Heft lesen... - Philologenverband Sachsen
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Gastkommentar:<br />
Inklusion nicht mit der Axt erzwingen!<br />
Ein Kommentar zur drohenden Gefahr<br />
der „Sparklusion“<br />
Nun ist es schon eine ganze Weile her, das die<br />
Unterzeichnung der UN-Konvention auch durch<br />
die Bundesrepublik Deutschland vollzogen und die<br />
Gültigkeit (Ratifizierung) und der Abschluss dieses<br />
völkerrechtlichen Vertrages durch die Vertragsparteien<br />
bestätigt wurden. Die Unterschiedlichkeit ist<br />
nun die Normalität. War sie es denn bislang nicht<br />
oder haben wir diese Unterschiedlichkeit nur nicht<br />
wahrgenommen?<br />
Bisherige Bemühungen<br />
Doch – sie war es und wir haben sie wahrgenommen.<br />
Umfängliche Bemühungen wurden unternommen.<br />
Verantwortungsbewusste, die Unterschiedlichkeit<br />
deutlich wahrnehmende Pädagogen<br />
waren es, die sich bemüht haben, allen – ganz<br />
gleich welche Möglichkeiten und Bedingungen sie<br />
mitbrachten – die Chance auf Bildung zu ermöglichen<br />
und damit größere Teilhabe zu gewährleisten.<br />
Schulen entstanden für Kinder und Jugendliche,<br />
die nicht hören oder sehen konnten, die deutlich<br />
in ihren Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt<br />
waren, die nicht so leicht und schnell lernen konnten<br />
wie altersgleiche oder nicht in der Lage waren,<br />
Sprache optimal zu nutzen. Ein ganzes Heer<br />
von Pädagogen und Wissenschaftlern mühte sich,<br />
forschte und untersuchte und fand viele Möglichkeiten<br />
der Unterstützung und Hilfestellung, die es<br />
vorher nicht gab.<br />
Verdienste nicht in Frage stellen<br />
Es wird den Bemühungen vieler engagierter<br />
Sonderpädagogen und Wissenschaftlern sicher<br />
nicht gerecht, wenn man sie nun in der Debatte<br />
um Inklusion vorschnell als diejenigen hinstellt,<br />
die Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen<br />
ausgrenzen oder separieren. Sicherlich sind<br />
die wesentlichen Eckpfeiler und Garanten einer<br />
solch wichtigen Pädagogik eben nun immer noch<br />
die existierenden Sonder(Förder)schulen. Sicherlich<br />
kann und muss man über die Organisationsformen<br />
und -strukturen des Sonder(Förder)schulwesens in<br />
Deutschland nachdenken und es möglicherweise<br />
auch in Frage stellen – nicht aber in Frage stellen<br />
darf man die Verdienste und Errungenschaften<br />
einer Sonder(Förder)pädagogik und eines Sonder(Förder)schulwesens,<br />
die nachweislich dazu<br />
beigetragen haben, dass Teilhabe für viele erst<br />
möglich wurde.<br />
Erkenntnisse der Förderschulen umsetzen<br />
Wo waren denn Kinder und Jugendliche mit<br />
Beeinträchtigungen vorher, wo wurde ihnen Bildung<br />
zu teil? Schaffen wir es nicht, die verschiedenen<br />
sonder(förder)pädagogischen Erkenntnisse<br />
der letzten Jahrzehnte weiter umfänglich in der<br />
Praxis umzusetzen und zu studieren – und zwar<br />
unter Rahmenbedingungen, wie wir sie jetzt endlich<br />
in besonderen schulischen Systemen erreicht<br />
haben und schaffen wir es nicht, den jeweiligen<br />
Fachwissenschaften die notwenigen Ressourcen<br />
zu sichern, gefährden wir leichtfertig die Teilhabe<br />
Beeinträchtigter und die Weiterentwicklung sonder(förder)pädagogischer<br />
Erkenntnisse und Kompetenzen!<br />
Plus an Ressourcen stemmen<br />
Modelle wie die neue Fassung der Sonderpädagogischen<br />
Grundversorgung in Niedersachsen<br />
(zunächst zurückgenommen – jetzt erneut in der<br />
Diskussion) beschreiben zwar, dass bei der Umwandlung<br />
des Bildungssystems und der Auflösung<br />
von Förderschulen die personellen und materiellen<br />
Ressourcen im Bildungssystem bleiben, führen<br />
aber nicht aus, wo und vor allem in welchen<br />
Umfang für das jeweilige Kind. Kinder und Jugendliche,<br />
die aufgrund ihrer Beeinträchtigungen<br />
besondere Erfordernisse beim Lernen mitbringen,<br />
gleich welcher Art, benötigen ein großes Plus an<br />
personellen, zeitlichen, materiellen, räumlichen<br />
und pädagogischen Ressourcen. Eine Dezentralisierung<br />
erschwert diesen Tatbestand.<br />
Keine Eile, sondern reife Konzepte<br />
Werden keine zusätzlichen umfänglichen finanziellen<br />
Mittel in die inklusive Förderung investiert,<br />
werden keine griffigen und funktionierenden und<br />
mit allen Beteiligten erarbeitete und von diesen<br />
mitgetragenen Konzepte entwickelt und erprobt,<br />
wird Inklusion zur »Sparklusion«! Die Eile ist nicht<br />
notwendig, im Gegenteil: Sie birgt die Gefahr, das<br />
nicht gereifte und durchdachte und wirklich gewinnbringende<br />
Konzepte zum Tragen kommen,<br />
sondern das Inklusion auf ein lediglich plakatives<br />
inhaltsloses »Dabeisein« reduziert wird.<br />
Barrieren sehen und beseitigen<br />
Die Förderung beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher<br />
in vorschulischen und schulischen Einrichtungen<br />
bedarf auch nach der Unterzeichnung<br />
der UN-Behindertenrechtskonvention durch die<br />
Bundesrepublik und im Hinblick auf die geforderte<br />
Inklusive Bildung umfängliche sonderpädagogische<br />
Professionalität. Diese muss auch im inklusiven<br />
Bildungssystem für jede(n) einzelne(n) Betroffene(n)<br />
in ausreichendem Maße gesichert sein.<br />
Barrieren, hier verstanden als jegliche das Lernen<br />
des Einzelnen beeinträchtigende Rahmenbedingungen,<br />
müssen in allen Schulen, auch in inklusiven<br />
Schulen gesehen, wahrgenommen und beseitigt<br />
werden. Es wird immer wieder an allen Stellen<br />
deutlich darauf hingewiesen, dass die Ausbildung<br />
und der Einsatz von „fachlich qualifiziertem“ (im<br />
Sinne von sonderpädagogischer Fachlichkeit) Personal<br />
dringend notwendig ist – ja, das Inklusion<br />
eher mehr, denn weniger Fachlichkeit braucht!<br />
Enger zusammenrücken<br />
Barrierefreies Lernen sollte das Ziel einer inklusiven<br />
Bildung sein. Ob dieses barrierefreie Lernen<br />
an einer inklusiven Schule, einer Sonder(Förder-)<br />
schule oder irgendeiner anderen Schule umgesetzt<br />
wird, ist dabei eher zweitrangig. Sonderpädagogische<br />
Fachwissenschaften werden weiterhin als<br />
Triebkraft sonderpädagogischen Forschens und<br />
Handelns dringend benötigt, um auch in einer sich<br />
verändernden Schullandschaft die notwendigen<br />
Kompetenzen gezielter Interventionen sicherstellen<br />
zu können. Hier müssen Politik, Verbände und<br />
die Fachwissenschaft in den nächsten Jahren noch<br />
enger zusammenarbeiten.<br />
Bitte nicht herausreden!<br />
„Es gibt keine Entschuldigung dafür, Kindern<br />
eine gute Kindheit vorzuenthalten, in der sie ihre<br />
Fähigkeiten voll entfalten können“, sagte einst<br />
Nelson Mandela.<br />
Es gibt aus meiner Sicht auch keine Entschuldigung<br />
dafür, Kindern und Jugendlichen bei der<br />
Unterstützung der Entfaltung ihrer Fähigkeiten<br />
notwendige Hilfestellungen und Unterstützungsleistungen<br />
zu verweigern oder nicht mehr anbieten<br />
zu können.<br />
—<br />
1-2013<br />
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