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Kindheit, Jugend, Sozialisation - ZAG der Universität Freiburg

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40 Mona Hanafi El Siofi/ Sven Kommer/ Meike Penkwitt<br />

eher als Begrenzung und Zumutung spezifischer Erfahrungen und Lernmöglichkeiten<br />

zu denken ist denn als direkte Einwirkung“.<br />

Dass auch an<strong>der</strong>e – streckenweise unterkomplexe – Leseweisen des Terminus<br />

‚Selbstsozialisation‘ möglich sind, lässt Scherr in <strong>der</strong> abschließenden Passage<br />

des Textes zumindest anklingen. Aus einer auf ‚Selbstformierung‘ zielenden<br />

zweiten Leseweise destilliert er dann aber eine Reihe von weiteren relevanten<br />

Fragestellungen, die <strong>der</strong> (empirischen) Bearbeitung harren.<br />

Angesichts dessen, dass man sich vom <strong>Sozialisation</strong>sparadigma u. a. mit <strong>der</strong><br />

Rezeption <strong>der</strong> Theorien von Judith Butler abwendete, mag es überraschen,<br />

dass die <strong>Freiburg</strong>er Literaturwissenschaftlerin Astrid Lange-Kirchheim<br />

aus Butlers Arbeiten, wie etwa in <strong>der</strong>en kritischen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />

Freud, eine implizite <strong>Sozialisation</strong>stheorie – überzeugend – herausliest: denn<br />

Butler, so Lange-Kirchheim, „zeigt die Institutionen und Mechanismen auf,<br />

die das Gewordensein des/ <strong>der</strong> Einzelnen, beson<strong>der</strong>s im Hinblick auf ihr/ sein<br />

Geschlecht, bedingen“. Nach Butler setzt bei <strong>der</strong> Geschlechtsentwicklung das<br />

Inzesttabu bei Freud ein Homosexualitätstabu voraus, das zur Melancholie<br />

führt, weil das homosexuelle Begehren des (eigentlich bisexuellen) Objekts<br />

durch die heterosexuelle Matrix aufgegeben werden muss, ohne es betrauern<br />

zu können. Die heterosexuelle Melancholie repräsentierte sich beson<strong>der</strong>s im<br />

Klei<strong>der</strong>tausch des Transvestiten, <strong>der</strong> damit sein unbefriedigtes homosexuelles<br />

Verlangen ausdrückt – und so wird <strong>der</strong> Transvestit zu Butlers Leitfigur einer<br />

quasi „missglückten Geschlechtersozialisation“. Die weibliche Maskerade des<br />

Transvestiten ist für Butler <strong>der</strong> Beweis, dass Geschlechtsidentität nicht etwa<br />

ein ‚natürliches‘ Phänomen ist, son<strong>der</strong>n im Rahmen historisch-kultureller<br />

Imperative per Geschlechtszuweisung („Sei/werde ein Mädchen!“) innerhalb <strong>der</strong><br />

heterosexuellen Matrix hervorgebracht wird, Geschlechtsidentität auf Imitation<br />

beruht, Darstellung ist und die entsprechenden Normen erlernt werden.<br />

Da sich Butler eher auf die geschlechtliche Entwicklung ‚im‘ Individuum konzentriert,<br />

beleuchtet Lange-Kirchheim mit Jaques Laplanche auch die Rolle des<br />

Unbewussten seitens <strong>der</strong> Eltern in <strong>der</strong> <strong>Sozialisation</strong> bzw. in ihrer Interaktion<br />

mit dem Kind. Laplanche greift die von Freud verworfene Verführungstheorie<br />

auf, um den Biologismus innerhalb <strong>der</strong> Psychoanalyse zu überwinden.<br />

Dem Zwang zur Annahme eines Geschlechts bei Butler korrespondiert bei Laplanche<br />

die notwendige, als Trauma konzipierte, Konfrontation mit dem individuellen,<br />

historisch und kulturell codierten Begehren <strong>der</strong> Pflegeperson(en),<br />

das notwendig auf das Kind übertragen wird. So kann<br />

die Entwicklung <strong>der</strong> Geschlechtsidentität … mit Hilfe <strong>der</strong> Verführungstheorie als<br />

Prozess nachträglicher Aneignung beschrieben werden, ein Prozess, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />

Geburt einsetzt, aber davor schon eingeleitet wird, denn das Kind wird gewissermaßen<br />

in die Phantasien <strong>der</strong> Eltern hineingeboren.<br />

<strong>Freiburg</strong>er GeschlechterStudien 22

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