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AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen

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Der Junge holte die Waschschüssel,<br />

gab erst Wasser und dann den Fisch<br />

hinein. Er sah zu, wie er ein paar<br />

Runden drehte, bevor er am Rand<br />

der Schüssel liegen blieb und ihn anblickte.<br />

„Du hast den Regenwurm gehabt,<br />

und ich hab’ dich“, sagte er.<br />

„Wenn ich ihn morgen auf den Tisch<br />

bringe, werden wir Kerzen anzünden“,<br />

erklärte die Mutter. „Was<br />

meinst du, soll ich ihn kochen oder<br />

braten?“<br />

Der Junge rührte mit den Händen<br />

das Wasser und schaute dem Fisch<br />

zu. Ab und zu packte er ihn, hob ihn<br />

hoch, um ihn wieder ins Wasser gleiten<br />

zu lassen. Wie elegant er seine<br />

Kreise zog, den Körper dem Oval der<br />

Schüssel anpasste, sanft mit den<br />

Flossen schlug, ohne dass ein Spritzer<br />

auf den Tisch gelangte.<br />

„Du bist ein guter Fisch“, sagte der<br />

Junge. „Ich habe dich gerufen, und<br />

du bist aus dem Wasser gekommen.<br />

Du hast an meinen Haken gebissen,<br />

als ich schon nicht mehr glaubte,<br />

dass wir einen Weihnachtsbraten bekommen<br />

werden.“<br />

Der Fisch hob den Kopf und<br />

brubbelte Blasen ins Wasser.<br />

„Ich kann ihn nicht töten“, sagte der<br />

Junge, „er ist ein guter Fisch.“<br />

„Wenn es so ist, werden wir Pellkartoffeln<br />

mit Salz zum Fest essen“, rief<br />

die Mutter.<br />

„Wenigstens diese eine Nacht soll er<br />

in der Schüssel schwimmen“, antwortete<br />

der Junge. „Morgen bringe<br />

ich ihn zurück zum Weiher.“<br />

„Es wird deinem Fisch nicht viel helfen“,<br />

meinte sie. „Bald wird der Besitzer<br />

des Teiches sein Netz durchs<br />

Wasser ziehen und ihn wieder einfangen.<br />

Er wird ihn auf der Stelle totschlagen<br />

und braten, vielleicht zum<br />

Neujahrsfest. Oder er gibt ihn für<br />

Geld in den Fischladen, damit einer<br />

kommt und ihn kauft. So ist das nun<br />

mal mit Fischen.“<br />

„Ich werde ihn in der Waschschüssel<br />

lassen, bis der Teich abgefischt ist“,<br />

sagte der Junge. „Danach werde ich<br />

ihn aussetzen.“<br />

„In der Schüssel wird er sterben, sie<br />

ist ihm zu eng. Fische brauchen große<br />

Gewässer.“<br />

Sie ließen den Fisch über Nacht in<br />

der Schüssel. Es war die Heilige<br />

Nacht, und der Junge dachte, dass<br />

er noch nie so reichlich beschenkt<br />

worden war wie mit diesem Fisch. Ab<br />

und zu hörte er ihn plätschern. Er<br />

träumte von einem großen Haus mit<br />

vielen Gästen und von jenem Früher,<br />

über das die Mutter so gern sprach.<br />

Am Eingang des Hauses sah er ein<br />

Bassin mit grünlich schimmerndem<br />

Wasser und in dem Wasser unzählige<br />

Fische, die so unbeschwert umher<br />

schwammen, als wüssten sie nichts<br />

von Kochtöpfen und Bratpfannen. Ab<br />

und zu traten Gäste an den Rand<br />

des Bassins, um mit ausgestrecktem<br />

Finger zu bestimmen, welchen Fisch<br />

sie zu Abend verspeisen wollten.<br />

„So ist das nun mal mit Fischen“,<br />

sagte die Mutter im Traum.<br />

„Aber dies ist ein guter Fisch“, antwortete<br />

der Junge. Er dachte daran,<br />

ihn in einen entfernten See zu bringen,<br />

wo niemand angelte oder Netze<br />

auswarf. Vielleicht sollte er ihn zum<br />

Meer tragen.<br />

„Auch im Meer werden sie ihn fangen“,<br />

hörte er Mutters Stimme. „Es<br />

gibt kein Wasser, in dem nicht Fische<br />

gefangen werden. Die Fischdampfer<br />

durchpflügen die Ozeane mit mächtigen<br />

Netzen. Wenn nicht sie ihn fan-<br />

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