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deren Zweck die Verweigerung einer „menschlichen, allzumenschlichen“ Praxis ist. Leider<br />
besteht gerade hier die Gefahr, daß man Mainländer mißversteht und ihn allzuschnell in die<br />
psychopathologische Ecke schiebt. 35 In dieser Hinsicht teilt Mainländer das Schicksal mit<br />
einem anderen „dekadenten Genie“, jenem Denker, der sich ebenfalls kurz nach Erscheinen<br />
seines Hauptwerks das Leben genommen hat: mit dem Autor des „Skandalbuchs“ Geschlecht<br />
und Charakter, Otto Weininger. Auch hier sieht man angeblich denselben Größenwahn am<br />
Werke, der die Feder Mainländers bei der Abfassung der Philosophie der Erlösung gleich<br />
einem Dämon geleitet haben soll. Statt diese Denker trotz all ihrem Übermut der<br />
vulgärpsychologischen Diagnostik zu überlassen, sollte man ihre exzessive und<br />
selbstzerstörerische Schaffenskraft würdigen – wer Großes leisten will, muß mit dem Risiko<br />
rechnen, an der Größe seines Vorhabens zu scheitern. 36 Doch zurück zum Ausgangspunkt –<br />
wer das Virginitätsideal propagiert, denkt (und handelt) anthropofugal. 37 Denn er ist sich der<br />
Konsequenzen seines Tuns (korrekter ausgedrückt: Unterlassens) bewußt: würde jeder<br />
Mensch jenes Ideal <strong>als</strong> Leitlinie seines Verhaltens verinnerlichen, dann würde die Natalität<br />
zum Schreck aller Anthropozentriker rapide sinken. Die Menschheit würde binnen weniger<br />
Jahrzehnte aussterben. Daß es jedoch soweit gar nicht kommen wird, dafür wird schon der<br />
geradezu unstillbare Geschlechtstrieb der Menschen sorgen. 38<br />
Die Befolgung des Virginitätsgebots hat nicht nur einen ethischen, sondern vor allem einen<br />
metaphysischen Sinn: der „Weise“, der dem Geschlechtstrieb den Kampf ansagt, handelt nicht<br />
gegen die Natur, sondern steht in ihrem Dienst, „er opfert ihr in Treue und beschleunigt<br />
dadurch ihren Lauf in wirksamster Weise“ 39 . Im Unterschied zu den modernen<br />
Existentialisten, welche sich gegen das Absurde stemmen, verlangt Mainländer vom weisen<br />
Individuum, daß es sich in den absurden Lauf der Dinge fügt – das Sein selbst ist das<br />
Absurde, von dem man sich in der absoluten Vernichtung erlösen kann. Nun beharren die<br />
Hardliner des Anthropozentrismus darauf, daß es gegenüber den zukünftigen Generationen –<br />
nicht zuletzt gegenüber den eigenen Kindeskindern, die man in die Welt (aus)setzt – eine<br />
Verantwortung gebe, der sich die Menschen in der Gegenwart bewußt sein müssen. Aus<br />
anthropofugaler Sicht gibt es aber eine wesentlich tiefgreifendere Verantwortung dem<br />
Weltgeschehen gegenüber. Wenn der Endzweck desselben die Bewegung aus dem Sein ins<br />
Nichts ist, dann ist es vom Individuum unverantwortlich, wenn es durch seine Vermehrung<br />
den Ablauf dieser Bewegung verzögert: dadurch perpetuiert sich nur unnötig das alltägliche<br />
Leid. Man sollte daher mitbedenken, daß derjenige, der sich, „durch Erkenntnis entzündet“,<br />
dafür entscheidet, die Fortpflanzungskette zu unterbrechen und sich aus der Reihe seiner<br />
Ahnen auszugliedern, nicht nur etwas für seine individuelle Freiheiten, sondern etwas für die<br />
schnellere Erlösung von den Leiden des Daseins tut. „Wer den Tod nicht fürchtet, der allein