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Heft lesen... - Philologenverband Sachsen

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Erziehung wohin?<br />

Vor dem Hintergrund denkbar schlechter Rahmenbedingungen<br />

für gymnasiale Bildung hier<br />

in <strong>Sachsen</strong> ist es – trotz ständiger berufspolitischer<br />

Auseinandersetzungen – ernsthaft an der<br />

Zeit, darüber nachzudenken, wie wir verhindern,<br />

dass uns das aufgezwungene Tagestempo des<br />

Wettbewerbs nicht überrennt und vom bildungspolitischen,<br />

gymnasialen Grundanliegen abbringt.<br />

Vor 22 Jahren glaubte ich zu wissen, wie der<br />

„Pfad gymnasialer Erziehung und Bildung“ zu<br />

beschreiten sei. Heute weiß ich nicht, in welcher<br />

Weise wir in den nächsten Jahren lehren und<br />

lernen werden. In der augenblicklichen, unübersichtlichen<br />

und unbefriedigenden Situation stellt<br />

sich die Frage des Schüler- und Lehrerdaseins<br />

am sächsischen Gymnasium auf ganz neue<br />

Weise.<br />

Wir erleben, dass wir in eine Zukunft unterwegs<br />

sind, vor der wir Angst haben, da wir als Praktiker<br />

nur eine ungefähre, unheilvolle, vielleicht auch keinerlei<br />

Vorstellung von ihr haben.<br />

Ein strategisches Agieren wird immer schwerer.<br />

„Augen zu und durch! WIR machen das<br />

schon! Wer soll’s denn sonst richten?“<br />

Vom Dramatiker und Theaterkritiker Egon Fridell<br />

stammt der kesse, vielleicht auch nicht ganz ernst<br />

gemeinte Satz:<br />

„Was das Gymnasium wert ist, sieht man<br />

weniger an denen, die es besucht haben, als<br />

an denen, die es nicht besucht haben.“<br />

Solcher Bildungsdünkel steht uns heute nicht<br />

mehr gut an, trotzdem bleibt die Frage berechtigt,<br />

was gymnasiale Bildung unserer Gesellschaft wert<br />

ist bzw. welche Zukunft die gymnasiale Bildungsidee<br />

heute in <strong>Sachsen</strong> noch hat, in einer Zeit, in der<br />

sehr viel über Bildung geredet, aber viel zu wenig<br />

für diese getan wird.<br />

Was das Gymnasium ausmache, meint Heinz-Peter<br />

Meidinger, Bundesvorsitzender des Deutschen<br />

<strong>Philologenverband</strong>es, sei die Verbindung von möglichst<br />

breiter Allgemeinbildung mit der gymnasialtypischen<br />

Vertiefung, dem problemorientierten<br />

Eindringen in wichtige Themengebiete.<br />

Das sächsische Gymnasium von heute bedarf,<br />

insbesondere vor dem Hintergrund der ständigen<br />

berufspolitischen Auseinandersetzungen, mehr<br />

denn je einer Rückbesinnung auf seinen eigentlichen<br />

Bildungsauftrag.<br />

Es benötigt mehr denn je Bereiche der Reflexion<br />

über sich selbst – in Kunst und Musik, in Gesellschafts-<br />

und Naturwissenschaft, in Literatur und<br />

Sprache – und genug Zeit, um nicht in der Hektik<br />

des Alltages fortgeschwemmt zu werden.<br />

In den Präambeln der Gymnasiallehrpläne<br />

<strong>lesen</strong> sich Bildungsziele wie:<br />

Das Gymnasium vermittelt eine vertiefte Allgemeinbildung<br />

als Voraussetzung für ein Universitäts-<br />

oder Hochschulstudium sowie als<br />

Grundlage für anspruchsvolle Berufsausbildungen.<br />

Es fordert und fördert in besonderer Weise<br />

die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler<br />

zu abstrakter, theoretischer, vernetzter und<br />

selbständiger geistiger Durchdringung komplexer<br />

und komplizierter Lerninhalte, wobei<br />

deren Einbettung in Geschichte, Gesellschaft<br />

und Kultur stets mitbedacht werden soll. Die<br />

Schülerinnen und Schüler werden zu vernunftgemäßem,<br />

verantwortungsbewusstem und<br />

wertorientiertem Handeln angehalten; bei der<br />

über die Schule angebahnten Persönlichkeitsentwicklung<br />

spielt Ganzheitlichkeit und vor<br />

allem auch die ästhetische Bildung eine große<br />

Rolle.<br />

Einzelne Aspekte dieser Beschreibung finden sich<br />

in den Lehrplänen für andere Schularten ebenso.<br />

Also,was ist eigentlich das „Gymnasiale“<br />

am Gymnasium?<br />

Es ist nicht die Frage, ob sich das Gymnasium<br />

neuen Anforderungen veränderter gesellschaftlicher<br />

Situationen und Entwicklungen stellen muss,<br />

das gilt für die anderen Schularten auch.<br />

Es ist nicht die Frage, ob das Gymnasium zu<br />

Reformen und Innovationen in der Lage ist, auch<br />

das müssen andere Schulformen sein.<br />

Vielmehr geht es um die entscheidende Frage,<br />

ob sich unsere Gesellschaft noch eine exponierte<br />

Art des institutionalisierten Lehrens<br />

und Lernens leisten will.<br />

Im Kern geht es um das Selbstverständnis der<br />

Schulform Gymnasium und ob diese Form der Bildung<br />

der Gesellschaft und den nachwachsenden<br />

Generationen einen Nutzen bringt, der nur durch<br />

das Gymnasium erbracht werden kann.<br />

1. Das „Gymnasiale“ an der gymnasialen<br />

Bildung ist ein andersartiger Zugriff auf die<br />

Wissens-, Wert- und Lebensbereiche der Gesellschaft<br />

und der sie prägenden Kultur. Gymnasiale<br />

Bildung ist nicht nur anderswertig, sondern<br />

auch andersartig. Gymnasiale Bildung<br />

wird durch Niveaudifferenzierung bestimmt. Es<br />

sind Niveauabstände, welche das „Gymnasiale“<br />

profilieren.<br />

2. Gymnasiale Bildung definiert und begründet<br />

sich durch Anforderungsniveaus, die sich in<br />

einem Kanon von Leistungsstandards zeigen.<br />

Standards definieren steigende Lernniveaus,<br />

die sich über individuelle Lernleistungen erreichen<br />

lassen, aber es müssen deutliche Standards<br />

der Bildung sein, nicht lediglich<br />

solche des Lernens. Gymnasiale Bildung<br />

ist immer niveauorientiert mit Abgrenzungen<br />

nach unten und einem offenen Zuwachs nach<br />

oben. Gymnasiale Bildung ist die Chance, Zugang<br />

zu finden zu allen Feldern des Wissens<br />

und Könnens, im weiteren Sinne des Verstehens<br />

von Welt! (Humboldt’scher Bildungsbegriff).<br />

Das Verstehen von Welt und der Zugang zu allen<br />

Feldern des Wissens und Könnens, wie am<br />

Gymnasium praktiziert, fokussiert auf eine Auseinandersetzung<br />

mit diesen Feldern, die ohne<br />

jegliche Rücksicht auf den direkten Lernnutzen<br />

und die unmittelbare Verwertbarkeit<br />

in der Gesellschaft erfolgt.<br />

3. Gymnasiale Bildung ist charakterisiert durch<br />

besondere, kulturell definierte Lernherausforderungen<br />

und muss sich in den Standards der<br />

fachlichen Anforderungen unterscheiden.<br />

Dabei muss der Kanon lernfähig bleiben, offen<br />

sein für Entwicklungen, Revisionen vornehmen,<br />

ohne Niveaus zu verlieren. Lehrende<br />

und Lernende definieren ihre Leistungsziele<br />

und verändern Problemlösungswege und Inhalte.<br />

Das wissenschaftspropädeutische<br />

Lernen am Gymnasium präsentiert nicht<br />

lediglich Gesetze und Fakten, sondern muss<br />

das Lernen des Wissens durchsichtig und<br />

die Bedeutung des Wissens einsichtig machen.<br />

4. Das Gymnasiale der gymnasialen Bildung<br />

machen nicht Schlüsselqualifikationen,<br />

die an beliebigen Lerninhalten eingeübt<br />

werden können, aus, sondern Lernherausforderungen<br />

mit einem hohen kognitiven und<br />

motivational-emotionalen Anforderungsgehalt.<br />

—<br />

1-2013<br />

3

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