Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis
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UM EINIGES LEICHTER. WIR ZIEHEN UNS NORMAL<br />
WAS MAN TUN SOLL. ABER IN UNS SIEHT ES<br />
SICH AN DEN KRIEG ERINNERT.“<br />
Dejan Begic, 27,<br />
Stadtführer<br />
Stadt von den Bergen aus, die Sarajevo<br />
in einen engen Talkessel zwängen.<br />
Mit über zwei Millionen Granaten und<br />
unzähligen Scharfschützen, die auf<br />
alles feuerten, was sich im Tal bewegte,<br />
wollten sie die Regierung Bosnien und<br />
Herzegowinas dazu zwingen, aus der<br />
soeben erklärten Unabhängigkeit in<br />
den Schoß Jugoslawiens zurückzukehren.<br />
11 000 Menschen starben<br />
zwischen 1992 und 1996. Heute, fast<br />
15 Jahre nach ihrem Ende, schafft die<br />
Belagerung es regelmäßig in die<br />
Nachrichten. Immer dann, wenn wieder<br />
ein Kriegsverbrecher gefasst und<br />
vor das UN-Tribunal in Den Haag gestellt<br />
wird. Karadzic, Milosevic, Vlahovic,<br />
den die Einwohner Sarajevos nur<br />
„das Monster“ nannten, der über Hundert<br />
Frauen und Kinder umgebracht<br />
und noch mehr vergewaltigt haben soll.<br />
Doch nicht nur viele Mörder und<br />
Hintermänner von damals sind immer<br />
noch auf der Flucht, auch ihre Opfer<br />
versuchen bis heute, der Vergangenheit<br />
zu entkommen. Auf den ersten<br />
Blick verdeckt der frische Putz an den<br />
Fassaden der Häuser in der Altstadt<br />
die Spuren des Krieges. Erst wer in<br />
die Innenhöfe der Gebäude tritt, gelangt<br />
ins Gedächtnis der Stadt. Wie<br />
frisch aus dem Mauerwerk gerissen,<br />
klaffen die Löcher der Granateinschläge,<br />
Schutt türmt sich zu<br />
bröckeligen Haufen auf. Mit der Stadt<br />
verhält es sich wie mit ihren Menschen:<br />
Der Krieg verändert sie auf lange Zeit,<br />
vielleicht für immer. Von außen sieht<br />
man ihnen nichts an, doch in ihren<br />
Köpfen haben die Kämpfe nie aufgehört.<br />
Sie sind im Krieg mit ihren Erinnerungen,<br />
ihrem Land, seiner Geschichte,<br />
seinen Konflikten, mit sich selbst.<br />
„Anyway, it was fun“, sagt Begic.<br />
Das Leben im Krieg sei nicht so anders<br />
gewesen als heute. Klar, da war immer<br />
diese Angst, umgebracht zu werden,<br />
aber mit der Zeit verging sie. Klar, es<br />
gab über vier Jahre keinen Strom,<br />
keine Heizung, kaum etwas zu essen.<br />
Klar, dreimal in der Woche musste er<br />
15 Kilometer laufen, um am anderen<br />
Ende der Stadt Wasser zu holen.<br />
25 Liter schleppte er in Kanistern<br />
zurück nach Hause und hoch in den<br />
elften Stock. Klar, das ging nur über<br />
die Sniper-Allee, die einzige Verbindung<br />
zwischen Ost und West, den gefährlichsten<br />
Ort der Stadt, immer im Visier<br />
der Scharfschützen, die auf beiden<br />
Seiten der Straße in den Hügeln und<br />
Hochhäusern lauerten. Geduckt rannten<br />
die Menschen hinter den Wracks der<br />
Trambahnen, Busse und Lastwagen,<br />
die sie in der Mitte der Allee zusammengeschoben<br />
hatten. Sie rannten<br />
immer. Klar, trotzdem wäre es diesem<br />
einen Scharfschützen, der ihm und<br />
seiner Mutter einmal nacheinander<br />
die umgehängten Wasserkanister<br />
zerschoss, ein Leichtes gewesen, sie<br />
zu töten. Klar. „Er wollte uns nur<br />
Angst machen“, sagt Begic. „Es war<br />
alles ein Spiel.“<br />
Sie haben viel gespielt im Krieg.<br />
Tagelang haben sie zu Hause gesessen<br />
und gewürfelt, neue Kartenspiele<br />
erfunden. Sie haben geredet,<br />
sich Rezepte ausgedacht, aus praktisch<br />
nichts kleine Festessen gezaubert.<br />
Etwa Käsekuchen aus Reis, den sie in<br />
Essig einlegten. Jeder teilte mit jedem,<br />
alle hielten zusammen. „Freunde und<br />
Familie waren das Wichtigste im<br />
Krieg. Heute hat keiner mehr Zeit für<br />
niemanden“, sagt Begic und bestellt<br />
die Rechnung. Damals rannten die<br />
Menschen durch Sarajevo, um nicht<br />
zur Zielscheibe der Heckenschützen<br />
zu werden. Heute hetzen sie von Job<br />
zu Job, um zu überleben.<br />
Auch Begic muss weiter. Zu<br />
seiner Mutter, die immer noch im<br />
Viertel seiner Kindheit lebt. In derselben<br />
Wohnung, in der die Beiden<br />
sechs Granateinschläge überstanden,<br />
vier Winter verbracht und schließlich<br />
das Ende der Belagerung bejubelt<br />
haben. Der Weg dorthin führt vorbei<br />
am Parlament. „War vollkommen ausgebombt<br />
damals“, sagt Begic. Er führt<br />
vorbei am schmutzig-gelben Holiday<br />
Inn-Hotel, in dem die ausländischen<br />
Journalisten sich im Krieg verschanzten.<br />
„Das war das einzige sichere<br />
Gebäude.“ Er führt immer entlang<br />
der Sniper-Allee, die links und<br />
rechts von Baukränen gesäumt ist.<br />
Sarajevos Baufirmen arbeiten emsig<br />
daran, die Ruinen des Krieges aus<br />
dem Stadtbild zu tilgen. „Zumindest<br />
ein paar sollten sie stehen lassen.<br />
Zur Erinnerung.“<br />
Begic biegt links ab in eine Wohnsiedlung,<br />
in der sich drei heruntergekommene<br />
Plattenbauten gegenüberstehen.<br />
Zwischen ihnen liegt eine<br />
Wiese, auf der sie während der<br />
Belagerung Kartoffeln, Tomaten und<br />
Rüben angebaut haben, daneben ein<br />
Spielplatz und vereinzelte Blumenbeete.<br />
Hier ist Begic aufgewachsen.<br />
Er zeigt auf einen kleinen Balkon hoch<br />
oben an einem der Hochhäuser. Ihren<br />
Balkon. „Und das da war mein Zimmer.“<br />
Er setzt sich auf die Schaukel.<br />
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