AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen
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vergessen, die das Zeichen des<br />
fremden Volkes der Steppe war. Anna<br />
begann das verwünschte Kind zu<br />
lieben und hätte es um keinen Preis<br />
der Welt mehr hergegeben.<br />
Heute, auf diesem dunklen Bahnhof<br />
mit den vielen hastenden Menschen,<br />
die alle ein Zuhause hatten, kam sie<br />
sich selbst so hilflos vor, dass sie<br />
sich an das zarte Händchen des Kindes<br />
klammerte.<br />
„Hat Tante Maria wirklich ein weißes<br />
Bett und immer soviel Brot, wie sie<br />
nur essen will?“ fragte die Dreijährige<br />
mit leiser Stimme. „Im Lager hat sie<br />
mir versprochen, soviel Kerzen anzuzünden,<br />
wie ich Finger habe, wenn<br />
ich sie zu Hause besuchen würde!“<br />
Anna schluckte an den Antworten auf<br />
diese armseligen Fragen und Wünsche.<br />
„Tante Maria wird ihre Versprechen<br />
halten!“ Sie zog Angelika durch<br />
die Sperre.<br />
Da blieben ihre Augen an einem<br />
gänzlich ungewohnten Anblick hängen.<br />
Zwischen den kahlen Bäumen<br />
einer Allee schwebten viele bunte Laternen,<br />
die von Kindern getragen<br />
wurden, deren helle Stimmen ein unbekanntes<br />
Lied sangen.<br />
„Was ist das?“ fragte Angelika.<br />
„Ich weiß es nicht! antwortete Anna<br />
und verstand einige Liedfetzen, die<br />
das Wort Sankt Martin wiederholten.<br />
Jetzt marschierten die Kinder dicht<br />
an ihnen vorbei. Vorneweg ritt ein<br />
weißhaariger, schön gewandeter<br />
Mann mit einer Bischofsmütze. Angelikas<br />
Augen hingen wie verzaubert an<br />
den leuchtenden Lampions und der<br />
hellen Erscheinung. „So viele Kerzen,<br />
Mutter!“ flüsterte sie heiser vor Erregung.<br />
„Und vorn der liebe Gott! Reitet<br />
er mit den Kindern in den Himmel?“<br />
„Ich weiß es nicht!“ antwortete Anna<br />
wieder, die sich als Protestantin die<br />
Martinsgestalt nicht erklären konnte.<br />
Doch ihr Herz war angerührt worden<br />
von den wenigen Worten, die sie<br />
deutlich verstanden hatte. „Ach, helft<br />
mir doch in meiner Not, sonst ist der<br />
böse Frost mein Tod!“ Sie dachte an<br />
ein Stück sibirischen Urwaldes, in<br />
dem schattenhafte Gestalten bei klirrender<br />
Kälte Bäume fällen mussten.<br />
Und angesprochen von dem fremden<br />
Liede packte sie Angelika und ihre<br />
letzten Habseligkeiten und reihte sich<br />
in den Zug ein.<br />
Zu gleicher Zeit mit dem Martinszug<br />
hatte auf dem Marktplatz der schwere<br />
Wagen des Dr. van Ackern gehalten,<br />
der von einer erfolgreichen Geschäftsbesprechung<br />
aus den<br />
Webereien vor den Toren der Stadt<br />
kam. Das alt vertraute Martinslied<br />
hing ihm im Ohr, und er summte es<br />
unwillkürlich mit. Langsam schlenderte<br />
er der Menschenansammlung zu,<br />
um sich die Szene der Mantelteilung<br />
anzusehen. Er kam neben Anna zu<br />
stehen. Angelika stellte sich gerade<br />
auf die Zehenspitzen und flehte:<br />
„Mutter, ich kann den lieben Gott<br />
nicht mehr sehen!“ Er drehte sich belustigt<br />
um und sagte lachend zu dem<br />
kleinen Ding tief unter sich: „Na,<br />
komm, du gläubiges Vögelchen, ich<br />
zeige ihn dir wieder.“<br />
Er hob sie auf seinen Arm. Anna ließ<br />
die kleine Hand nicht los, und da erst<br />
merkte er, dass die zwei zusammengehörten.<br />
„Ich nehme sie Ihnen nicht<br />
weg!“ Er schob Angelika noch ein<br />
wenig höher, und dabei streifte seine<br />
Nase ihren grauen Mantel. Diesem<br />
entstieg der unangenehme Desinfektionsgeruch<br />
des Durchgangslagers.<br />
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