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Dr. Georg Schreiber 2010 Medien- preis

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48<br />

Jetzt nimmt er die Sonnenbrille ab.<br />

Wachsame, dunkle Augen blicken ins<br />

Licht. Begic blinzelt und erzählt.<br />

Viele seiner Freunde, mit denen er<br />

früher hier im Innenhof gespielt hat,<br />

könnten seit dem Krieg nur noch mit<br />

Medikamenten und therapeutischer<br />

Hilfe leben. „Eine Pille am Morgen<br />

kann den Tag um einiges leichter machen.“<br />

Sie hilft, mit dem Trauma zu<br />

leben, den Träumen, den Toten. Doch<br />

vergessen machen kann sie nicht.<br />

Begic zeigt zu einem weißen Fleck<br />

auf einem Hügel oberhalb der Altstadt.<br />

Zu den Toten.<br />

Besonders nachts sieht man sie.<br />

<strong>Dr</strong>eht man sich in Sarajevos Innenstadt<br />

um die eigene Achse und blickt<br />

nach oben, sind die hellen Flecken<br />

überall. Friedhöfe. Ganze Felder weißer<br />

Stelen, die mit Scheinwerfern<br />

angestrahlt werden, wenn es dunkel<br />

wird. Hell erleuchtete Zeugen der<br />

Belagerung.<br />

Es ist einer der ersten milden<br />

Abende des Jahres, und während sich<br />

die Tische vor den Cevapi-Restaurants<br />

im Tal füllen, Pärchen händchenhaltend<br />

durch die Fußgängerzone<br />

flanieren und Gruppen Jugendlicher in<br />

Kneipen die erste Runde Sarajevska-<br />

Bier bestellen, beginnt Irfan Gazdic<br />

seine Nachtschicht. Sein Arbeitsplatz<br />

ist ein stiller, fast mystischer Ort.<br />

Zwischen den niedrigen, verwitterten<br />

Häuschen, die sich den Berg empor an<br />

den Hang drücken, tut er sich auf wie<br />

eine schummrige Lichtung.<br />

Bis zum nächsten Morgen wird<br />

Gazdic in seinem Wachturm sitzen und<br />

die mit den Ziffern 1 bis 444 durch-<br />

WWW. klartext-magazin.de<br />

Stimmen, Bilder und ein<br />

Clip aus Sarajevo<br />

nummerierten Gräber auf dem Veteranenfriedhof<br />

beschützen. Man findet<br />

hier keinen Grabstein, in den nicht<br />

eine Zahl zwischen 1992 und 1996 als<br />

Todesdatum eingraviert ist. Am linken<br />

Rand des Friedhofs steht ein Mausoleum.<br />

Das Grab von Alija Izetbegovic,<br />

der zwischen 1990 und Kriegsbeginn<br />

Präsident der Republik Bosnien war.<br />

„Mein Präsident“, so nennt Gazdic ihn.<br />

Schleichen im Dunkeln Unbekannte<br />

auf dem Friedhof umher, öffnet er die<br />

Lasche seines Pistolenhalfters und<br />

steigt zwischen den Gräbern den Hügel<br />

hinauf, um nach dem Rechten zu<br />

sehen. Seit 2006 eine Bombe das<br />

Mausoleum Izetbegovics beschädigte,<br />

wird der Friedhof rund um die Uhr<br />

bewacht. „Unser Land ist zwar schön“,<br />

sagt Gazdic, „es hat aber viele Probleme.<br />

Und manche versuchen, sie mit<br />

Gewalt zu lösen.“ Gazdic, 28, ist Soldat<br />

in der noch jungen bosnischen Armee.<br />

Seine Uniform ist so schwarz, dass<br />

man nur ihre goldenen Knöpfe funkeln<br />

sieht, wenn es Nacht wird. Einer springt<br />

ab, als Gazdic in die Innentasche greift<br />

und ein Päckchen Zigaretten hervorholt.<br />

„Shit“, sagt er. Seine halbe Kindheit<br />

hat er im Belagerungszustand verbracht.<br />

Als er zehn war, schlug eine<br />

Granate ein paar Meter neben ihm<br />

ein, ihre Splitter verletzten ihn schwer.<br />

„Ich würde alles geben, um wieder<br />

so zu leben wie damals“, sagt er.<br />

Wenn man dem Tod so nahe sei, brauche<br />

man nicht viel, man konzentriere<br />

sich auf das Wesentliche: „seine<br />

Leute“. Die Fronten waren klar in den<br />

Neunzigern, man wusste, wer Freund<br />

und wer Feind war. Sarajevo ist eine<br />

kleine Stadt, jeder kennt hier jemanden,<br />

der von Scharfschützen erschossen<br />

wurde. „Der Grabstein da drüben“,<br />

sagt Gazdic, „das ist mein Cousin.“<br />

Doch auch viele, die früher auf die<br />

Stadt geschossen haben, leben heute<br />

noch dort. Es herrscht Misstrauen<br />

zwischen den Ethnien und Religionsgemeinschaften<br />

im „Jerusalem des Balkans“,<br />

wie Sarajevo wegen seiner Vielfalt<br />

genannt wurde, als hier alle friedlich<br />

miteinander lebten. Christen, Juden,<br />

Moslems. Kroaten, Serben, Bosnier.<br />

Es waren die goldenen Jahre der<br />

Stadt, und keines war so golden wie<br />

das Jahr 1984. Olympische Winterspiele,<br />

die ganze Welt blickte auf Sarajevo.<br />

Bis heute sind die Menschen hier stolz<br />

auf ihre olympische Vergangenheit.<br />

Jugendliche erzählen mit Inbrunst von<br />

der Seele, die die Stadt damals gehabt<br />

habe, als hätten sie selbst in der<br />

ersten Reihe des Eispalastes gejubelt.<br />

Sprechen die Bewohner von den Bergen<br />

ringsum, dann sprechen sie nicht<br />

einfach von Bergen, sie sprechen von<br />

den „olympischen Bergen“.<br />

15 Autominuten von der Altstadt<br />

entfernt liegt auf 1200 Metern, was<br />

von Olympia übrig ist: die Bobbahn in<br />

den Wäldern von Trebevice. 1984 war<br />

sie die modernste, schnellste und<br />

sicherste ihrer Art. Die einzige Bobbahn<br />

auf dem Balkan. Heute ist das<br />

nationale Heiligtum von einst nur noch<br />

ein von Dornengestrüpp überwachsenes<br />

Gerippe aus rostigen<br />

Stahlstreben und Beton. Die Kurven,<br />

in denen Wolfgang Hoppe zweimal<br />

Gold für die DDR holte, sind mit Graffiti<br />

überzogen. Alle paar Meter sind hand-<br />

„ICH WÜRDE ALLES GEBEN, UM WIEDER SO ZU<br />

DU DIR ÜBER SO VIELES<br />

ZAHLEN, NÄCHTELANG ARBEITEN. DU

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