Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis
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BLINDTEXT<br />
14<br />
In Paris wollte Le Corbusier Teile des alten<br />
Zentrums für Hochhäuser abreißen lassen.<br />
Sein „Plan Voisin“ wurde nie verwirklicht<br />
500 Millionen Tonnen schwere Stahlkonstruktion<br />
soll die X-Seed 4000 vor<br />
der Küste Tokios tragen. Mit Wohnungen,<br />
Fabriken, Seen und Wäldern<br />
für eine Million Bewohner. Auf dem<br />
Dach ließe sich ganzjährig Skifahren.<br />
Bereits in den Achtzigerjahren entworfen,<br />
hält sich die Idee bis heute<br />
in den Köpfen. Technisch realisierbar<br />
ist sie nicht. Noch nicht.<br />
Seit jeher träumen die Menschen<br />
von einer besseren Welt. Von der<br />
perfekten Stadt, die Aussicht auf ein<br />
glücklicheres Leben bietet. Die Folgen<br />
des Klimawandels und die Bevölkerungsexplosion<br />
machen eine solche<br />
Stadt heute notwendiger denn je:<br />
Während Anfang des 19. Jahrhunderts<br />
97 Prozent der Menschen auf dem<br />
Land lebten, wohnt heute mehr als die<br />
Hälfte in Städten. Pro Woche ziehen<br />
eine Million Menschen<br />
in afrikanische<br />
und asiatische Städte.<br />
Bis 2050 wird die<br />
Stadtbevölkerung<br />
weltweit noch einmal<br />
um 25 Prozent zunehmen.<br />
Nach Schätzungen<br />
der Vereinten<br />
Nationen werden dann<br />
drei Viertel der Menschen<br />
in Städten leben.<br />
Das entspricht in<br />
40 Jahren etwa<br />
6,7 Milliarden.<br />
Unser Leben wird<br />
nicht mehr dasselbe<br />
sein. Das gigantische<br />
Wachstum läutet das<br />
Ende Jahrtausender<br />
alter Siedlungsformen<br />
ein, neue Utopien<br />
sind gefragt. Megacitys<br />
wie Jakarta oder<br />
Mumbai droht der<br />
Kollaps. In China ziehen<br />
bald 350 Millionen<br />
Menschen in<br />
STRAFE FÜR POLEN<br />
Der Legende nach wollte die<br />
kommunistische Regierung<br />
Polens das als reaktionär verschriene<br />
Krakau bestrafen –<br />
und klotzte den qualmenden<br />
Moloch Nowa Huta daneben.<br />
Hier sollte Stahl für Russland<br />
produziert werden. Architekten<br />
bauten die passende Stadt dazu:<br />
Wohnblöcke im betongrauen<br />
Einheitslook. Der Plan stammte<br />
von Stalins Strategen: die<br />
Schaffung des sozialistischen<br />
Menschen. Die Verheißung von<br />
Wohlstand lockte viele Arbeiter<br />
an die Weichsel. Doch eine<br />
Stadt ohne Kirche war für die<br />
katholischen Polen unvorstellbar.<br />
Der Streit um ein Holzkreuz<br />
provozierte Widerstand gegen<br />
das Regime. Heute sind viele<br />
Stahlarbeiter arbeitslos, ihre<br />
Kinder führen Touristen durch<br />
die sozialistische Musterstadt.<br />
Michaline Skupin<br />
Städte, die erst noch gebaut werden<br />
müssen. Auch in westlichen Industrieländern<br />
zieht es die Menschen in<br />
die Metropolen. Der Traum vom Haus<br />
im Grünen? Vergangenheit. Zwar<br />
schrumpft in Europa die Bevölkerung,<br />
das Deutsche Institut für Urbanistik<br />
fand jedoch heraus, dass die Mittelschicht<br />
immer weitere Teile der Innenstädte<br />
besetzt. Die alternden Städte<br />
halten da kaum Schritt.<br />
Siedlungen überall auf der Welt<br />
müssen sich modernisieren. In den<br />
Niederlanden entstehen bereits ganze<br />
Stadtviertel auf dem Wasser, um sich<br />
vor dem steigenden<br />
Meeresspiegel zu<br />
schützen. „Überschwemmungen<br />
und<br />
Dürre werden Abermillionen<br />
zwingen,<br />
ihre Heimat zu verlassen“,<br />
warnt Philipp<br />
Oswalt, Direktor des<br />
Bauhaus Dessau,<br />
das wie keine andere<br />
Architekturschule<br />
des 20. Jahrhunderts<br />
die Moderne geprägt<br />
hat. Sebastian Seelig,<br />
Stadtplaner an der<br />
TU Berlin, spricht von<br />
einer der „größten<br />
Herausforderungen<br />
unseres Jahrhunderts“.<br />
Das haben auch die<br />
Organisatoren der<br />
Expo <strong>2010</strong> in Shanghai<br />
erkannt. „Better City,<br />
better life“ heißt die<br />
erste Weltausstellung<br />
zum Leben in der Metropole.<br />
Doch der<br />
Traum von der perfekten Stadt ist<br />
schon oft geplatzt.<br />
Bereits in der Antike haben die Menschen<br />
über die ideale Stadt für eine<br />
ideale Gesellschaft nachgedacht. Die<br />
griechische Polis stand nicht nur für<br />
ein urbanes, sondern auch für ein<br />
politisches Organisationskonzept. In<br />
Platons Idealpolis macht jeder Mensch,<br />
was er kann – „Philosophenkönige“<br />
schaffen Ordnung, Bauern sorgen für<br />
die Ernährung. Was für eine Seele<br />
oder einen Menschen gerecht sei, lasse<br />
sich auch auf eine Stadt übertragen,<br />
schrieb der Philosoph. Der Schweizer<br />
Architekt Le Corbusier nahm Platon<br />
wörtlich: Sein Entwurf „Plan Voisin“<br />
sah vor, die Pariser Innenstadt zugunsten<br />
von Hochhäusern plattzumachen<br />
– zugunsten eines Zentrums für die<br />
Elite, für „eine Armee, die das Land<br />
regiert“. Ab 1951 baute Le Corbusier in<br />
Indien Chandigarh. Eine Stadt, die wie<br />
ein Mensch funktionieren sollte. Mit<br />
Kopf, Lungen, Kreislauf und Intellekt.<br />
Nicht nur die Analogie zwischen<br />
Mensch und Stadt, auch die Liebe zur<br />
Geometrie übernahm der Architekt vom<br />
Philosophen. Chandigarh ist eine Betonvision<br />
im rechten Winkel, Symbol für ein<br />
modernes Indien, entstanden auf einem<br />
Schweizer Reißbrett. Nichts überließ<br />
Le Corbusier dem Zufall: Wohngebäude<br />
durften nur drei Stockwerke haben,<br />
selbst das Wechselspiel von Licht und<br />
Schatten war geplant. Eine Einförmigkeit,<br />
die sich nur schwer mit einem<br />
Land verträgt, in dem es mehr als<br />
Hundert Sprachen und Ethnien gibt.<br />
Die Stadt ist, sehr untypisch für Indien,<br />
in Sektoren aufgeteilt. Die Wege dazwischen<br />
sind lang: In Sektor 1 sitzt die<br />
Regierung, in Nummer 14 die Universität,