09.11.2012 Aufrufe

Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis

Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis

Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

UM EINIGES LEICHTER. WIR ZIEHEN UNS NORMAL<br />

WAS MAN TUN SOLL. ABER IN UNS SIEHT ES<br />

SICH AN DEN KRIEG ERINNERT.“<br />

Dejan Begic, 27,<br />

Stadtführer<br />

Stadt von den Bergen aus, die Sarajevo<br />

in einen engen Talkessel zwängen.<br />

Mit über zwei Millionen Granaten und<br />

unzähligen Scharfschützen, die auf<br />

alles feuerten, was sich im Tal bewegte,<br />

wollten sie die Regierung Bosnien und<br />

Herzegowinas dazu zwingen, aus der<br />

soeben erklärten Unabhängigkeit in<br />

den Schoß Jugoslawiens zurückzukehren.<br />

11 000 Menschen starben<br />

zwischen 1992 und 1996. Heute, fast<br />

15 Jahre nach ihrem Ende, schafft die<br />

Belagerung es regelmäßig in die<br />

Nachrichten. Immer dann, wenn wieder<br />

ein Kriegsverbrecher gefasst und<br />

vor das UN-Tribunal in Den Haag gestellt<br />

wird. Karadzic, Milosevic, Vlahovic,<br />

den die Einwohner Sarajevos nur<br />

„das Monster“ nannten, der über Hundert<br />

Frauen und Kinder umgebracht<br />

und noch mehr vergewaltigt haben soll.<br />

Doch nicht nur viele Mörder und<br />

Hintermänner von damals sind immer<br />

noch auf der Flucht, auch ihre Opfer<br />

versuchen bis heute, der Vergangenheit<br />

zu entkommen. Auf den ersten<br />

Blick verdeckt der frische Putz an den<br />

Fassaden der Häuser in der Altstadt<br />

die Spuren des Krieges. Erst wer in<br />

die Innenhöfe der Gebäude tritt, gelangt<br />

ins Gedächtnis der Stadt. Wie<br />

frisch aus dem Mauerwerk gerissen,<br />

klaffen die Löcher der Granateinschläge,<br />

Schutt türmt sich zu<br />

bröckeligen Haufen auf. Mit der Stadt<br />

verhält es sich wie mit ihren Menschen:<br />

Der Krieg verändert sie auf lange Zeit,<br />

vielleicht für immer. Von außen sieht<br />

man ihnen nichts an, doch in ihren<br />

Köpfen haben die Kämpfe nie aufgehört.<br />

Sie sind im Krieg mit ihren Erinnerungen,<br />

ihrem Land, seiner Geschichte,<br />

seinen Konflikten, mit sich selbst.<br />

„Anyway, it was fun“, sagt Begic.<br />

Das Leben im Krieg sei nicht so anders<br />

gewesen als heute. Klar, da war immer<br />

diese Angst, umgebracht zu werden,<br />

aber mit der Zeit verging sie. Klar, es<br />

gab über vier Jahre keinen Strom,<br />

keine Heizung, kaum etwas zu essen.<br />

Klar, dreimal in der Woche musste er<br />

15 Kilometer laufen, um am anderen<br />

Ende der Stadt Wasser zu holen.<br />

25 Liter schleppte er in Kanistern<br />

zurück nach Hause und hoch in den<br />

elften Stock. Klar, das ging nur über<br />

die Sniper-Allee, die einzige Verbindung<br />

zwischen Ost und West, den gefährlichsten<br />

Ort der Stadt, immer im Visier<br />

der Scharfschützen, die auf beiden<br />

Seiten der Straße in den Hügeln und<br />

Hochhäusern lauerten. Geduckt rannten<br />

die Menschen hinter den Wracks der<br />

Trambahnen, Busse und Lastwagen,<br />

die sie in der Mitte der Allee zusammengeschoben<br />

hatten. Sie rannten<br />

immer. Klar, trotzdem wäre es diesem<br />

einen Scharfschützen, der ihm und<br />

seiner Mutter einmal nacheinander<br />

die umgehängten Wasserkanister<br />

zerschoss, ein Leichtes gewesen, sie<br />

zu töten. Klar. „Er wollte uns nur<br />

Angst machen“, sagt Begic. „Es war<br />

alles ein Spiel.“<br />

Sie haben viel gespielt im Krieg.<br />

Tagelang haben sie zu Hause gesessen<br />

und gewürfelt, neue Kartenspiele<br />

erfunden. Sie haben geredet,<br />

sich Rezepte ausgedacht, aus praktisch<br />

nichts kleine Festessen gezaubert.<br />

Etwa Käsekuchen aus Reis, den sie in<br />

Essig einlegten. Jeder teilte mit jedem,<br />

alle hielten zusammen. „Freunde und<br />

Familie waren das Wichtigste im<br />

Krieg. Heute hat keiner mehr Zeit für<br />

niemanden“, sagt Begic und bestellt<br />

die Rechnung. Damals rannten die<br />

Menschen durch Sarajevo, um nicht<br />

zur Zielscheibe der Heckenschützen<br />

zu werden. Heute hetzen sie von Job<br />

zu Job, um zu überleben.<br />

Auch Begic muss weiter. Zu<br />

seiner Mutter, die immer noch im<br />

Viertel seiner Kindheit lebt. In derselben<br />

Wohnung, in der die Beiden<br />

sechs Granateinschläge überstanden,<br />

vier Winter verbracht und schließlich<br />

das Ende der Belagerung bejubelt<br />

haben. Der Weg dorthin führt vorbei<br />

am Parlament. „War vollkommen ausgebombt<br />

damals“, sagt Begic. Er führt<br />

vorbei am schmutzig-gelben Holiday<br />

Inn-Hotel, in dem die ausländischen<br />

Journalisten sich im Krieg verschanzten.<br />

„Das war das einzige sichere<br />

Gebäude.“ Er führt immer entlang<br />

der Sniper-Allee, die links und<br />

rechts von Baukränen gesäumt ist.<br />

Sarajevos Baufirmen arbeiten emsig<br />

daran, die Ruinen des Krieges aus<br />

dem Stadtbild zu tilgen. „Zumindest<br />

ein paar sollten sie stehen lassen.<br />

Zur Erinnerung.“<br />

Begic biegt links ab in eine Wohnsiedlung,<br />

in der sich drei heruntergekommene<br />

Plattenbauten gegenüberstehen.<br />

Zwischen ihnen liegt eine<br />

Wiese, auf der sie während der<br />

Belagerung Kartoffeln, Tomaten und<br />

Rüben angebaut haben, daneben ein<br />

Spielplatz und vereinzelte Blumenbeete.<br />

Hier ist Begic aufgewachsen.<br />

Er zeigt auf einen kleinen Balkon hoch<br />

oben an einem der Hochhäuser. Ihren<br />

Balkon. „Und das da war mein Zimmer.“<br />

Er setzt sich auf die Schaukel.<br />

47

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!