Ausgabe 1207.pdf - Theater-Zytig
Ausgabe 1207.pdf - Theater-Zytig
Ausgabe 1207.pdf - Theater-Zytig
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
18 Spotlicht 1207<br />
Fundus<br />
Fundus<br />
1207 Spotlicht 19<br />
bild:photo saeger, fotostream perfoming arts flickr.com<br />
Füllmaterial für Programmhefte<br />
Das grosse Vorbild Dietrich Jenke<br />
Aribert Wäscher (1895–1961)<br />
Ein ganz besonderes Idol war es, das Aribert<br />
Wäscher bestärkte, den Weg eines<br />
Schauspielers zu wählen:<br />
Jeder, der am Deutschen <strong>Theater</strong> engagiert<br />
war, kannte ihn, den Universal-<br />
Schauspieler, das dramatische Mädchen<br />
für alles: Dietrich Jenke.<br />
Bescheidener Diener am Werk, ewiger<br />
«dritter Bürger», «fünfter Hauptmann»,<br />
«Herr aus dem Gefolge der Königin», «ein<br />
Bote ...», unbekannter Soldat der Schauspielkunst,<br />
nun längst verblichen, gefallen,<br />
jämmerlich ausgerutscht auf den Brettern<br />
der Ehre und Eitelkeit im Kampf mit<br />
dem Dämon und dem ständig drohenden<br />
Abbau der kleinen und kleinsten Gagen.<br />
Siebzehn Jahre alt war ich. Meine Faulheit,<br />
Unaufmerksamkeit, Unwissenheit in<br />
der Schule nahmen erschreckende Formen<br />
an.<br />
Der <strong>Theater</strong>fimmel hatte mich gepackt.<br />
Keine Premiere im Deutschen <strong>Theater</strong>,<br />
der ich nicht beiwohnte im lebensgefährlichen<br />
Gedränge des Stehparketts.<br />
Das Geld für die Karten erschnorrte und<br />
erbettelte ich im elterlichen Hause auf die<br />
unwürdigste Weise.<br />
Es ist wohl überflüssig, zu erzählen, mit<br />
welcher Begeisterung mich die Leistungen<br />
der grossen Schauspieler der damaligen<br />
Glanzzeit erfüllten. Jeder kannte diese verehrungswürdigen<br />
Namen und oft Gesagtes<br />
wäre nur zu wiederholen. Ich glaube es<br />
genügt, wenn ich gestehe: Sie waren für<br />
mich schlechthin Götter. Ganz hinten, in<br />
der kleinsten, dunkelsten Kammer meines<br />
Herzens wohnte der irrsinnige Wunsch,<br />
einmal zu werden wie sie.<br />
Öfter und öfter aber kam mir folgender<br />
Gedanke: «Der Bote, der Diener mit dem<br />
einen Satz, das sind in einem solchen<br />
Ensemble schon ganz erstklassige Künstler.<br />
Ihre Rollen spielen zu dürfen, das<br />
allein wäre bereits ein Ziel, nicht unwürdig<br />
einer Seele, die nach dem Höchsten<br />
strebt.» Und so begann ich allmählich<br />
mein ganzes Interesse mehr und mehr<br />
auf die Darsteller der kleinen Rollen zu<br />
richten.<br />
Don Carlos, fünfter Akt, fünfter Auftritt,<br />
ein Offizier der Leibwache (dringt ein):<br />
«Ganz Madrid in Waffen! Zu Tausenden<br />
umringt der wütende Soldat, der Pöbel<br />
den Palast. Prinz Carlos, verbreitet man,<br />
sei in Verhaft genommen usw.» Auf der<br />
Bühne steht, alle überragend, ein bildschöner,<br />
hochgewachsener Jüngling.<br />
In wilder Erregung und doch mit edlem<br />
Anstand und einem verführerischen<br />
Schmelz in der Stimme bringt er die<br />
Hiobspost, versteht er es, mit einem Satz<br />
von nur wenigen Zeilen plastisch und<br />
erschreckend lebendig einen fürchterlichen<br />
Aufruhr zu malen.<br />
Aufgewühlt bis ins Innerste blickte ich in<br />
das Programm und da lese ich: «Ein Offizier<br />
der Leibwache… Dietrich Jenke.»<br />
Seit diesem Abend gehörten meine ganze<br />
Liebe und Verehrung diesem Dietrich<br />
Jenke. Zu niemandem wagte ich von<br />
dieser heimlichen Liebe zu sprechen;<br />
wo alles diese oder jene Berühmtheit<br />
anbetete, hätte ich mich mit meinem<br />
völlig unbekannten Dietrich Jenke nur<br />
lächerlich gemacht. Oh, wie fieberte<br />
ich jedesmal, bevor er auftrat, seine drei<br />
Worte oder eine spärliche Meldung sagte.<br />
Und endlich kam ich dahinter! Er war der<br />
grösste Schauspieler von allen, denn das,<br />
was er konnte und was allein seine Spezialität<br />
zu sein schien, hatte ich noch bei<br />
keinem, auch nicht bei dem allergrössten<br />
gesehen: Eine ans Magische grenzende<br />
Verwandlungsfähigkeit. Mein mit ehrfürchtiger<br />
Scheu vermischtes Staunen<br />
über dieses Phänomen kannte keine Grenzen.<br />
Heute war er klein und sehr dick und<br />
hatte eine piepsende Stimme, morgen war<br />
er fast doppelt so gross mit einem Donnerorgan.<br />
Einmal war er blühend jung, ein<br />
halbes Kind noch, ein andermal unwahrscheinlich<br />
alt, ein widerwärtiger, seniler<br />
Greis. Dann wirkte er erstaunlich feminin,<br />
während er sich in einer noch anderen<br />
Vorstellung als zweiter Henkersknecht<br />
geradezu unangenehm männlich-knorke<br />
zu geben verstand. In jeder nur denkbaren<br />
Gestalt, die das menschliche Wesen<br />
einzunehmen imstande ist, erschien er<br />
mir, aber nie wirkte es bei ihm wie bei<br />
anderen als blosse Verstellung. Es konnte<br />
kein Zweifel sein: Immer war seine ganze<br />
Natur von Grund auf völlig verwandelt…<br />
Wirkliche Zauberei! Unbegreiflich, wahrhaftig<br />
unbegreiflich!<br />
Inzwischen hatte ich mich selbst im<br />
<strong>Theater</strong>spielen fleissig geübt, und bald,<br />
nachdem ich als gänzlich hoffnungsloser<br />
Fall aus der Schule rausgeschmissen<br />
worden war, bekam ich auch ein Engagement<br />
in die Provinz. Drei Jahre spielte<br />
ich alles mögliche, grosse und kleine, gute<br />
und schlechte Rollen. Aber kein noch so<br />
bedeutender Erfolg konnte meinen Eifer,<br />
meinem einzigen Idol Dietrich Jenke,<br />
nachzustreben, in mir ertöten. Obwohl<br />
ich mich zusammenkrümmte oder reckte,<br />
dass man für meine Gesundheit fürchten<br />
musste, wie sehr ich meine-Stimme<br />
auch in die Höhe zu schrauben oder nach<br />
unten zu quetschen versuchte, noch hatte<br />
ich nicht ein Tausendstel der unwahrscheinlichen<br />
Verwandlungsfähigkeit meines<br />
Idealbildes erreicht. Da bekam ich ein<br />
Engagement nach Berlin ans Deutsche<br />
<strong>Theater</strong>.<br />
Jetzt endlich sollte ich Dietrich Jenke<br />
persönlich kennenlernen.Wie er wohl<br />
nun in Wirklichkeit aussehen mochte, der<br />
rätselhafte Proteus? Was für eine Stimme<br />
würde er haben? Man kann sich denken,<br />
mit welchen Erwartungen ich zum ersten<br />
Male das Bühnenhaus des Deutschen<br />
<strong>Theater</strong>s betrat.<br />
Ich sollte enttäuscht werden. Nie ergab es<br />
sich, dass ich mit Dietrich Jenke zusammen<br />
zu tun hatte, dass ich ihm einmal<br />
wenigstens Auge in Auge gegenübertreten<br />
durfte. Darüber wunderte ich mich keineswegs,<br />
wenn es mich auch traurig und<br />
immer nur noch neugieriger machte. Bei<br />
dem Riesenbetrieb war es oft genug vorgekommen,<br />
dass Kollegen dort jahrelang zur<br />
selben Zeit miteinander engagiert gewesen<br />
waren und sich doch niemals kennengelernt<br />
hatten.<br />
Da kam «Julius Caesar» neu heraus. Ich<br />
sollte im dritten Akt den Diener des Mare<br />
Anton spielen, der mit Worten tiefster<br />
Unterwürfigkeit dem Brutus eine heuchlerische<br />
Botschaft seines Herrn überbringt.<br />
Und im fünften Akt sollte ich dazu Pindarus,<br />
den Diener des Cassius, übernehmen.<br />
Ich hatte beides auch erfolgreich probiert,<br />
und am Tage der Premiere ging ich wie<br />
üblich an die nächste Anschlagsäule, um<br />
nachzuprüfen, ob ich auf dem <strong>Theater</strong>zettel<br />
auch vorschriftsmässig angezeigt war.<br />
Pindarus, Diener des Cassius… richtig,<br />
mein Name. Aber was ist das? Diener<br />
des Mare Anton… Dietrich Jenke??? Also<br />
hatte ich doch nicht gefallen, man hatte<br />
mich ganz unmöglich gefunden und sich<br />
im letzten Moment Dietrich Jenke dafür<br />
geholt; noch dazu, ohne mir mit einem<br />
Wort davon Mitteilung zu machen. Zerrissen<br />
von Wut und Verzweiflung raste<br />
ich ins Büro und stammelte das unglaublichste<br />
Zeug zusammen. Gewiss; Dietrich<br />
Jenke sei ein genialer Schauspieler, er<br />
verdiente es in erster Linie, diese Rolle<br />
zu spielen, aber ich hätte doch noch<br />
sechs Wochen lang diese Rolle probiert,<br />
und alle hätten mich gut gefunden, und<br />
warum man mir das mit der Umbesetzung<br />
nicht wenigstens gesagt hätte. Alle sahen<br />
mich fassungslos an, bis ihnen endlich<br />
ein Licht aufging, und man mir unter<br />
tollem Gelächter klipp und klar erklärte,<br />
ich könnte mich beruhigen, das mache<br />
man seit vielen Jahren immer so: Wenn<br />
ein Schauspieler zwei Rollen spiele, setze<br />
man hinter die eine Rolle, damit der<br />
Name nicht zweimal auf dem <strong>Theater</strong>zettel<br />
stehen müsse (was einen schlechten<br />
Eindruck machen könnte), den für diesen<br />
Zweck eigens frei erfundenen Namen<br />
Dietrich Jenke. Ich wankte aus dem Büro.<br />
Wie ich nach Hause kam, weiss ich nicht.<br />
Unsagbare Gefühle tobten in mir. Ich<br />
selbst war Dietrich Jenke, ich selbst.<br />
Am Abend spielte ich den Diener des<br />
Mare Anton mit so überzeugender Kraft,<br />
dass ich richtig entdeckt wurde. Der Geist<br />
Dietrich Jenkes war in mich gefahren; ich<br />
selber war er, der unheimliche Zauberer,<br />
geworden. So hatte die leidenschaftliche<br />
Verehrung für einen, den es nie gegeben<br />
hatte, aus mir einen Schauspieler<br />
gemacht.<br />
Zwei Bücher mit engem Bezug zum Amateurtheater<br />
Ferienlektüre<br />
Für viele, die nicht an einer Freilichtinszenierung<br />
beteiligt sind, ist momentan<br />
wieder Ferienzeit. Und selbst jene, welche<br />
nicht Ferien haben, werden sich hin und<br />
wieder ein Plätzchen in einem Schwimmoder<br />
Strandbad sichern. Damit diese Zeit<br />
nicht etwa in Langeweile ausartet, hier<br />
zwei Tipps für Ferienlektüre, welche einerseits<br />
amüsant zu lesen sind, andererseits<br />
erst noch einen Bezug zu unserem Hobby<br />
haben.<br />
Gletschertheater (ISBN 978-3499234934)<br />
von Steinunn Sigurdardóttir<br />
Schauplatz ist<br />
ein kleiner,<br />
abgelegener<br />
Ort in Island,<br />
Protagonist<br />
der Laienspielverein<br />
des Ortes<br />
und in Szene<br />
gesetzt werden<br />
soll «Der<br />
Kirschgarten»<br />
von Anton<br />
Tschechow<br />
vor Gletscherkulisse<br />
Der ungekrönte König des Ortes, von den<br />
Bewohnern nur der Gletsching genannt,<br />
ist reich geworden durch seine Fangquoten.<br />
Ausserdem besticht er durch sein<br />
exzentrisches Auftreten und durch seine<br />
unberechenbaren Ideen und Entscheidungen.<br />
So entdeckt er eines Tages den Dichter<br />
Anton Tschechow und mit ihm das<br />
grösste Stück aller Zeiten, den «Kirschgarten».<br />
Sogleich wird ein grandioses Vorhaben in<br />
Angriff genommen: Das Stück soll genau<br />
am 140. Geburtstag des Autors aufgeführt<br />
werden, und zwar ausschliesslich<br />
mit Männern besetzt. Das langsame, und<br />
aus der Sicht der Souffleuse erzählte Einfügen<br />
der Männer in ihre Frauenrollen<br />
führt zu komischen Szenen und ernsten<br />
menschlichen Verwicklungen, die Grenzen<br />
zwischen Männern und Frauen geraten<br />
ins Fliessen. Für diese Inszenierung soll<br />
eigens ein <strong>Theater</strong> in der kleinen Stadt<br />
entstehen. Ein Millionenprojekt, das den<br />
Ort und seine Bewohner kräftig durcheinander<br />
wirbelt.<br />
Ein Unterhaltungsroman auf sehr hohem<br />
Niveau, nicht nur für Islandreisende<br />
Laienspiel (ISBN 978-3492050739)<br />
Von Volker Klüpfel und Michael Kobr<br />
«Noch 12<br />
Tage, 2<br />
Stunden, 14<br />
Minuten, 38<br />
Sekunden»<br />
– mit diesen<br />
ungewöhnlichen<br />
Kapitelüberschriften<br />
mit den<br />
immer kleiner<br />
werdenden<br />
Zeitspannen<br />
wecken die<br />
Autoren die Neugier des Lesers, und auf<br />
Seite 64 kann diese endlich befriedigt<br />
werden.<br />
Was für die Beamten der Kemptener Polizei<br />
wie ein simpler Routinefall beginnt,<br />
entwickelt sich zum schockierendsten<br />
Verbrechen, das das Allgäu jemals erlebt<br />
hat. Der Selbstmord eines jungen Mannes<br />
bringt nicht nur die Proben der Tell-<br />
Freilichtspiele in Kommissar Kluftingers<br />
heimischem Altusried durcheinander.<br />
Das Unangenehmste an dem Selbstmord<br />
scheinen neben den beiden österreichischen<br />
Polizisten Bydlinski und Haas selber<br />
zunächst die Verwicklungen zu sein, die<br />
durch den eigenmächtigen Einsatz zweier<br />
österreichischer Polizisten auf deutschem<br />
Staatsgebiet entstanden sind. Bei der<br />
Observierung eines für Waffenschiebereien<br />
benutzten Postfaches in Innsbruck,<br />
fiel den Österreichern der junge Mann<br />
auf. Bei der anschliessenden Beschattung<br />
verfolgten ihn die Beamten bis nach<br />
Kempten. Als sie sich dort als Polizisten<br />
zu erkennen geben, erschiesst sich der<br />
Mann.<br />
Der Selbstmörder war vor kurzem zum<br />
Islam konvertiert. Er studierte Maschinenbau<br />
und war, wie man an seiner Hinterlassenschaft<br />
erkennen konnte, offensichtlich<br />
begeisterter Elektronikbastler. Als sich auf<br />
seinem Computer Baupläne für Bomben<br />
finden, wird die Sache doch zu gross und<br />
das BKA wird eingeschaltet. Trotz dem<br />
mittlerweile kultigen Gaudi prägt auch<br />
Kluftingers vierter Fall ein Realismus, der<br />
in diesem Genre selten ist. Gleichzeitig<br />
darf man die kriminelle Handlung nicht<br />
allzu ernst nehmen.<br />
Ein Buch für <strong>Theater</strong>- und Krimiliebhaber