<br />
Kraft- und Schmierstoffen zur Verfügung gestellt. Einheimische Düngemittelproduzenten<br />
wurden mit 17 Mio. US $ unterstützt. Diese Summe entspricht 50 % ihres Absatzvolumens.<br />
Außerdem wurden in den Jahren 2007–2009 die privaten und staatlichen Saatgutunternehmen<br />
<strong>für</strong> den Verkauf von Saatweizen und Setzlingen mit 5,6 Mio. US $ subventioniert.<br />
Die staatliche Agroleasing AG stellte den Agrarproduzenten in den Jahren<br />
2007–2009 115,2 Mio. US $ <strong>für</strong> den Kauf von Mineraldünger und 1,8 Mio. US $ <strong>für</strong> den<br />
Kauf von Zuchttieren zur Verfügung.<br />
4 Probleme und Entwicklungspotenziale im Fischereisektor<br />
Die Bedeutung des Kaspischen Meeres <strong>für</strong> den Weltmarkt ist zum Teil auf die Fischerei<br />
zurückzuführen. Neben den Erdöl- und Erdgasreserven verfügt das Kaspische Meer <strong>über</strong><br />
hochwertige und reichlich vorhandene Fischarten. Die wertvollste Fischart ist der Stör<br />
von dem der Kaviar gewonnen wird. Am Kaspischen Meer wird der Stör am häufigsten<br />
des Kaviars wegen gefangen, der <strong>für</strong> die Fischer der Region eine wichtige Einnahmequelle<br />
darstellt. Die GUS-Staaten beziehen aus dem Kaspischen Meer ca. 55–56 % des<br />
frisch gefischten Fisches, 40–42 % aller zum Verzehr bearbeiteten Fische sowie 50 % aller<br />
Fischkonserven (8).<br />
Bis 1980 war das Kaspische Meer weltbekannt <strong>für</strong> seine reichen Fischgründe. Speziell<br />
der Kaviar des Störs machte 90 % des Exportes aus, den die UdSSR in den Westen<br />
exportierte. Vor 1980 wurden jährlich rd. 65 000 t Stör gefangen, während diese Menge<br />
bald auf ca. 25 000 t fiel. Im Jahr 1994 betrug die Fangmenge nur noch rd. 7000 t. An der<br />
Wolga waren vor 1980 rd. 120 000 Fischer mit dem Fang von Stör beschäftigt: Allmählich<br />
verringerte sich ihre Zahl auf etwa 2000 (12). Auch bei anderen Fischarten ging der Fang<br />
kontinuierlich zurück. Im aserbaidschanischen Teil des Kaspischen Meeres wurden noch<br />
bis 1992 jährlich etwa 550 t Mersin-Fisch gefangen. In den letzten Jahren verringerte sich<br />
die Fangmenge auf jährlich 90 t.<br />
Buel_3_11.indb 509 17.11.2011 08:13:30
510 Elman Muradov<br />
In den Jahren nach 1990 ist der Fangmenge dieser wichtigen Fischarten auch deshalb<br />
zurückgegangen, weil durch verbotene Fangmethoden massenweise Jungfische getötet<br />
wurden. Das ist auch ein wichtiger Grund da<strong>für</strong>, dass die Fangmengen von Jahr zu Jahr um<br />
10 % geringer wurden. Einer Veröffentlichung des russischen Innenministeriums zufolge<br />
wurden im Jahr 2004 Störe im Wert von 500 Mio. $ gefangen, offiziell wird im Bericht<br />
allerdings nur von 40 Mio. $ gesprochen. Das bedeutet, dass allein in Russland der illegale<br />
Fischfang um das Zehnfache höher als der legale Fischfang ist. Einige internationalen<br />
Quellen berichte dar<strong>über</strong>, dass von allen Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres Kaviar<br />
im Wert von mehr als 1 Mrd. US $ illegal in die westlichen Länder exportiert wird.<br />
Ein weiteres Problem ist die Verschmutzung Kaspischen Meeres mit Erdöl. Den Forschungen<br />
der Weltbank zufolge werden jedes Jahr 1 Mio. t Erdölabfall in das Kaspische<br />
Meer eingeleitet (7). Verstärkt wird bei Untersuchungen festgestellt, dass frisch gefangene<br />
Fische mit Dioxin vergiftet sind. In diesen Fällen spricht alles da<strong>für</strong>, dass die Ursache<br />
da<strong>für</strong> hauptsächlich in der Erdölverschmutzung liegt. Zwischen 1959 und 1985 wurde<br />
aus den angegebenen Gründen, allein durch die Verschmutzung und das Anstauen der<br />
Wolga, ein Fischverlust in Höhe von 5 Mio. t verursacht. Davon entfallen etwa 750 000 t<br />
auf den Stör.<br />
Im Rahmen einer Vereinbarung der Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres wurde<br />
nach dem fast völligen Zusammenbruch der Störaufzucht 1998 ein Programm zur Restauration<br />
der Bestände erarbeitet, das ständig erweitert, jedoch wegen spezifischer Interessen<br />
der Anrainerstaaten nur punktuell erfüllt wird. Die Anstrengungen Aserbaidschans gelten<br />
vor allem der Wiederherstellung der Laichgebiete im Fluss Kür und der künstlichen Aufzucht<br />
von Jungfischen.<br />
Obwohl die Fischerei in Aserbaidschan <strong>über</strong> ein hohes Entwicklungspotenzial besitzt,<br />
ist die Versorgung der Bevölkerung mit Fisch und Fischprodukten auf Minimalniveau<br />
gesunken. Sofern man das Bevölkerungswachstum mit einkalkuliert, liegt der Bedarf <strong>für</strong><br />
Fisch und -Fischprodukte bei 100 000 t im Jahr. Von dieser Menge können tatsächlich aber<br />
nur 10–20 % des Bedarfs abgedeckt werden.<br />
Statistisch betrachtet nimmt der Fischfang an wertvollen Fischen stetig ab. Von 1990–<br />
1997 hat sich in Aserbaidschan der Fischfang um das Sechsfache verringert. Zwischen<br />
1997 und 2004 stieg er jedoch leicht; so wurden im Jahr 2009 fast 21 000 t gefischt.<br />
In den letzten Jahren wurde der Fischbestand mit finanzieller Hilfe der Weltbank und<br />
anderen internationalen Finanzinstituten sowie mit Unterstützung von ausländischen<br />
Investoren vermehrt. Die zum Umweltministerium gehörenden Anlagen in Nefttschala<br />
und Ali Bayram konnten so im Rahmen der geförderten Projekte im Kaspischen Meer<br />
15,5 Mio. Jungstöre aussetzten.<br />
Insgesamt wurden im Jahr 2009 von zehn Fischzuchtbetrieben, die aus diesem Programm<br />
finanziell gefördert wurden, 456,3 Mio. Stück verschiedene Jungfischarten zum<br />
Aussetzen im Kaspischen Meer, im Kür-Fluss und den dazu gehörenden Wasserreservoirs<br />
bereitgestellt. Sofern auch in den kommenden Jahren ausreichend Finanzmittel <strong>für</strong> die<br />
Aufzucht und das Aussetzen von Jungfischen bereitgestellt werden, kann sich der Fischfang<br />
zu einer wichtigen Einnahmequelle in der Region entwickeln.<br />
Der Stör ist als Kaviarlieferant vor allem wegen des völkerrechtlichen Status des Kaspischen<br />
Meeres vom Aussterben bedroht. Bevor die Sowjetunion zerfiel, wurde der Fischfang<br />
streng kontrolliert (12), was jedoch nach der Sowjetära nicht mehr möglich war.<br />
Deshalb wurde der illegale Fischfang umso attraktiver. Obwohl die Nachfolgestaaten die<br />
jährliche Fischfangquote geregelt hatten, konnten sie dem illegalen Fischfang kein Einhalt<br />
gebieten.<br />
Aufgrund der Festlegung der jährlichen Fischfangquoten wurde die Anzahl der Fischfangbetriebe<br />
entsprechend den ökonomischen Kräfteverhältnissen der Länder verringert,<br />
was dazu führte, dass immer häufiger versucht wird, die entstandene Marktdifferenz durch<br />
Buel_3_11.indb 510 17.11.2011 08:13:30
Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />
511<br />
den illegalen Fang zu decken. Der illegale Fischfang ist die Hauptursache da<strong>für</strong>, dass die<br />
zwischen den Anrainerstaaten vereinbarten Fangmengen nicht eingehalten werden können.<br />
Abgesehen von den Hydrokarbonreserven sind auch die biologischen Reserven des<br />
Kaspischen Meeres <strong>für</strong> Aserbaidschan von wesentlicher wirtschaftlicher Bedeutung.<br />
Neben Erdöl- und Erdgas wurden einst auch 90 % aller Rotfische von hier bezogen. Jedoch<br />
hat sich, wie oben bereits erwähnt, dies wegen der Umweltverschmutzung und der <strong>über</strong>mäßigen<br />
Ausbeutung der Fischbestände rapide verändert (12).<br />
Beugt man der Verschmutzung des Kaspischen Meeres nicht vor, werden früher oder<br />
später dessen wertvolle biologische Ressourcen verloren gehen. Letztendlich sind die<br />
Küsten der Anrainer Turkmenistan und Aserbaidschan am meisten betroffen sein. Cava-<br />
DOv ging bereits 1999 davon aus, dass in 15 Jahren im Kaspischen Meer in bis zu 50 m<br />
Tiefe und in einer Ausdehnung von 30 000 km² Fischzucht aller Art nicht mehr möglich<br />
sein wird (11).<br />
Damit diese Umweltkatastrophe verhindert wird, müssten die Erdöl und Erdgas fördernden<br />
Anlagen im Kaspischen Gebiet – ebenso wie alle anderen Industrieanlagen – bessere<br />
Destillations- und Filtersysteme verwenden, um so den Schadstoffausstoß drastisch<br />
zu verringern. Des Weiteren müssen die Mülldeponien gesichert, der Schadstoffausstoß<br />
der Tanker und Fährschiffe vermindert sowie die Abwässer der Städte der Anrainerstaaten<br />
mit ihren rd. 150 Mio. Einwohnern umweltgerecht aufbereitet werden (8).<br />
Der Fischfang trägt wesentlich zum Handel bei, weshalb in diesem Bereich wegen des<br />
stark verminderten Fischbestandes große Verluste entstanden. Dazu beigetragen hat, dass<br />
ab 1950 an den Zuflüssen des Kaspischen Meeres zahlreiche Staudämme <strong>für</strong> die Bewässerung<br />
und Stromerzeugung errichtet wurden. Gleichzeitig stieg der Meeresspiegel, sodass<br />
die Reviere der Störe unter Hochwasser standen. Wegen der Staudämme konnte der Stör<br />
weder seine Paarungsgewässer erreichen, noch die Laichreviere nutzen, was ein Grund<br />
da<strong>für</strong> ist, das der Stör vom Aussterben bedroht ist. Genauso ergeht es dem wertvollen<br />
Kaspischen Rotfisch. Andere Fischarten, wie z. B. Aal, Semayı und Aggöz sind bereits<br />
fast ausgestorben.<br />
Wenn man das biologische Potenzial des Kaspischen Meeres wieder herstellen will,<br />
ist es notwendig, dass die Küstenstaaten eine intensive Zusammenarbeit betreiben, damit<br />
sich die Fischbestände wieder erholen können (8).<br />
5 Ein kurzer Einblick in die Imkerei Aserbaidschans<br />
Das wichtigste Produkt der aserbaidschanischen Imker ist Honig, ebenso werden Pollen,<br />
Bienenmilch, Wachs, Blumenstaub etc. produziert. Die Bienenzucht, die Haltungsmethoden<br />
und der Bienenschutz sind jedoch in jeder Hinsicht sehr rückständig. Die gesamte<br />
jährliche Honigproduktion beträgt 1200 t. Etwa 126 000 Bienenvölker werden von den<br />
aserbaidschanischen Imkern gehalten. 2010 waren insgesamt 3000 Personen in diesem<br />
Bereich beschäftigt.<br />
Um den Bedarf an Honigprodukten durch die inländische Produktion decken zu können,<br />
müsste die Honigerzeugung um das Achtfache gesteigert werden. Die klimatischen<br />
Bedingungen, die Vielfalt der Pflanzen sowie die vielen Bienenarten bieten <strong>für</strong> eine solche<br />
Steigerung gute Bedingungen. Im Staatsprogramm <strong>für</strong> die Regionale Entwicklung wird<br />
der Imkerei ein hoher Wert beigemessen. Um diesen Bereich weiterzuentwickeln, ist im<br />
Programm vorgesehen, in den kommenden Jahren die fünffache Anzahl an Familienbetrieben<br />
<strong>für</strong> die Imkerei zu gewinnen.<br />
Buel_3_11.indb 511 17.11.2011 08:13:30
512 Elman Muradov<br />
6 Fazit und Ausblick<br />
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die landwirtschaftliche Produktion in<br />
Aserbaidschan stark zurück gegangen. Der Anteil der Land- und Forstwirtschaft an der<br />
gesamten Bruttoinlandsproduktion nahm seit Anfang der Neunziger Jahre stetig ab. So<br />
sank ihr Anteil von 16,1 % im Jahr 2000 auf 6,7 % im Jahr 2009 (15). Der Anteil der<br />
in der <strong>Landwirtschaft</strong> Beschäftigten betrug 38,5 % des Gesamtarbeitskräftepotenzial des<br />
Landes. Dieser hohe Prozentsatz wird durch eine gewisse Unterbeschäftigung und latente<br />
Arbeitslosigkeit in ländlichen Gebieten künstlich aufrecht erhalten.<br />
Die aserbaidschanische Regierung hat zur Entwicklung des Agrarsektors zahlreiche<br />
Maßnahmen eingeleitet. Als Ergebnis der Agrarreformen, die 1995 begannen, wurden<br />
Land und Besitz von Kollektiven (Kolchosen) und sowjetischen <strong>Landwirtschaft</strong>sbetrieben<br />
(Sowchosen) unentgeltlich unter den Bewohnern der ländlichen Gebiete verteilt. Die<br />
Mehrzahl der neuen Landeigentümer haben jedoch keine ausreichenden Kenntnisse, um<br />
ihren Kleinbetrieb unter privatwirtschaftlichen Bedingungen erfolgreich zu führen. Die<br />
große Diskrepanz zwischen BIP-Anteil und landwirtschaftlicher Erwerbsbevölkerung<br />
zeugt von geringer Arbeitsproduktivität und reflektiert die Bedeutung landwirtschaftlicher<br />
Nebenerwerbstätigkeit. Zusammen mit anderen Faktoren führt dies zu einer ausgeprägten<br />
Abwanderung, vor allem der jüngeren Bevölkerung, in die Hauptstadt Baku<br />
oder ins Ausland. Eine bleibende Herausforderung in Aserbaidschan sind Investitionen in<br />
das Humankapital (Agrarfachkräfte) und in die Infrastruktur der ländlichen Räume, um<br />
Abwanderungstendenzen entgegenzuwirken.<br />
Es ist offensichtlich, dass die landwirtschaftlichen Betriebe im unteren Bereich der<br />
Produktionsfunktion wirtschaften, d. h. mit geringem Kapitaleinsatz und veralteten Produktionstechnologien.<br />
Obwohl die rechtlichen Rahmenbedingungen <strong>für</strong> ein marktwirtschaftliches<br />
Umfeld deutlich verbessert wurden, sind die alten „sozialistischen Denkstrukturen“<br />
bestehen geblieben. Die zukünftige Entwicklung der <strong>Landwirtschaft</strong> hängt von der<br />
Schaffung und Ausgestaltung der entsprechenden institutionellen Rahmenbedingungen<br />
ab. Das Ziel der künftigen Agrarpolitik muss darin liegen, die Rahmenbedingungen <strong>für</strong><br />
ein marktwirtschaftliches Handeln zu verbessern und effiziente Förderungen zu gewähren.<br />
Zusammenfassung<br />
Der Agrarsektor hat eine wichtige Funktion <strong>für</strong> den Arbeitsmarkt im ländlichen Raum; hier sind mehr<br />
als 38 % der Erwerbstätigen Aserbaidschans tätig. Er ist zugleich von beträchtlicher Bedeutung <strong>für</strong><br />
die wirtschaftliche Stabilität des Landes. Aufgrund der hohen Bodenfruchtbarkeit, der natürlichen<br />
Bedingungen und geografischen Lage hat Aserbaidschan komparative Vorteile <strong>für</strong> die landwirtschaftliche<br />
Produktion. Trotz dieser Vorteile ist die wirtschaftliche Situation der <strong>Landwirtschaft</strong> nicht<br />
zufriedenstellend.<br />
Die Entwicklungsphasen der aserbaidschanischen <strong>Landwirtschaft</strong> waren sehr unterschiedlich.<br />
Diese lassen sich vor allem auf die engen Wechselwirkungen zwischen den agrarpolitischen Zielen<br />
und dem gesellschaftlichen Wandel zurückführen. Die gegenwärtige Entwicklung der <strong>Landwirtschaft</strong><br />
Aserbaidschans wird vor dem Hintergrund der veränderten Marktverhältnisse untersucht und die daraus<br />
resultierenden Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion und Struktur dargestellt.<br />
Summary<br />
Analysis and development opportunities for the agricultural sector in Azerbaijan<br />
The agricultural sector plays a vital role in the labour market in rural areas; more than 38% of the<br />
total workforce of Azerbaijan is employed in such rural areas. At the same time, the agricultural<br />
sector also contributes significantly to the country’s economic stability. Azerbaijan has a comparative<br />
edge in agricultural production due to its high soil fertility, its natural conditions and its geographic<br />
location. These advantages notwithstanding, the economic situation of the agricultural sector is not<br />
satisfactory.<br />
Buel_3_11.indb 512 17.11.2011 08:13:30
Analyse und Entwicklungsperspektive der <strong>Landwirtschaft</strong> in Aserbaidschan<br />
513<br />
Azerbaijan’s agricultural sector has undergone very different stages of development. These are<br />
mainly due to the close interaction between agriculture policy objectives and social change. This<br />
study analyses the current developments taking place within Azerbaijan’s agricultural sector in the<br />
context of changed market conditions and explains the resulting changes in agricultural production<br />
structures.<br />
Résumé<br />
Analyse et perspectives de l‘agriculture de l’Azerbaïdjan<br />
Le secteur agricole joue un rôle important pour le marché du travail en milieu rural où travaillent<br />
plus de 38 % de la population en Azerbaïdjan. Il joue également un rôle significatif pour la stabilité<br />
économique du pays. Grâce à la grande fertilité de son sol, à ses conditions naturelles et à sa situation<br />
géographique, l’Azerbaïdjan bénéficie d’avantages comparatifs pour la production agricole. Malgré<br />
ces avantages, la situation économique dans laquelle se trouve l’agriculture n’est pas satisfaisante.<br />
En ce qui concerne l’évolution de l’agriculture, l’Azerbaïdjan a vécu des phases très différentes.<br />
Cela s’explique notamment par les étroites interactions entre les objectifs de la politique agricole<br />
et les changements au niveau de la société. La présente étude analyse le développement actuel de<br />
l’agriculture de l’Azerbaïdjan dans le contexte des conditions de marché modifiées. L’analyse montre<br />
également quels changements en résultent pour la production et les structures agricoles.<br />
Literatur<br />
1. abasOv i., 2010: „Mehr Fläche und Ertrag“, In: Ost-West Contact, 1/2010, S. 70.<br />
2. abbasOv, v., 2005: „Rising Caspian Waters Pose Flood Threat“. In: Azernews No: 19 (409), Mai 11–<br />
Mai 17, 2005, S. 3, http://www.azernews.net/view.php?d=5705 (Zugriff 15.05.2005).<br />
3. aliyev, i., 2004: „Agrar saheye Investisiya Imkanlari“ (Investionsmöglichkeiten und Investitionen in<br />
die aserbaidschanische Agrarwirtschaft). In: Diyalog Azerbaycan, Nr.16, S. 12–13.<br />
4. –, 2002: Azerbaycan Iqtisadiyyati (Wirtschaft Aserbaidschans). Baku: Maarif.<br />
5. aras., O. n., 2005: Azerbaycan Ekonomisi ve yatirim imkanlari (Wirtschaft Aserbaidschans und Investitionsmöglichkeiten),<br />
Baku: TÜSIAB, S. 87–111.<br />
6. bayramOglu, z.; Ozer, O.; gunDOgmus, e., 2010: The impact of changes in Turkey’s hazelnut policy<br />
on world markets, African Journal of Agricultural Research Vol. 5 (1), pp. 007–015, 4 January, 2010,<br />
S. 1.<br />
7. Bericht <strong>über</strong> die menschliche Entwicklung, 1997: UN, Baku, S. 64.<br />
8. Beschluss des Ministerkabinett Aserbaidschans vom 24.12.2010 No 243.<br />
9. Botschaft der Republik Aserbaidschan in Deutschland, Kurz<strong>über</strong>sicht <strong>über</strong> den agrarseKtOr<br />
(27.06.2011).<br />
10. buDaqOv-buDaq, y. q., 1996: Azerbaycan Respublikasinin FizikiCografiyasi (Physische Geographie<br />
Aserbaidschans). Baku: Muallim.<br />
11. CavaDOv, e., 1999: Azerbaycanin aqrar iqtisadiyyati müsteqillik dövründe (Aserbaidschanische Agrarwirstchaft<br />
in der Unabhängigkeit). Baku: Azerneshr.<br />
12. Cemenzeminli, Y. V., 1993: Tarixi Cografi ve Iqtisadi Azerbaycan (Das historische, geografische und<br />
ökonomische Aserbaidschan). Baku: Baki Universiteti Nesriyyati.<br />
13. Deutscher <strong>Landwirtschaft</strong>sverlag GmbH „Jeder deutsche Landwirt ernährt heute 133 Menschen“ http://<br />
www.agrarheute.com/jeder-deutsche-landwirt-ernaehrt-heute-133-menschen (Zugriff 21.06.2011).<br />
14. ehmeDOv, e.; haCiyev, m., 2004: Azerbaycan Iqtisadiyyati (Aserbaidschanische Wirtschaft). Baku:<br />
Seda Yayinlari.<br />
15. guliyev, r., 2002: „Agrar bazarlarin tenzimlenmesi üzre dünya tecrübesi“ (Internationale Erfahrung<br />
im Bereich der Regulierung der Agrarmärkte), In: Meshveret Nr. 12 (48), S. 39.<br />
16. memmeDOv, s., 1998: Inflyasiya ve Maliyye Bazari (Inflation und Finanzmarkt). Baku: Elm, S. 71–75.<br />
17. Ministerium <strong>für</strong> wirtschaftliche Entwicklung der Republik Aserbaidschan, Durchführungsbericht 2010<br />
zum Staatlichen Programm <strong>über</strong> die zuverlässige Lebensmittelversorgung der Republik Aserbaidschan<br />
2008–2015.<br />
18. nebiyev, N., 2000: Iqtisadi Cemiyyetve Ekoloji Muhiti (Wirtschaftliche Gesellschaft und ökologische<br />
Umgebung). Baku: Agridag Nesriyati. S. 205-225.<br />
19. Staatliches Komitee Aserbaidschans <strong>für</strong> Statistik , „Aserbaidschan in Zahlen 2010“.<br />
20. Staatliches Programm <strong>für</strong> die sozial-wirtschaftliche Entwicklung der Regionen von 2004–2008, Dekret<br />
des Präsidenten der Republik Aserbaidschan Nr. 24 vom 11.02.2004.<br />
21. Staatliches Programm <strong>für</strong> die sozial-wirtschaftliche Entwicklung der Regionen von 2009–2013, Dekret<br />
des Präsidenten der Republik Aserbaidschan Nr. 80 vom 14.04.2009.<br />
Buel_3_11.indb 513 17.11.2011 08:13:30
514 Elman Muradov<br />
22. Staatliches Programm <strong>über</strong> die zuverlässige Lebensmittelversorgung der Republik Aserbaidschan von<br />
2008–2015“, Beschluss Nr. 3004 des Präsidenten der Republik Aserbaidschan vom 25.08.2008.<br />
23. Staatliches Programme zur landwirtschaftlichen Entwicklung von 2002–2006, Beschluss des Ministerkabinetts<br />
Nr. 219s vom 17.10.2002.<br />
24. Umweltschutzbericht der Umweltministerium der Republik Aserbaidschan, Baku, 1998, S. 39–40.<br />
Autorenanschrift: elman muraDOv, Agrarattaché der Botschaft der Republik Aserbaidschan,<br />
Hubertusallee 43, 14193 Berlin, Deutschland<br />
economy@azembassy.de<br />
Buel_3_11.indb 514 17.11.2011 08:13:30
Berichtigung<br />
<strong>Berichte</strong> <strong>über</strong> <strong>Landwirtschaft</strong>, Heft 2/2011, Bd. 89, S. 218–231<br />
Identifizierung peripherer Regionen mit strukturellen und<br />
wirtschaftlichen Problemen in Deutschland<br />
Tabelle 2, Seite 224<br />
Von anne margarian und patriCK Küpper, Braunschweig<br />
Tabelle 2. Berechnete Faktoren und Faktorladungen<br />
1 z=z-transformiert, Bezeichnungen s. Tabelle 1; *Ladungen zur Berechnung der Zwischenindizes<br />
Quelle: Eigene Berechnung<br />
Buel_3_11.indb 515 17.11.2011 08:13:30<br />
515
516 Berichtigung<br />
Tabelle 3, Seite 225<br />
Tabelle 3. Berechnete Gewichte von Indikatoren und Faktoren<br />
*Dargestellt sind alle Gewichte aus einer quadrierten Faktorladung >0,35<br />
Quelle: Eigene Berechnung<br />
Buel_3_11.indb 516 17.11.2011 08:13:31
KTBL-Veröffentlichung: „Direktvermarktung<br />
- Kalkulationsdaten <strong>für</strong> die Direktvermarktung“,<br />
Darmstadt, 2011,<br />
4. <strong>über</strong>arbeitete Aufl., 112 S., 24 Euro,<br />
ISBN 978-3-941583-47-4, Best.-Nr.<br />
19504. Bestellservice: Kuratorium <strong>für</strong><br />
Technik und Bauwesen in der <strong>Landwirtschaft</strong><br />
(KTBL), Bartningstr. 49, 64289<br />
Darmstadt, Tel 06151 /7001189 Fax<br />
06151/ 70 01 123, E-Mail: vertrieb@<br />
ktbl.de oder im Online-Shop unter<br />
www.ktbl.de.<br />
Die Verbraucherinnen und Verbraucher in<br />
Deutschland entwickeln zunehmend ein großes<br />
Interesse an der Qualität und der Herkunft ihrer<br />
Lebensmittel. Mit den steigenden Ansprüchen<br />
an die Lebensmittelqualität werden auch immer<br />
mehr Lebensmittel direkt vom Bauernhof nachgefragt.<br />
Als wichtige Form der regionalen Vermarktung<br />
hat sich die Direktvermarktung z. Bauf Bauernmärkten<br />
und Hofläden fest etabliert. Inallen<br />
Regionen Deutschlands gibt es eine Vielzahl von<br />
Erzeugern, die regionale Produkte von Qualität<br />
anbieten und somit dazu beitragen, Arbeitsplätze<br />
in ländlichen Regionen zu schaffen bzw. zuerhalten<br />
und die ländliche Wirtschaftskraft zu stärken.<br />
In der jetzt vorliegenden 4. <strong>über</strong>arbeiteten Broschüre<br />
zur Direktvermarktung gibt das KTBL<br />
anhand einer Datensammlung zur Planung und<br />
individuellen Kalkulation wertvolle Informationen,<br />
Orientierungshilfen und Handlungstipps<br />
wie die bäuerlichen Betriebe ihre Produkte<br />
wirtschaftlicher und effizienter vermarkten können.<br />
Es werden sämtliche Bereiche, die bei der<br />
Direktvermarktung zu beachten sind, detailliert<br />
behandelt. Auch <strong>für</strong> „Neueinsteiger“ in die Direktvermarktung<br />
ist diese Broschüre ein sehr<br />
nützlicher Ratgeber.<br />
Dr. ursel binzel, bOnn<br />
KTBL-Schrift 486, sChrOers, Jan Ole;<br />
sauer, nOrbert: Die Leistungs-Kostenrechnung<br />
in der landwirtschaftlichen<br />
Betriebsplanung. Darmstadt,<br />
2011, 96 S., 24 Euro, ISBN 978-3-<br />
941583-50-4, Best.-Nr. 11486. Bestellservice:<br />
Kuratorium <strong>für</strong> Technik<br />
Bücherschau<br />
517<br />
und Bauwesen in der <strong>Landwirtschaft</strong><br />
(KTBL), Bartningstr. 49, 64289 Darmstadt,<br />
Tel06151 /7001189 Fax 06151/<br />
70 01 123, E-Mail: vertrieb@ktbl.de<br />
oder im Online-Shop unter www.ktbl.<br />
de<br />
<strong>Landwirtschaft</strong>liche Betriebe müssen häufig<br />
Entscheidungen treffen. Lohnen sich die Investitionen<br />
in eine schlagkräftigere Maschine, die<br />
Erweiterung der Tierhaltung oder der Einstieg<br />
in die Erzeugung erneuerbarer Energien? Unterstützung<br />
bieten verlässliche Daten und ein<br />
sicherer Umgang mit den Methoden der Leistungs-Kostenrechnung.<br />
Die Schrift „Die Leistungs-Kostenrechnung<br />
in der landwirtschaftlichen Betriebsplanung“<br />
gibt umfassende Einblicke in die vielfältigen<br />
Planungs- und Entscheidungsanlässe im landwirtschaftlichen<br />
Betrieb. Kennzahlen zur<br />
Bewertung von Arbeits- und Produktionsverfahren,<br />
Methoden zur Stückkostenkalkulation<br />
und zur Rentabilität von Investitionen werden<br />
allgemeingültig <strong>für</strong> alle landwirtschaftlichen<br />
Produktionsrichtungen und Betriebsformen definiert<br />
und erklärt. Konkrete Fragestellungen<br />
werden in praxisnahen Bespielen beantwortet.<br />
Ktbl<br />
Buel_3_11.indb 517 17.11.2011 08:13:31