Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis
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Seit er von der Kündigung weiß, raucht Isi Yilmaz wieder. Der<br />
Betreiber der X-Cess-Bar steht hinter der Theke und wischt<br />
mit einem Tuch über den Tresen, seine Bar ist halbleer. Es ist<br />
halb zehn. „Müsst ihr wirklich schließen?“, fragt eine junge<br />
Frau. Yilmaz nickt. Seit ihm das Bundesvermögensamt, der<br />
Besitzer des Gebäudes, den Mietvertrag gekündigt hat, schläft<br />
der X-Cess-Betreiber unruhig. „Die sagen kein Wort. Die<br />
werfen mich einfach raus“, sagt er.<br />
Wer drei Stunden später den roten Samtvorhang am Eingang<br />
beiseite schiebt, muss durch eine Wand, eine Wand<br />
aus Rauch, Alkohol und Menschen; muss drücken und<br />
schubsen, um der Theke näher zu kommen. Auf 30 Quadratmetern<br />
drängen sich etwa 100 Menschen. Der Bass pulsiert.<br />
Die Leute tanzen – nein: Sie werden getanzt. Schweiß tropft,<br />
Scherben knirschen unter den Sohlen. Platz gibt es nur auf<br />
dem Klo, wo sich Straßendreck mit Pisspfützen mischt. <strong>Dr</strong>ei<br />
Männer fallen vom Tisch, eine Frau kippt sich ihr Bier in<br />
den Ausschnitt.<br />
Die X-Cess-Bar muss schließen – wegen ihres Erfolges.<br />
Die Bar lockt ihre Gäste mit der Atmosphäre des Unfertigen,<br />
Improvisierten. Früher schnitt Yilmaz in der ehemaligen<br />
Dönerbude das Kebabfleisch vom Spieß und es roch nach<br />
Frittenfett. Jetzt klebt das Bier auf dem Fußboden, die Wand<br />
hinter dem DJ-Pult ist mit nackten Brüsten tapeziert. Der<br />
Spruch „Fight the Capitalism“ ist in die Ecke geschmiert. Es<br />
seien am Morgen schon Frauen gekommen, um nach ihrem<br />
BH zu suchen, erzählt Yilmaz. Wenn er Lollis verteilt und<br />
„Süsssiiiee!“ durch den vollen Raum ruft, wird er gefeiert<br />
wie eine Berühmtheit.<br />
Seit der Gründung 2002 trägt die X-Cess-Bar dazu bei,<br />
aus dem Münchner Glockenbachviertel ein Szeneviertel zu<br />
machen. Die Menschen strömen in die Kneipen, der Stadtteil<br />
hat an Wert gewonnen. Die Betreiber müssen weichen und<br />
legendäre Bars verschwinden. Zuerst hat es in München die<br />
Registratur erwischt, hier zieht eine Werbeagentur ein; dann<br />
das Café King, es musste einem Neubau Platz machen. Jetzt<br />
trifft es das X-Cess. „Alles wird saniert, alles verändert sich.<br />
Das muss doch nicht sein“, sagt Yilmaz. Das Dilemma: Viele<br />
Clubs mussten schließen, ohne sich woanders neu etablieren<br />
zu können – sie sterben aus. „Bald gibt es nur noch geleckte<br />
Großraum-Diskos, in denen alles gleich ist.“<br />
Im X-Cess kann dagegen jeder auflegen, was er will;<br />
er muss sich nur in eine DJ-Liste eintragen. Wartezeit: neun<br />
Monate. Auf einen Abend Heavy Metal folgt ein Abend<br />
Neunziger-Trash, dann wieder Britpop oder Soul. Jeder<br />
darf hier sein, wie er ist oder gerne wäre. Wie der Mann<br />
auf dem Tisch. Er steht dort in einem Bärenkostüm und<br />
schrammelt mit den Fingern auf den Saiten seiner Ukulele.<br />
Dabei hüpft er von einem Bein auf das andere, strauchelt<br />
und fällt beinahe hinunter.<br />
Doch gerade der Freiraum ist der X-Cess-Bar zum<br />
Verhängnis geworden. Immer öfter haben sich Nachbarn<br />
über Betrunkene beschwert, die in den Morgenstunden<br />
herumgrölen und ihre Blase entleeren. „Wenn einer auf die<br />
Straße kotzt oder pinkelt, sind wir schuld“, sagt Isi Yilmaz.<br />
„Warum?“ Für ihn gibt es zu viele Vorschriften: Sicherheit,<br />
Sauberkeit, Lärmschutz.<br />
Doch Yilmaz ist ein Kämpfer, der sich nicht so schnell<br />
geschlagen gibt. Mit seinem russischen Fliegerhut ist er zur<br />
Ikone geworden. Ginge es nach ihm, würde sich nicht viel<br />
ändern, sollte er einen neuen Ort für das X-Cess finden. Sein<br />
Personal will er mitnehmen, die Platten soll weiter auflegen,<br />
wer will. Auch das neue X-Cess soll nach Exzess aussehen.<br />
„Die Titten-Tapete wird bleiben“, sagt Yilmaz.<br />
Der Barbetreiber gibt sich zuversichtlich. Er sucht bereits<br />
nach einem Ort für den X-Cess-Nachfolger.<br />
Am besten wieder im Glockenbachviertel,<br />
seinem Viertel. Noch hat<br />
er nichts entdeckt. Und selbst wenn er<br />
etwas findet, wird es wohl nie mehr so<br />
sein wie in den vergangenen acht Jahren.<br />
Wie heute.<br />
Am Tresen lehnt ein Anzugträger,<br />
sein Ärmel liegt in einer Bierlache.<br />
Mädchen fläzen in Sesseln und suchen<br />
einen, der nicht aussieht wie der Beratertyp<br />
an der Theke. Unter den Kleiderhaken,<br />
zwischen Toilette und Zigarettenautomat,<br />
knutscht ein<br />
Pärchen, als gäbe es kein<br />
Morgen.<br />
Das Ende der Bar nagt<br />
an Yilmaz. Er greift nach<br />
der Zigarettenschachtel.<br />
Sein Blick hetzt durch den<br />
Raum. „Die nehmen mir<br />
einen Teil meiner Seele.“<br />
„Die Titten-Tapete<br />
wird bleiben“,<br />
sagt X-Cess-Besitzer<br />
Isi Yilmaz (mit Hut)<br />
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