Diesen Artikel als PDF-Datei herunterladen - Philosophia online
Diesen Artikel als PDF-Datei herunterladen - Philosophia online
Diesen Artikel als PDF-Datei herunterladen - Philosophia online
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
11<br />
Entwicklungsskala feststellen, an deren (vor)letzter Stelle der ideale Staat in all seiner Pracht<br />
steht.<br />
Nun haben wir gesehen, daß selbst in Mainländers Ide<strong>als</strong>taat vier Übel übrigbleiben, die sich<br />
nicht ohne weiteres beheben lassen, da sie die „Lebenssubstanz“ des Menschen betreffen:<br />
Qualen der Geburt, Krankheiten, Altern und Tod. Es steht außer Zweifel, daß sich die<br />
Lebensbedingungen in der heutigen Gesellschaft wesentlich gebessert haben, was auch eine<br />
Abschwächung (wenn auch keine Abschaffung) jener Übel zur Folge hat: werdende Mütter<br />
können sich mittlerweile in speziellen Seminaren auf die Wehen der Geburt mental<br />
vorbereiten, was eher <strong>als</strong> skurriler Individualisierungseffekt zu betrachten ist; durch<br />
frühzeitige Erkennung und sofort einsetzende Therapie können heutzutage selbst schwere<br />
Krankheiten mit Erfolg behandelt werden; die Lebenserwartung ist im letzten Jahrhundert<br />
deutlich gestiegen (der negative Effekt davon ist die „Überalterung“ der Gesellschaft). Vor<br />
Geburt, Krankheit und Altern muß man sich nicht so fürchten wie noch zu Mainländers<br />
Zeiten. Nur der Tod scheint weiterhin dem fortschrittsgläubigen modernen Menschen zu<br />
spotten. Doch wer weiß, vielleicht hat er bald keinen Grund mehr zum Lachen. Denn seit<br />
einiger Zeit bekommt die Hoffnung auf die Überwindung des größten aller Übel von neuem<br />
Nahrung: der Gentechnologe führt sich <strong>als</strong> neuer Heiland auf. Zu den Zielen der<br />
Gentechnologie gehört die Eliminierung schwerer Erbkrankheiten, die „Steuerung“, d. h.<br />
Verzögerung und evtl. Aufhebung des Alterungsprozesses – und <strong>als</strong> letzte Konsequenz die<br />
Beseitigung des Todes und die Verheißung des ewigen Lebens. Falls dies jem<strong>als</strong> gelingen<br />
sollte, könnte der Mensch die Nachfolge Gottes antreten. Der Mensch würde der Zeuge einer<br />
neuen Schöpfungsgeschichte werden, deren Dreh- und Angelpunkt er selbst wäre: der Mensch<br />
würde sich selbst (neu) erschaffen. Die Erde würde zum Wohnort von „Übermenschen“ und<br />
„Halbgöttern“. Es ist jedoch fraglich, ob es zu einer solchen Wende in der<br />
Menschheitsgeschichte jem<strong>als</strong> kommen wird. Dennoch können jene Phantasmen den Boden<br />
für einen neuen Mythos abgeben, der einen Erzähler vom Rang Mainländers erst finden muß.<br />
Nehmen wir an, es würde einmal nicht nur der Traum vom idealen Staat, sondern auch<br />
derjenige vom „idealen Menschen“ Wirklichkeit werden. Würde ein solcher Mensch glücklich<br />
sein? Not und Elend wären abgeschafft, Arbeit aufs Minimum reduziert,<br />
zwischenmenschliche Konflikte aus dem Weg geräumt, ein für allemal Frieden auf Erden<br />
hergestellt – dies wäre der gesellschaftliche Rahmen, in dem sich sein Leben abspielen würde.<br />
Es würde aber darüber hinaus auch das somatische Leid bis zur Unkenntlichkeit<br />
abgeschwächt. Wären damit nicht die Voraussetzungen für ein gutes, ja für ein schönes Leben<br />
geschaffen? Man könnte doch das Leben in vollen Zügen genießen. Die Verringerung oder<br />
gar Eliminierung des körperlichen Leids würde sicherlich zu einer Steigerung der Lebenslust