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AHB 254_PDF24 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen

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Van Ackern wandte seinen Blick<br />

nochmals der Frau zu. Sie starrte mit<br />

weit geöffneten Augen und streng<br />

geschlossenem Mund auf den Platz,<br />

wo St. Martin den Mantel schlitzte.<br />

„Mutter da liegt ein Gefangener!“<br />

sagte Angelika und presste ihre kleine<br />

Faust gegen die Wange. Mit erregter<br />

Anteilnahme verfolgten beide<br />

das Spiel. Der Mann sah betroffen<br />

von der Frau zu dem Kind und zurück.<br />

Jetzt spürte Anna seinen Blick.<br />

„Wir kommen aus Russland!“ entschuldigte<br />

sie ihr Kind. „Angelika<br />

kennt vieles nicht, was sie jetzt zu<br />

sehen bekommt.“<br />

Der nüchterne Geschäftsmann war<br />

gerührt. Er begann gleichmäßig Angelikas<br />

Köpfchen zu streicheln, die<br />

jetzt erst begriff, dass sie auf dem<br />

Arm eines fremden Menschen saß.<br />

Sofort strebte sie der Mutter zu.<br />

Doch er drängte sie sanft zurück.<br />

„Bleib bei mir, Angelika. Ich erzähle<br />

dir die Geschichte von St. Martin und<br />

dem armen Mann!“ Und mühsam<br />

und stockend brachte er die rührendschöne<br />

Legende zusammen, und im<br />

Spiegel ihres durchsichtigen, fremdartigen<br />

Gesichtchens erkannte er zum<br />

ersten Male den beglückenden Sinn<br />

dieser barmherzigen Mantelteilung.<br />

„Du bist ein Engelchen!“ sagte er leise,<br />

und sein Blick lief das dünne Ärmchen<br />

entlang zu des Kindes roter Hand, die<br />

fast ganz in der mütterlichen verschwand.<br />

Dann sah er in Annas Gesicht.<br />

Seine Worte hatten es erleuchtet.<br />

„Jetzt sieht sie viel jünger aus als<br />

vorhin!“ dachte er. Behutsam fragte<br />

er nach ihrem Schicksal, und unter<br />

dem Eindruck des eben Erlebten löste<br />

sich ihre Zunge, und sie erzählte<br />

Weniges.<br />

Er brachte sie zu Maria – und er kam<br />

immer wieder. Bisher hatte er geglaubt,<br />

seine Pflicht gegen die Nöte<br />

der Zeit zu erfüllen, wenn er regelmäßig<br />

seine Unterschrift unter eine Zahlungsanweisung<br />

für wohltätige Zwecke<br />

setzte. Dieses eigenartige Kind<br />

und seine verschlossene Mutter lehrten<br />

ihn, dass das persönliche Geben<br />

wirklich eigene Bereicherung bedeutet,<br />

wenn es mit behutsamem Herzen<br />

geschieht.<br />

Wie mit magnetischen Kräften zog es<br />

ihn an jedem Wochenende zu den<br />

beiden Menschen, die durch ihr außergewöhnliches<br />

Schicksal so hellsichtig<br />

für die wirklichen Werte des<br />

Daseins geworden waren. Und als<br />

Angelika sich von ihrer heiß geliebten<br />

Stoffpuppe trennte, die ihr mütterliche<br />

Hände im Lager gebastelt hatten, um<br />

sie ihm zum Geburtstag zu schenken,<br />

fasste er nach Annas Hand und bat<br />

sie, seine Frau zu werden.<br />

Seither ist das große Haus, das nach<br />

dem Tode seiner ersten Frau und<br />

den abwesenden erwachsenen Kindern<br />

so leer geworden war, wieder<br />

mit warmem Leben erfüllt.<br />

An jedem Martinstag besuche ich<br />

Anna. Zur Zeit des Martinszuges sehe<br />

ich die Silhouette ihres schmalen<br />

Kopfes in ihrem Blumenfenster. Sie<br />

wartet auf ihren Mann und Angelika,<br />

die beide jedes Jahr in dem singenden<br />

Zug der Kinder mitziehen, den<br />

der „liebe Gott“ anführt. Denn das<br />

nachdenkliche Russlandkind lässt<br />

sich seine Deutung der Martinsgestalt<br />

nicht nehmen.<br />

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