Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis
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MEINE LANDFLUCHT<br />
22<br />
SARALISA VOLM, 24, SCHAUSPIELERIN:<br />
»DIE STADT BRAUCHT DICH NICHT«<br />
Freiheit – das war es, was ich wollte, als ich vor vier Jahren<br />
in die Großstadt geflohen bin. Warum Hamburg? Weil ich<br />
hier keinen kannte. Ich wollte mich neu erfinden, habe davon<br />
geträumt Filme zu drehen. Ich wusste damals nicht, ob ich<br />
das kann. Aber ich wusste: Wenn, dann gelingt mir das hier,<br />
in einer Stadt mit Ebbe und Flut und mit einem Hafen, der für<br />
mich so viel Weltoffenheit symbolisiert wie kein anderer<br />
Fleck in Deutschland.<br />
Als ich im WM-Sommer nach Hamburg kam, war die<br />
ganze Stadt im Freudentaumel, Menschen aus aller Welt<br />
lagen sich beim Fußballgucken in den Armen. Für mich war<br />
2006 aber mehr als nur ein Sommermärchen. Es war das<br />
Jahr der unbegrenzten Möglichkeiten. Ich habe mich ins<br />
Großstadtleben gestürzt, auf St. Pauli die Nächte durchgefeiert<br />
und bin im Morgengrauen am Elbstrand spazieren gegangen.<br />
Eines Abends habe ich bei einem Kumpel zu Hause den<br />
Regisseur Klaus Lemke kennengelernt. Wir redeten ein paar<br />
Sätze miteinander, tranken Wodka. Und dann stand da diese<br />
Frage im Raum: ob ich Bock hätte, vor der Kamera zu stehen.<br />
Zwei Tage später trafen wir uns um fünf Uhr morgens in der<br />
Cobra Bar auf dem Kiez – und ich war Hauptdarstellerin in<br />
Lemkes Film „Finale“. Wäre mir das passiert, wenn ich in<br />
Freising geblieben wäre? Oder in Bad Tölz? Wohl kaum.<br />
In der Stadt habe ich gefunden, was ich immer gesucht<br />
habe: einen Platz, an dem ich aussprechen darf, was ich von<br />
meinem Leben will. Alle Stadtmenschen sind doch auf der<br />
PROTOKOLL JULIA STANEK FOTO THOMAS KLINGER<br />
Suche nach etwas. Man muss sich nur mal die vielen bunten<br />
Schnipsel an einem Laternenpfahl anschauen: Yoga-Stunden<br />
für Schwangere, Spanischunterricht beim Kochen, eine <strong>Dr</strong>eizimmerwohnung<br />
in Ottensen. Ich liebe es, all diese Gesuche<br />
und Angebote zu lesen. Und ich mag beschmierte Häuserwände.<br />
Es ist, als würde die Stadt mit mir sprechen.<br />
Aber nicht nur die schmuddeligen und chaotischen<br />
Ecken machen das urbane Lebensgefühl aus. Luxus ist genauso<br />
wichtig. In Hamburg gibt es beides: Wenn du mit dem<br />
Rad die Alster entlang fährst, blickst du auf die schönsten<br />
Villen, zwei Kilometer weiter stehst du vor heruntergekommenen<br />
Fassaden und besetzten Häusern. Diese Vielfalt<br />
macht mich glücklich.<br />
Klar wird jede Stadt irgendwann einmal zu eng und ich<br />
hatte selbst in Hamburg schon das Gefühl, nichts Neues<br />
mehr entdecken zu können. Da ich mich aber nicht trennen<br />
kann, pendle ich seit zwei Jahren zwischen Hamburg und<br />
Berlin. In Berlin gibt es bessere Ausstellungen, aber auch<br />
mehr Hundescheiße. Die für mich ideale Stadt zum Leben<br />
suche ich noch. Vielleicht ist es New York. Oder Paris?<br />
Das Spannendste am Stadtleben: Du brauchst die Stadt,<br />
aber sie braucht dich nicht. Du bist einer von vielen. Für die<br />
Stadt ist es irrelevant, ob du an ihr teilnimmst oder nicht.<br />
Wenn nicht, bist du ein Einsiedlerkrebs. Du könntest sterben<br />
und keiner kriegt‘s mit. Aber wenn du die Stadt als Abenteuer<br />
verstehst, kannst du sie kapern wie ein Pirat ein Schiff.