Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis
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BRÜSSELISIERT<br />
Es beginnt mit einer Türklingel, die<br />
nicht repariert wird. Mit einem zerbrochenen<br />
Fenster, das niemand<br />
ersetzt. Später kommen die Bulldozer.<br />
Wenn ein historisches Stadtzentrum<br />
mutwillig zerstört wird, wenn man<br />
prachtvolle Altbauviertel verfallen<br />
lässt, um Platz für Bürotürme zu<br />
schaffen, dann sprechen Architekten<br />
von „Brüsselisierung“.<br />
In der belgischen Hauptstadt<br />
regiert nicht nur die EU-Kommission,<br />
sondern auch eine fantasielose Mischung<br />
aus Glas, Stahl und Beton.<br />
Bürobauten erheben sich mitten aus<br />
Jugendstil-Vierteln und verzwergen<br />
ihr Umfeld. Einzelne Wolkenkratzer<br />
klaffen aus dem Stadtpanorama und<br />
zerschneiden Sichtachsen.<br />
Was ist passiert in Brüssel?<br />
Investoren konnten machen, was<br />
sie wollten. Ganze Innenstadtviertel<br />
wurden systematisch entmietet. Was<br />
Soziologen „neoliberale Stadtplanung“<br />
nennen, drückt Brüssels Bürgermeister<br />
Freddy Thielemans so aus: Es sei<br />
PLANSTÄDTE SIND OFT LEBLOS.<br />
DOCH OHNE ORDNUNG GEHT<br />
ES AUCH NICHT – DAS ZEIGT<br />
BELGIENS HAUPTSTADT<br />
TEXT FABIAN REINBOLD<br />
systematisch „das entfernt worden,<br />
was wirklich menschlich ist“.<br />
In den Sechzigern und Siebzigern,<br />
auf dem Höhepunkt der Brüsselisierung,<br />
wurden die Bürofl ächen verdreifacht.<br />
Die Zahl der Innenstadtbewohner<br />
fi el von einst 180 000 bis Mitte der<br />
Neunziger auf 35 000. Büroangestellte<br />
schoben sich abends im Stau ins<br />
Umland. Die Stadt war nicht länger<br />
der Ort zum Leben.<br />
Warum gerade Brüssel?<br />
Weil die Stadt, die Synonym für<br />
ausufernde EU-Bürokratie geworden<br />
ist, keine Regeln für ihre eigene Entwicklung<br />
gesetzt hatte. Brüssel zerfällt<br />
in 19 Gemeinden, von denen jede<br />
eigenständig Prestigebauten errichten<br />
und den Verkehr in andere Gemeinden<br />
abdrängen wollte. Eine Allianz<br />
aus Investoren, Bauunternehmern und<br />
korrupten Lokalpolitikern füllte das<br />
stadtplanerische Vakuum – sie hatte<br />
keinen Gegenspieler, dem es um die<br />
Stadt als Ganzes ging.<br />
Erst in den Neunzigern wurde<br />
umgesteuert: Belgien stärkte die<br />
Regionalregierung, die nun eine Stadtplanung<br />
für ganz Brüssel verfolgt.<br />
Steuern auf brachliegende Altbauten<br />
wurden erhöht. Neubauten müssen<br />
nun in Fassade und Höhe in das<br />
Umfeld passen. Erste Schritte, um die<br />
Stadt zu entbrüsselisieren. Mit Erfolg:<br />
Seit zehn Jahren ziehen wieder mehr<br />
Menschen ins Zentrum.<br />
FOTOS MANUELA ANTOSCH, SIMON HUFEISEN, DAVID SCHELP, MICHALINE SKUPIN, JULIA STANEK