AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen
AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen
AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Der Fisch<br />
Von Arno Surminski<br />
Morgen soll Weihnachten sein, aber<br />
wir haben nichts zu essen. Früher gab<br />
es knusprigen Braten, die Stube duftete<br />
nach braunen Kuchen, und in<br />
den Tannenzweigen hingen Schokoladenkringel.<br />
Früher war alles besser.“<br />
Das sagte sie am Heiligen Abend,<br />
und der Junge dachte an jenes Früher,<br />
das er nicht kannte, von dem die<br />
Mutter so gern erzählte, an das er<br />
sich aber nicht mehr erinnerte.<br />
„Ich könnte am Bahndamm Schlingen<br />
stellen, vielleicht fange ich ein<br />
Kaninchen.“<br />
„Ach, die Kaninchen! Bei diesem<br />
Wetter bleiben sie in ihren Höhlen<br />
und denken nicht daran, zu uns in die<br />
Bratpfanne zu kommen.“<br />
„Oder eine Taube“, sagte der Junge.<br />
„Unter der Eisenbahnbrücke nisten<br />
sie und gurren den ganzen Tag.<br />
Wenn ich Steine werfe, werde ich<br />
vielleicht eine treffen. Du weißt, ich<br />
kann gut werfen.“<br />
„Ja, ein Täubchen im Kochtopf wäre<br />
etwas Gutes“, meinte sie und erzählte<br />
vom Schlaraffenland, wo gebratene<br />
Tauben in offene Mäuler fliegen.<br />
Der Junge stellte Schlingen, aber die<br />
Kaninchen blieben in ihren Höhlen.<br />
Als er sich der Brücke näherte, rasselte<br />
ein Zug vorüber, und die Tauben<br />
flogen auf und davon.<br />
„Ich werde zum Weiher gehen, vielleicht<br />
fange ich einen Fisch“, sagte er.<br />
„Warte, bis es dunkel ist“, antwortete<br />
die Mutter. „Sonst kommt der Besitzer<br />
des Teiches mit seinen Hunden.“<br />
Aus Bindfäden knotete er eine Leine,<br />
an deren Ende er ein Stück Draht befestigte.<br />
Im Straßengraben grub er<br />
tief, bis er einen Regenwurm fand,<br />
den er auf den Draht spießte.<br />
„Denk an die Hunde“, sagte die Mutter,<br />
als er in der Dämmerung aufbrach.<br />
Er kannte den Weiher. Im Sommer<br />
hatte er darin gebadet, als das Wasser<br />
warm und zur Hälfte mit Seerosen<br />
bedeckt gewesen war. Nun sah<br />
er düster aus, ringsum stank es nach<br />
Moder, das trockene Schilf raschelte.<br />
Er setzte sich ans Ufer, warf den<br />
Bindfaden mit Draht und Wurm ins<br />
Wasser, es platschte laut.<br />
„Du kannst kommen, Fisch!“ rief er.<br />
Dem Wasser fehlten die Wellen. Bald<br />
wird es frieren, dachte der Junge, die<br />
Fische werden auf den Grund fallen<br />
und einschlafen. Fern heulte ein<br />
Hund, noch ferner läuteten Glocken<br />
den Heiligen Abend ein. Er sah kein<br />
Licht, keinen Stern, und doch war es<br />
so ungewöhnlich still und feierlich wie<br />
an keinem anderen Abend.<br />
„Jetzt fängt Weihnachten an“, sagte<br />
der Junge zu dem Fisch, den er fangen<br />
wollte. Er war stolz darauf, dass<br />
nur er und niemand sonst in der Heiligen<br />
Nacht am Weiher stand, um zu<br />
angeln. Die anderen saßen in der Kirche<br />
oder sangen Lieder unter geschmückten<br />
Tannenbäumen, einige<br />
aßen auch braune, knusprige Braten<br />
wie früher.<br />
„Fisch“, sagte der Junge, „wenn du<br />
nicht an die Angel gehst, werden<br />
wir Weihnachten nichts zu essen<br />
haben. Ich bin schon zufrieden mit<br />
einem kleinen Fisch, ungefähr so<br />
groß wie eine ausgestreckte Hand<br />
oder lieber zwei Hände. Fisch,<br />
53