Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis
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Jetzt nimmt er die Sonnenbrille ab.<br />
Wachsame, dunkle Augen blicken ins<br />
Licht. Begic blinzelt und erzählt.<br />
Viele seiner Freunde, mit denen er<br />
früher hier im Innenhof gespielt hat,<br />
könnten seit dem Krieg nur noch mit<br />
Medikamenten und therapeutischer<br />
Hilfe leben. „Eine Pille am Morgen<br />
kann den Tag um einiges leichter machen.“<br />
Sie hilft, mit dem Trauma zu<br />
leben, den Träumen, den Toten. Doch<br />
vergessen machen kann sie nicht.<br />
Begic zeigt zu einem weißen Fleck<br />
auf einem Hügel oberhalb der Altstadt.<br />
Zu den Toten.<br />
Besonders nachts sieht man sie.<br />
<strong>Dr</strong>eht man sich in Sarajevos Innenstadt<br />
um die eigene Achse und blickt<br />
nach oben, sind die hellen Flecken<br />
überall. Friedhöfe. Ganze Felder weißer<br />
Stelen, die mit Scheinwerfern<br />
angestrahlt werden, wenn es dunkel<br />
wird. Hell erleuchtete Zeugen der<br />
Belagerung.<br />
Es ist einer der ersten milden<br />
Abende des Jahres, und während sich<br />
die Tische vor den Cevapi-Restaurants<br />
im Tal füllen, Pärchen händchenhaltend<br />
durch die Fußgängerzone<br />
flanieren und Gruppen Jugendlicher in<br />
Kneipen die erste Runde Sarajevska-<br />
Bier bestellen, beginnt Irfan Gazdic<br />
seine Nachtschicht. Sein Arbeitsplatz<br />
ist ein stiller, fast mystischer Ort.<br />
Zwischen den niedrigen, verwitterten<br />
Häuschen, die sich den Berg empor an<br />
den Hang drücken, tut er sich auf wie<br />
eine schummrige Lichtung.<br />
Bis zum nächsten Morgen wird<br />
Gazdic in seinem Wachturm sitzen und<br />
die mit den Ziffern 1 bis 444 durch-<br />
WWW. klartext-magazin.de<br />
Stimmen, Bilder und ein<br />
Clip aus Sarajevo<br />
nummerierten Gräber auf dem Veteranenfriedhof<br />
beschützen. Man findet<br />
hier keinen Grabstein, in den nicht<br />
eine Zahl zwischen 1992 und 1996 als<br />
Todesdatum eingraviert ist. Am linken<br />
Rand des Friedhofs steht ein Mausoleum.<br />
Das Grab von Alija Izetbegovic,<br />
der zwischen 1990 und Kriegsbeginn<br />
Präsident der Republik Bosnien war.<br />
„Mein Präsident“, so nennt Gazdic ihn.<br />
Schleichen im Dunkeln Unbekannte<br />
auf dem Friedhof umher, öffnet er die<br />
Lasche seines Pistolenhalfters und<br />
steigt zwischen den Gräbern den Hügel<br />
hinauf, um nach dem Rechten zu<br />
sehen. Seit 2006 eine Bombe das<br />
Mausoleum Izetbegovics beschädigte,<br />
wird der Friedhof rund um die Uhr<br />
bewacht. „Unser Land ist zwar schön“,<br />
sagt Gazdic, „es hat aber viele Probleme.<br />
Und manche versuchen, sie mit<br />
Gewalt zu lösen.“ Gazdic, 28, ist Soldat<br />
in der noch jungen bosnischen Armee.<br />
Seine Uniform ist so schwarz, dass<br />
man nur ihre goldenen Knöpfe funkeln<br />
sieht, wenn es Nacht wird. Einer springt<br />
ab, als Gazdic in die Innentasche greift<br />
und ein Päckchen Zigaretten hervorholt.<br />
„Shit“, sagt er. Seine halbe Kindheit<br />
hat er im Belagerungszustand verbracht.<br />
Als er zehn war, schlug eine<br />
Granate ein paar Meter neben ihm<br />
ein, ihre Splitter verletzten ihn schwer.<br />
„Ich würde alles geben, um wieder<br />
so zu leben wie damals“, sagt er.<br />
Wenn man dem Tod so nahe sei, brauche<br />
man nicht viel, man konzentriere<br />
sich auf das Wesentliche: „seine<br />
Leute“. Die Fronten waren klar in den<br />
Neunzigern, man wusste, wer Freund<br />
und wer Feind war. Sarajevo ist eine<br />
kleine Stadt, jeder kennt hier jemanden,<br />
der von Scharfschützen erschossen<br />
wurde. „Der Grabstein da drüben“,<br />
sagt Gazdic, „das ist mein Cousin.“<br />
Doch auch viele, die früher auf die<br />
Stadt geschossen haben, leben heute<br />
noch dort. Es herrscht Misstrauen<br />
zwischen den Ethnien und Religionsgemeinschaften<br />
im „Jerusalem des Balkans“,<br />
wie Sarajevo wegen seiner Vielfalt<br />
genannt wurde, als hier alle friedlich<br />
miteinander lebten. Christen, Juden,<br />
Moslems. Kroaten, Serben, Bosnier.<br />
Es waren die goldenen Jahre der<br />
Stadt, und keines war so golden wie<br />
das Jahr 1984. Olympische Winterspiele,<br />
die ganze Welt blickte auf Sarajevo.<br />
Bis heute sind die Menschen hier stolz<br />
auf ihre olympische Vergangenheit.<br />
Jugendliche erzählen mit Inbrunst von<br />
der Seele, die die Stadt damals gehabt<br />
habe, als hätten sie selbst in der<br />
ersten Reihe des Eispalastes gejubelt.<br />
Sprechen die Bewohner von den Bergen<br />
ringsum, dann sprechen sie nicht<br />
einfach von Bergen, sie sprechen von<br />
den „olympischen Bergen“.<br />
15 Autominuten von der Altstadt<br />
entfernt liegt auf 1200 Metern, was<br />
von Olympia übrig ist: die Bobbahn in<br />
den Wäldern von Trebevice. 1984 war<br />
sie die modernste, schnellste und<br />
sicherste ihrer Art. Die einzige Bobbahn<br />
auf dem Balkan. Heute ist das<br />
nationale Heiligtum von einst nur noch<br />
ein von Dornengestrüpp überwachsenes<br />
Gerippe aus rostigen<br />
Stahlstreben und Beton. Die Kurven,<br />
in denen Wolfgang Hoppe zweimal<br />
Gold für die DDR holte, sind mit Graffiti<br />
überzogen. Alle paar Meter sind hand-<br />
„ICH WÜRDE ALLES GEBEN, UM WIEDER SO ZU<br />
DU DIR ÜBER SO VIELES<br />
ZAHLEN, NÄCHTELANG ARBEITEN. DU