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Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis

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30<br />

GEKOMMEN UM ZU GEHEN<br />

WER EINEN FLUGHAFEN KENNT, KENNT ALLE. ÜBER<br />

DAS NIEMANDSLAND ZWISCHEN DEN STÄDTEN<br />

TEXT CHRISTIAN HELTEN ILLUSTRATION JUDITH URBAN<br />

Singapur ist für mich die Stadt des<br />

grün gemusterten Teppichbodens.<br />

Kein sehr schöner Teppichboden, der<br />

Farbton geht zu wenig in Richtung<br />

Blattgrün und zu sehr in Richtung<br />

Was-Falsches-gegessen-Grün. Wenn<br />

ich an Singapur denke, gehen dort<br />

alle Menschen über grün gemusterten<br />

Teppichboden. Er ist in ihren Häusern<br />

verlegt, auf Hotelfluren und in Kaufhäusern,<br />

Tausende Kilometer singapurgrüne<br />

Scheußlichkeit. Das Bild ist<br />

in mein Gehirn eingebrannt – obwohl<br />

ich noch nie in Singapur war.<br />

Ich bin dort ein paar Mal zwischengelandet.<br />

Der Changi Airport ist<br />

eines der größten <strong>Dr</strong>ehkreuze des<br />

internationalen Flugverkehrs. Mehr als<br />

37 Millionen Passagiere starten und<br />

landen dort jedes Jahr. Viele von ihnen<br />

steigen wie ich nur um – sie waren in<br />

Singapur, ohne jemals wirklich da<br />

gewesen zu sein.<br />

Dass man sich an nebensächliche<br />

Details erinnert, hat einen einfachen<br />

Grund: Wer einen internationalen Flughafen<br />

kennt, kennt alle. Wartehallen mit<br />

Sitzreihen, Duty-Free-Shops, Souvenirläden,<br />

schlecht imitierte Pubs. Es<br />

sieht überall gleich aus, da sticht ein<br />

hässlicher Teppichboden besonders<br />

ins Auge. Wegen dieser Flughafeneintönigkeit<br />

fühlen wir uns auch nicht<br />

in der Stadt angekommen, wenn wir<br />

den grauen Schlauch verlassen, der<br />

den Airbus mit dem Terminal verbindet.<br />

Angekommen fühlen wir uns erst, wenn<br />

wir aus dem Taxi oder der U-Bahn in<br />

die Stadt hinaustreten, ihre Luft<br />

atmen, ihre Geräusche hören, ihre<br />

Menschen sehen.<br />

Letztes Jahr hatte ich fünf Stunden<br />

Aufenthalt am Flughafen Atlanta, dem<br />

größten <strong>Dr</strong>ehkreuz der Welt. Ich<br />

schlenderte herum, trank einen Kaffee<br />

und aß einen Cheeseburger, schnupperte<br />

im Duty-Free an Parfumproben,<br />

bis ich Kopfweh bekam. Ich erfuhr<br />

dabei nicht, wie sich die Stadt Atlanta<br />

anfühlt. Dafür musste ich improvisieren:<br />

Ich belauschte die Putzkolonne,<br />

drei Schwarze mit dünnen Corn-Row-<br />

Zöpfen, wie sie der Gangster-Rapper<br />

Xzibit trägt. Sie unterhielten sich über<br />

den Putzwagen hinweg in ihrem Südstaaten-Akzent,<br />

mit viel „Yo“ und viel<br />

„KnowI’msay’n?“. Beim Zuhören<br />

glaubte ich Atlanta kennenzulernen.<br />

Aber vielleicht ist die Stadt ganz<br />

anders. Die Putzkolonnen-HipHopper<br />

und die anderen Flughafenangestellten<br />

waren die einzigen, die zwingend auch<br />

Einwohner Atlantas sein mussten: Sie<br />

arbeiteten hier und fuhren abends<br />

nach Hause. Die GIs, die in wüstenbraunen<br />

Camouflage-Anzügen an den<br />

Gates saßen, die Krawattenträger mit<br />

den Aktenkoffern – sie konnten von<br />

überall stammen. Sie sagten etwas<br />

über den Airport Atlanta aus, nicht<br />

über die Stadt. Der Flughafen ist nicht<br />

die Stadt.<br />

Aber er ist ihr Tor. Flughäfen öffnen<br />

uns die Wege in die Zentren unserer<br />

Zeit. Die pulsierenden Metropolen von<br />

heute wären ohne den Luftverkehr<br />

nicht möglich. Wir leben nicht nur<br />

in einer Informationsgesellschaft,<br />

sondern auch in einer Flughafengesellschaft.<br />

Fernbeziehungen, Geschäftsbeziehungen,<br />

Kulturaustausch<br />

– diese Formen modernen Lebens<br />

verlaufen zwar mehr und mehr entlang<br />

der weltweiten Datenkabel. Trotzdem<br />

braucht der Verliebte von Zeit zu Zeit<br />

Körperkontakt. Trotzdem steigen<br />

Geschäftsmänner ins Flugzeug, wenn<br />

sie wichtige Verträge aushandeln.<br />

Trotzdem gehen Bands auf Welttournee.<br />

Auch die Berliner Techno-<br />

Szene der Nullerjahre hätte es nie zu<br />

ihrem Weltruhm gebracht, hätten nicht<br />

Billig-Airlines jedes Wochenende<br />

Tausende Feierwütige aus ganz<br />

Europa eingeflogen – die Leute, die<br />

deshalb seit einiger Zeit als<br />

Easyjetset bezeichnet werden.<br />

Eine Stadt braucht einen Flughafen,<br />

er macht sie international und<br />

lebendig. Aber er ist und bleibt ein<br />

Niemandsland zwischen Departure<br />

und Arrival. Architekten bezeichnen<br />

Flughäfen in ihrer Fachsprache als<br />

„Transiträume“. Sie treffen damit<br />

ziemlich genau das Gefühl, das wir<br />

haben, wenn wir uns an einem Flughafen<br />

aufhalten: Wir sind da, weil wir<br />

woanders hin wollen.<br />

WWW. klartext-magazin.de<br />

Die größten Flughäfen<br />

der Welt auf einen Blick

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