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Politisch-Kabarettistischen Aschermittwochs - Fabrik e.v.

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Reclaim your brain<br />

Gastkommentar<br />

Hochhaussiedlung im Ruhrgebiet Ende 70er, Anfang 80er. In einem der zahlosen auf trostlos betonierten<br />

Stadtteileinkaufszentren stehen drei Klappstühle, einer ist frei und wartet auf Gäste. Kaffee gibt‘s aus<br />

der Thermoskanne, Kekse aus der Dose. Wir waren jung und brauchten kaum Geld. Reclaim the streets<br />

musste man nicht rufen, war ja genug Platz. Toter Platz. Kam trotzdem keiner.<br />

Ein halbes Jahr später stellte die Eisdiele Stühle auf. Mindestverzehr eine Mark. Legitimationsprämie,<br />

sich in den öffentlichen Raum setzen zu können, ohne zu den Klappstuhlspinnern zu gehören. Es wurde<br />

voll. Seltsames Verhalten. Die Klappstühle zogen - nach dieser so unerwarteten wie erfolgreichen<br />

Gentrifizierung - weiter auf die Verkehrsinsel. War lustiger. Gab bei jeder Rotphase neues Programm.<br />

Ohne Mindestverzehr. Redefine the Streets konnte man rufen, hörte aber keiner. Zu viel Verkehr. Heute<br />

ist der Sinn für die Komik von Individualverkehr ausgeprägter, SUVs als Familienkutsche sind ein sicherer<br />

Lacher.<br />

Jahrzehnte später in Freiburg. Reclaim the Strom. Muss man nicht rufen, haben sie schon gemacht. In<br />

Schönau. Funktioniert auch in Freiburg. Oder in Essen. „Und wenn dann doch das Licht ausgeht?“ -<br />

„Habe ich die Telefonnummer von Frau Sladek. Hast du die Telefonnummer von Herrn EnBW oder Herrn<br />

E.ON? Oder nur eine Servicenummer?“ Inzwischen helfen sie E.ON beim Kartellabbau. 2000 BürgerInnen<br />

haben 14 Millionen Euro mobilisiert. Reclaim your money.<br />

Mai 2007. Kunstverein und Theater reclaim the Verkehrsinsel am Fahnenbergplatz. Als grüne Lounge<br />

unter schönen alten Bäumen mit reanimiertem Brunnen. Dort stehen auch zwei Steine. Auf dem einen<br />

steht „unvergessene Heimat“ auf dem anderen „Berlin 800 km“. Das Universum der Möglichkeiten<br />

zwischen Dorfhock und Großstadthype auf den wenigen Quadratmetern einer unbeachteten Insel.<br />

Atemberaubend, aber wenn es kein angekündigtes Programm gibt, kommt keiner. Die Kulturarbeiter<br />

trinken ihr Bier selber. Dann sind sie wieder weg. Die Steine bleiben. Der Brunnen ist wieder trocken.<br />

Reclaim the people. Oder Warten auf die Eisdiele nach der Verkehrsberuhigung.<br />

Frühjahr 2009. Der kleine Freiburger Verlag orange press veröffentlicht ein botanisches Manifest,<br />

„Guerilla Gardening“. Pflanz Bohnen im Stadtgarten, Erdbeeren auf der Fahnenberginsel. Reclaim the<br />

öffentliche Grünfläche. Auch politische Repräsentanten haben eine Vorstellung von reclaim. 2006 wurde<br />

der damalige Baubürgermeister Matthias Schmelas für seine Variante des Guerilla Gardening geehrt.<br />

Meterhoch prangte der Dank für seinen Einsatz auf der Bautafel des Dreisam Ufercafés. Draußen nur<br />

Kännchen statt Wildwuchs.<br />

1. Mai 2009, Stühlinger Kirchplatz. Wo sind eigentlich die ganzen Arbeitslosen? Vor elf Jahren wollte<br />

Christoph Schlingensief mal mit allen Arbeitslosen im Wolfgangsee baden gehen. „Beweise, dass es dich<br />

gibt!“. Wie die paar Leutchen das schaffen, jeden Montag wieder auf die Straße zu gehen? Wie schaffen<br />

es die Millionen anderen nur, das nicht zu tun? Sichtbare Arbeitslose erträgt ein demokratischer Staat<br />

nicht. Reclaim the Sichtbarkeit.<br />

Schlingensief schlug auch einen Perspektivwechsel vor: „Ein Arbeitsloser ist auch ein Arbeitssuchender,<br />

ein Archäologe unserer Zeit. Das ist eine Berufsgruppe. Das ist einer der beliebtesten Berufe der<br />

Zukunft.“ So gesehen muss man nicht um ALG II betteln, sondern das Grundeinkommen fordern. Reclaim<br />

the Archäologie.<br />

Augustinerplatz. Hier braucht man keinen Archäologen für Sichtbarkeit. So viele Treppenstufen an<br />

einem zentralen Platz zur Verfügung zu stellen, ist eine schöne Geste, die auch verstanden wird: Gratissitzplätze<br />

für alle. Ob mit Arbeit oder ohne. Der hilflose Versuch, mit ARANisierung und Ampel eine Art<br />

reclaim the stairways aus der Hand der BürgerInnen zu initiieren, zeugt von einem ausgeprägten Sinn<br />

für paradoxen Humor. Oder doch eher ein dadaistischer Witz? Reclaim the Verkehrszeichen? Reclaim<br />

the Rotlichtmilieu?<br />

Juni 2009, Freiburger Mittsommernachtstisch. Klappstuhlrevival im großen Stil. Kommerzfrei. Fast. Einmal<br />

Cola-Kommerz am Adelhauserplatz, einmal Weinkommerz. Das Geschäft geht gut. Kaufen schafft<br />

klare Verhältnisse. Und Gastfreundschaft? Hab mir auch einen Wein gekauft. Alles Klappstuhlen vergessen?<br />

Reclaim your brain.<br />

Jürgen Reuß

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