Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis
Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis
Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
16<br />
ist. „Mit seinen Fehlern<br />
fühlt man sich<br />
genau richtig.“<br />
Nicht nur die<br />
Stadtbewohner, auch<br />
die Architekten haben<br />
das inzwischen erkannt.<br />
„Jede Stadt<br />
braucht ein Gesicht<br />
– und eine Utopie.<br />
Es kommt nur darauf<br />
an, wie gut diese<br />
Utopie ist“, sagt<br />
Vittorio Magnago<br />
Lampugnani, Professor<br />
für die Geschichte<br />
des Städtebaus an<br />
der Eidgenössischen<br />
Technischen Hochschule<br />
Zürich. „HistorischeStadtstrukturen“,<br />
glaubt er, „funktionieren immer<br />
noch am besten.“ Die Authentizität<br />
und Verknüpfung mit dem Leben vermöge<br />
keine noch so perfekte Nachahmung<br />
zu reproduzieren. „Wichtig<br />
ist, dass sich die Bewohner mit ihrer<br />
Stadt identifizieren können.“<br />
Beispiel Südkorea: Weil Seoul mit<br />
mehr als 22 Millionen Menschen zu<br />
bersten drohte, plante die alte Regierung<br />
eine neue Hauptstadt im Nirgendwo.<br />
Inzwischen mehren sich kritische<br />
Stimmen. Die selbst ernannte „Happy<br />
City“ Sejong könnte zur reinen Schlafstadt<br />
werden. Die Kräne stehen still,<br />
die futuristische Hochhaus-Oase soll<br />
nun Wissenschaftsmetropole für weit<br />
weniger Menschen werden. In Seoul<br />
selbst gibt es seit Kurzem verkehrsberuhigte<br />
Zonen nach europäischem<br />
Vorbild. Wo einst Autos eine achtspurige<br />
Stadtautobahn entlang rasten,<br />
bummeln nun Passanten. Architekten<br />
wollen die letzten Altstadtviertel retten<br />
– nicht nur wegen der Geschichte,<br />
sondern auch wegen der schmalen<br />
Gassen, die Massenverkehr verhindern.<br />
Ein Experiment, das wegweisend für<br />
WWW. klartext-magazin.de<br />
Was ist perfekt an einer<br />
Stadt? Menschen aus<br />
aller Welt erzählen<br />
PRESTIGE FÜR BRASILIEN<br />
Die Euphorie war groß, als<br />
Brasilien vor 50 Jahren eine<br />
neue Hauptstadt bekam. Rund<br />
1000 Kilometer von der Küste<br />
entfernt. Brasília, komplett am<br />
Reißbrett entworfen, sollte dem<br />
unterentwickelten Hinterland<br />
den Anschluss ermöglichen<br />
– und durch die futuristischen<br />
Bauten des Stararchitekten<br />
Oscar Niemeyer internationale<br />
Anerkennung bringen. Nur letzteres<br />
gelang, 1987 erklärte die<br />
Unesco Brasília zum Weltkulturerbe.<br />
Doch die heute 2,5 Millionen<br />
Einwohner zählende Stadt,<br />
deren Grundriss an ein Flugzeug<br />
erinnert, hat ihre Schwächen:<br />
überdimensionierte Verkehrsachsen,<br />
aber keine Fußwege;<br />
triste Satellitenstädte am Stadtrand.<br />
Selbst Niemeyer gab in<br />
einem Interview zu: „Dieses Experiment<br />
war nicht erfolgreich.“<br />
Julia Stanek<br />
Megacitys von Mexiko-Stadt<br />
bis Sao Paulo<br />
sein könnte.<br />
Fest steht: Es<br />
braucht Ideen, um<br />
die Metropolen der<br />
Welt für die<br />
Zukunft zu rüsten.<br />
Wasser, Energie, Müll<br />
und Verkehr müssen<br />
in die Stadtplanung<br />
einbezogen werden.<br />
1,2 Milliarden Menschen<br />
werden in<br />
20 Jahren ein Auto<br />
haben. „Wenn wir<br />
uns nichts einfallen<br />
lassen, ist der Verkehrsinfarktunausweichlich“,<br />
sagt<br />
Christopher Borroni-<br />
Bird von General Motors. Sein Auto<br />
für das Jahr 2030 sieht aus wie ein Ei,<br />
zum Fahren reicht eine halbe Spur,<br />
Elektromotoren in den Rädern bremsen<br />
und lenken. Die Kommunikation<br />
zwischen den Fahrzeugen soll Unfälle<br />
verhindern. Der Strom reicht für 40<br />
Kilometer. Bei Tempo 40.<br />
Eine weitere Herausforderung sind<br />
die massiven Umweltprobleme, mit<br />
denen Städte kämpfen. 80 Prozent der<br />
Treibhausgase ent-<br />
stehen heute im<br />
urbanen Raum.<br />
Gierig frisst sich der<br />
Moloch ins Umland,<br />
verpestet die Luft, verbraucht Nahrungsmittel<br />
und hinterlässt Unmengen<br />
an Müll. Auf Symposien beschäftigen<br />
sich Forscher mit der Frage, wie sich<br />
der Klimawandel stoppen lässt. „Die<br />
größte Utopie, die wir heute haben, ist<br />
dem Herr zu werden“, sagt Bauhauschef<br />
Oswalt. Es gehe nicht mehr um<br />
den Entwurf einer anderen Zukunft, sondern<br />
darum, Veränderungen zu vermeiden.<br />
„Städter müssen ihre Lebensweise<br />
radikal ändern. Und zwar jetzt.“<br />
1,2 MILLIARDEN MENSCHEN<br />
HABEN 2030 EIN AUTO<br />
In New York hat das Umdenken bereits<br />
begonnen, dort entsteht das erste<br />
kommerzielle Dachgewächshaus.<br />
Ab Herbst sollen darin Gurken wachsen.<br />
Umweltforscher der Columbia<br />
Universität fordern: Bringt die Bauern<br />
in die Stadt. Sie planen in Manhattan<br />
Wolkenkratzer in vertikale Farmen zu<br />
verwandeln. Nur so ließe sich in einer<br />
urbanisierten Welt genügend Nahrung<br />
produzieren. Nach Berechnungen der<br />
Vereinten Nationen stehen im Jahr<br />
2050 pro Mensch nur noch 1300 Quadratmeter<br />
Ackerfläche zur Verfügung,<br />
1970 waren es fast doppelt so viele.<br />
Doch die städtische Landwirtschaft<br />
erfordert eine ausgeklügelte Anbautechnik<br />
– und die ist teuer.<br />
Auch bei schillernden Zukunftsprojekten<br />
wie Masdar City lohnt ein zweiter<br />
Blick. Das Emirat Abu Dhabi steht bislang<br />
nicht gerade für einen umweltbewussten<br />
Lebensstil: Klimaanlagen,<br />
Pools und Geländewagen prägen das<br />
Bild. Die Bewohner der Arabischen<br />
Emirate hinterlassen pro Kopf den größten<br />
ökologischen Fußabdruck. Ob sie an<br />
einem Ort leben wollen, der autofrei ist<br />
und heruntergekühlte Wohnungen nicht<br />
zulässt? Zudem hat das Ideal seinen<br />
Preis: 22 Milliarden Dollar wird allein<br />
der Bau von Masdar City verschlingen.<br />
„Nomaden haben<br />
den Ort nur im Winter<br />
genutzt, weil es<br />
sonst zu heiß ist“,<br />
warnt Philipp Oswalt.<br />
„Dass man mit größten technischen<br />
Anstrengungen dagegen vorgeht, erscheint<br />
mir sehr fragwürdig.“ Ob sich<br />
das irgendwann rechnet, daran zweifeln<br />
inzwischen auch die Scheichs.<br />
Solche Luxusprobleme haben eine<br />
Milliarde Menschen, die weltweit in<br />
städtischen Elendsvierteln leben, nicht.<br />
Solarstrom und Elektroautos helfen<br />
ihnen wenig. Ihre Utopie der perfekten<br />
Stadt: ein Dach über dem Kopf, sauberes<br />
Wasser, eine Kanalisation.<br />
FOTO LUIZ FELIPE DA SILVA DE CASTRO