Sehnsucht nach Ebene II - Hagen Ruhr.2010
Sehnsucht nach Ebene II - Hagen Ruhr.2010
Sehnsucht nach Ebene II - Hagen Ruhr.2010
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Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf<br />
Philosophische Fakultät<br />
Institut für Kultur und Medien<br />
Bachelor-Arbeit im Studiengang Medien- und Kulturwissenschaft<br />
Zwischen persönlichem und öffentlichem Erinnern -<br />
Eine Analyse des transkulturellen Kunstprojekts<br />
“<strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong>“<br />
Vorgelegt von:<br />
Maria Wigbers<br />
Matrikel-Nr.: 1732487<br />
6. Fachsemester<br />
Erstgutachter: Dr. Hans Malmede<br />
Zweitgutachter: Jun.-Prof. Dr. Timo Skrandies<br />
Düsseldorf, den 10. Dezember 2008<br />
1
Inhaltsverzeichnis<br />
1 Einleitung………………………………………………………………………..4<br />
2 <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> als ortsspezifische Kunst<br />
2.1 Ortsspezifische Kunst<br />
2.1.1 Soziale Ortsspezifität…...………………………………………………………..7<br />
2.1.2 Physisch-architektonische Ortsspezifität………...………………………………8<br />
2.2 Die Brücke und ihr sozialer Kontext in Altenhagen……………………………..8<br />
3 Verhältnis von Mensch und Umgebung/Ort<br />
3.1 Mensch und Farbe………………………………………………………………12<br />
3.2 Mensch und Ort<br />
3.2.1 Symbolische Ortsbezogenheit…………………………………………………..15<br />
3.2.2 Mobilität, Stadt und Identifikation……………………………………………...16<br />
3.2.3 Mobilität, Mehrfachverbundenheit und Identität……………………………….18<br />
4 Erinnerung/<strong>Sehnsucht</strong><br />
4.1 Das bewusste persönliche Erinnern……………………………………………..20<br />
4.2 Erinnerung, Gefühl und <strong>Sehnsucht</strong>……………………………………………...22<br />
5 Interviews<br />
5.1 Einführung………………………………………………………………………23<br />
5.2 Analyse der Interviews<br />
5.2.1 Inês Marques Gomes……………………………………………………………24<br />
5.2.2 Fernanda Pohlmann……………………………………………………………..28<br />
5.2.3 Hayat Güler und Jennifer Berg………………………………………………….30<br />
5.2.4 Rose Busia………………………………………………………………………34<br />
5.3 Zwischenfazit…………………………………………………………………...37<br />
6 Umsetzung im öffentlichen Raum<br />
6.1 Vorgehensweise………………………………………………………………...40<br />
6.2 Veränderung des Stadtbildes in Altenhagen…………………………………....41<br />
6.3 Transkulturalität, Konsensbildung und Möglichkeiten der Mitgestaltung<br />
6.3.1 Nationales und transkulturelles Selbstverständnis……………………………...41<br />
3
6.3.2 Stadt, öffentlicher Raum und Teilhabe...............................................................43<br />
6.3.3 Transkulturalität und öffentliche Meinung bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong>...........45<br />
6.3.4 Mitgestaltung des öffentlichen Raumes durch die Teilnehmerinnen..................49<br />
6.4 Autorschaft und Ausblick....................................................................................51<br />
7 Fazit…………………………………………………………………………….53<br />
8 Literaturverzeichnis…………………………………………………………..54<br />
9 Anhangsverzeichnis/Anhang<br />
4
1 Einleitung<br />
In Deutschland wurde das heutige ‚Zeitalter der Migration‘ 1 durch eine wachsende<br />
Zuwanderung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeläutet: Sogenannte<br />
‚Gastarbeiter‘ kamen in den 1960/70er Jahren aus Südeuropa hierher, in den folgenden<br />
Jahrzehnten ‚Spätaussiedler‘, Asylsuchende und Bürgerkriegflüchtlinge. Dadurch hat<br />
sich die Bevölkerungsstruktur grundlegend verändert, so dass in der Bundesrepublik<br />
heute 15,3 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund leben. Dazu zählen zum einen<br />
alle Personen, die – unabhängig von ihrer derzeitigen Staatsbürgerschaft – selbst <strong>nach</strong><br />
Deutschland zugewandert sind oder als Ausländer hier geboren wurden. Zum anderen<br />
fallen auch Kinder mit einem Elternteil aus der beschrieben Gruppe unter diesen<br />
Begriff. 2<br />
In der nordrhein-westfälischen Stadt <strong>Hagen</strong> mit 196.991 Einwohnern hat ein Drittel der<br />
Menschen einen solchen Hintergrund. 3<br />
Diesen Gegebenheiten in <strong>Hagen</strong>, im<br />
Besonderen in dessen Viertel Altenhagen, geht das Kunstprojekt <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong><br />
<strong>II</strong> 4 <strong>nach</strong>. Die Künstlerinnen Milica Reinhart, gebürtige Kroatin und wohnhaft in <strong>Hagen</strong>,<br />
sowie die in Amsterdam lebende Marjan Verkerk haben dafür insgesamt 50 Frauen 5<br />
interviewt, von denen die meisten Migrantinnen sind. Bei den Gesprächen standen die<br />
persönlichen Erinnerungen der Frauen an für sie bedeutsame Orte und Farben im<br />
Mittelpunkt. Dabei zeigten sie die Farben auch auf einer Skala. Diese Begegnungen<br />
1 Als internationales ‚Age of Migration‘ beschreiben und prognostizieren die Migrationsforscher Castles<br />
und Miller 1993 das ausgehende 20. und beginnende 21. Jahrhundert. Sie legen hierfür eine quantitative<br />
und bedeutungsmäßige Zunahme an weltweiter Migration zugrunde. (Vgl.: Castles, Stephen/Miller,<br />
Mark J.: The Age of Migration. International Population Movements in the Modern World. London,<br />
1993, S. 3 f.)<br />
2<br />
Diese Definition bezieht sich auf den Zeitraum <strong>nach</strong> 1949. (Vgl.: Statistisches Bundesamt:<br />
„Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des<br />
Mikrozensus 2005“, 2007. URL: https://www-ec.destatis.de/csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls<br />
cmspath=struktur,vollanzeige.csp&ID=1020313 [Stand 18. September 2008], S.6 f.)<br />
Angaben bezüglich des Erscheinungsjahres von Texten im Internet sind in vier Fällen für diese Arbeit<br />
gegeben.<br />
Synonym wird hier der Begriff ‚MigrantIn‘ verwendet, was sich somit auch auf Nachkommen von selbst<br />
Migrierten bezieht. In einer Position wird ‚Einwanderer‘ verwendet, was hier ebenso auf die genannte<br />
Personengruppe bezogen wird.<br />
3<br />
Diese Angabe bezieht sich auf unveröffentlichte Informationen des Ressorts ‚Statistik und<br />
Stadtforschung‛ der Stadt <strong>Hagen</strong>.<br />
4 Außer in Zitaten erfolgen alle kursiven oder sonstigen Hervorhebungen in dieser Arbeit grundsätzlich<br />
durch die Autorin. In Ausnahmefällen wird dies angemerkt.<br />
Im Rahmen von <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> finden auch Theater-, -Tanz-, Film-, Musik- und<br />
Literaturprojekte statt, hier wird allerdings nur das im Folgenden beschriebene Kernprojekt untersucht.<br />
(Vgl.: Kulturamt der Stadt <strong>Hagen</strong> (Hg.): „Die <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> 2. Kunstprojekt für eine Brücke“<br />
(Broschüre). <strong>Hagen</strong>, 2007. S. 16 ff.)<br />
5 Die Künstlerinnen begründen ihr Vorgehen, nur Frauen zu befragen, damit, dass sie in Versuchs-<br />
Gesprächen mit Männern bemerkt hätten, dass es schwieriger für sie sei, mit diesen über ihre<br />
persönlichen Geschichten und vor allem für sie bedeutsame Farben zu kommunizieren. (Vgl.: Anhang A,<br />
Interview 2 mit Milica Reinhart und Marjan Verkerk, Min. 14,31 - 15.30) Der Aspekt, dass in das<br />
Kernprojekt nur Frauen eingebunden sind, wird in dieser Arbeit nicht gesondert betrachtet.<br />
5
ildeten die Grundlage für die künstlerische Umgestaltung einer bisher grauen<br />
Hochbrücke in Altenhagen, deren offizielle bautechnische Bezeichnung ‚<strong>Ebene</strong> <strong>II</strong>‘ ist.<br />
Nach einer vierjährigen Vorbereitungsphase realisieren Verkerk und Reinhart die<br />
künstlerische Umsetzung seit Juli 2008 und werden diese weitestgehend im Dezember<br />
2008 fertigstellen.<br />
Da insbesondere Kunst im öffentlichen Raum einen demokratischeren Zugang zu<br />
Kunst jenseits der Institutionen ermöglichen kann 6 , erscheint ein entsprechendes<br />
Projekt mit einem besonderen Fokus auf Migranten geeignet, um deren derzeit<br />
unzureichender Berücksichtigung als Zielgruppe kultureller Einrichtungen<br />
entgegenzuwirken. 7<br />
<strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> soll zunächst als ortsspezifische Kunst eingeordnet werden.<br />
Dabei bietet es sich an, in dem entsprechenden zweiten Abschnitt dieser Arbeit<br />
Ergänzungen zu den nun folgenden Erläuterungen bezüglich ihrer Grundstruktur<br />
anzubringen.<br />
Da die Interviews den Kern des Projektes bilden, erscheint es sinnvoll, einen<br />
Schwerpunkt der Arbeit auf die Analyse einiger beispielhafter Interviews zu legen.<br />
Dies geschieht vor einem theoretischen Hintergrund, in dem unter Bezugnahme auf<br />
verschiedene Autoren das Verhältnis des Menschen zu Farben, seiner Umgebung<br />
allgemein und damit Orten thematisiert wird. Dort wird auch dargelegt, zu welchen<br />
Formen von Ortsbezügen und Identitätsbildung es speziell bei transnationalen<br />
Migranten kommt. Zudem werden Theorien bezüglich biographischer Erinnerung<br />
sowie Erinnerung und Gefühl herangezogen. Die Ergebnisse der Interview-Analyse<br />
werden in einem Zwischenfazit zusammengefasst und liefern ebenso wie einzelne<br />
Thesen aus dem vorgängigen Theorieteil wichtige Anknüpfungspunkte für die<br />
Reflexionen über die Umgestaltung der Brücke im sechsten Teil der Arbeit.<br />
In diesem werden zudem weitere Theorien und Positionen dargelegt, um die<br />
gesellschaftlichen und politischen Dimensionen des Projekts, die insbesondere ein<br />
(trans-)kulturelles Selbstverständnis betreffen, ermessen zu können. Abschließend wird<br />
skizziert, auf welchen verschiedenen <strong>Ebene</strong>n die umgestaltete Brücke im öffentlichen<br />
Raum erinnernde Funktionen erfüllen kann. Weitere Anmerkungen zu diesem Teil<br />
erfolgen in Abschnitt 2.2.1.<br />
6 Vgl.: Lewitzky, Uwe: Kunst für alle. Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention<br />
und Neuer Urbanität. Bielefeld, 2005, S. 7.<br />
7 Vgl.: Cerci, Meral: „Daten, Fakten, Lebenswelten – Annäherung an eine (noch) unbekannte Zielgruppe.<br />
Datenforschungsprojekt Interkultur“. In: Jerman, Tina (Hg.): Kunst verbindet Menschen. Interkulturelle<br />
Konzepte für eine Gesellschaft im Wandel. Bielefeld, 2007, S. 50.<br />
6
Für diese Arbeit werden interdisziplinär Theorien und Positionen von einzelnen<br />
Autoren hauptsächlich aus der (Farb-)Psychologie, Kunstwissenschaft, Soziologie,<br />
Germanistik, Geschichtswissenschaft, Philosophie sowie Kulturwissenschaft<br />
verwendet.<br />
Zudem wird mit verschriftlichten Versionen der Interviews gearbeitet, die die<br />
Künstlerinnen mit den Frauen geführt haben. 8 Weiterhin hat die Autorin dieser Arbeit<br />
Reinhart und Verkerk sowie die Koordinatorin des Projekts, Tina Jerman 9 , befragt.<br />
Diese Gespräche stehen als Audio-Versionen zur Verfügung. Aus den Interviews wird<br />
teilweise zitiert, an anderen Stellen wird der Inhalt indirekt oder paraphrasiert<br />
wiedergegeben. Auch Leserbriefe aus <strong>Hagen</strong>er Tageszeitungen sowie Informationen<br />
aus der begleitenden Projekt-Broschüre und von der Internetseite zu <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong><br />
<strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> werden verwendet. Zum Verständnis der Vorgehensweise sind einzelne Stufen<br />
des künstlerischen Prozesses ebenso wie Bilder der umgestalteten Brücke im Anhang<br />
zu finden.<br />
8 Die Interviews wurden nicht von der Autorin verschriftlicht und werden in der vorgefunden Art<br />
übernommen. Es wird zugrunde gelegt, dass diese Version für die Untersuchungsziele der Arbeit<br />
ausreicht.<br />
9 Tina Jerman ist Geschäftsführerin des Vereins EXILE-Kulturkoordination in Essen.<br />
7
2 <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> als ortsspezifische Kunst<br />
Bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> handelt es sich um eine Form der ortsspezifischen Kunst.<br />
Diese zeichnet sich allgemein dadurch aus, dass sie über verschiedene Wege in<br />
Beziehung zu ihrer Umgebung tritt, die im Folgenden erläutert werden. 10<br />
2.1 Ortsspezifische Kunst<br />
2.1.1 Soziale Ortsspezifität<br />
Ein wichtiges Merkmal, welches <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> als ortsspezifisch<br />
kennzeichnet, ist seine Beschäftigung mit dem sozialen Kontext des<br />
Durchführungsortes. 11 Hierin besteht eine Parallele zu der ortsspezifisch arbeitenden<br />
New Genre Public Art (NGPA), deren Ursprünge in den 1960er Jahre liegen. 12<br />
Im Rahmen der NGPA werden Kunstobjekte bzw. -projekte durch direkte<br />
Kommunikation und Interaktion über einen längeren Zeitraum partizipativ mit den<br />
Bewohnern eines Viertels entwickelt, die gleichzeitig das direkte Publikum der Arbeit<br />
sind. 13 Oftmals handelt es sich hierbei um sozial be<strong>nach</strong>teiligte Stadtteile. 14 Gegenstand<br />
sind hierbei <strong>nach</strong> der Künstlerin Suzanne Lacy „(…) issues directly relevant to [the<br />
audience`s] lives” 15 , wobei sie kulturelle Identität als ein Beispiel hierfür nennt.<br />
Ein zentrales Merkmal der NGPA ist dementsprechend die Auseinandersetzung mit<br />
gesellschaftlichen Fragestellungen und das Bestreben der Künstler, soziale und<br />
politische Verantwortung zu übernehmen. Kennzeichnend ist hierbei auch ein<br />
interventionistischer Ansatz. Speziell im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen<br />
geht es dabei um die Abwendung von einer autonomen und funktionslosen Kunst. 16<br />
Stattdessen handelt es sich um eine Methode, mittels derer die Aufmerksamkeit auf<br />
10 Diese Form der Inklusion der Umgebung steht im Gegensatz zu modernistisch-abstrakten Skulpturen,<br />
die im öffentlichen Raum autonom gegenüber ihrem Kontext verbleiben und von Mitte der 1960er Jahre<br />
bis Mitte der 1970er Jahre die dominante künstlerische Praxis im öffentlichen Raum der USA waren.<br />
(Vgl.: Kwon, Miwon: One Place after Another. Site-Specific Art and Locational Identity. Cambridge,<br />
USA, 2004, S. 11, 60) In Deutschland gab es seit den 1950er Jahren entsprechende Ansätze, die<br />
ebenfalls bis in die 1970er Jahre vorherrschten. (Vgl.: Lewitzky, 2005, S. 78 ff.)<br />
11 Vgl.: ebd. S. 86.<br />
12 Den Begriff hat die Künstlerin Suzanne Lacy <strong>nach</strong>träglich geprägt. (Vgl.: Lacy, Suzanne: “Cultural<br />
Pilgrimates and Metaphoric Journeys”. In: Lacy, Suzanne (Hg.): Mapping the Terrain: New Genre<br />
Public Art. Seattle, 1996, S. 19)<br />
Hier soll der Hinweis gegeben werden, dass diese Art der Kunst innerhalb des Kunstdiskurses nicht<br />
unumstritten ist. So übt die Kunstkritikerin Miwon Kwon Kritik an einzelnen durchgeführten Projekten<br />
und über deren beispielhafte Funktion an dem Ansatz als solchem. Sie räumt aber auch positive<br />
Möglichkeiten ein und weist auf funktionierende Vorgehensweisen hin. (Vgl.: Kwon, 2004, S. 52 f., 83<br />
ff., 97 f., 100 ff., 130 ff.)<br />
13 Vgl.: ebd. S. 82.<br />
14 Vgl.: Lewitzky, 2005, S. 96.<br />
15 Siehe: Lacy (Hg.), 1996, S. 19.<br />
16 Vgl.: Lewitzky, 2005, S. 96 f.<br />
8
estimmte soziale, politische, institutionelle und urbanistische Strukturen gelenkt wird,<br />
auch mit der Intention, diese umzugestalten. 17<br />
Nach dem bildenden Künstler und Kulturwissenschaftler Martin Köttering handelt<br />
Kunst im öffentlichen Raum grundsätzlich in gesellschaftlichen Zusammenhängen und<br />
interveniert allein aufgrund ihrer Ortsbestimmung in soziale Kontexte, die<br />
Konfliktpotentiale beinhalten. Für ihn entsteht ihr Wert gerade daraus, keine<br />
Affirmation gesellschaftlicher Parameter zu sein. Wenn hingegen Einstimmigkeit über<br />
die Realisation eines Kunstprojekts herrscht, bestätigt es lediglich inhaltliche oder<br />
ästhetische Konventionen. 18<br />
2.1.2 Physisch-architektonische Ortsspezifität<br />
Eine andere Form der Ortsspezifität künstlerischer Praktiken im öffentlichen Raum<br />
entstand in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren im Zuge des Minimalismus.<br />
Hier ist die Ortsspezifität durch die Auseinandersetzung mit dessen physischen<br />
Gegebenheiten gekennzeichnet, wobei beispielsweise architektonische Faktoren in die<br />
Arbeiten einbezogen werden und erst hierdurch die Bedeutung der Kunst entsteht. 19<br />
Obwohl die künstlerische Praxis Reinharts und Verkerks keineswegs dem<br />
Minimalismus 20 zugerechnet werden soll und sie sich auf andere Weise mit dem<br />
gegebenen Ort auseinandersetzen, soll hier darauf hingewiesen werden, dass für die<br />
Ortspezifität bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> auch die Berücksichtigung der physischarchitektonischen<br />
Bedingungen von Bedeutung ist.<br />
2.2 Die Brücke und ihr sozialer Kontext in Altenhagen<br />
Die Hochbrücke im Viertel Altenhagen wurde in den 1970er Jahren erbaut und führt<br />
auf die A1. Damalige verkehrspolitische Planungen sollten den Bürgern einen<br />
schnelleren Zugang zur Autobahn ermöglichen, um so ihre Lebensqualität zu<br />
verbessern. Heute nutzen die graue Betonbrücke täglich 40.000 Autofahrer. Sie liegt<br />
auf Höhe des zweiten Wohngeschosses in unmittelbarer Nähe der umgebenden Häuser<br />
und führt zu einer verbauten Sicht und erhöhten Lärmbelastung für die dortige<br />
Bevölkerung. Laut Tina Jerman waren diese Nachteile ausschlaggebend für den<br />
17 Vgl.: Lewitzky, 2005, S. 97.<br />
18 Vgl.: Köttering, Martin: „Störenfriede im öffentlichen Interesse“. In: Köttering, Martin (Hg.):<br />
Störenfriede im öffentlichen Interesse. Der Skulpturenweg Nordhorn als offenes Museum. Köln, 1997, S.<br />
7.<br />
19 Vgl.: ebd. S. 3 f., 11 ff.<br />
20 Eine hauptsächlich plastische Kunstform, bei der Farbe und Form reduziert eingesetzt werden. In der<br />
Regel werden einfache geometrische Körper in Bezug zur Umgebung gesetzt.<br />
9
Wegzug der materiell privilegierten Anwohner. Kostengünstiger Wohnraum entstand,<br />
und aufgrund der Finanzierbarkeit zogen zunehmend Migranten in diese Gegend. Heute<br />
leben dort Staatsangehörige 82 verschiedener Länder. 21 Im Jahr 2006 hatte ungefähr ein<br />
Viertel der in Altenhagen Ansässigen eine ausländische Staatsangehörigkeit. 22<br />
Insgesamt gilt Altenhagen als ‚Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf‘. 23<br />
Aufgrund statistischer Daten der Stadt <strong>Hagen</strong> war den Künstlerinnen bekannt, woher<br />
die Menschen mit nicht-deutscher Staatszugehörigkeit in Altenhagen kommen. Ihr<br />
Ausgangspunkt war, Personen aus den dort quantitativ am stärksten vertretenen<br />
Ländern über die Interviews in ihr Projekt einzubinden. 24 Zum Teil haben die<br />
Partizipientinnen allerdings die deutsche Staatsbürgerschaft und gleichzeitig einen<br />
Migrationshintergrund. Fünf der Gesprächspartnerinnen haben keinen<br />
Migrationshintergrund. 25 Zudem haben sie auch Frauen befragt, die in den umliegenden<br />
Stadtteilen leben. 26 Elementar für ihr Vorgehen ist die Beschäftigung mit einem durch<br />
Migration geprägten Stadtteil, dessen Bevölkerung sich bezüglich des familiären oder<br />
persönlichen Herkunftslandes heterogen zusammensetzt. Diesen Ansatz dehnen sie<br />
über die Teilnehmerinnen auf weitere Viertel aus, wodurch die Vielfalt innerhalb der<br />
gesamten Stadt in den Blick genommen wird. Damit sind zwar nicht nur Teile des<br />
unmittelbaren Publikums im Sinne von direkten Anwohnern der Brücke beteiligt, aber<br />
die Gegebenheiten am Umsetzungsort liefern den Ansatzpunkt, um einen die gesamte<br />
21 Vgl.: Anhang A, Interview 3.2 mit Tina Jerman, Min. 1,54 - 3.06 sowie Jerman, Tina: „Die <strong>Sehnsucht</strong><br />
<strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong>. <strong>Hagen</strong>er Kunstprojekt für eine Brücke“. In: Jerman, Tina (Hg.), 2007, S. 165.<br />
22 Stadt <strong>Hagen</strong>: „Statistisches Jahrbuch <strong>Hagen</strong> 2007“. <strong>Hagen</strong>, 2007, S. 24.<br />
23 Vgl.: Anhang A, I 3.2, Min. 3, 07 - 3,25. Als Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf bezeichnet<br />
die Landesregierung Nordrhein-Westfalen diejenigen Viertel, die im Hinblick auf die Beschäftigungsund<br />
Wohnsituation, die Wirtschaftsentwicklung, die Gesundheitsförderung usw. einer Förderung<br />
bedürfen. (Vgl.: Jasper, Karl: „Ressortübergreifendes Handlungsprogramm des Landes Nordrhein-<br />
Westfalen ‚Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf’ und Bund-Länder-Programm ‚Stadtteile mit<br />
besonderem Erneuerungsbedarf – die soziale Stadt’ “.<br />
URL: http://www.sozialestadt.de/veroeffentlichungen/arbeitspapiere/band3/4_nrw_jasper.phtml [Stand<br />
19. September 2008])<br />
24 Vgl.: Anhang A, Interview 1 mit Milica Reinhart und Marjan Verkerk, Min. 6,26 - 7,10.<br />
Ihr Grundgedanke bei der Teilnehmersuche war, dass hinter jedem Menschen eine Geschichte steckt.<br />
(Vgl.: ebd. Min. 27,17 - 27,47) Von dieser Gleichwertigkeit der Gespräche ausgehend, kommt auch für<br />
die Analyse grundsätzlich jedes geführte Interview in Frage.<br />
Bei der Suche war von Vorteil, dass Milica Reinhard in <strong>Hagen</strong> lebt. Ein Teil der Frauen wurde ihr durch<br />
persönliche Beziehungen weitervermittelt. Andere Teilnehmerinnen haben die Künstlerinnen auch auf<br />
der Straße, in den umliegenden Geschäften oder an einer Kirche angesprochen. Zudem war ihnen<br />
beispielsweise eine Beratungsstelle in der <strong>Hagen</strong>er Stadtmitte bei der Suche <strong>nach</strong> Partizipientinnen<br />
behilflich. (Vgl.: ebd. Min. 5,24 - 7,45)<br />
25 Vgl.: ebd. 26,38 - 26, 45.<br />
Dass die Zahl der Teilnehmerinnen ohne Migrationshintergrund nicht ihrem Anteil an der Bevölkerung<br />
entspricht, verdeutlich die Konzentration der Künstlerinnen auf Migranten.<br />
26 14 der Interviewten leben in Altenhagen, von den Übrigen wohnen <strong>nach</strong> Angaben Reinharts viele in<br />
direkt an Altenhagen angrenzenden Stadtteilen und in relativer Nähe zur Brücke.<br />
10
Stadt betreffenden demographischen Wandel und dessen Implikationen zum<br />
Gegenstand des Projekts zu machen: Orts- und Länderbezüge über Deutschland hinaus<br />
sowie damit korrelierende kulturelle Identitäten sind zentrale Themen der Interviews.<br />
Dies sind Fragen, die in einem Stadtteil wie Altenhagen, aber auch in der gesamten<br />
Stadt von Relevanz für die Menschen sind. Wieweit dieser Ansatz für das Publikum der<br />
umgestalteten Brücke noch erkennbar ist, wird im letzten Teil der Arbeit aufgegriffen.<br />
Dort wird auch beleuchtet, auf welche Weise die Teilnehmerinnen selbst am<br />
künstlerischen Prozess beteiligt werden.<br />
Die Vorgehensweise der Künstlerinnen impliziert bereits ein soziales und politisches<br />
(Verantwortungs-)Bewusstsein. Ausdrücklich formulieren sie ein solches im<br />
Interview: 27<br />
So kritisiert Verkerk eine Sichtweise, die einseitig Kommunikations- und<br />
Integrationswillen (in diesem Fall als Anpassung gedacht) von den Ausländern 28<br />
verlangt. 29 Es werde erwartet, dass diese ihre Persönlichkeit im Herkunftsland<br />
zurücklassen (oder diese unterdrücken) und „ (…) ein[e] ander[e] Person sein<br />
soll[en]“ 30 , bemerkt Verkerk. Ein Selbstbewusstsein in Hinblick auf die eigene<br />
Persönlichkeit, die für die Künstlerin Vergangenheit und Gegenwart eines Menschen<br />
mit Migrationshintergrund umfasst, werde gesellschaftlich nicht akzeptiert, obwohl viel<br />
von Integration gesprochen werde. Sie sei sich nicht mehr sicher, was dieser Begriff<br />
bedeute. Mit ihrem Projekt hat sie nicht den Anspruch, daran etwas zu ändern. 31 So ist<br />
Verkerk im Hinblick auf dessen Effekte <strong>nach</strong> eigenen Angaben bescheiden geworden,<br />
solche seien nicht absehbar. Sie visualisierten lediglich eine Frage oder Problematik.<br />
Positiv gedeutet, sei dies eine Aufforderung: „Guckt, was wir hier alles haben, und wir<br />
wissen es nicht.“ 32 So könne die Neugestaltung der Brücke als eine Feier auf die<br />
veränderte Gesellschaft und deren neue Möglichkeiten gesehen werden, weiter könnten<br />
die Künstlerinnen nichts tun. 33<br />
27 Hier wurde im Hinblick auf den thematischen Fokus dieser Arbeit eine Auswahl der diesbezüglichen<br />
Aussagen getroffen, die allerdings die grundlegenden Einstellungen und Intentionen der Künstlerinnen<br />
erfasst.<br />
28<br />
Die Künstlerinnen benutzen die Begriffe ‚Ausländer‘, ‚Migranten‘ sowie ‚Menschen mit<br />
Migrationshintergrund‘ synonym.<br />
29 Vgl.: Anhang A, I 1 , Min. 28,28 - 28,33.<br />
30 Siehe: ebd. Min. 35,51 - 35,54<br />
31 Vgl.: ebd. Min. 40, 35 - 41,22<br />
32 Siehe: Anhang A, I 1, Min. 37,29 - 37,32.<br />
33 Vgl.: ebd. Min. 36,52 - 37,57.<br />
Speziell für Migranten erhoffen die Künstlerinnen sich jedoch Effekte: Verkerk, betont, dass ihre<br />
Konzentration auf einzelne Menschen sich dem vorherrschenden Denken von Menschen in den Gruppen<br />
‚Einheimische‘ und ‚Migranten‘ entgegensetze und sie zeigten, dass es wichtig ist, auf eine<br />
Persönlichkeit oder Identität einzugehen. Damit einher gehe die Hoffnung, dass einigen „hier in dieser<br />
11
Es wird deutlich, dass die Künstlerinnen auf bestimmte städtisch-soziale Strukturen<br />
bezüglich der Bevölkerungszusammensetzung aufmerksam machen wollen, aber nicht<br />
davon ausgehen, hierdurch gesellschaftliche Veränderungen im Sinne einer<br />
Intervention erzielen zu können. Prozesse, die im Zusammenhang damit stehen, was<br />
Verkerk als ‚Persönlichkeit‘ beschreibt, werden im Laufe der Arbeit unter dem Begriff<br />
‚Identität‘ aufgegriffen.<br />
Dass Verkerk und Reinhart sich mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen<br />
beschäftigen, führte auch zu entsprechenden Reaktionen in der Öffentlichkeit:<br />
Sie beschreiben, dass es im Laufe der Projektplanung langwierige<br />
Auseinandersetzungen mit der Kommunalpolitik gab. Insgesamt sei Verkerk im<br />
Vorfeld der Umsetzung darin bestätigt worden, dass es sich um ein politisches Thema<br />
handle: Es gab innerhalb der öffentlichen Meinungsbildung heftige Gegenstimmen,<br />
„(…) die (...) nicht wollen, dass die Ausländer (…) zu sehen sind an der Brücke.“ 34<br />
Andererseits hätten sie auch Befürwortern viel zu verdanken. Entsprechende<br />
Diskussionen wurden teilweise über Leserbriefe geführt, wobei sie begrüßten, dass<br />
diese Auseinandersetzungen somit in der Öffentlichkeit stattfanden. 35<br />
In Abschnitt 6.3.3 wird unter anderem anhand der Leserbriefe näher betrachtet, in<br />
welchem Verhältnis <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> inhaltlich zu gesellschaftlichen und<br />
politischen Konventionen steht.<br />
Grundsätzlich impliziert bereits der Titel <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> eine Hoffnung auf<br />
mögliche Veränderungen durch das Projekt. Vor diesem Hintergrund wird im sechsten<br />
Teil der Arbeit betrachtet, inwiefern durch die Umgestaltung neuartige<br />
Wirkungsweisen der städtischen Umwelt auf den Betrachter angestoßen werden<br />
können. Zudem wird beleuchtet, welche Bedeutung die künstlerisch bearbeitete Brücke<br />
hinsichtlich der gesellschaftlichen und speziell kulturellen Teilhabe der Frauen hat. In<br />
diesem Zusammenhang wird ein möglicher Einfluss auf ihre persönlichen<br />
Identifikationsprozesse angesprochen.<br />
Gegend oder was auch immer“ (Siehe: ebd. Min. 40,05 - 40,08) ein selbstbewusster Umgang mit der<br />
eigenen Persönlichkeit in der Öffentlichkeit vermittelt werden kann. (Vgl.: ebd. Min. 39,20 - 40,32) Ein<br />
wichtiger Aspekt bezüglich der Frauen ist laut Milica Reinhard, dass sie bereits gemerkt hätten, wie stolz<br />
diese schon im Vorfeld über die geplante 10 Meter große Darstellung ihrer Geschichten waren. (Vgl.:<br />
ebd. Min. 38, 01 - 38, 30)<br />
Hier zeigt sich der explizite Wunsch <strong>nach</strong> einem verändernden Potential ihrer Arbeit dahingehend,<br />
speziell bei Migranten Selbstbewusstsein zu stiften, wobei die genaue Zielgruppe unklar bleibt. Zudem<br />
legen sie erste Wirkungen bei den Frauen dar: Beides ist als Anzeichen einer Intervention mit<br />
intendiertem Veränderungspotential zu sehen. Diese erhofften Wirkungen sollen nicht näher untersucht<br />
werden.<br />
34 Siehe: ebd. Min. 44, 57 - 45, 01.<br />
35 Vgl.: ebd. Min. 42,26 - 45,53.<br />
12
3 Verhältnis von Mensch und Umgebung/Ort<br />
Zunächst wird hier aufgezeigt, in welcher Relation Mensch und farbige Umgebung<br />
stehen. Im Anschluss wird allgemein die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt<br />
beziehungsweise einem Ort dargelegt. Während die hierzu herangezogene Position des<br />
Soziologen Wolfgang Hilgers detailliert, aber konservativ, entsprechende Prozesse<br />
aufzeigt, berücksichtigt sie den Aspekt der transnationalen Mobilität und damit<br />
zusammenhängend der Ortsbezüge und Identitätsbildung von Migranten<br />
unzureichend. 36 Diese Prozesse sind Gegenstand der darauf folgenden Abschnitte.<br />
3.1 Mensch und Farbe<br />
„Ohne Farbe wäre die Welt um ihre wichtigste Aussage ärmer. Ja, am farbigen Abglanz<br />
haben wir wirklich das Leben, wie Goethe sagte (...)“. 37<br />
Der Mensch kann etwa zwei Millionen verschiedene Farben <strong>nach</strong> deren Ton, Helligkeit<br />
und Sättigung unterscheiden, wobei der Farbwahrnehmung des Menschen eine<br />
unmittelbare Funktion bei der visuellen Orientierung zukommt. 38 Der Farbpsychologe<br />
Heinrich Frieling konstatiert, dass Farben uns mit einer grundlegenden Ordnung<br />
umgeben und ihnen niemand in einem gleichgültigen Verhältnis gegenüber stehen<br />
kann. Sie sind Kräfte, mit denen wir in positiver und negativer Weise in Beziehung<br />
stehen. 39<br />
Er stellt das Farbempfinden als einen wichtigen Teil nicht nur unserer<br />
Wahrnehmungs-, sondern auch der Gefühlsstruktur fest, wobei jedem äußeren Farbreiz<br />
eine Reaktion in der Innenwelt des Menschen entspricht. 40<br />
Gefühle und sind durch eine unmittelbare Wirkungskraft gekennzeichnet. 41<br />
Farben erwecken also<br />
Insgesamt funktioniert die Farbwahrnehmung im Alltag immer gebunden an eine<br />
Oberfläche, ein Objekt, eine Landschaft etc.: Wenn wir beispielsweise eine grüne<br />
Wiese betrachten, dann sind wir nicht in der Lage, das Grün losgelöst von der Wiese zu<br />
sehen bzw. eine Wiese wird immer schon untrennbar mit ‚Grün‘ verbunden. Zudem<br />
funktioniert dieser Vorgang wie das Anschlagen von „(…) Saiten, die durch ihre<br />
36 Vgl. hierzu auch Fußnote 67.<br />
37 Siehe: Frieling, Heinrich: Mensch und Farbe. Wesen und Wirkung von Farben in allen menschlichen<br />
und zwischenmenschlichen Bereichen. Göttingen, 1981, S. 12.<br />
38 Vgl.: Marschall, Susanne: Farbe im Kino. Marburg, 2005, S. 119.<br />
39 Vgl.: Frieling, 1981, S. 13, 33.<br />
40 Vgl.: Frieling, Heinrich: Farbe im Raum. Angewandte Farbenpsychologie. München, 1974, S. 7 sowie<br />
Frieling, 1981, S. 11.<br />
41<br />
Vgl.: Linares, Marina: Alles Wissenswerte über Farben. Farbenlehre, Kunsttheorie,<br />
Farbenpsychologie, Kulturgeschichte, Neue Medien. Essen, 2005, S. 9, 170.<br />
13
Schwingung in sich selbst weiterklingen“ 42 . Die grüne Wiese kann Erinnerungen an<br />
Urlaub, eine bestimmte Freundin oder ein Erlebnis auslösen. 43<br />
Der Mensch wird durch die Farben seiner Umgebung auch in Stimmungen versetzt: Als<br />
die natürlichsten Erlebnisse diesbezüglich beschreibt Frieling die Wahrnehmung einer<br />
bergigen Wiesenlandschaft und das ‚Verstehen‘ 44 dieses Eindrucks als ‚friedlich‘ oder<br />
des blauen Himmels als ‚heiter‘. Dabei sind die durch die Umgebung hervorgerufenen<br />
psychischen Stimmungen nicht zu trennen von den Einflüssen von Farbe und Licht auf<br />
der leiblich-physischen <strong>Ebene</strong>. Dies wird dadurch deutlich, dass der Mensch das Licht<br />
und seine Farbanteile nutzt, um Energien daraus aufzubauen, wobei hierzu warmes<br />
Licht förderlich ist, während kühles Licht verbrauchend wirkt. 45 Deshalb nehmen wir<br />
Farben auch als kalt oder warm wahr. „(...) [D]ie Verknüpfung von Farbe und<br />
Temperatur [scheint] die festeste aller synästhetischen Verbindungen zu sein“: 46<br />
Warmes Licht, also die Strahlung der Farben im rot-orange-gelben Bereich, bewirkt<br />
eine höhere Körpertemperatur als blaue und damit kalte Strahlung. 47 Von elementarer<br />
Bedeutung für den Menschen ist <strong>nach</strong> Frieling dabei der Farbwechsel, der mit<br />
verschiedener Lichtenergie und -intensität einhergeht. Deshalb kann sich beispielsweise<br />
die dauerhafte Wahrnehmung einer weißen Polarlandschaft oder auch einer eintönig<br />
weiß-grau-schwarz gestalteten Fabrik-Umgebung negativ auf die Psyche auswirken. 48<br />
Dies ist auch im Zusammenhang mit allgemeingültigeren Wirkungsweisen von Farben<br />
zu sehen: Grau 49<br />
wird unter anderem mit den Gefühlen oder Stimmungen Angst,<br />
Zwang und Melancholie in Verbindung gebracht, in der Umweltgestaltung wirkt es<br />
langweilig. 50<br />
Bezüglich Bauweisen,<br />
„(…) die ohne jeden Höhepunkt (…), ohne Liebenswürdigkeit und Verspieltheit konstruiert<br />
sind“ bemerkt Frieling, dass sie „die Seele des Menschen [verarmen], (..) Neurosen und<br />
Konflikte (..), Depressionen, Vereinsamung, Kriminalität [aufkommen lassen]“ 51 .<br />
Farbgestaltungen können hier allerdings kompensatorisch wirken. 52<br />
42 Siehe: Frieling, 1981, S. 9.<br />
43 Vgl.: ebd. S. 9 f.<br />
44 Hervorhebungen des Autors Frieling.<br />
45 Vgl.: Frieling, 1981, S. 42 f.<br />
46 Siehe: Linares, 2005, S. 89.<br />
47 Vgl.: ebd. S. 88 f.<br />
48 Vgl.: Frieling, 1981, S. 43.<br />
49 Schwarz, Weiß und Grau werden in dieser Arbeit als (unbunte) Farben betrachtet. (Vgl.: Linares,<br />
2005, 150 f.)<br />
50 Vgl.: Frieling, 1981, S. 120 f.<br />
51 Siehe: Frieling, 1974, S. 63.<br />
52 Wobei sie laut Frieling nur „als Alibi für des Architekten Unplan funktionieren“. (Siehe: ebd. S. 64) In<br />
ihnen zeigen sich aber schon Ansätze eines möglichen Stadtbildes von morgen, weil er darin ein<br />
Umdenken von Architekten und Farbgestaltern erkennt, auf die er sich in seinen Thesen bezieht. (Vgl.:<br />
14
Wie eng gekoppelt Farben an Gefühle sind, wird besonders deutlich, wenn ein Mensch<br />
ein einprägsames Erlebnis seiner Vergangenheit mit einer Farbe verbindet. Diese<br />
Erinnerungen werden im limbischen System des Gehirns gespeichert, das physische<br />
Eindrücke und emotionale Reaktionen verbindet. Sie können beim Betrachten einer<br />
Farbe unbewusst, aber heftig, wiederauftauchen. 53 Farbpräferenzen und -abneigungen<br />
gehen also mit bestimmten psychischen Zuständen einher. 54 So werden beispielsweise<br />
durch die Wahl der Farben im Rahmen der psychoanalytischen Bilddiagnostik<br />
unbewusste Strukturen deutlich. 55 Zu dieser Methode bemerkt Jolande Jacobi: „In den<br />
Bildern ist es die Farbe, die vor allem die Gefühle anspricht und sie unter Umgehung<br />
des [begrifflichen] Denkens zum Erklingen bringt.“ 56<br />
Während die Umwelt etwas in uns bewirkt und uns in Stimmungen versetzt, werden<br />
gleichzeitig auch farbliche Vorprägungen auf die Umgebung bzw. Objekte projiziert,<br />
die dann bevorzugt oder als angenehm empfunden werden. 57 Hier wird die<br />
Wechselbeziehung zwischen der Wirkung der farbigen Umwelt und deren<br />
Wahrnehmung durch den Menschen besonders deutlich.<br />
Den circa zwei Millionen wahrnehmbaren Farben stehen 7500 internationale<br />
Farbnamen gegenüber. Das bedeutet, dass das Farbempfinden in hohem Maße<br />
differenzierter ist als die menschlichen Beschreibungsmöglichkeiten. 58 Zudem werden<br />
Farben von den meisten Menschen wesentlich ungenauer und schlechter erinnert als sie<br />
gesehen werden. 59<br />
3.2 Mensch und Ort<br />
3.2.1 Symbolische Ortsbezogenheit<br />
Der Soziologe Wolfgang Hilgers beschreibt eine Form der Verbundenheit und<br />
Identifikation mit einem speziellen lokalen und überschaubaren Lebensumfeld als<br />
ebd. S. 64) Seine oben angeführten Grundaussagen lassen sich allerdings auch auf die Vorgehensweise<br />
der Künstlerinnen übertragen. Es wird zudem angenommen, dass seine 1974 veröffentlichten Thesen für<br />
die Brücke in Altenhagen weiterhin zutreffen.<br />
53 Vgl.: Malpas, Phil: Farbe. München, 2007, S. 38.<br />
54 Vgl.: Frieling, 1974, S. 40.<br />
55 Vgl.: Frieling, 1981, S. 35.<br />
56 Siehe: Jacobi, Jolande: Vom Bilderreich der Seele. Wege und Umwege zu sich selbst. Olten, 1969, S.<br />
128.<br />
57 Vgl.: Frieling, 1974, S. 38, 42, 46 f.<br />
58 Vgl.: Marschall, 2005, S. 119.<br />
59<br />
Vgl.: Linares, 2005, S. 172. Wobei unter anderem Künstler meist ein wesentlich besseres<br />
Farbgedächtnis haben.<br />
15
symbolische Ortsbezogenheit. 60 Diese Beziehung fällt in der Alltagssprache unter den<br />
Begriff Heimat, was für viele Menschen der Ort ist, an dem sie geboren und<br />
aufgewachsen sind. 61<br />
Grundlegend dafür ist, dass Kinder eine Umwelt sinnlich<br />
erschließen und sich allmählich an diese binden: 62<br />
„Dieses erste Stück Welt besteht aus vielen, vielen kleinen, oft sehr unscheinbaren Dingen,<br />
die aber Heimat stiften, in der Wohnung, im Haus, im Viertel, in der Landschaft und in<br />
allem, was den Sinnen sich im einzelnen bietet; es sind die Silhouetten für das Auge, es<br />
sind Gerüche für die Nase, es sind Dachböden (...); Steinbrüche, Straßenbahndepots um die<br />
Ecke, Forellenstandplätze, Baumhütten, Bolzplätze, die Stellen am Waldrand (...).“ 63<br />
Es kommt zu einer anhaltenden positiven emotionalen Besetzung dieser Umwelt. 64<br />
Neben diesen physischen 65<br />
Aspekten sind dabei Interaktionsmöglichkeiten und die<br />
Zugehörigkeit zu einer dauerhaft bestehenden, überschaubaren sozialen Gemeinschaft<br />
von großer Bedeutung. Insofern diese den Wunsch <strong>nach</strong> Sicherheit, Vertrauen und<br />
Anerkennung erfüllt, bildet sie einen Satisfaktionsraum. Ein solcher kann durch die<br />
Familie, Freundschaften, Nachbarschaften, den Arbeitsplatz usw. gewährleistet sein.<br />
Die Bildung von symbolischer Ortsbezogenheit beinhaltet auch eine Identifikation mit<br />
der für die Gesamtgesellschaft spezifischen, kollektiven Weltauslegung und<br />
Sinngebung. Dies funktioniert vor allem über die gemeinsame Sprache. 66<br />
Eine Trennung von der vertrauten Umgebung kann zu Heimweh führen. Es ist<br />
allerdings bei trans- oder intranationaler Migration auch möglich, durch Ablösung vom<br />
Herkunftskontext und die Anpassung an und Identifikation mit einer anderen<br />
physischen und sozio-kulturellen Umwelt erneut eine symbolische Ortsbezogenheit zu<br />
entwickeln. 67 Allgemein formuliert, kommt einem Ort eine besondere Bedeutung für<br />
das Selbstverständnis bzw. die Identität eines Menschen zu, wenn er länger mit einem<br />
60<br />
Hilgers entlehnt den Begriff bei den Autoren Treinen und Teuteberg. (Vgl.: Hilgers, Wolfgang W.:<br />
Lebensraum, Sozialisation und Identitätsbildung. Sozialökologische sowie umweltpsychologische<br />
Erklärungsansätze zur symbolischen Ortsbezogenheit. Düsseldorf, 1990, S. 31)<br />
61 Vgl.: Hilgers, 1990, S. 5. Der Begriff ‚Heimat‘ ist unter anderem aufgrund seiner Nutzung durch den<br />
Nationalsozialismus vorbelastet. Dies ist einer der Gründe, warum Hilgers den Begriff explizit nicht<br />
gebraucht. (Vgl. ebd. S. 5, 31)<br />
62 Vgl.: ebd. S. 6.<br />
63 Siehe: Brückner, A: „Heimat verlieren – Heimat gewinnen“. In: Pädagogische Hochschule Weingarten<br />
(Hg.): Umwelt und Heimat. Weingarten, 1982, S. 9. Zitiert <strong>nach</strong>: Hilgers, 1990, S. 6.<br />
64 Vgl.: Hilgers, 1990, S. 6, 87.<br />
65 Unter physischer Umwelt beziehungsweise Umgebung werden in dieser Arbeit Faktoren wie<br />
Landschaft, Klima, Bauten und Objekte zusammengefasst. Hilgers benutzt ursprünglich den Begriff<br />
materiell-räumlich.<br />
66 Vgl.: ebd. S. 5, 7, 18 ff., 158.<br />
67 Vgl.: Hilgers, 1990, S. 6, 18, 87, 130 f., 179 f.<br />
Diese ‚assimilative‘ These entspricht dem Hilger’schen Verständnis von Kultur als abgeschlossen und<br />
einheitlich (national). Hieraus ergibt sich einer der Gründe für die Bewertung seiner Theorie als<br />
konservativ. (Vgl. hierzu Abschnitt 6.3.1 dieser Arbeit) Zudem hat er ein unten als überholt dargelegtes<br />
Verständnis von Identität als innerer Einheit. Weiterhin spricht er von einer ‚Invasion‘ der Gastarbeiter,<br />
Asylanten und Aussiedler. (Vgl.: Hilgers, 1990, S. 18 ff., 179, 181)<br />
16
Wohnumfeld vertraut ist und innerhalb eines sozialen Kontexts seine Bedürfnisse<br />
befriedigt werden konnten. Zudem muss er sich an positive Erfahrungen dort erinnern<br />
und Zukunftsperspektiven sehen. 68<br />
„Sofern Menschen eine gedankliche Verknüpfung ihrer Vergangenheit, Gegenwart und<br />
Zukunft am Ort immer wieder gelingt, erlangen sie schließlich eine symbolische<br />
Ortsbezogenheit.“ 69<br />
Trotz Individualisierungsprozessen suchen Menschen <strong>nach</strong> der Zugehörigkeit zu einem<br />
vertrauten sozialen Umfeld. Dieses ist durch vergleichbare Einstellungen, Wert- und<br />
Handlungsziele gekennzeichnet. 70<br />
Die mangelnde Partizipation am sozialen Entscheidungsprozess, die zum Erleben von<br />
Fremdbestimmtheit führt, wirkt sich negativ auf die symbolische Ortsbezogenheit aus.<br />
Diese ist entsprechend abhängig von den Möglichkeiten des Bürgers, seine öffentlich<br />
relevanten Interessen zu artikulieren, indem er beispielsweise durch die Organisation in<br />
Bürgerinitiativen etc. Einfluss auf die Gestaltung seines Lebensumfeldes nehmen kann.<br />
Die Notwendigkeit hierfür kann unter anderem aufgrund von Beeinträchtigungen durch<br />
Verkehrslärm oder bauliche Strukturen gegeben sein. 71<br />
3.2.2 Mobilität, Stadt und Identifikation<br />
Als Konsequenz des festzustellenden Anstiegs freiwilliger wie unfreiwilliger Mobilität<br />
bemerkt die Kunst- und Kulturhistorikerin Susanne Hauser, dass die heutigen<br />
Bedingungen der Identitätsbildung im Gegensatz zu denjenigen sesshafter<br />
Gesellschaften nicht mehr unhinterfragt in lokaler Identifikation zu suchen sind. 72<br />
Hauser bezieht sich implizit auf die Globalisierung 73 , wenn sie schreibt, dass nicht nur<br />
in Bezug auf Menschen, sondern auch für Informationen, Waren und Kapital eine<br />
schnellere, häufigere und weitreichendere Beweglichkeit festzustellen ist. Sie skizziert<br />
und untersucht theoretische Überlegungen seit den 1980er Jahren, die infolgedessen die<br />
Homogenisierung und Entdifferenzierung des globalen Raumes postulieren. 74 Es wird<br />
68 Vgl.: ebd. S. 5, 182.<br />
69 Siehe: ebd. S. 178.<br />
70 Vgl.: ebd. S. 87, 174.<br />
71 Vgl.: ebd. S. 177,182.<br />
72 Vgl.: Hauser, Susanne: „Über Städte, Identität und Identifikationen“. In: Kröncke, Meike et al. (Hg.):<br />
Kultureller Umbau. Räume, Identitäten, und Re/Präsentationen. Bielefeld, 2007, S. 29.<br />
73 Laut dem Kulturtheoretiker Stuart Hall haben seit dem 1970er Jahren Spielraum und Tempo der<br />
globalen Integration und damit der Verbindungen zwischen den Ländern zugenommen, obwohl dieses<br />
Phänomen nicht neu ist. (Vgl.: Hall, Stuart: „Kulturelle Identität und Globalisierung“. In: Hörning, Karl<br />
H. el al. (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt a. M., 1999, S.<br />
425)<br />
74 Die neuen Merkmale des globalen, homogenisierten Raumes und seiner Produktion werden als<br />
Auswirkung und Hintergrund der angesprochenen Faktoren Wirtschaftentwicklung und -politik,<br />
17
unter anderem angenommen, dass hierbei die Orte gleichgültig werden, an denen sich<br />
soziale Prozesse abspielen: Die Stadt verliert ihren spezifischen Charakter. 75<br />
Dies sieht sie darin bestätigt, dass die bauliche Umwelt der Städte wenig Anreiz zur<br />
Identifizierung bietet: In den wirtschaftlich florierenden Teilen Europas kennzeichnen<br />
Siedlungen, Industrieanlagen, Infrastrukturen etc. ohne die ehemals vorhandenen<br />
markante Zentren die Städte. Innenstädte sind heute durch Büroansammlungen oder<br />
durch international gleiche shopping malls 76 geprägt, wodurch keine städtische<br />
Besonderheit entsteht und wozu es auch keiner solchen bedarf. 77<br />
Zudem kommt es durch die gesteigerte Mobilität zu einer Relativierung der Bedeutung<br />
von Herkunft und Gewohnheit. Damit einher geht ein kurzfristiger Umgang mit<br />
Territorien, und es gibt keine konstante Bürgerschaft, die sich mit noch vorhandenen<br />
bedeutsamen Orten der Stadt identifiziert. Die Annahme von einer Homogenisierung<br />
des Raums relativiert Hauser andererseits mit dem Hinweis auf lokal bezogene<br />
elektronische Medien, wie beispielsweise Internetseiten mit lokalem Fokus. Es kommt<br />
also nicht einfach zu einer Angleichung des globalen Raums, sondern lokale<br />
Bindungen machen nur noch einen Teil –und nicht notwendigerweise den wichtigsten–<br />
der persönlichen Identitätsbildung aus. 78<br />
Im Weiteren sind Städte immer schon durch die Anwesenheit von Fremden geprägt<br />
gewesen, die nur beschränkt sozial integriert waren und bei denen es nur teilweise zu<br />
einer lokalen Identifikation kam. Auch heute leben dort vielfältige Individuen und<br />
Gruppen, deren wichtigste kulturelle Bezüge und soziale Netzwerke weit über das<br />
städtische Territorium hinausgehen. Somit können die primären lokalen Bindungen<br />
diejenigen zum Herkunftsort sein. Gerade die Ansammlung vieler, über das städtische<br />
Territorium hinausgehender sozialer Beziehungen ist signifikantes Merkmal der Stadt.<br />
Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann die Identifikation mit dem konkreten<br />
Aufenthaltsort sich gegenüber früheren Gegebenheiten allerdings noch verringern, weil<br />
moderner Kommunikationstechnologien sowie Migration gesehen. Die Faktoren stehen in<br />
Wechselwirkung. (Vgl.: Kröncke (Hg.), 2007, S. 30)<br />
75 Vgl.: ebd., S. 29 f., 34. Hauser nennt den Kulturwissenschaftler Frederic Jameson und den<br />
Geographen David Harvey als Wegbereiter dieser Theorien. Diese Ansätze werden hier nicht näher<br />
untersucht, sondern als Grundlage für Hausers Überlegungen betrachtet, mit deren Ergebnissen im<br />
Folgenden weitergearbeitet wird.<br />
76 Hervorhebung der Autorin Hauser.<br />
Vergleiche hierzu Marc Augés Konzept der Nicht-Orte. (Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte.<br />
Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. 2. Auflage. Frankfurt a. M., 1994, S. 90 - 135)<br />
77 Vgl.: Kröncke (Hg.), 2007, S. 34.<br />
78 Vgl.: ebd. S. 32 ff.<br />
18
über (digitale) Kommunikationstechnologien ortsunabhängig soziale Kontakte darüber<br />
hinaus gehalten werden können. 79<br />
Kommunen bemühen sich, der drohenden Homogenisierung und der Gleichgültigkeit<br />
ihrer oftmals nur temporären Bewohner, die jederzeit den Ort wechseln können, etwas<br />
entgegenzusetzen. Sie wollen Identifizierungspunkte schaffen: „Dazu dienen in<br />
kleinerem Maßstab Kunstwerke, die besondere Orte im städtischen Raum markieren.“ 80<br />
Diese Prozesse sind allerdings nicht von außen steuerbar, sondern müssen als<br />
räumliche und soziale Bindung gelebt und von der Kommunikation einer lokal<br />
orientierten Gruppe getragen werden. 81<br />
3.2.3 Mobilität, Mehrfachverbundenheit und Identität<br />
Die zunehmende Mobilität der Menschen zeigt sich zum einen deutlich im Bereich des<br />
Tourismus. 82 Regelmäßige Reisen in ein Land beziehungsweise an einen Ort können zu<br />
einer subjektiven Verbundenheit mit dem entsprechenden sozialen und kulturellen<br />
Kontext führen. Dementsprechend wird angenommen, dass es auch zu Bindungen an<br />
die physischen Gegebenheiten eines Ortes kommen kann. Zum anderen führt besonders<br />
die im Folgenden fokussierte, transnationale Migration zu Mehrfachverbundenheit. 83<br />
Bei der oben dargelegten Beschreibung durch Susanne Hauser kommt es zu einer<br />
starken Konzentration auf den Herkunftsort. Dies entspricht Umständen, unter denen<br />
die Migranten am Ort ihres Aufenthalts zugleich anwesend und abwesend sind.<br />
Obwohl sie physisch einen langen Zeitraum dort verbringen, findet ein relevanter<br />
psychisch-mentaler Teil ihres Lebens oder ihr ‚eigentliches Leben‘ 84 woanders statt. 85<br />
Es ist jedoch festzustellen, dass Menschen, die selbst oder deren Familienangehörige<br />
migriert sind, häufig in multiplen und transnationalen 86 Beziehungen zu Orten stehen,<br />
die „durch (widersprüchliche) konkrete Erfahrungen, Erinnerungen und Imaginationen<br />
79 Vgl.: Kröncke (Hg.), 2007, S. 35 f. Derart lose Beziehungen zu Städten sind <strong>nach</strong> Hauser keineswegs<br />
im Sinne einer Heimatbindung anzusehen.<br />
80 Siehe: ebd. S. 37.<br />
81 Vgl.: ebd. S. 35, 37 ff.<br />
82<br />
Vgl.: Wesselhöft, Christine: Literarische und biographische Deutungsmuster im<br />
Einwanderungskontext (Quebec, 1983 - 2003). Frankfurt am Main, 2006, S. 18.<br />
83<br />
Vgl.: Mecheril, Paul: „Doppelte Heraussetzung und eine Utopie der Anerkennung.<br />
Mehrfachverbundenheit in natio-ethno-kultureller Pluralität“. In: Frieben-Blum, Ellen et al. (Hg.): Wer<br />
ist fremd. Ethnische Herkunft, Familie und Gesellschaft. Opladen, 2000, S. 231.<br />
Die Autoren Holert und Terkessidis weisen darauf hin, dass Migration und Tourismus nicht so deutlich<br />
voneinander abzugrenzen sind wie angenommen wird und legen diesbezügliche Definitionsunklarheiten<br />
und Parallelen dar. (Vgl.: Holert, Tom/Terkessidis, Mark: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von<br />
Migranten und Touristen. Köln, 2006, S. 241 ff.)<br />
84 Hervorhebung der Autoren Holert und Terkessidis.<br />
85 Vgl.: Holert/Terkessidis, 2006, S. 247.<br />
86 Transnational wird hier in der Bedeutung ‚über einen Staat hinausgehend‘ gebraucht.<br />
19
hervorgerufen werden“ 87 und ihre Identitätsbildung beeinflussen. Denn diese müssen<br />
sich auf die beiden von der Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus beschriebenen<br />
Identitätsfragen „ ‚Wer bin ich‘ und ‚Wohin gehöre ich‘ “ 88 auswirken.<br />
Hilgers hat auf den Zusammenhang zwischen Ortsbezogenheit und einer Identifikation<br />
mit kollektiven Sinngebungen und Weltauslegungen hingewiesen. Damit spricht er<br />
kulturelle Identitäten an, seine Vorstellungen müssen aber modifiziert werden. Hierzu<br />
soll der Kulturtheoretiker Stuart Hall herangezogen werden, der kulturelle Identitäten<br />
als durch unsere Zugehörigkeit unter anderem zu nationalen, sprachlichen und<br />
religiösen Kulturen gebildet versteht. Nationale Identitäten entstehen dabei aus der<br />
Staatsangehörigkeit und der Identifikation mit einer nationalen Kultur beziehungsweise<br />
aus der Vorstellung, einer Gemeinschaft anzugehören. 89 Dem entspricht das Gefühl, ein<br />
Heimatland zu haben. 90<br />
In Zeiten der Globalisierung verändern sich diese Prozesse der kulturellen<br />
Identitätsbildung gerade für Migranten, die durch multiple und transnationale<br />
Ortsbezüge geprägt sind. Hall beschreibt, wie diese für einen Teil der Migranten weder<br />
durch Assimilation an die neue kulturelle Umgebung noch durch Rückzug in die Kultur<br />
des Herkunftslandes funktionieren: 91<br />
„[Es] entstehen kulturelle Identitäten, die nicht fixiert sind, sondern im Übergang zwischen<br />
verschiedenen Positionen schweben (…) und die das Resultat komplizierter Kreuzungen<br />
und kultureller Verbindungen sind (…). (…) Sie tragen die Spuren besonderer Kulturen,<br />
Traditionen, Sprachen und Geschichten, durch die sie geprägt wurden, mit sich. (…) [Sie<br />
sind] unwiderruflich das Produkt mehrerer ineinandergreifender Geschichten und Kulturen<br />
(…) und [gehören] zu ein und derselben Zeit mehreren ‚Heimaten‘ und nicht nur einer<br />
besonderen Heimat [an …]. 92<br />
Für die Identitätsbildung von Migranten gilt in besonderem Maße, dass ältere<br />
Vorstellungen, die von einer bestehenden, durch Kohärenz gekennzeichneten Identität<br />
als innerer Einheit ausgingen, überholt sind. Stattdessen wird diese als<br />
87<br />
Siehe: Lutz, Helma/Schwalgin, Susanne: „Globalisierte Biographien: Das Beispiel einer<br />
Haushaltsarbeiterin“. In: Bukow, Wolf-Dietrich et al. (Hg.): Biographische Konstruktionen im<br />
multikulturellen Bildungsprozess. Wiesbaden, 2006, S. 101.<br />
Innerhalb dieser Arbeit wird der Begriff Imagination als (bildliche) Vorstellungskraft verstanden, wobei<br />
er zukunftsgerichtete Akte der Phantasie und Erinnerung umfasst. (Vgl.: Fußnote 102)<br />
88 Siehe: Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche <strong>nach</strong> Heimat. München, 1979, S. 161. Greverus bezieht<br />
sich hier auf die Sozialphilosophin Helen Lynd.<br />
89 Vgl.: Hörning (Hg.), 1999, S. 393, 416, 420. Hall bezieht sich hier unter anderem auf Benedict<br />
Anderson.<br />
90 Die Germanistin Florentine Strzelczyk benennt nationale Zugehörigkeiten weiterhin als einen der<br />
bedeutendsten heutigen Identitätsrahmen und zeigt Probleme mit der entsprechenden Konstruktion von<br />
‚Heimat‘ im deutschen Sprachraum auf. (Vgl.: Strzelczyk, Florentine: Un-heimliche<br />
Heimat. Reibungsflächen zwischen Kultur und Nation. München, 1999, S. 7 ff.)<br />
91 Vgl.: Hörning (Hg.), 1999, S. 435.<br />
92 Siehe: Hörning (Hg.), 1999, S. 434 f.<br />
20
unabgeschlossener, fortdauernder Prozess verstanden, der sich nicht durch möglichst<br />
hohe Konsistenz auszeichnet. Kennzeichen gelingender Identität ist dabei, dass<br />
Menschen alltäglich auf kreative Weise aus vielfältigen und widersprüchlichen<br />
Orientierungsrahmen ein für sie stimmiges Muster entwickeln. Dabei muss gerade für<br />
Migranten der zweiten Generation, die nicht an den Orten ihres transnationalen Bezugs<br />
aufgewachsen sind, bedacht werden, dass kulturelle Einflüsse unter anderem durch die<br />
Familie oder den Freundeskreis gegeben sind. 93 Grundsätzlich machen auch soziale<br />
Zuschreibungen 94 und – wie bei Hilgers bereits angesprochen – Anerkennung 95 durch<br />
andere einen Teil der Identitätsbildung aus.<br />
4 Erinnerung/<strong>Sehnsucht</strong><br />
Im nächsten Ausschnitt wird das persönliche oder biographische Erinnern insbesondere<br />
im Hinblick auf die Frage der Identität dargestellt. Darauf folgen Reflexionen zum<br />
Zusammenhang zwischen Gefühlen und (leiblich-sinnlicher) Erinnerung sowie zu<br />
<strong>Sehnsucht</strong>.<br />
4.1 Das bewusste persönliche Erinnern<br />
Die Form des persönlichen 96 bzw. biographischen Erinnerns, bei der bewusst die eigene<br />
Vergangenheit rekonstruiert und verbalisiert wird, bezeichnet die<br />
Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann als Ich-Gedächtnis. Dabei ist wesentlich,<br />
dass wir eine Erzählung unseres Lebens konstruieren, die wir anderen oder auch uns<br />
selbst mitteilen können. Hierbei werden die Erinnerungen geordnet und ihnen wird<br />
Bedeutung zugewiesen, was entscheidend für unsere Identitätsbildung ist und<br />
Perspektiven für die Zukunft bereitstellt. 97 Die Germanistin Gabriele Michel beschreibt<br />
diesbezüglich das biographische Interview als eine Situation, die für die<br />
Auseinandersetzung mit der eigenen Identität prädestiniert ist, und fasst das Erzählen<br />
der Lebensgeschichte ebenfalls als (Re-)Konstruktion der Identität des Sprechenden<br />
93 Vgl.: Hermann, Thomas/Hanetseder, Christa: „Jugendliche mit Migrationshintergrund: heimatliche,<br />
lokale und globale Verortungen“. In: Bonfadelli, Heinz et al. (Hg.): Medien und Migration. Europa als<br />
multikultureller Raum. Wiesbaden, 2007, S. 238 f.<br />
94 Vgl.: Frieben-Blum (Hg.), 2000, S. 232.<br />
95 Vgl.: Greverus, 1979, S. 161 f.<br />
96 Hierbei ist ‚persönlich‘ dahingehend konnotiert, dass es sich um Erinnerungen handelt, die sich auf<br />
einen einzelnen Menschen beziehen. Gerade in der Interviewsituation bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> zeigt<br />
sich jedoch, inwiefern diese Vorgänge von anderen beeinflusst werden.<br />
97 Vgl.: Assmann, Aleida: „Wie wahr sind unsere Erinnerungen“. In: Welzer, Harald et al. (Hg.):<br />
Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung.<br />
Stuttgart, 2006, S. 95 f.<br />
21
auf. Im Falle der Rekonstruktion kommt bereits Bestehendes zum Ausdruck, im Falle<br />
der Konstruktion werden Teile der Identität erst gestaltet und geschaffen. Beides findet<br />
untrennbar im Erzählvorgang statt. 98<br />
Die Gegenwart bestimmt über die Art der Erzählstruktur 99 und das jeweilige darin<br />
inhärente Selbstbild. Sie verändert unsere subjektive Erinnerung an die<br />
Vergangenheit. 100 Im Einzelnen wird dieser Vorgang stark durch die jeweilige<br />
Befindlichkeit des Erzählenden und den Kontext, also auch die Interviewsituation,<br />
beeinflusst. 101<br />
Wenn in neueren Identitätskonzepten Widersprüche und Inkonsistenz berücksichtigt<br />
werden und der Fokus darauf liegt, inwiefern Menschen kreativ für sich ein stimmiges<br />
Muster entwickeln, dann muss sich dieses in ihren Erzählungen bzw.<br />
Ordnungsversuchen spiegeln. Frühere Vorstellungen dazu, die bei biographischen<br />
Erzählungen in der Regel von der Herstellung einer Kohärenz und<br />
Widerspruchsfreiheit ausgingen, gehen in einem aktuellen Biographiekonzept mit auf:<br />
Diesem liegt zugrunde, dass die Lebenserfahrungen zu mehr oder weniger<br />
widersprüchlicher Erlebnisverarbeitung aufgeschichtet werden. 102 Insgesamt gilt, dass<br />
Menschen, die in ihrem Leben Veränderungen und Umstellungen ausgesetzt waren,<br />
eher in der Lage sind, über ihr Leben zu erzählen. Das hängt damit zusammen, dass sie<br />
verstärkt auf Reibungspunkte stoßen und damit unter größeren Reflexionsdruck<br />
geraten. 103<br />
Wenn wir von unserer Lebensgeschichte berichten, ist ein bedeutendes<br />
Selektionskriterium die Erzählbarkeit. 104 Für diese Arbeit wird zugrundegelegt, dass in<br />
den zu untersuchenden Interviews eine bestimmte Atmosphäre und emotionale<br />
Besetzung von Objekten, Menschen und Landschaften ohne die Frage <strong>nach</strong> den Farben<br />
in geringerem Maße mitteilbar wäre.<br />
98 Vgl.: Michel, Gabriele: Biographisches Erzählen. Zwischen individuellem Erlebnis und kollektiver<br />
Geschichtentradition. Untersuchung typischer Erzählfiguren, ihrer sprachlichen Form u. ihrer<br />
interaktiven u. identitätskonstituierenden Funktion in Geschichten u. Lebensgeschichten. Tübingen,<br />
1985, S. 78.<br />
99 Vgl.: ebd. S. 79.<br />
100 Vgl.: Fuchs-Heinritz: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. 2.,<br />
überarb. und erweit. Auflage. Wiesbaden, 2000, S. 51.<br />
101 Vgl.: Kast, Verena: „Wurzeln und Flügel. Zur Psychologie von Erinnerung und <strong>Sehnsucht</strong>“. In:<br />
Neuen, Christiane (Hg.): <strong>Sehnsucht</strong> und Erinnerung. Aufbruch zu neuen Lebenswelten. Düsseldorf, 2006,<br />
S. 12.<br />
Dass Erinnerung sich verändert, weist auf ihre Beschaffenheit als kreativem, die Phantasie betreffenden<br />
Akt hin.<br />
102 Vgl.: Apitzsch, Ursula et al.: „Die Biographienforschung – kein Artefakt, sondern ein Bildungs- und<br />
Erinnerungspotential in der reflexiven Moderne“. In: Bukow et al. (Hg.), 2006, S. 57.<br />
103 Vgl.: Fuchs-Heinritz, 2000, S. 58 f.<br />
104 Vgl.: ebd. S. 59.<br />
22
4.2 Erinnerung, Gefühl und <strong>Sehnsucht</strong><br />
Grundsätzlich erinnern wir nur, was von gefühlsmäßiger Bedeutung für uns war, und<br />
indem wir erinnern und erzählen, kommt es auch zu einem aktuellen emotionalen<br />
Erleben. „(…) [W]ir versetzen (…) uns in gewesene Situationen mit Gefühlen und<br />
Vorstellungen hinein – und so werden sie gegenwärtig.“ 105 Für die Psychologin Verena<br />
Kast ist diese Verbindung zu unseren Emotionen der entscheidende Zugang zu unseren<br />
Wurzeln und damit unserer Identität beim Erinnern. Unter anderem sind Wurzeln dabei<br />
für sie in Form der geographischen Heimat und Familie gegeben. 106<br />
Wie oben dargelegt, bemerkt Jacobi bezüglich ihrer Arbeit mit der Bilddiagnostik, dass<br />
mittels Farben das Denken umgangen werden kann und dadurch eine direkte<br />
Verbindung zu Gefühlen entsteht. In der Übertragung dieses Gedankens auf die<br />
Vorgehensweise bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> wird daher angenommen, dass die Frage<br />
<strong>nach</strong> Farben den bewusst-verbalisierten Modus der Erinnerung in den Interviews<br />
ergänzt: Diese können mit Erinnerungen in Verbindung stehen, bei denen starke<br />
Gefühle von Bedeutung sind. Auch binden die Künstlerinnen somit die<br />
Erinnerungsfähigkeit auf sinnlich-leiblicher <strong>Ebene</strong> ein. Nach dem Psychoanalytiker<br />
Christopher Bollas wird durch Projektionen auf Orte, Dinge etc. und deren<br />
Rückwirkung auf uns durch ihre strukturelle Eigenart 107 bei Wiederbegegnung mit<br />
ihnen ein „(…) innere[r] seelische[r] Zustand voller Bilder, Gefühle und starker<br />
körperlicher Empfindungen“ 108 wachgerufen. Ein solches Erlebnis ist nicht sprachlich<br />
mitteilbar 109 , zumindest nicht in voller Intensität. In den untersuchten Interviews liegt<br />
allerdings kein Auslöser in Form des ursprünglichen Reizes vor, sondern nur die Frage<br />
<strong>nach</strong> Farben, deshalb kann eine solche ‚Begegnung‘ hier nur rein imaginativ<br />
verlaufen. 110<br />
105 Siehe: Neuen (Hg.), 2006, S. 14.<br />
106 Vgl.: ebd. 10 f., 16.<br />
Obwohl das Erinnerte, wie oben angemerkt, keineswegs dem tatsächlich Erlebten entspricht, ist <strong>nach</strong><br />
Kast das subjektive Gefühl entscheidend, das dies so sei. (Vgl.: ebd. 12 ff.)<br />
107 Wozu auch die Farbe gehören kann, für die spezielle Wechselwirkungen bereits skizziert wurden:<br />
Bollas nennt hier beispielsweise eine rote Eisenbahn, die er allerdings nur im Film sieht. (Vgl.: Bollas,<br />
Christopher: Genese der Persönlichkeit. Stuttgart, 2000, S. 25)<br />
108 Siehe: Bollas, 2000, S. 11.<br />
109 Vgl.: ebd. S. 11 f.<br />
Die vom ihm dargelegte Erinnerungsform beschreibt Aleida Assmann als Mich-Gedächtnis, wobei sie<br />
einen anderen Fokus hat als Bollas und ihre Thesen diesbezüglich einen zu starren Rahmen für diese<br />
Arbeit bilden. (Vgl.: Welzer (Hg.), 2006, S. 95 ff.)<br />
110 Die Frage, inwiefern das Zeigen der Farben annährend einen solchen Reiz darstellt, wird in Fußnote<br />
196 wieder aufgegriffen.<br />
23
Die psychische Verbindung zu einem identitätsstiftenden Ort zeigt sich allgemein in<br />
der Erinnerung an und in der <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> diesem. 111 Die Literaturwissenschaftlerin<br />
Heidi Gidion hebt anhand literarischer Beispiele die kreative Kraft hervor, die durch<br />
<strong>Sehnsucht</strong> hervorgerufen wird. Dabei beschreibt sie zwei Richtungen, die diese<br />
einschlagen kann: „[S]ei’s [sic] <strong>nach</strong> vorwärts gerichtet in ein fernes Unbekanntes oder<br />
erträumt Utopisches, sei’s zurückgewandt als Erinnerung an ein von früher her<br />
Vertrautes (...).“ 112 Letztere ist für sie auch gleichbedeutend mit Heimweh und bewegt<br />
immer wieder zum Erzählen. 113 Im Gegensatz zu der in Abschnitt 3.2.1 dargelegten<br />
Auffassung von Hilgers, die Heimweh als etwas Negatives, zu Überwindendes begreift,<br />
schreibt Gidion also Heimweh und <strong>Sehnsucht</strong> kreatives Potential zu.<br />
5 Interviews<br />
5.1 Einführung<br />
Die Künstlerinnen haben in der zweiten Hälfte des Jahres 2006 insgesamt 42<br />
Interviews geführt, wobei zum Teil zwei und in einem Fall drei Frauen zusammen<br />
befragt wurden. Es fanden jeweils ein oder zwei Treffen statt. Sie haben sowohl Frauen<br />
mit Migrationshintergrund befragt, die in Deutschland geboren wurden oder im<br />
Kleinkindalter hierher kamen als auch solche, die erst im späteren Verlauf ihres Lebens<br />
hierher gekommen sind. Unter den Teilnehmerinnen waren Jugendliche, Frauen<br />
mittleren Alters und Seniorinnen. Die Tatsache, dass Milica Reinhard ebenfalls <strong>nach</strong><br />
Deutschland eingewandert ist und ihr selber ein Lebensstil als ‚Nomade‘ bekannt ist,<br />
hatte <strong>nach</strong> Verkerk positive Auswirkungen in Hinblick auf eine vertrauensvolle<br />
Interviewatmosphäre. Zudem seien sie beide ebenfalls Frauen und Mütter. 114<br />
Die Gespräche sind durch Offenheit gekennzeichnet, allerdings ging es den<br />
Künstlerinnen speziell darum, Farben zu ermitteln, die für die Frauen eine besondere<br />
Bedeutung haben und im Laufe ihres Lebens hatten. Dabei wurden die<br />
Lebensgeschichten der Frauen und insbesondere ihre Erinnerungen an für sie wichtige<br />
Orte außerhalb Deutschlands thematisiert 115 , die größtenteils mit persönlichen oder<br />
111 Vgl.: Kwon, 2004, S. 165.<br />
112 Siehe: Gidion, Heidi: „Auf der Suche <strong>nach</strong> der verlorenen Zeit. Produktivkraft Erinnerung“. In:<br />
Neuen (Hg.), 2006, S. 207.<br />
113 Vgl.: ebd. S. 207.<br />
114 Vgl.: Anhang A, I 1, Min. 8, 34 - 10,50.<br />
115 Eine Ausnahme bilden einige der Frauen ohne Migrationshintergrund, die allerdings meist innerhalb<br />
Deutschland umgezogen sind: Aber es gibt auch hier Sonderfälle wie die Herkunft aus dem ehemaligen<br />
Ostpreußen oder der früheren DDR.<br />
24
familiären Herkunftsorten zusammenfallen. Es kamen konkret mit diesen Orten<br />
verbundene Objekte, Landschaften und Menschen zur Sprache. Gleichzeitig erzählten<br />
sie über ihre aktuelle Lebenssituation in <strong>Hagen</strong> und ihre Bindung an die Stadt. Auch<br />
ihre Zukunftsvorstellungen wurden angesprochen.<br />
Die entsprechenden Farben wurden – im Laufe der Interviews oder gegen Ende – auf<br />
einer Farbskala mit 475 Auswahlmöglichkeiten gezeigt. 116<br />
Aus den 18 für diese Arbeit vorliegenden Interviews wurden beispielhaft vier<br />
ausgewählt, aus denen Ausschnitte im Folgenden zusammengefasst und vor dem oben<br />
dargelegten theoretischen Hintergrund analysiert werden. Dies erfolgt beim ersten<br />
betrachteten Interview bezogen auf eine Einzelperson etwas ausführlicher, die übrigen<br />
Darstellungen sind in unterschiedlichem Maße kürzer gefasst. Dabei wurde der Name<br />
der jeweiligen Interviewpartnerin verändert. Es sind keine Informationen bezüglich der<br />
Vorgespräche gegeben, so dass deren Einfluss auf den aufgezeichneten Teil der<br />
Interviews nicht berücksichtigt werden kann.<br />
5.2 Analyse der Interviews<br />
5.2.1 Inês Marques Gomes<br />
Inês Marques Gomes kam 1975 im Alter von drei Jahren <strong>nach</strong> Deutschland. Als das<br />
Interview geführt wurde, war sie 33. Der Vater war wegen einer Arbeitsstelle <strong>nach</strong><br />
Deutschland ausgewandert und so war die gesamte Kernfamilie <strong>nach</strong> Haspe in <strong>Hagen</strong><br />
gezogen. In diesem Stadtteil lebt sie noch heute. Bis zum 20. Lebensjahr hat sie jedes<br />
Jahr in den Ferien fünf bis sechs Wochen in Portugal verbracht. Sie ist mit einem<br />
Portugiesen verheiratet, den sie in <strong>Hagen</strong> kennen gelernt hat. 117<br />
An ihre ersten Lebensjahre in Portugal hat sie keine bewussten Erinnerungen. 118 Als<br />
eine Urlaubserinnerung an Portugal, die sie mit Farbe verbindet, nennt sie ihr erstes<br />
Weih<strong>nach</strong>tsfest dort im Alter von sechs Jahren. Ihr habe die weiße Farbe des Schnees<br />
aus Deutschland gefehlt „(…) [u]nd dann war das für mich auch fremd in Portugal.<br />
116 Neben der notwendigerweise eingeschränkten Anzahl an auswählbaren Farben, muss darauf<br />
verwiesen werden, dass auch unser Erinnerungsvermögen bezüglich Farben eingegrenzt ist. Mangelnde<br />
verbale Beschreibungsmöglichkeiten können allerdings bis zu einem gewissen Grad durch das Zeigen<br />
kompensiert werden. Teilweise bezogen sich die Frauen auf Farben, die zwischen verschiedenen<br />
Auswahloptionen lagen. Zum Umgang der Künstlerinnen mit solchen ‚Zwischenfarben‘ vergleiche<br />
Fußnote 200.<br />
117 Vgl.: Anhang B, Interview 4 mit Inês Marques Gomes, S. 7 ff.<br />
Dass sie noch immer in dem gleichen Stadtteil lebt, lässt sich aus ihrer aktuellen Adresse entnehmen.<br />
118 Vgl.: ebd. S. 8.<br />
25
Meine eigene Heimat war für mich fremd, weil ich keinen Schnee gesehen habe.“ 119<br />
Alles sei grün gewesen und habe auch <strong>nach</strong> Eukalyptus gerochen. 120<br />
In dieser Erinnerung zeigt sich die Wechselwirkung zwischen ihr und den Farben der<br />
Umgebung: Die entscheidend durch diese hervorgerufene Stimmung in Portugal war<br />
signifikant anders, als in <strong>Hagen</strong> üblicherweise zur Weih<strong>nach</strong>tszeit. Hierbei erwähnt sie<br />
auch die Verbindung zu anderen sinnlichen Wahrnehmungsmodi. In den drei Jahren in<br />
<strong>Hagen</strong> hat sie sich an die dortige Umgebung gewöhnt und diese emotional besetzt, was<br />
zu Fremdheitsgefühlen gegenüber ihrem Geburtsland geführt hat. Dadurch, dass sie<br />
Portugal als ihre Heimat benennt, wird deutlich, dass sie konkrete ortsgebundene<br />
Gefühle und Erfahrungen in den nationalen Kontext einordnet.<br />
Sie berichtet zudem von Bootstouren, die sie als Kind mit ihrem Onkel, einem Fischer,<br />
immer am frühen Morgen unternommen hat. Dabei erinnert sie sich an die<br />
verschiedenen Farbschattierungen des Meeres von Schwarz, über Dunkelblau, Hellblau<br />
und Türkis bis zu Braun-Blau am Strand. Dies sei in Erinnerung geblieben, weil es das<br />
hier nicht gebe. 121 An einer späteren Stelle sagt sie, dass sie heute unter anderem das<br />
Meer, die Sonne und die Berge Portugals vermisse. 122<br />
Durch ihre Urlaubsaufenthalte in Portugal hat auch die dortige physische Umgebung<br />
eine Bedeutung für sie.<br />
Allerdings nennt sie ihre Großeltern als Hauptgrund, warum sie immer <strong>nach</strong> Portugal<br />
gewollt habe. Wegen dieser habe sie auch vornehmlich schöne Erinnerungen an das<br />
Land, denn sie und ihre Geschwister wurden von den Großeltern geliebt und dort<br />
besonders gut behandelt: 123 „Weil, wir waren ja halt in Portugal die Ausländer, hier<br />
sind’s zwar auch die Ausländer, aber wenn wir kamen, waren wir für die die Könige.<br />
Sozusagen.“ 124<br />
Ihre Bindung an Portugal, konkret an den Wohnort ihrer Großeltern, der in der Nähe<br />
ihrer Geburtsstadt liegt 125 , ist maßgeblich durch familiär-soziale Beziehungen und<br />
Erinnerungen an diese geprägt. 126 Zudem ist hier die Bemerkung interessant, dass sie<br />
sowohl in der Wahrnehmung der Menschen in Portugal als auch in Deutschland<br />
Ausländerin ist.<br />
119 Siehe: ebd. S. 11.<br />
120 Vgl.: ebd. S.11.<br />
121 Vgl.: ebd. S. 11.<br />
122 Vgl.: ebd. S. 18.<br />
123 Vgl.: ebd. S. 10, 14 f.<br />
124 Siehe: Anhang B, I 4, S. 14.<br />
125 Vgl.: ebd. S. 13.<br />
126 Ihre Großeltern sind fünf Jahre vor dem Interviewzeitpunkt verstorben. (Vgl.: ebd. S. 10)<br />
26
Sie betont, dass ein Teil von ihr immer in Portugal sei und bemerkt: „(…) [D]as bleibt<br />
mein Land. Ich lebe nur hier.“ 127 Deswegen möchte sie nicht die deutsche<br />
Staatsbürgerschaft annehmen, allerdings richte sie sich <strong>nach</strong> Deutschland. 128 Fremd<br />
fühle sie sich in Portugal nicht, dies liege nicht nur an der Familie 129 , sondern unter<br />
anderem auch daran, dass sie portugiesisch spreche und sie jetzt auch mit dem Geld<br />
umgehen könne, weil es genau wie in Deutschland sei. 130<br />
Hier zeigt sich, dass für sie die portugiesische Staatsangehörigkeit und Sprache<br />
wichtige Bindeglieder zu Portugal darstellen. Während sie durch das<br />
Possessivpronomen ein Zugehörigkeitsgefühl ausdrückt, bewertet sie ihr Verhältnis zu<br />
Deutschland pragmatisch. Zudem ist bemerkenswert, dass sie die<br />
Währungsangleichung im Rahmen der EU als Argument gegen Fremdheitsgefühle<br />
nennt. Dadurch wird fehlende Alltagspraxis für sie unwichtiger.<br />
Andererseits sagt sie, dass Portugal in ihrem Leben ein schönes Land zum Urlaub<br />
machen war und ist, aber sie und ihr Mann auch in Zukunft nicht dort wohnen möchten.<br />
Dies begründet sie unter anderem damit, dass sie ein Haus gebaut hätten und ihr Leben<br />
in <strong>Hagen</strong> sei, wo sie zudem den größten Teil ihres Lebens verbracht habe. Obwohl sie<br />
und ihr Mann in Portugal gute Arbeitsstellen finden könnten, möchte sie nicht von<br />
vorne anfangen und insbesondere ihre fünfjährige Tochter nicht von ihrem Leben und<br />
ihren Freunden in Deutschland trennen. Sie selbst sei froh, dass sie so jungem Alter<br />
gekommen sei 131 , „(…) [w]eil, wo man anfängt, ist da, wo der Kindergarten<br />
anfängt“ 132 . An anderer Stelle sagt sie, dass sie an ihre Grund- und Vorschulzeit keine<br />
negativen Erinnerungen im Sinne von Fremdheitserfahrungen habe, sie wurde lediglich<br />
später eingeschult, weil sie noch kein Deutsch konnte. 133 Zu ihrem Freundeskreis, der<br />
bis heute besteht, gehörten bis zu ihrem 18. Lebensjahr nur Portugiesinnen, später auch<br />
Frauen aus anderen Herkunftsländern, darunter auch Deutsche. 134<br />
127 Siehe: ebd. S. 9.<br />
128 Vgl.: ebd. S. 9.<br />
129 Von noch lebenden Familienmitgliedern in Portugal berichtet sie im Interview nicht, als weitere<br />
Verwandtschaft taucht nur der Onkel in der Kindheitserinnerung auf.<br />
130 Vgl.: ebd. S. 18 f.<br />
131 Vgl.: ebd., S. 9, 16.<br />
132 Siehe: ebd. S. 18.<br />
133 Vgl.: Anhang B, I 4, S. 16.<br />
134 Vgl.: ebd. S. 24.<br />
27
Ihre Eltern werden als Rentner in einigen Jahren zusammen mit ihrem Bruder <strong>nach</strong><br />
Portugal zurückgehen, wo sie ein Haus besitzen. 135<br />
In diesem Abschnitt wird deutlich, dass sie im Hinblick auf ihre Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft ihren Lebensmittelpunkt in <strong>Hagen</strong> verortet. Dabei bewertet sie<br />
ihren Lebensverlauf bezüglich Freundschaftsnetzwerken und der Eingliederung in<br />
öffentliche Bildungseinrichtungen positiv. Im Sinne der symbolischen Ortsbezogenheit<br />
kann sie sich eine Zukunft nur hier vorstellen, was sich signifikant am Hausbau<br />
festmacht. Im Gegensatz dazu scheint bei den Eltern eine Bindung an Portugal<br />
vorzuliegen, die zum Rückzug bewegt. Explizit verweist sie auf die sozialen<br />
Beziehungen ihrer Tochter, aber auch ihre eigenen wichtigsten Sozialkontakte sind in<br />
<strong>Hagen</strong>. Das zunächst ausschließliche Zusammensein mit Portugiesinnen wie auch die<br />
Hochzeit mit einem Portugiesen deuten darauf hin, dass sie die Verbindung zu<br />
Aspekten portugiesischer Kultur – wie der Sprache – auch auf diese Weise<br />
aufrechterhielt und -erhält.<br />
Sie fasst folgendermaßen zusammen:<br />
„[Deutschland und <strong>Hagen</strong> sind] meine zweite Heimat. Also, meine erste Heimat ist zwar<br />
Portugal, weil ich da geboren bin. Da bin ich halt geboren. Aber, das ist sozusagen meine<br />
zweite Heimat, die... Es ist meine zweite Heimat, aber meine Heimat, die ich für immer<br />
bleiben möchte. (...) Aber die andere möchte ich nicht vermissen. (...) Da möchte ich<br />
immer wieder hin. (...) Nee, das bleibt so. Ich war jetzt 2 Jahre nicht in Portugal und ich<br />
vermisse Portugal. (...) Das ist anders. Die Luft ist anders. Die Menschen sind anders. Das<br />
Leben ist anders. Sogar das Fleisch ist anders da! So Kleinigkeiten. Es ist alles anders. Das<br />
sind Sachen, wo man vielleicht, so aus einer Welt raus möchte. Wo man die ganze Zeit,<br />
man möchte sich in eine andere Welt, so eine Vorstellung.“ 136<br />
Hier formuliert Inês Marques Gomes explizit ihre multiplen Orts- und Länderbezüge.<br />
Ihre Beziehung zu Portugal, ‚ihrem‘ (Geburts-)Land, dessen Staatsangehörigkeit sie<br />
besitzt und dessen Sprache sie vermutlich auch in Deutschland spricht, scheint sie wie<br />
selbstverständlich als heimatartig einzuordnen. Dies ist für sie konkret auch durch an<br />
einen Ort gebundene positive soziale Erlebnisse und die emotionale Besetzung der<br />
Umwelt bestimmt und wird in ihren Erinnerungen und dem Vermissen deutlich,<br />
obwohl sie dort nie ihren Lebensmittelpunkt hatte. Diese Verbindung möchte sie nicht<br />
missen bzw. die <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> Portugal mildern. Dabei fungierte der Urlaub in<br />
135 Vgl.: ebd. S. 21.<br />
Sie hat eine sehr schlechte Beziehung zu ihrem Vater, so dass sie den Kontakt abgebrochen hat. Über die<br />
Beziehung zur Rest-Familie macht sie kaum Angaben, aber sie erwähnt nicht explizit einen<br />
Kontaktabbruch. Das Verhältnis zu den Geschwistern beschreibt sie aber als fürsorglich und auf Kontakt<br />
zur Schwester lässt sich indirekt schließen. Ihr Wohnort wird nicht genannt. (Vgl.: ebd. S. 22 f., 26 f.)<br />
Aufgrund der ungenauen Angaben und auch des Wohnortwechsels der Eltern kann hier nicht festgestellt<br />
werden, inwiefern die Bindung an die Familie ihre Beziehung zu <strong>Hagen</strong> beeinflusst beziehungsweise wie<br />
sich der Wegzug von Familienmitgliedern auf ihr Verhältnis zu Portugal auswirkt.<br />
136 Siehe: ebd. S. 18.<br />
28
Portugal als eine Alternative zum Alltag in Deutschland. Den Status als Ausländerin<br />
nimmt sie in diesem Fall als vorteilhaft wahr. In obigem Zitat wird deutlich, dass<br />
Portugal imaginativ weiterhin eine Fluchtoption aus ihrem ‚normalen‘ Leben in<br />
Deutschland ist. 137<br />
Dass sich in ihrer Beziehung zu Deutschland Pragmatismus zeigt, hängt wohl auch mit<br />
deren alltäglichem Charakter zusammen. 138 Durch die Weih<strong>nach</strong>tserinnerung, sozialfamiliäre<br />
Bindungen und Zukunftspläne wird die Beschreibung <strong>Hagen</strong>s und<br />
Deutschlands als ihrer zweiten, auch gefühlbesetzten Heimat, deren Sprache sie längst<br />
spricht, untermauert. Es wird allerdings deutlich, dass sie sich dort auch als<br />
Ausländerin wahrgenommen fühlt, was auf Brüche zwischen ihrer Identifikation und<br />
Zuschreibungen anderer hinweist.<br />
5.2.2 Fernanda Pohlmann<br />
Fernanda Pohlmann ist 53 Jahre alt und wurde in Kolumbien geboren. In Kolumbien<br />
hat sie an verschiedenen Orten gelebt. So kam sie beispielsweise mit acht Jahren in ein<br />
Internat. Später hat sie in einer deutschen Firma gearbeitet. Das führte dazu, dass sie<br />
nur mit Deutschen befreundet war. Als sie diese in Deutschland besuchte, lernte sie<br />
ihren heutigen Ex-Mann kennen und zog 1974 mit 21 Jahren hierher. 139 Sie versucht<br />
jedes Jahr <strong>nach</strong> Kolumbien zu fliegen. 140 In ihrer Freizeit malt sie. 141<br />
Es werden in ihrer Erzählung multiple Ortsbezüge innerhalb Kolumbiens deutlich.<br />
Zudem ist interessant, dass sie bereits in Kolumbien über ihre Arbeit in einem<br />
transnational agierenden Unternehmen einen ersten Bezug zu Deutschland hatte,<br />
beispielsweise muss sie dort auch mit der deutschen Sprache in Kontakt gekommen<br />
sein. Dies konkretisiert sich vor allem über die Freundschaften, die letztlich auch<br />
137 Nach dem Ethnologen Arjun Appadurai imaginieren sich mittels (globaler) Mediensysteme die<br />
meisten Menschen auch ohne Migrationshintergrund andere potentielle Leben für sich. (Vgl.: Appadurai,<br />
Arjun: „Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen<br />
Anthropologie“. In: Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a. M., 1998, S. 20<br />
ff.)<br />
138<br />
Es findet sich abermals Pragmatismus, wenn sie hervorhebt, dass ihr in Portugal die Sicherheit in<br />
Form von Krankenkassen und Mutterschutz fehlen würde, die es in Deutschland gibt. (Vgl.: Anhang B, I<br />
4, S. 17)<br />
139 Vgl.: Anhang B, Interview 5 mit Fernanda Pohlmann, S. 42 ff., 47, 49 f.<br />
140 Vgl.: ebd. S. 58.<br />
141 Fernanda Pohlmann hat eine besondere Beziehung zu Farben: „Farben sind für mich – davon lebe<br />
ich.“ (Siehe: ebd. S. 61) Sie ist Sozialpädagogin und betreut psychisch kranke Jugendliche. Zum<br />
Interviewzeitpunkt machte sie eine Zusatzausbildung als Kunsttherapeutin. Damals arbeitete sie aber<br />
bereits mit Farben, weil sie so besser mit den Jugendlichen kommunizieren könne als über die deutsche<br />
Sprache, mit der sie Schwierigkeiten habe. (Vgl.: ebd. S. 42)<br />
29
mittelbar zu ihrem Umzug <strong>nach</strong> Deutschland führten, wo sie den größten Teil ihres<br />
Lebens verbracht hat.<br />
Sie beschreibt Kolumbien als das Land, wo das Grün tausend Farben habe und<br />
bezeichnet dieses als üppig und satt. Auch gebe es abhängig vom Aufenthaltsort sehr<br />
viele unterschiedliche rote Farbnuancen der Blumen. 142<br />
Wenn sie heute <strong>nach</strong><br />
Kolumbien fahre, nehme sie die Farbenpracht ihrer Umgebung stärker wahr, während<br />
dies früher selbstverständlich gewesen sei.<br />
„(…) [W]eil ich das hier nicht habe, ja. Also schon, ne Also, das ist, sagen wir, in<br />
Deutschland sieht man natürlich, wenn ich in Wald geh, klar. Je <strong>nach</strong>dem was für<br />
Jahreszeiten, kann das auch schon, schon Erinnerungen von, äh,äh, aufwecken.“ 143<br />
Zwar fokussiert sie an dieser Stelle Wahrnehmungsveränderungen, aber es deutet sich<br />
auch an, dass ihre aktuelle Farb-Umwelt durch Assoziationen mit den Farben der<br />
Umgebung in Kolumbien Erinnerungen an diese und entsprechende Situationen etc.<br />
evozieren kann. Hierbei zeigt sich die Wechselwirkung zwischen auslösendem Effekt<br />
der Farben und Projektion durch den Menschen.<br />
Sie sei froh, dass sie in <strong>Hagen</strong> so nah am Wald lebe, wo sie immer spazieren gehen<br />
könne. Über die Stadt sagt sie: „<strong>Hagen</strong> hat eine Geschichte. Für mich.“ 144 Sie lebe<br />
schon seit 1976 dort, und während es früher aufgrund der Industrie grau gewesen sei,<br />
habe sich das Bild mittlerweile positiv verändert. Sie möge <strong>Hagen</strong> und fühle sich<br />
wegen ihres guten Freundeskreises mit der Stadt verbunden. Sie lebe schon lange im<br />
Stadtteil Wehringhausen, in dem die Menschen sich kennen. Durch die Menschen mit<br />
denen sie zu tun habe, entstehe eine Lebendigkeit, und diese Beziehungen hätten auch<br />
mit Farben zu tun. Um diese zu beschreiben, verweist sie auf die Farben, in denen sie<br />
ihren Wohnraum gestaltet hat: Orange, Ocker, Rot und Grün. Aufgrunddessen bemerke<br />
sie das Grau nicht, das durch das Wetter doch gegeben sei. Man könne sich selber<br />
Farben geben und so Lebendigkeit schaffen. 145<br />
Fernanda Pohlmann bewertet die Nähe zur Natur an ihrem Wohnort positiv und<br />
identifiziert sich mit <strong>Hagen</strong> dadurch, dass sie schon lange dort bzw. in einem<br />
bestimmtem Viertel lebt. Dieser Ortsbezug ist für sie durch soziale Beziehungen<br />
geprägt. Sie hat ihren Wohnraum in von ihr als lebendig empfundenen Farben gestaltet,<br />
wobei die Wechselwirkung zwischen ihr und der farbigen Umgebung abermals deutlich<br />
wird. Gleichzeitig projiziert sie diese persönlich besetzten Farben auf<br />
142 Vgl.: Anhang B, I 5, S. 44, 47.<br />
143 Siehe: ebd. S. 47.<br />
144 Siehe: ebd. S. 51.<br />
145 Vgl.: ebd. S. 51.<br />
30
zwischenmenschliche Verbindungen bzw. nutzt sie als Bilder, um diese zu beschreiben.<br />
Dabei vermischen sich in ihrer Darstellung die <strong>Ebene</strong>n Farbe des Wohnraums und der<br />
Freundschaften, aber die kompensatorische Wirkung der Farben gegenüber negativ<br />
besetzten grauen Aspekten der physischen Umgebung bezieht sich wohl auf beides.<br />
Wenn sie in Kolumbien sei, habe sie <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> Deutschland und hier umgekehrt.<br />
Als Rentnerin würde sie gerne zwischen Kolumbien und Deutschland pendeln.<br />
Bezüglich der Zukunft in Südamerika sagt sie: „Ich habe ein bestimmtes Bild<br />
irgendwie, auch so was ich irgendwo in Kolumbien irgendwie Haus irgendwie, wo es<br />
sehr üppig auch ist. Wo man malen kann.“ 146<br />
Es wird deutlich, dass sie sowohl zu Kolumbien als auch zu Deutschland eine<br />
gefühlsmäßige Bindung hat, wobei sich ein damit zusammenhängender konkreter<br />
Ortsbezug im Fall <strong>Hagen</strong>s gezeigt hat. Ein solcher bleibt für Kolumbien unklar, in ihren<br />
Erinnerungen kommen mehrere Orte vor, und es kristallisiert sich keine bedeutende<br />
Rolle der in Kolumbien lebenden Familie diesbezüglich heraus. 147 In ihrer Zukunft<br />
verortet sie sich zwischen beiden Ländern. Für diese Perspektive erschafft sie sich in<br />
Kolumbien imaginativ einen Ort. Dabei zeigt sich eine Vermischung beider Richtungen<br />
der <strong>Sehnsucht</strong>, die Gidion beschreibt: Die üppige Umgebung dieses Ortes ist ihr aus<br />
ihrer Vergangenheit und ihren Erinnerungen vertraut. Gleichzeitig hat der Ort einen in<br />
die Zukunft gerichteten erträumt-unbekannten Charakter und ist nicht tatsächlich<br />
geographisch lokalisierbar.<br />
5.2.3 Hayat Güler und Jennifer Berg<br />
Hayat Güler und Jennifer Berg sind zusammen interviewt worden und beschreiben sich<br />
als „beste Freundinnen“ 148 . Sie sind 18 und 19 Jahre alt. 149 Beide leben in<br />
Altenhagen. 150 Zunächst werden die Hayat Güler betreffenden Ausschnitte näher<br />
betrachtet, gegen Ende kürzer diejenigen bezüglich Jennifer Berg.<br />
Hayat Güler erzählt, dass sie, wenn es in der Stadt vom Regen grau ist, <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong><br />
ihrem „Heimatland“, der Türkei, fühle. Weil „(…) es in meinem Dorf um die gleiche<br />
Jahreszeit heller sein könnte und noch fröhlicher und noch bunter. So denke ich mir das<br />
146 Siehe: Anhang B, I 5, S. 53 f.<br />
147 Vgl.: ebd. S. 47, 53.<br />
148 Siehe: Anhang B, Interview 6 mit Hayat Güler und Jennifer Berg, S. 72.<br />
Die für diese Arbeit vorliegende Interviewaufzeichnung setzt im Gespräch ein, der Anfang fehlt.<br />
149 Vgl.: ebd. S. 74.<br />
150 Vgl.: Anhang B, I 6, S. 73, 6, 85. Dies ist in den Interviews missverständlich thematisiert, weil beide<br />
innerhalb des Stadtteils umgezogen sind. Nach Angaben von Milica Reinhart zählen die gegenwärtigen<br />
Wohnorte ebenfalls zu Altenhagen.<br />
31
dann.“ 151 Aber vor allem falle ihr in solchen Augenblicken ihre kranke Großmutter dort<br />
ein, die sie gerne öfter als einmal im Jahr sehen würde, wenn sie die gesamten<br />
Sommerferien dort verbringt. 152 Sie vermissten sich gegenseitig sehr und<br />
telefonierten. 153 Zudem habe sie eine gute Beziehung zu den jüngeren Cousinen ihres<br />
Vaters, mit denen sie ebenfalls telefoniert. 154 Als erste Farbe, die sie mit der Türkei<br />
verbinde, falle ihr das Rot-Braun der Tonerde ein, aus der in der Nähe des Wohnortes<br />
ihrer Großmutter Vasen etc. hergestellt werden und die sich auch auf dem Grundstück<br />
ihrer Großmutter finde. 155 Der zweite Gedanke sei das Rot „unserer Flagge“ 156 .<br />
Bei negativen Stimmungen durch die farbige physische Umgebung in <strong>Hagen</strong>, wird bei<br />
Hayat Güler die Imagination einer besseren Umwelt und Stimmung in ‚ihrem‘ Dorf in<br />
der Türkei geweckt. Diese Ortsbindung wird verstärkt durch die Beziehung zu ihren<br />
Verwandten, vor allem der Großmutter, wobei Kommunikationsmittel genutzt werden,<br />
um diese Vernetzungen abseits der Besuche aufrechtzuerhalten. Neben den Farben der<br />
Umgebung des Dorfes fällt ihr auch die Farbe der Flagge, also eines nationalen<br />
Symbols ein. Hierin sowie in der der Verwendung des Wortes ‚Heimatland‘ spiegeln<br />
sich kulturelle Identifikationsprozesse mit der Nation Türkei.<br />
Sie erinnert sich daran, als Kind am Meer gewesen zu sein. Heute fahre sie allerdings<br />
direkt zu ihrer Oma und nicht mehr ans Meer. Letzteres gefalle ihr jetzt weniger, weil<br />
sie aufgrund ihrer Religion nicht mehr schwimmen könne. 157 Sie vergleicht später ihre<br />
Kindheitserinnerungen mit der heutigen Situation und sagt, dass sie damals freier war:<br />
„ (…) Da hatte ich beispielsweise einen pinken Minirock. (…) In der Türkei ist es ja<br />
ziemlich warm und dann, dann ist man auch barfuß gelaufen und alles war einem ziemlich<br />
egal. Und jetzt ist man eigentlich im Verhalten ziemlich eingeschränkt. Man kann<br />
eigentlich nicht alles einfach so machen, wie in der Kindheit. Und da gibt es schon<br />
ziemlich viele Unterschiede, vor allen auch durch meine Religion, dass ich jetzt ein<br />
Kopftuch tragen muss, dass ich, ich werde jetzt langsam erwachsen. (…) Man, auch wenn<br />
ich zum Beispiel, wenn wir am Strand vorbei gegangen sind, ich bin damit direkt ins Meer<br />
gelaufen. (…) Ja, ich habe mich sehr frei gefühlt und es war einfach luftig, windig an<br />
meine Körper. Wenn ich dran denke, spüre ich das immer noch. Dieser trockene Wind, das<br />
war richtig toll. Ja.“ 158<br />
151 Siehe: ebd. S. 68.<br />
152 Vgl.: ebd. S. 68 f., 71, 81. Sie reflektiert, dass Grau eine trübe, dunkle, einengende Farbe sei, und sie<br />
diese deshalb mit ihrer kranken, allein wohnenden Großmutter verbinde. (Vgl.: ebd. S. 2)<br />
153 Vgl.: ebd. S. 83.<br />
154 Sie sagt über die Cousinen, dass diese auch verstreut irgendwo lebten. Doch sie trifft sie in der Türkei,<br />
also leben diese vermutlich an anderen Orten innerhalb des Landes. Eine andere Möglichkeit wäre, dass<br />
diese ebenfalls aus dem Ausland dorthin kommen. (Vgl.: ebd. S. 71, 81)<br />
155 Vgl.: ebd. S. 69 f.<br />
156 Siehe: ebd. S. 69.<br />
157 Vgl.: ebd. S. 70 f.<br />
158 Siehe: Anhang B, I 6, S. 77.<br />
32
Die Entscheidung, ein Kopftuch zu tragen, habe sie freiwillig getroffen, aber ihre<br />
Mutter habe sie vorher über diesen muslimischen Brauch aufgeklärt. 159 „Da fühle ich<br />
mich auch jetzt eigentlich trotzdem frei“ 160 , sagt sie diesbezüglich. An anderer Stelle<br />
äußert sie, dass sie zu Hause meist Türkisch sprächen. 161<br />
Die Erinnerung an ein farbiges, emotional besetztes Objekt löst hier laut Selbstauskunft<br />
Assoziationen und ein Wieder-Eintauchen in eine sinnliche Erfahrung und den damit<br />
verbundenen Gefühlszustand aus. Es ist bemerkenswert, dass sie dies sprachlich<br />
annähernd mitteilen kann. Sie stellt diese Situation beispielhaft für ihre Kindheit<br />
heutigen kulturell-religiösen Beschränkungen gegenüber. In diesen Ausschnitten zeigt<br />
sich ihre kulturelle Identitätsbildung durch Religion und Sprache, die durch die Familie<br />
in Deutschland vermittelt werden. Hier findet sich ein Widerspruch: Einerseits „muss“<br />
sie das Kopftuch tragen, andererseits ist es „freiwillig“.<br />
Hayat Güler ist in Deutschland geboren und merkt an, sie habe zwei Heimatländer.<br />
Kurz vorher sagt sie, dass sie nie ganz zurück in die Türkei wolle, weil sie sich hier<br />
wohl fühle und hier ihre Freundinnen und Bekannten habe. 162 Zudem würden sie in der<br />
Türkei auch als Deutsche wahrgenommen und fühlten sich dadurch „ (…) nie so<br />
richtig“ zugehörig im Sinne von „ (…) Türken oder (...) Landesmenschen, (…) [n]ur<br />
für’n Urlaub ist okay.“ 163<br />
Sie identifiziert sich mit zwei ‚Heimatländern‘. Der sozial geprägte Ortsbezug zu<br />
<strong>Hagen</strong>, wo sie implizit auch ihre Zukunft sieht, entscheidet über ihre Bindung an<br />
Deutschland. Ihre türkisch-nationale Identifikation ist mit Widersprüchen konfrontiert,<br />
denn eine solche ergibt sich ja gerade aus dem Zugehörigkeitsgefühl zu einem<br />
nationalen Kollektiv. Diese Erfahrungen nutzt sie als Argumentation, wenn sie ihren<br />
Lebensmittelpunkt in Deutschland verortet, während die Aufenthalte in der Türkei nur<br />
Urlaub sind.<br />
Sie besuche die Moschee an der Brücke in Altenhagen. Einmal sei sie mit ihrer Mutter<br />
auf dem Nachhauseweg von dort gewesen, als sie auch schon ihr Kopftuch trug. Dabei<br />
kam es zu einem rassistischen Zwischenfall mit zwei Nazis, die sie mit Bier bespuckten<br />
und dabei „ ‚Lang lebe Hitler!‘ und ‚Ausländer raus‘ und so“ 164 gesagt hätten. 165<br />
159 Vgl.: ebd. S. 77 f.<br />
160 Siehe: ebd. S. 78.<br />
161 Vgl.: ebd. S. 88.<br />
162 Vgl.: ebd. S. 68 f.<br />
163 Siehe: ebd. S. 69.<br />
164 Siehe: Anhang B, I 6, S. 89.<br />
165 Vgl.: ebd. S. 85, 89.<br />
33
Mit ihrem Stadtteil verbindet sie unter anderem dieses Erlebnis, in dem in extremer<br />
Weise die Differenz auch zwischen ihrer persönlichen Identifikation mit Deutschland<br />
und Fremdzuschreibungen hervortritt.<br />
Bezüglich grauer Farben in <strong>Hagen</strong> 166 sagt sie, dass sie diese zwar manchmal mit<br />
Traurigkeit verbinde, aber es dann auch wieder „ziemlich in Ordnung“ 167 und nicht so<br />
schlimm sei. Man gewöhne sich auch daran, und im Sommer sehe es ganz anders<br />
aus. 168 Sie beschreibt auch, dass sie die engen Straßen, den Schnee, den grauen Himmel<br />
und die Kälte in <strong>Hagen</strong> nicht wahrnehme, wenn sie und Jennifer zusammen seien. Sie<br />
hätten Spaß, alles werde bunt und „(…) [man] hat diese, diese Wärme vom Unterhalten<br />
mit der Freundin (…).“ 169 Jennifer stimmt ihr zu, und beide bringen die jeweils andere<br />
mit warmen rot-gelb-orange Tönen in Verbindung. „(…) Orange (…), irgendwie so die<br />
Wärme vom Herzen her“ 170 , umschreibt Jennifer. 171 Hayat Gülers Relativierung ihrer<br />
negativen Wahrnehmung der Stimmungen durch die <strong>Hagen</strong>er Umgebung mit Hilfe der<br />
Argumente Gewohnheit und Wechsel deutet an, dass sie auch einen Bezug zur<br />
physischen Umwelt hat. Vor allem aber betont sie, dass negative Aspekte der<br />
physischen Umwelt durch ihre befriedigende soziale Beziehung zu Jennifer<br />
kompensiert werden, was diese ebenso wahrnimmt. Synästhetische Verknüpfungen von<br />
Farbe und Temperatur zeigen sich, wenn sie beide warme Farben nutzen, um auf<br />
zwischenmenschliche, gefühlsmäßige Wärme zu verweisen, die sich auch auf das<br />
subjektive Erleben der physischen Umgebung auswirkt. 172<br />
Jennifer Berg hat immer in <strong>Hagen</strong> gelebt 173 und nennt den Ischelandteich in Altenhagen<br />
als einen bedeutenden Ort für sie in der Stadt, denn sie sei ja immer in der Nähe<br />
gewesen. Die Farbe Blau habe immer ihr Leben bestimmt, weil Wasser für sie an erster<br />
Stelle stehe. 174 Ähnliche Erinnerungen wie Hayat mit ihrem pinken Minirock verbinde<br />
sie mit Frankreich, im Einzelnen mit einem bestimmten Ort in der französischen<br />
Bretagne, wo sie sich frei fühle. Sie erinnert sich an die braunen Felsen und den Wind.<br />
166 Dieses Thema ist bereits angesprochen worden, bevor die vorliegende Interviewabschrift einsetzt. Es<br />
bezieht sich wohl auf den Gesamteindruck der Stadt. (Vgl.: ebd. S. 68 f.)<br />
167 Siehe: ebd. S. 69.<br />
168 Vgl.: ebd. S. 69.<br />
169 Siehe: ebd. S. 74.<br />
170 Siehe: ebd. S. 75.<br />
171 Vgl.: ebd. S. 68, 74 f.<br />
172<br />
Es besteht erwiesenermaßen ein Zusammenhang zwischen dem Empfinden körperlicher und<br />
zwischenmenschlicher Wärme. (Vgl.: Science Magazine: ,,Experiencing Physical Warmth Promotes<br />
Interpersonal Warmth”, 2008. URL: http://www.sciencemag.org/cgi/content/abstract/322/5901/606<br />
[Stand 28. November 2008])<br />
173 Ob Hayat Güler innerhalb Deutschlands umgezogen ist, ist nicht bekannt. Bei Jennifer Berg fehlen<br />
Fragen da<strong>nach</strong>, wo sie sich in Zukunft sieht bzw. es stellt sich im Laufe des Gesprächs nicht raus.<br />
174 Vgl.: Anhang B, I 6, S. 73.<br />
34
Sie glaubt, ihr Vater sei schon vor ihrer Geburt dort hingefahren. Sie selbst sei<br />
regelmäßig in ihrer Kindheit sowie in dem Jahr vor dem Interviewzeitpunkt erneut dort<br />
gewesen. „Das ist mein zweites Zuhause quasi“ 175 , sagt sie, und dass sie ein<br />
Heimatgefühl für diesen Ort empfinde. Sie erzählt auch, dass sie Frankreich mit dem<br />
Meer verbinde und dies von ihrem Vater mitbekommen habe. Er sei gestorben als sie<br />
zehn war. 176<br />
Jennifer hat eine gewohnheitsmäßige Bindung an einen bestimmten Ort in Altenhagen,<br />
der ihren persönlichen Farb- und Umweltpräferenzen entspricht. Über ihre Bindung an<br />
<strong>Hagen</strong> hinaus wird aber auch ein wichtiger, von ihr als heimatartig beschriebener<br />
transnationaler Ortsbezug deutlich, wobei sie sich im Interview an die physische<br />
Umwelt erinnert. Dieser ist durch ihre regelmäßigen Urlaubreisen entstanden. Eine<br />
Verknüpfung dieses Ortes und Frankreichs mit ihrem Vater zeichnet sich ab, so dass<br />
auf eine besondere emotionale Besetzung geschlossen werden kann. 177<br />
5.2.4 Rose Busia<br />
Rose Busia kommt aus Accra in Ghana und ist 1994 <strong>nach</strong> Deutschland gezogen. 178 Das<br />
Interview mit ihr fand hauptsächlich in englischer Sprache statt, was die dortige<br />
Amtssprache ist. Sie spricht auch eine weitere der in Ghana verbreiteten Sprachen<br />
sowie Deutsch fließend. 179 In Ghana lernte sie ihren Mann kennen, der damals bereits<br />
in Deutschland lebte und mit dem sie ein Kind bekam. Dass ihr Ehemann in<br />
Deutschland war und sie mit Zwillingen erneut schwanger, nennt sie als Gründe,<br />
warum sie <strong>nach</strong> sechs Jahren Beziehung zu ihm <strong>nach</strong> <strong>Hagen</strong> ziehen musste. 180<br />
Sie erzählt, dass sie eigentlich in Ghana bleiben wollte.<br />
„Yea, because I’ve been born in Ghana and all my familiy is in Ghana. And to leave there<br />
to come to a place where I don’t know anyone, don’t know the language... I don’t know<br />
nothing about Deutschland. (...) My mum and also my twin sister, to leave her it was very<br />
difficult.” 181<br />
175 Siehe: ebd. S. 79.<br />
176 Vgl.: ebd. S. 79 f.<br />
177 Es ist nicht klar geworden, inwiefern Jennifer Berg sich tatsächlich <strong>nach</strong> dem Ort in Frankreich sehnt:<br />
Allerdings geben ihre Selbstbeschreibung des Bezugs als heimatartig und eine Bemerkung Hayat Gülers,<br />
dass ihre Freundin sich monatelang vor der Reise darauf freue, Hinweise hierauf. (Vgl.: ebd. S. 80)<br />
178 In einem vorherigen Interview, das hier nicht vorliegt, hat sie bereits detailliert mit den Künstlerinnen<br />
über ihre Erinnerungen an die Farben Accras gesprochen. (Vgl.: Anhang B, Interview 7 mit Rose Busia,<br />
S. 94 f.)<br />
Eine Altersangabe liegt nicht vor.<br />
179 Vgl.: Anhang B, I 7, S. 93 f., 99, 103 f. Letzteres geht aus ihrem Einsatz der deutschen Sprache gegen<br />
Interviewende hervor.<br />
180 Vgl.: Anhang B, I 7, S. 93.<br />
181 Siehe: ebd. S. 93.<br />
35
Ihr Mann wolle in Deutschland bleiben, aber sie werde zurück <strong>nach</strong> Ghana gehen,<br />
wenn die Kinder erwachsen sind. 182 Am liebsten würde sie jetzt schon gehen. Dann<br />
sagt sie, dass es wegen der Kinder nicht möglich sei. 183<br />
„Ghana is always in my mind, every minute, every minute. I wake up in the morning and<br />
my mind is in Ghana. (...) Yeah, I’m here, but I’ m still there 184 . I don’t know how to take it<br />
out of my mind. Weiß ich nicht. I have friends, and I like to stay here, but I don’t know, I<br />
always have Ghana in my mind.” 185<br />
Wenn sie an Ghana denke, dann hauptsächlich an ihre Familie. 186 Sie fahre regelmäßig<br />
alle drei Jahre <strong>nach</strong> Hause und telefoniere fast jeden Tag mit ihrer<br />
Zwillingsschwester. 187 Dann sprächen sie über alles, über die Familie usw. „(…) and I<br />
mean, es gibt immer was. Either marrying (…)“. 188 Ihre Schwester habe ihr Handy<br />
immer dabei, und so seien sie stets füreinander erreichbar: „(...) I can pretend that I’m<br />
there, but I’m not there.“ 189<br />
Rosa Busia ist nicht freiwillig <strong>nach</strong> Deutschland gekommen, und ihre primären lokalen<br />
Bindungen kommen durch die sozial-familiären Beziehungen in Ghana zustande. 190<br />
Ihre symbolische Ortsbezogenheit gilt ihrem Geburts- bzw. dem Wohnort ihrer<br />
Familie, wo sie auch ihre Zukunft sieht. Sie benennt ihre gleichzeitige An- und<br />
Abwesenheit in <strong>Hagen</strong>, was für Ghana umgekehrt zutrifft. Nach ihrer Beschreibung ist<br />
sie psychisch-mental immer in Ghana, besonders bei ihrer Familie und deren oder auch<br />
ihrem ‚eigentlichen Leben‘ dort, obwohl sie schon lange in Deutschland lebt und relativ<br />
selten dorthin fährt. Dabei spielt zusammen mit Erinnerung und Imagination die<br />
Möglichkeit des permanenten Kontakts per Mobiltelefon eine bedeutende Rolle. Diese<br />
Identifikationsprozesse sind im Zusammenhang damit zu sehen, dass die von ihr<br />
bevorzugte Sprache im Interview Englisch ist. Im ersten Zitat wird auch die Bedeutung<br />
der Sprache bezüglich einer negativen Einstellung zu einem Ort deutlich.<br />
182 Vgl.: ebd. S. 94.<br />
183 Vgl.: ebd. S. 103.<br />
184 Die kursiven Hervorhebungen an dieser Stelle sowie im übernächsten Zitat sind durch die Autorin<br />
dieser Arbeit erfolgt.<br />
185 Siehe: ebd. S. 98.<br />
An anderer Stelle sagt sie, sie habe deutsche und afrikanische Freunde hier. (Vgl.: ebd. S. 94)<br />
186 Vgl.: ebd. S. 102.<br />
187 Vgl.: ebd. S. 93 f.<br />
188 Siehe: ebd. S. 94.<br />
189 Siehe: ebd. S. 99.<br />
190 In einem Gedankenexperiment stellt sie fest, dass sie auch lieber in Accra leben würde, wenn ihre<br />
gesamte Familie in Deutschland wäre. Sie beschreibt dortige, ihrer Auffassung <strong>nach</strong> weniger isolierte,<br />
allgemeine Formen des sozialen Zusammenlebens und -halts und nennt dies als Gründe. Dadurch wird<br />
ein Satisfaktionsraum deutlich, der über ihre Familie hinausgeht. (Vgl.: Anhang B, I 7, S. 10)<br />
36
Sie erläutert detailliert farbige Kleidungsvorschriften für verschiedene Zeremonien in<br />
Ghana: Anlässlich der Geburt eines Kindes werde Weiß mit etwas Schwarz getragen.<br />
Beim Tod eines Menschen werde abhängig von dessen erreichtem Alter Schwarz-Weiß<br />
oder Schwarz-Rot getragen. Dies befolgt sie auch in Deutschland auf afrikanischen<br />
Beerdigungen, aber bei Geburten könne jeder tragen, was er wolle, denn hier sei nicht<br />
Afrika. 191<br />
Hier zeigt sich ihre Prägung durch Traditionen ihres Herkunftsortes, die sie in<br />
Deutschland partiell aufrechterhält. Darin, dass sie diese auch teilweise aufgegeben hat,<br />
wird ansatzweise eine Auflösung ihrer ‚ghanaischen‘ Identitätsbildung deutlich: Sie<br />
berücksichtigt verschiedene kulturelle Orientierungsrahmen. Ebenso mischen sich in<br />
ihre Erzählung immer wieder Wörter, Satzfragmente, Sätze und ganze Abschnitte 192<br />
auf Deutsch.<br />
An anderer Stelle sagt sie, ihr gefalle die lebendige Stimmung in dem Stadtteil<br />
Wehringhausen 193 , wo sie wohnt, und sie nennt auch eine spezielle Ecke, die sie schön<br />
findet, weil dort nicht so viele Autos und Menschen seien. 194 Als sie feststellt, dass sie<br />
wegen der Kinder vorerst bleiben muss, betont sie daraufhin: „(…) I like Germany, ist<br />
schön here. I have a lot of German friends. I’m in (…) freie englische Gemeinde<br />
(...).” 195<br />
Rosa Busia gibt positive Einschätzungen ihrer Umwelt in <strong>Hagen</strong> ab, woran sich zeigt,<br />
dass diese ebenso wie die deutsche Sprache eine alltägliche Bedeutung für sie hat.<br />
Bereits in dem zweiten längeren Zitat auf Seite 35 hat sie angemerkt, dass sie in <strong>Hagen</strong><br />
Freunde habe und gerne dort sei. Diesen Hinweis auf soziale Bindungen wiederholt sie<br />
hier, was im Kontext betrachtet als Versuch zur (Teil-)Auflösung der<br />
widersprüchlichen Erfahrungen zwischen ihrem physischen und psychisch-mentalen<br />
Lebensmittelpunkt zu sehen ist. Gleichzeitig wird deutlich, dass sie über die<br />
Kernfamilie hinaus noch andere soziale Bindungen in <strong>Hagen</strong> hat und sie sich dort<br />
alltagspraktisch eingerichtet hat.<br />
191 Vgl.: ebd. S. 95 f. Aus dem Gespräch geht hervor, dass sie ein Geschäft hat, in dem sie entsprechende<br />
Kleidungsstücke verkauft. (Vgl.: ebd. S. 94, 96 f.)<br />
Indem sie hier von Afrika und nicht Ghana spricht, deutet sich an, dass die Zeremonien über Ghana<br />
hinaus verbreitet sind. Zudem wird möglicherweise ein erweiterter, ‚afrikanischer‘ Rahmen für ihre<br />
Identitätsbildung deutlich.<br />
192 Vgl.: ebd. S. 101, 103 f.<br />
193 Einer ihrer Söhne besucht die Schule in Altenhagen. (Vgl.: ebd. S. 100)<br />
194 Vgl.: ebd. S. 101.<br />
195 Siehe: Anhang B, I 7, S. 103.<br />
37
5.3 Zwischenfazit<br />
Es wurden hauptsächlich Frauen interviewt, deren lokale, emotional gefärbte<br />
Identifikationen sich nicht geschlossen und ungebrochen auf einen Ort beziehen und<br />
damit multipel sind. In einem Fall lag eine Diskrepanz zwischen psychischem und<br />
physischem Lebensmittelpunkt vor, wobei letzterer zumindest eine alltagspraktische<br />
Bedeutung hat. Ihre translokalen und -nationalen Orts- und Länderbezüge über <strong>Hagen</strong><br />
und Deutschland hinaus kommen dabei auf ganz unterschiedliche Weise zustande, und<br />
sie müssen nicht notwendigerweise dort geboren und/oder aufgewachsen sein.<br />
Urlaubreisen oder Besuche spielen bei allen in unterschiedlichem Ausmaß eine Rolle.<br />
Bei fast allen Migrantinnen hat sich jedoch eine exponierte Bedeutung des familiären,<br />
wenn nicht persönlichen, Herkunftsortes herausgestellt, an den sie als Besucherinnen<br />
fahren. Es hat sich beispielhaft gezeigt, dass soziale Kontakte über<br />
Kommunikationsmedien aufrechterhalten werden. Soziale Netzwerke können immer<br />
noch durch die Hilger’schen Attribute dauerhaft und für den Einzelnen überschaubar<br />
gekennzeichnet sein, beziehen sich aber nicht ausschließlich auf das unmittelbare<br />
Umfeld des physischen Wohnortes, an dem sich beispielsweise die familiäre<br />
Gemeinschaft geschlossen aufhält.<br />
In den verschiedenen Gesprächen wurde zudem deutlich, inwiefern die Ortsbezüge<br />
durch sinnliche Wahrnehmungen, soziale Erfahrungen, emotionale Besetzungen und<br />
daran anknüpfend vor allem Erinnerungen, aber auch Imaginationen zustande kommen.<br />
Exemplarisch wird bei Fernanda Pohlmann deutlich, inwiefern die aktuelle physische<br />
Farb-Umgebung dabei eine Rolle spielen kann. Der Interviewrahmen ist als eine<br />
außergewöhnliche Situation zur Stimulation von Erinnerung und Imagination zu<br />
betrachten. 196<br />
Es variiert, wie sehr die Frauen von der mental-psychischen Bindung an den Ort<br />
geprägt sind, von dem sie die meiste Zeit physisch getrennt sind. Der Ort des primären<br />
Lokal- und verwoben damit Länderbezugs überschneidet sich jedoch mit dem in<br />
Zukunft angestrebten Wohnort. Die Migrantinnen haben dementsprechend einen<br />
unterschiedlichen Grad an <strong>Sehnsucht</strong> formuliert. Fernanda Pohlmann bildet jedoch eine<br />
196 Es wird angenommen, dass innerhalb der Gesprächssituation das Zeigen der Farben als ein besonderer<br />
Stimulus fungiert, dessen Einfluss anhand zentraler Abschnitte allerdings aufgrund des <strong>nach</strong>träglichen<br />
Zeigens der Farbe nicht <strong>nach</strong>weisbar ist und aufgrund der Versprachlichung grundsätzlich schwierig<br />
<strong>nach</strong>zuvollziehen. Beispielsweise hat Hayat Güler die zu ihrer sinnlichen Minirock-Erinnerung<br />
gehörende Farbe erst <strong>nach</strong>träglich ausgesucht, unmittelbar da<strong>nach</strong> konzentrierte sich das Gespräch auf<br />
Jennifer Berg. (Vgl.: Anhang B, I 6, S. 78 f.) Auch Inês Marques Gomes sucht ihre Farben erst gegen<br />
Ende des Interviews aus, wobei allerdings sehr detaillierte Erinnerungen an ihre sinnliche Wahrnehmung<br />
der Umwelt und deren Beschaffenheit zu Tage kommen. (Vgl.: Anhang B, I 4, S. 36)<br />
38
Ausnahme, indem sie bereits multiple Ortsbezüge in Kolumbien hat und sich zukünftig<br />
zwischen Orten und Ländern sieht, was auch ihrer <strong>Sehnsucht</strong>sbeschreibung entspricht.<br />
Teilweise von Widersprüchen begleitete (Re-)konstruktionsprozesse bezüglich ihrer<br />
Identitäten, die sich aus ihren multiplen Orts- und kulturellen Bezügen ergeben, werden<br />
an mehreren Stellen beispielhaft deutlich:<br />
Inês Marques reflektiert in der mit der farbigen Umgebung zusammenhängenden<br />
Kindheits- und Weih<strong>nach</strong>terinnerung bewusst ein damaliges Fremdheitsgefühl<br />
gegenüber dem zugleich als Heimat bewerteten Land Portugal und verweist damit auf<br />
Brüche, denen ihre Identitätsbildung ausgesetzt war und ist. An anderen Stellen spiegelt<br />
sich unreflektiert Inkonsistenz: Sie bezeichnet Portugal als ‚ihr‘ Land, wobei die<br />
Geburt auf dessen Territorium und dessen Staatsbürgerschaft für sie wichtige<br />
(nationale) Identifikationspunkte markieren. Demgegenüber steht an der gleichen<br />
Textstelle zunächst eine Abwertung ihres Lebens in Deutschland durch das Wort ‚nur‘.<br />
Dies ist besonders im Zusammenhang mit der vorgängigen Kindheitserinnerung oder<br />
mit der späteren Aussage, dass Portugal lediglich ein Urlaubsland sei, in dem sie keine<br />
Zukunft für sich sieht, als Hinweis auf widersprüchliche (Zugehörigkeits-)Gefühle zu<br />
deuten. Später im Gespräch entwickelt sie allerdings eine für sie stimmige Einstellung<br />
und bringt diese zum Ausdruck, indem sie <strong>Hagen</strong> bzw. Deutschland, wo ihr<br />
Lebensmittelpunkt ist, als zweite Heimat bezeichnet.<br />
Auch in Hayat Gülers Erzählung zeigen sich Differenzen, mit denen sie bei ihrer<br />
Identitätsbildung konfrontiert ist: Zwar identifiziert sie sich mit zwei Heimatländern,<br />
erlebt aber andersartige Fremdzuschreibungen als jeweils nicht zugehörig: Im Fall der<br />
Türkei generalisiert sie diese Erfahrung, was für sie zu einer eindeutigen Verortung in<br />
Deutschland und <strong>Hagen</strong> führt. Wenn sie einerseits sagt, sie müsse das Kopftuch tragen<br />
und andererseits, dass dies freiwillig sei, treten Widersprüche in der Erzählung zu Tage,<br />
die auch auf die damit zusammenhängende kulturell-religiöse Identitätsbildung<br />
schließen lassen. Aber auch sie versucht dies für sich aufzulösen, indem sie darauf<br />
verweist, sich eigentlich auch momentan in ihren Entscheidungen frei zu fühlen.<br />
Obwohl bei Rose Busia die primäre lokale Identifikation eindeutig nicht in <strong>Hagen</strong> liegt,<br />
zeigt sich bei ihr deutlich eine Verwebung verschiedener Traditionen beziehungsweise<br />
kultureller Orientierungsrahmen sowie Sprachen. Durch ihre Betonung sozialer Bezüge<br />
in <strong>Hagen</strong> wird zudem deutlich, dass sie auch dort nicht-familiäre soziale Bindungen<br />
hat. Weiterhin versucht sie, widersprüchliche Erfahrungen und Gefühle zu ordnen.<br />
39
Insgesamt verortet sich der Großteil der hier betrachteten Migrantinnen bewusst<br />
zwischen verschiedenen Heimaten und stellt aktiv Mehrfachbezüge her. Für sie alle gilt<br />
eine Prägung durch mehrere Sprachen.<br />
Die in Abschnitt 3.2.2 dargelegten Thesen Hausers haben sich insofern bestätigt, als<br />
dass lokale Bindungen an die Stadt <strong>Hagen</strong> nur noch einen Teil der Identitätsbildung<br />
ausmachen, die allerdings in zwei Fällen eindeutig den wichtigsten Ortsbezug<br />
darstellen. Für eine der Frauen ist der transnationale Ortsbezug primär. Zudem wird<br />
teilweise ein nur temporärer, allerdings nicht unbedingt kurzfristiger, Umgang mit dem<br />
konkreten Aufenthaltsort deutlich: Hier deutet sich die Auflösung einer konstanten<br />
städtischen Bürgerschaft an. Wenn als Kriterium für den Status als Stadtbürger eine<br />
gleichzeitige Staatsbürgerschaft zugrunde liegt, betrifft dies auch permanente<br />
Anwohnerinnen.<br />
Dass die konkreten physischen Gegebenheiten in <strong>Hagen</strong> 197 aber unter anderem durch<br />
Gewöhnung immer noch eine Rolle bei diesen Prozessen spielen, deutet sich ebenfalls<br />
an. 198<br />
Allerdings wird in den Interviews tatsächlich bei keiner der Frauen eine<br />
Identifikation mit spezifischen baulichen Merkmalen <strong>Hagen</strong>s oder gar dem<br />
‚Stadtzentrum‘ deutlich.<br />
6 Umsetzung im öffentlichen Raum<br />
6.1 Vorgehensweise<br />
„Der Beton mutiert zum Gedächtnis seiner Anwohnerinnen.“ 199 (Milica Reinhart)<br />
Die Künstlerinnen haben bei ihrer Umsetzung mit den Erinnerungen der Frauen<br />
gearbeitet: Auf Grundlage dieser sowie der entsprechend gezeigten Farben haben sie<br />
zunächst Bilder erstellt. 200 Diese beziehen sich entweder auf eine Frau oder sind<br />
Zusammenfassungen beispielsweise der Partnerinterviews, so dass insgesamt 38<br />
197 Hauser bezieht sich explizit auf europäische Städte.<br />
Bei den transnationalen Ortsbezügen der Frauen wird die Bedeutung der physischen Umgebung über die<br />
Frage <strong>nach</strong> den Farben offensichtlich.<br />
198 Die Gewöhnung an eine graue Umgebung in <strong>Hagen</strong> erwähnt Hayat Güler. Zudem ist die Bedeutung<br />
der physischen Umgebung aus Jennifer Bergs Hinweis auf den Teich in Altenhagen, Fernanda<br />
Pohlmanns Wertschätzung des Waldes in Nähe ihres Wohnortes sowie Rose Busias positiver Bewertung<br />
einer bestimmten Ecke im Stadtteil Wehringhausen zu schließen.<br />
199 Vgl.: Kulturamt der Stadt <strong>Hagen</strong> (Hg.), 2007, S. 6.<br />
200 Die Farben für die später folgende Umsetzung an der Brücke wurden durch ein Unternehmen für<br />
Beton-Farben gesponsert, das insgesamt 450 (größtenteils verschiedene) Farb-Portionen hierfür geliefert<br />
hat. Wenn eine Farbe zwischen verschiedenen Auswahlmöglichkeiten auf der Skala lag, haben die<br />
Künstlerinnen – den Beschreibungen der Frauen entsprechend – bei der Sponsorfirma eine Mischfarbe<br />
bestellt oder diese <strong>nach</strong>träglich selber gemischt.<br />
40
Entwürfe entstanden. 201 In verschieden starkem Ausmaß kamen dabei Abstraktionen<br />
zum Tragen, die in jedem Fall der Darstellung des Inhaltes der Erzählungen dienen.<br />
Dementsprechend variiert es, wie weit sie sich dabei vom Gegenständlichen entfernen,<br />
wobei bereits die Inhalte und Farben nicht immer einen gegenständlichen Bezug<br />
aufweisen. Reinhart und Verkerk beschäftigten sich jeweils einzeln mit einer<br />
Geschichte oder zusammenhängenden Geschichten, die sie entsprechend ihrer<br />
jeweiligen Interpretation umgesetzt haben. Verkerk sagt hierzu, dass sie die ersten<br />
Entwürfe gleich <strong>nach</strong> den Interviews angefertigt hätten und diese so beeindruckend<br />
gewesen seien, dass sie selbst das Gesagte jetzt noch <strong>nach</strong>erzählen könnte. Aber auch<br />
ihre Aufnahmen und Mitschriften hätten sie benutzt. Sie habe keinen Kommentar<br />
abgegeben, sondern die Geschichte mit visuellen Mitteln so weitererzählt, wie die<br />
Frauen sie „gemeint haben“ 202 , wobei sie vorher einräumt, dass dies nicht exakt<br />
möglich ist. Allerdings haben sie von den Frauen eine positive Resonanz auf die Bilder<br />
bekommen. 203<br />
Aus den einzelnen Bild-Elementen entwickelten sie ein Gestaltungskonzept für 450<br />
Meter der vorher grauen Betonbrücke in der Nähe des <strong>Hagen</strong>er Hauptbahnhofs. Dabei<br />
werden ab Januar 2009 auch kleine Ausschnitte aus einigen der Interviews auf<br />
Acrylplatten an den Brückenpfeilern zu sehen sein. 204 Zudem haben die Interviewten in<br />
ihrer Handschrift und der Sprache ihres Herkunftslandes das Wort Brücke<br />
aufgeschrieben: 16 dieser Schriftzüge sind vergrößert und durch Neon-Leuchtröhren<br />
materialisiert an der Brücke befestigt und werden in der Dämmerung eingeschaltet. Die<br />
Anzahl ergibt sich aus Doppelungen der Sprache des Herkunftslandes und gleichen<br />
Wörtern in verschiedenen Sprachen. 205<br />
201 Vgl.: Anhang A, I 1, Min. 14, 27 - 14,50.<br />
202 Siehe: Anhang A, I 2, Min. 6,45 - 6, 46.<br />
203 Vgl.: ebd. Min. 5,05 - 7,40.<br />
Vergleiche zum Verständnis der künstlerischen Vorgehensweise die Beispiele für eine Skizze und<br />
verschiedene fertiggestellte Einzelbilder: Anhang C, Abbildungen 1, 2, 3, 5; S. 105 ff.<br />
204 Zurzeit sind die Künstlerinnen noch mit der Auswahl der Ausschnitte beschäftigt.<br />
Ab Januar 2009 wird zudem für Interessierte ein ‚Brückenführer‘ zu Verfügung stehen, in dem zu den<br />
einzelnen Bildern die Erinnerungen bezüglich der Farben zu finden sind. Umfangreicher wird dasselbe<br />
Material später in einem Katalog veröffentlicht.<br />
205 Vgl.: Anhang A, I 2, Min. 2,11 - 3, 50.<br />
Vergleiche zur künstlerisch bearbeiteten Brücke: Anhang C, Abbildungen 4, 6, 7, 8; S. 106 ff.<br />
Ein Gesamteindruck des Gestaltungskonzepts ist unter dem Stichwort ‚Projekt‘ (Unterpunkt<br />
‚Computeranimation‘) gegeben auf: Exile Kulturkoordination: „Die <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> 2.<br />
Kunstprojekt für eine Brücke“. URL: http://www.sehnsucht<strong>nach</strong>ebene2.de [Stand 23. November 2008].<br />
41
6.2 Veränderung des Stadtbildes in Altenhagen<br />
Wie oben bereits angesprochen, berücksichtigen die Künstlerinnen in ihrer<br />
ortsspezifischen Vorgehensweise auch die architektonische Umgebung in Altenhagen.<br />
In den Gesprächen hat sich gezeigt, dass die Farbe Grau eher negativ konnotiert war.<br />
Bei der bisher grauen Betonbrücke kann sicherlich von einer (mindestens) langweiligen<br />
Farbwirkung ausgegangen werden, und sie ist insgesamt durch eine eintönige Bauweise<br />
gekennzeichnet. Die künstlerischen Veränderungen stellen jedoch eine Abwechslung<br />
und einen Höhepunkt in der Umweltgestaltung dar, und tragen, mit Frielings Worten,<br />
allgemein zu deren ‚Liebenswürdigkeit‘ und ‚Verspieltheit‘ bei.<br />
Das Stadtbild in Altenhagen wird also partiell verbessert, was zu einer veränderten<br />
Wahrnehmung der Umwelt durch die Betrachter führt.<br />
6.3 Transkulturalität, Konsensbildung und Möglichkeiten der Mitgestaltung<br />
In diesem Abschnitt werden zunächst Positionen dargelegt, mittels derer ein<br />
nationalkulturelles einem transkulturellen gesellschaftlichen Selbstverständnis<br />
gegenübergestellt wird. Im Anschluss wird speziell die Frage der gesellschaftlichen und<br />
kulturellen Teilhabe von Migranten im öffentlichen Raum fokussiert.<br />
6.3.1 Nationales und transkulturelles Selbstverständnis<br />
Der Philosoph Wolfgang Welsch konstatiert, dass Konzepte monokultureller,<br />
nationaler Kultur, die sich seit dem 19. Jahrhundert durchsetzen, weiterhin Geltung<br />
haben. Dies ist der Fall, obwohl sie, ausgestattet mit einem fiktiv-ideologischen Gehalt,<br />
deskriptiv die damalige, aber auch heutige Realität verzeichnen: Kultur ist dort<br />
Merkmal einer bestimmten Ethnie, die durch eine Sprache gekennzeichnet und an ein<br />
Territorium gebunden ist. Konstitutiv dafür ist die Differenz zu und Abgrenzung von<br />
anderen Kulturen. 206 Die Autorinnen Frieben-Blum und Jacobs bemerken, dass solche<br />
Vorstellungen zu der Annahme einer lokalen Vorherrschaft der jeweiligen Kultur<br />
führen. In Deutschland folgt daraus, dass Fremdes mit Ausländischem gleich gesetzt<br />
wird.<br />
206 Vgl.: Welsch, Wolfgang: „Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen“. In:<br />
Schneider, Irmela (Hg.): Hybridkultur. Medien, Netze, Künste. Köln, 1997, S. 67 ff., 74.<br />
42
Aus diesem Grund wird alles, „(…) was fremd erscheint, mit einem anderen Ort und<br />
einer anderen Gesellschaft verbunden (…), wo es eigentlich herkomme oder<br />
hingehöre.“ 207<br />
Zentraler Gegenstand der Welsch’schen Ausführungen ist seine Beschreibung<br />
gegenwärtiger Kulturen und Gesellschaften als transkulturell, womit er deren<br />
tatsächlicher Verfassung gerecht werden möchte. Als ursächlich hierfür sieht er unter<br />
anderem diejenigen Prozesse, die oben als Globalisierung beschrieben wurden und<br />
<strong>nach</strong> ihm zur Vernetzung und gegenseitigen Durchdringung der Kulturen führen. 208 Im<br />
Zusammenhang damit steht deren innere Hybridisierung, die partiell 209 durch das<br />
Zusammenleben von Menschen mit ursprünglich verschiedenen Herkunftsländern<br />
zustande kommt: „Im Innenverhältnis einer Kultur (…) existieren heute ebenso viele<br />
Fremdheiten wie in ihrem Außenverhältnis zu anderen Kulturen.“ 210 Dem entspricht,<br />
dass die Identitätsbildung der meisten Menschen transkulturell ist, was durch Bezüge<br />
zu kulturellen Elementen verschiedener Länder auch jenseits ihrer Staatsbürgerschaft<br />
zustande kommt. 211<br />
Er fordert in Bezug auf die normative Wirkung von Kulturkonzepten die Hinwendung<br />
zu einer transkulturellen Konzeptualisierung und Selbstauffassung, was von einer<br />
Ausgrenzung des Fremden, wie sie durch das vorherige nationale Selbstverständnis<br />
hervorgerufen wurde, allmählich wegführen würde. Stattdessen würde die Suche <strong>nach</strong><br />
Anknüpfungsmöglichkeiten begünstigt, die durch die transkulturellen Verbindungen<br />
beziehungsweise gemeinsamen kulturellen Elemente gegeben sind. 212 Damit einher<br />
207<br />
Siehe: Frieben-Blum, Ellen/Jacobs, Klaudia: „Vom Oder zum Und: Zur Konstruktion von<br />
Bindestrich- Identitäten“. In: Frieben-Blum, Ellen et al. (Hg.), 2000, S. 11.<br />
Eine Langzeitstudie des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität in Bielefeld<br />
belegt, dass die Identifikation mit einer Nation die Abwertung des Fremden beeinflusst. Seit Beginn der<br />
Studie ist die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland gestiegen: Während 2001 33% der Menschen Angst<br />
vor Überfremdung hatten, waren es 2006 47%. Dies bezieht sich insbesondere auf Muslime. (Vgl.:<br />
Levend, Helga: „Deutsche Zustände“. In: Psychologie Heute, Jahrgang 34, Mai 2007, S. 71)<br />
208 Welsch meidet den Begriff ‚Globalisierung‘, weil er für ihn ‚Verwestlichung‘ bedeutet. (Vgl.:<br />
Schneider (Hg.), 1997, S. 79)<br />
Als ein weiteres zentrales Merkmal der Transkulturalität gilt für ihn die innere Differenzierung der<br />
Gesellschaften, die sich unter anderem in verschiedenen Milieus und den sozialen Geschlechtern findet.<br />
(Vgl.: ebd., S. 68). In diesem Zusammenhang soll angemerkt werden, dass <strong>nach</strong> Stuart Hall nationale<br />
Identitäten männlich konnotiert sind, wofür er das ‚Englisch-Sein‘ als Beispiel anführt. (Vgl.: Hörning<br />
(Hg.), 1999, S. 422).<br />
209 Als andere Faktoren nennt er die zunehmend global gleiche Verfügbarkeit von Waren und<br />
Informationen. (Vgl.: Schneider (Hg.), 1997, S. 72)<br />
210 Siehe: ebd. S. 72.<br />
211 Vgl.: ebd. S. 68, 71 ff.<br />
212 Vgl.: Schneider (Hg.), 1997, S. 75 ff., 85 (Fußnote 28).<br />
Welsch nutzt in diesem Zusammenhang den problematischen Begriff ‚Integration‘ (Vgl. dazu auch<br />
Abschnitt 6.3.3). Welche Konsequenzen gegenwärtige Bedingungen für Konzepte von ‚Integration‘ und<br />
damit zusammenhängend ‚Gesellschaft‘ haben, legen die Autoren Holert und Terkessidis dar.<br />
(Vgl.: Holert/ Terkessidis, 2006, S. 263)<br />
43
geht die Anerkennung unterschiedlicher, transkultureller Identitätsformen innerhalb<br />
einer Gesellschaft. 213 Die Zukunftsaufgaben bezüglich Politik, Pädagogik, Kunst etc.<br />
sieht er nur durch die Hinwendung zur Transkulturalität lösbar. 214<br />
Dass er sich in seiner Argumentation weiterhin auf Länder bezieht, impliziert, dass<br />
bestehende geographische Referenzen (noch) relevant sind. 215<br />
6.3.2 Stadt, öffentlicher Raum und Teilhabe<br />
Die durch Translokalität und -kulturalität geprägte urbane Situation, wie sie in den<br />
Interviews deutlich wurde, beschreiben die Kulturwissenschaftler Tom Holert und<br />
Mark Terkessidis als Städte ohne (Staats-) Bürger. Sie konstatieren diesbezüglich eine<br />
postnationale Bürgerschaft. Aufgrund der schwindenden Relevanz der Nation auf<br />
politischer und rechtlicher <strong>Ebene</strong> betonen sie, dass unter anderem 216 die städtischen<br />
Kommunen als Orte lokal gebundener Rechte und Partizipation wichtiger werden.<br />
Dabei werfen sie die Frage auf, wie dies möglich ist, also das von ihnen postulierte<br />
Recht auf einen Ort 217 sowie dessen politische und kulturelle Gestaltung durchgesetzt<br />
werden kann. 218<br />
Die Historiker Jan Motte und Rainer Ohliger stellten im Jahr 2004 fest, dass „weder das<br />
Sprechen oder das Gehörtwerden noch die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum“ 219<br />
Einwanderern in Deutschland bisher hinreichend ermöglicht wird. 220 Beispielsweise<br />
zeigt sich dies in einem Fehlen von Orten der Teilhabe und Anerkennung von<br />
213 Vgl.: Welsch, Wolfgang: „Netzdesign der Kulturen“, 2002.<br />
URL: http://www.ifa.de/index.phpid=welsch [Stand 26. September 2008].<br />
214 Vgl.: Schneider (Hg.), 1997, S. 80.<br />
215 Vgl.: ebd. S. 68, 71 f. Dies betrifft seine Beschreibungen der Gegenwart und die entsprechende<br />
Argumentationslinie. Dem entspricht, dass er sein Konzept in einer Übergangsphase zwischen der<br />
Existenz (nationaler) Einzelkulturen bzw. dem bisher dominanten Verständnis von Kulturen als<br />
dergestalt in Richtung einer transkulturellen Verfassung verortet. Nach einer solche Erläuterung umfasst<br />
‚Transkulturalität‘ auch den in dieser Arbeit bereits gebrauchten Begriff ‚Transnationalität‘, was unter<br />
anderem dem folgenden Gebrauch von ‚Transkulturalität‘ zugrunde liegt. Gleichzeitig weist<br />
‚Transkulturalität‘ aber darüber hinaus. Dies entspricht auch der Hall’schen Konzeption von kultureller<br />
Identität, in der ‚Nation‘ ein Aspekt der Identitätsbildung unter anderen ist und konzeptuell<br />
beispielsweise nicht bereits Sprache inkludiert. Als zukünftige Entwicklungen stellt Welsch im zweiten<br />
Teil seines Textes in Aussicht, dass sich künftig aus der durch Relationen und Netzwerkbildung<br />
gekennzeichneten Transkulturalität eine Loslösung kultureller Prozesse von nationalen oder<br />
geographischen Vorgaben ergeben wird. (Vgl.: ebd. S. 67, 73, 78, 84 f. (Fußnote 25)).<br />
216 Zudem spielt bezüglich Politik und Rechten die globale <strong>Ebene</strong> verstärkt eine Rolle.<br />
217 Hervorhebung der Autoren Holert/Terkessidis.<br />
218 Vgl.: Holert/Terkessidis, 2006, S. 263 ff.<br />
219 Siehe: Motte, Jan/Ohliger, Rainer: „Einwanderung – Geschichte – Anerkennung. Auf den Spuren<br />
geteilter Erinnerung“. In: Motte, Jan et al. (Hg.): Geschichte und Gedächtnis in der<br />
Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik.<br />
Essen, 2004, S. 26.<br />
220 Es wird angenommen, dass diese These trotz Veränderungen weitestgehend immer noch Gültigkeit<br />
hat.<br />
44
Migranten, wie sie durch diese betreffende Kunstwerke, Straßennamen oder Denkmäler<br />
gegeben wären. Dies weist darauf hin, dass ihr Hiersein nicht auch noch symbolisch<br />
manifestiert und damit bestätigt werden soll. Dadurch wird das politische Dogma,<br />
Deutschland sei kein Einwanderungsland, in die künstlerisch-ästhetische Symbol- und<br />
Formensprache verlängert und dadurch verfestigt. 221<br />
„ ‚Der Fremde‘ lebt in einer Welt, an deren symbolischer Ausgestaltung er nicht mitwirken<br />
kann, die von [der Mehrheitsgesellschaft] betrieben und definiert wird. Jenseits des<br />
privaten oder zumindest teilweise geschützten Raums ethnischer Enklaven finden sich<br />
keine Signaturen der Einwanderung, es herrscht ein symbolischer Ausschluss.“ 222<br />
Wenn im öffentlichen Raum ein Kunstwerk oder Denkmal entsteht, wird daran auch<br />
das Selbstverständnis der Gesellschaft deutlich. Hierfür kann der vorgängige Prozess<br />
der Entscheidungsfindung und Konsensbildung ein wichtiger Hinweis sein. 223<br />
Es soll darauf hingewiesen werden, dass Kunst im öffentlichen Raum finanziert werden<br />
muss. Die Historikerin Christiane Harzig bemerkt, dass die Umsetzung von Projekten<br />
abhängig von politischer Unterstützung und damit verbundenen öffentlichen Geldern<br />
ist. 224<br />
6.3.3 Transkulturalität und öffentliche Meinung bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong><br />
Durch ihren ortspezifischen Ansatz ist der Ausgangspunkt der Künstlerinnen die<br />
Auseinandersetzung mit einer veränderten transkulturellen (Stadt-)Gesellschaft durch<br />
Migration. Sie erfüllen damit die von Welsch formulierten Aufgaben an die Kunst.<br />
Weil sie bei ihrer Auswahl der Interviewpartnerinnen persönliche oder familiäre<br />
Herkunftsländer zugrunde legen – unter anderem Deutschland – berücksichtigen sie<br />
die kulturelle Hybridisierung betreffende Prozesse, wie sie auch von Welsch<br />
beschrieben werden.<br />
Dementsprechend thematisieren sie in ihrem Projekt die externe Vernetzung und<br />
Durchdringung von Kulturen und Gesellschaften, die durch die Migrantinnen und ihre<br />
multiplen Länder- bzw. Ortsbezogenheiten und damit korrelierende kulturelle Einflüsse<br />
sowie Bezüge hergestellt werden. Diese können <strong>nach</strong>vollzogen werden anhand der<br />
221 Vgl.: ebd. S. 18, 28 ff.<br />
222 Siehe: ebd. S. 18.<br />
223 Vgl.: ebd. S. 28 (u.a. Fußnote 37) Eigentlich beziehen sie sich hier speziell auf Denkmäler, es wird<br />
allerdings eine Übertragbarkeit allgemein auf Kunstwerke im öffentlichen Raum angenommen.<br />
224 Vgl.: Harzig, Christiane: „Zur persönlichen und kollektiven Erinnerung in der Migrationsforschung“.<br />
In: Harzig, Christiane (Hg.): Migration und Erinnerung. Reflexionen über Wanderungserfahrungen in<br />
Europa und Nordamerika. Göttingen, 2006, S. 11.<br />
45
Interviews und den darin zutage tretenden Erinnerungen beziehungsweise (Re-)<br />
Konstruktionen gegenwärtiger transkultureller Identitäten, in die auch weiterhin<br />
nationale Versatzstücke verschiedener Art verwoben werden. Dabei stellt der Großteil<br />
der betrachteten Migrantinnen aktiv Mehrfachbezüge her, während kulturelle Einflüsse<br />
ihres aktuellen Wohnorts einer der Frauen eher zu widerfahren scheinen. Inwiefern die<br />
Prozesse auch für Menschen ohne Migrationshintergrund gelten und auf sie wirken,<br />
zeigt sich in Ansätzen bei Jennifer Berg, wobei zudem ihre Freundschaft zu Hayat<br />
Güler eine Rolle spielt. Exemplarisch stellt diese Freundschaft auch die Hilger’sche<br />
Behauptung in Frage, dass das sozialen Umfeld durch vergleichbare Werteinstellungen<br />
geprägt sei. Allein aufgrund der Religion Hayat Gülers gibt es hier Brüche.<br />
In der künstlerischen Umsetzung ist die dargelegte transkulturelle Bedeutungsebene vor<br />
allem anhand der verschiedenen Sprachen manifest. 225<br />
In der Vorgehensweise der Künstlerinnen ist deutlich eine Hinwendung zur<br />
Transkulturalität zu erkennen, was von ihren Förderern 226<br />
unterstützt wird 227 : Das insgesamt 250.000 Euro teure Kunst-Projekt 228<br />
zumindest implizit<br />
wird unter<br />
anderem maßgeblich von der Staatkanzlei Nordrhein-Westfalens, im Speziellen durch<br />
das 2002 eingerichtete Referat für interkulturelle Kunst- und Kulturarbeit finanziert. 229<br />
Zudem hat dieser Förderer das Projekt ‚Kommunales Handlungskonzept Interkultur‘<br />
initiiert, an dem <strong>Hagen</strong> seit 2005 teilgenommen hat. In diesem Rahmen hat die<br />
Kommune ein Leitbild für eine interkulturelle Kulturarbeit entwickelt, das vom Stadtrat<br />
verabschiedet wurde und sich zur Ermöglichung der kulturellen Beteiligung von<br />
Migranten bekennt. Dies war eine der Voraussetzungen für die Realisierung des<br />
Projekts mit Unterstützung des Kulturamts <strong>Hagen</strong>. 230 Weiterhin ist <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong><br />
<strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> Kulturhauptstadtprojekt im Rahmen von <strong>Ruhr.2010</strong> und steht auf ideeller<br />
225 Es ist anzunehmen, dass dies für die Ausschnitte aus den Geschichten variiert, was der Verfasserin<br />
aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht bekannt ist.<br />
226 Diese kamen erst <strong>nach</strong> der Initiative der Künstlerlinnen hinzu.<br />
227 Ob die Intentionen und Konzepte von Kultur allerdings im Einzelnen und in jedem Fall tatsächlich<br />
mit der Transkulturalität Welschs übereinstimmen, kann hier nicht überprüft werden. Allerdings bejaht<br />
Ulla Harting, Leiterin des Referats für Interkulturelle Kunst- und Kulturarbeit der Staatskanzlei NRW, in<br />
der Darlegung ihrer Förderungsgrundsätze das Vorhandensein einer transkulturellen<br />
Gesamtbevölkerung, wobei sie sich sogar explizit auf ein Zitat der Welsch’schen Definition bezieht.<br />
(Vgl.: Harting, Ulla: „Interkultureller Klimawandel. Kulturpolitik in Nordrhein-Westfalen: die<br />
integrierende Wirkung der Künste fördern“. In: Jerman, (Hg.), 2007, S. 25 f. sowie Hörning (Hg.), 1997,<br />
S. 71)<br />
228 Aufgrund der Durchführung von <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> wird die ohnehin geplante Sanierung der<br />
Hoch-Brücke hauptsächlich durch Finanzierung der Stadt <strong>Hagen</strong> vorgezogen, so dass sich die<br />
Gesamtkosten auf 800.000 Euro belaufen. (Vgl.: Anhang A, I 3.1, Min. 16, 42 - 17, 52)<br />
229 Vgl.: ebd. Min. 14, 10 - 14,58.<br />
Die Existenz eines solchen Referats ist bisher deutschlandweit einmalig.<br />
230 Kulturamt der Stadt <strong>Hagen</strong> (Hg.), 2007, S. 77 sowie Viehhoff, Rita: „Stadt <strong>Hagen</strong>. Guter Mix aus<br />
Theorie und Praxis“. In: Jerman (Hg.), 2007, S. 148 f.<br />
46
Förderungsebene unter der Schirmherrschaft der Deutschen UNESCO Kommission. 231<br />
Bei anderen Sponsoren handelt es sich um Firmen und Privatpersonen: Eigentlich hätte<br />
die Kommune <strong>Hagen</strong> 40.000 Euro Eigenbeitrag leisten müssen, um die Förderung mit<br />
Landesmitteln zu ermöglichen. Als die hochverschuldete Stadt diese nicht aufbringen<br />
konnte, kam die Summe innerhalb von zehn Tagen durch Spenden aus der Bevölkerung<br />
zustande. 232 Während das Projekt auf verschiedenen <strong>Ebene</strong>n Zustimmung erfährt, die<br />
von globalen bis zu lokalen Akteuren reichen, gibt es trotz des neuen Leitbildes sowohl<br />
in der <strong>Hagen</strong>er Lokalpolitik als auch in der Bevölkerung keinen eindeutigen Konsens<br />
diesbezüglich. Wie oben bereits angesprochen, wurde zwei Jahre lang in den<br />
politischen Parteien und in der Lokalpresse diskutiert, woran sich auch die<br />
Bevölkerung über Leserbriefe beteiligte. 233 Schließlich kam es im Oktober 2007 zu<br />
einem knappen Ratsbeschluss, der für die Durchführung nötig war. 234 In den<br />
vorgängigen Auseinandersetzungen war ein zentraler Aspekt die Finanzierung, wobei<br />
Milica Reinhart diesbezüglich die verzerrte Medienberichterstattung kritisiert. 235<br />
Es können hier keine quantitativen Aussagen über Zustimmung und Ablehnung in der<br />
öffentlichen Meinung getroffen werden. Dass bei den Kontroversen auch das kulturelle<br />
Selbstverständnis und die Anerkennung verschiedener Formen der Identitätsbildung<br />
verhandelt wurden und inwiefern bereits im Vorfeld veränderte städtisch-soziale<br />
Strukturen besondere Aufmerksamkeit erfuhren, zeigt sich in den Leserbriefen, von<br />
denen hier einige beispielhaft betrachtet werden sollen. Die Einsender appellieren<br />
teilweise an den Stadtrat:<br />
Sie habe zwar Verständnis für das Problem der Integration von Einwanderern, schreibt<br />
eine Altenhagenerin, doch halte sie das Projekt für ungeeignet. Sie fährt fort:<br />
231 Vgl.: Anhang A, I 3.1, Min. 12,51 - 14, 03 sowie 18, 05 - 19, 06.<br />
Für Letzteres ist insbesondere die Erfüllung der Grundsätze der Unesco-Konvention zum ‚Schutz und<br />
zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen‘ aus dem Jahr 2005 ausschlaggebend. Dies<br />
entspricht auch Holerts und Terkessidis’ These, dass globale rechtliche <strong>Ebene</strong>n bedeutsamer werden.<br />
Bezüglich der Kulturhauptstadt spielt die EU eine Rolle.<br />
232 Vgl.: ebd. Min. 11, 23 - 12, 50 sowie 16, 03 - 16,31.<br />
233 Vgl.: ebd. Min. 5,44 - 6,08. Für diese Arbeit liegen Zeitungsausschnitte für den Zeitraum zwischen<br />
März 2006 und August 2008 vor, die von einer permanenten Berichterstattung zeugen.<br />
234 Vgl.: ebd. Min. 8,39 - 10, 47.<br />
235 Vgl.: Anhang A, I 1, Min. 48,43 - 49, 30.<br />
47
„Will die Türkische Kulturgemeinschaft in der Wittekindstraße wirklich Integration, wenn<br />
mit großer Werbetafel für den SVIS-Istanbul Spor e.V. geworben wird Müssen wir als<br />
Altenhagener die Lebensweisen aus Anatolien hinnehmen, wo Kürbisspelzen auf die Straße<br />
gespuckt werden oder Leute auf der Eingangstreppe sitzen, so dass meine behinderte<br />
Tochter nur noch mit Hilfe der Krücken Durchgang erhält“ 236<br />
Ein anderer Leser, der nicht in Altenhagen lebt, schreibt:<br />
„Sinnbildlich soll ‚<strong>Ebene</strong> 2‘ für die Integration von Einwanderern werben: Wer zieht denn<br />
die Vorteile aus Einwanderungen und wer bezahlt für Integration Deutschkurse in den<br />
Heimatländern sind sicher geeigneter, allerdings nicht auf Kosten des deutschen<br />
Steuerzahlers. (…) Die Multikulti-Befürworterinnen übersehen hier, dass die einheimische<br />
Bevölkerung (…) allmählich ihre Heimat verliert und wenig erfreut über fremdsprachige<br />
Schriftzüge an der Brücke sein wird. Ist man denn schon ein Fremdenhasser, wenn man als<br />
Europäer die türkische Sprache nicht lernen möchte oder Kulturen im Multimix mit der<br />
Sprache Kauderwelsch nicht verdauen will Kulturen sind doch nur dort identisch, wo sie<br />
entstanden und gelebt werden. Keiner will sich andere Lebensweise aufzwingen lassen und<br />
sollte die Freiheit haben selbst auszuwählen, was er übernehmen möchte. Schließlich sind<br />
die Früchte der französischen Revolution und der Zeit der Aufklärung im islamisch<br />
beherrschten Raum noch nicht angekommen. (…) Vielleicht sollten die Damen die<br />
Fördertöpfe nutzen, um die Würde kopfbetuchter Frauen zu ermöglichen oder deutschen<br />
Familien ihre Heimat und Bildungschancen in Altenhagen zu erhalten.“ 237<br />
Hier zeigen sich zunächst Probleme im Zusammenhang mit dem polysemen Begriff<br />
‚Integration‘, weshalb es auch problematisch ist, ein Kunstprojekt als Symbol hierfür<br />
oder als einen solchen Effekt erzielend darzustellen. In beiden Äußerungen wird<br />
Integration eher als Assimilation verstanden:<br />
Im ersten Zitat wird diese grundsätzlich als Problem gesehen, wobei translokale und -<br />
kulturelle Bezüge, hier in Form der Benennung eines Sportvereins 238 in <strong>Hagen</strong> <strong>nach</strong><br />
einem großen Fußballclub in Istanbul, Zeichen von Verweigerung sind und nicht<br />
akzeptiert werden. Zudem werden bestimmte Verhaltensweisen als einem anderen Ort<br />
und einer anderen Gesellschaft zugehörig empfunden, die vor dem Hintergrund der<br />
Annahme einer lokalen Vorherrschaft der deutschen Kultur nicht hingenommen werden<br />
müssen. Die Leserin bringt negative Erfahrungen mit einer anderen Kultur in<br />
Verbindung, wobei anzunehmen ist, dass diese auf einer individuelleren <strong>Ebene</strong><br />
betrachtet werden müssten.<br />
Für den zweiten Kommentator bedeutet Integration unter anderem das Lernen der<br />
Sprache, was an einem anderen Ort stattfinden soll, bevor das Leben in der deutschen<br />
236 Siehe: Anhang D, Leserbrief 1, S. 109 (erschienen am 13. Oktober 2007 im ‚Wochenkurier‘).<br />
Die Leserbriefe sind teilweise in verschiedenen Zeitungen erschienen. Hier wurden die umfangreichsten<br />
Versionen ausgewählt.<br />
237 Siehe: ebd. Leserbrief 2, S. 110 (3. Oktober 2007, ‚Wochenkurier‘). Interessanterweise ist dieser<br />
Leser Architekt und Stadtplaner, der auch die Zweckhaftigkeit der Brücke betont.<br />
238 Auf der Internetseite des Vereins findet sich das Symbol der türkischen Flagge, aber die Seite<br />
erscheint auf Deutsch. (Vgl.: SV Istanbulspor <strong>Hagen</strong> 2006. URL: http://www.istanbulspor-hagen.de<br />
[Stand 25. November 2008]).<br />
48
Gesellschaft überhaupt beginnen dürfte. Er spricht zudem die ‚Überfremdung‘ durch<br />
Zuwanderung an und einheimisch ist nur, wer eindeutig deutsch ist. Das<br />
Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen kulturellen Bezügen und Sprachen<br />
in einer Gesellschaft wird von ihm nicht gebilligt, wobei die deutsche Kultur dominant<br />
ist. Andere kulturelle Einflüsse gehören an ihren ‚Ursprungsort‘. Zudem fokussiert er<br />
muslimische Zuwanderer und bringt dies in einen größeren diskursiven Zusammenhang<br />
bezüglich des Verhältnisses zwischen ‚europäischer‘ und ‚islamischer‘ Welt.<br />
In beiden Leserbriefen wird ein nationales Verständnis von Kultur deutlich, das nur<br />
eine Form der kulturellen Identitätsbildung zulässt.<br />
Positiv hingegen reagiert ein Altenhagener, der dem bereits erwähnten Sportverein und<br />
der Moschee gegenüberwohnt und dessen Wohnung auf Höhe der Brücke liegt. Er ist<br />
Stadtratsmitglied und betont, dass er viele Kontakte zu seinen Mitmenschen gegenüber<br />
habe. Auch verweist er allgemein auf soziale Prozesse und Interaktionen, die um die<br />
Brücke stattfänden und sagt: „Ich lebe und wohne gern hier und möchte mit meinen<br />
Mitmenschen dieses Umfeld gestalten und verbessern. “239 Eine andere Meinung lautet:<br />
„<strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> (...) ist ein Projekt, das für alle Teile der <strong>Hagen</strong>er<br />
Bevölkerung ein Symbol der Integration und des Zusammenlebens werden kann.“ 240<br />
Einer der privaten Sponsoren betont ebenfalls die integrative Funktion des Projekts und<br />
verweist darauf, dass in seinem Betrieb seit langer Zeit Integration gelebt werde, was er<br />
durch das harmonische Zusammenarbeiten von Menschen unterschiedlicher<br />
Nationalitäten begründet, die zudem Ansprechpartner für Kunden unterschiedlicher<br />
Sprachen seien. 241<br />
In den positiven Rückmeldungen liegen andere Verwendungsweisen von Integration<br />
vor. Es wird das Funktionieren einer durch Migration entstandenen (Stadt-)<br />
Gesellschaft hervorgehoben. Implizit findet sich hier ein Verständnis selbiger im Sinne<br />
der Transkulturalität.<br />
Insgesamt scheint zwar ein Konsens zu bestehen, dass Integration, die allerdings<br />
verschieden aufgefasst wird, notwendig und positiv ist. Allerdings werden hier<br />
Konflikte deutlich, und das Kunstprojekt ist keineswegs nur Bestätigung bestehender,<br />
allgemein akzeptierter gesellschaftlicher Parameter. Ein wichtiger Teil der Bedeutung<br />
239 Siehe: Anhang D, Leserbrief 3, S. 111 (24. Oktober 2007, ‚Wochenkurier‘). Er reagiert damit auf<br />
einen ablehnenden Leserbrief.<br />
240 Siehe: Anhang D, Leserbrief 4, S. 112 (12. September 2007, ‚Westfalenpost‘).<br />
241 Vgl.: ebd. Leserbrief 5, S. 113 (22. November 2007, ‚Westfälische Rundschau‘).<br />
49
von <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> besteht darin, als Auslöser notwendiger öffentlicher<br />
Diskussionen zu fungieren.<br />
6.3.4 Mitgestaltung des öffentlichen Raumes durch die Teilnehmerinnen<br />
Nur eine der Migrantinnen hat in den oben untersuchten Interviews ihre<br />
Staatsbürgerschaft thematisiert. Bei den übrigen ist diese nicht bekannt. Es ist also<br />
nicht klar, inwiefern ihnen in vollem Umfang staatsbürgerliche Rechte zu Teil werden.<br />
Sie gehören jedoch nicht der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ an. In den Interviews mit Hayat<br />
Güler und Inês Marques Gomes zeigt sich, dass sie trotz der Geburt und/oder dem<br />
Aufwachsen in Deutschland zumindest teilweise als Fremde wahrgenommen werden.<br />
Zudem wurde in einem der Leserbriefe deutlich, dass das Kopftuch Hayat Gülers als<br />
Zeichen von Fremdheit gedeutet werden kann. 242<br />
Dass das Projekt maßgeblich durch politische Unterstützung realisiert werden konnte,<br />
ist bereits als Resultat der Debatten um Einwanderungsland und im Einzelnen das<br />
Zuwanderungsgesetz zu sehen. 243 Das Kunstwerk kann für die Migrantinnen als ein Ort<br />
der Anerkennung im öffentlichen Raum und der Teilhabe bei dessen symbolischer<br />
Ausgestaltung betrachtet werden, der ihr ‚In-<strong>Hagen</strong>-Sein‘ bestätigt.<br />
Vermittelt über die Künstlerinnen, werden die Frauen befähigt, sich an der kulturellen<br />
Gestaltung des städtischen Raumes zu beteiligen: Ihr Recht auf einen Ort wird damit<br />
erfüllt, wobei sich dies hier nicht nur auf die Stadt als solche bezieht, sondern auf einen<br />
konkreten Ort innerhalb der Stadt. Gleichzeitig sind ihre Mehrfachbezogenheit und das<br />
subjektive Gefühl, auch – oder eigentlich – an andere Orte zu gehören, elementarer<br />
Bestandteil des Kunstprojekts, womit die Anerkennung ihrer transkulturellen<br />
Identitätsbildung zumindest in dessen Rahmen einhergeht. Hierauf haben durch das<br />
interkulturelle <strong>Hagen</strong>er Leitbild kommunal gegebene Möglichkeiten Einfluss<br />
242 An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass natürlich auch schon die Bezeichnungen ‚Mensch mit<br />
Migrationshintergrund‘, ‚Migrant‘, aber auch ‚Mehrheitsgesellschaft‘ etc. eine Trennung beinhalten und<br />
die Nutzung dieser Begriffe nicht unproblematisch ist. Aus deskriptiven Gründen sind sie hier<br />
unvermeidbar.<br />
243 Die Integrationsbeauftragte der damaligen rot-grünen Bundesregierung, Marieluise Beck, bewertet<br />
das Zuwanderungsgesetz, das 2005 <strong>nach</strong> jahrelangen zwischenparteilichen Debatten in Kraft trat,<br />
folgendermaßen: „Wir haben mit dem neuen Zuwanderungsgesetz eine Schneise geschlagen in dem<br />
Sinne, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist (…).“ (Vgl.: Kohlmann, Thomas (Deutsche Welle):<br />
„Deutschland ist ein Einwanderungsland“, 2005.<br />
URL: http://www.dw-world.de/dw/article/0,2144,1689933,00.html [Stand 10. November 2008])<br />
Auch Ulla Harting von der Staatskanzlei bezieht sich unter anderem auf die Diskussionen um das<br />
Zuwanderungsgesetz. (Vgl.: Jerman (Hg.), 2007, S. 23) Ebenso wertet Tina Jerman das<br />
Zuwanderungsgesetz als einen Wegbereiter für die Förderungsmöglichkeiten von <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong><br />
<strong>II</strong>. (Vgl.: Anhang A, I 3.1, Min. 3,30 - 3,56)<br />
50
genommen, was den Grundgedanken Holerts und Terkessidis’ entspricht. Allerdings<br />
war in diesem Fall maßgeblich die landespolitische <strong>Ebene</strong> von großer Relevanz bei der<br />
schrittweisen Etablierung nur kommunal wahrzunehmender Teilhabe. Zudem geht es<br />
sicherlich nicht um Bürgerrechte und politische Partizipation im konventionellen Sinne,<br />
sondern um eine außerordentliche Möglichkeit für Mitwirkung durch die speziellen<br />
Mittel der Kunst.<br />
Es hat sich in den Interviews in Anknüpfung an Hausers Thesen bei keiner der Frauen<br />
eine Identifikation mit besonderen Merkmalen der baulichen Umwelt in <strong>Hagen</strong> gezeigt.<br />
Die Kunsthistorikerin beschreibt aber zudem, wie Kommunen versuchen, solche<br />
spezifischen Identifikationspunkte unter anderem durch Kunstwerke zu schaffen.<br />
Weiterhin legt Hilgers die Abhängigkeit der symbolischen Ortsbezogenheit von den<br />
Mitgestaltungsmöglichkeiten des Lebensumfeldes dar. Folglich kann <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong><br />
<strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> als eine Möglichkeit für die mitwirkenden Frauen betrachtet werden, die<br />
maßgeblich durch die Künstlerinnen, aber indirekt auch durch ihre unter anderem<br />
kommunalen Förderer geschaffen wird: Einem Identifikationspunkt im baulichstädtischen<br />
Umfeld.<br />
Ob eine solche räumliche Bindung tatsächlich entstehen und gelebt werden wird, ist<br />
allerdings nicht absehbar, sicherlich nicht im weitestgehend ausschließlichen Sinne der<br />
symbolischen Ortsbezogenheit. 244<br />
Wie die Sichtbarkeit der Frauen im öffentlichen Raum und dessen Mitgestaltung im<br />
Einzelnen zustande kommt, ist Gegenstand des letzten Abschnitts.<br />
6.4 Autorschaft und Ausblick<br />
Die Künstlerinnen sind nicht als alleinige Autorinnen des Gestaltungskonzepts für die<br />
Brücke zu sehen, auch die Teilnehmerinnen werden zu Mit-Autorinnen im<br />
künstlerischen Prozess. 245 Dies deutet sich schon an, wenn Verkerk und Reinhart in<br />
ihrer Interpretation der Geschichten versuchen, den von den Frauen ihrer Meinung <strong>nach</strong><br />
intendierten Bedeutungen möglichst gerecht zu werden oder wenn sie die Frauen in den<br />
Ausschnitten aus ihren Geschichten selbst zu Wort kommen lassen. Indem sich die<br />
244 Wie bei Hauser angesprochen, könnte soziale Kommunikation hierbei zwar ebenfalls eine Rolle<br />
spielen, allerdings wird angenommen, dass diese Prozesse bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> individueller<br />
verlaufen. Zudem handelt es sich nicht in allen Fällen im Sinne Hilgers’ um das direkte Lebensumfeld.<br />
245 Der Kunsttheoretiker Stephan Schmidt-Wulffen zeigt am Beispiel eines Projekts, wie hierdurch die<br />
Trennung zwischen Rezipient und (Kunst-)Produzent unscharf wird. (Vgl.: Schmidt-Wulffen, Stephan:<br />
„Rosendale überall – Zum Neuverständnis von Kunst im öffentlichen Raum“. In: Köttering (Hg.), 1997,<br />
S. 179 f.) Diese Trennungslinie verwischt auch bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong>.<br />
51
Handschrift einiger Frauen und das Wort Brücke in ihrer Sprache wieder finden, wird<br />
diese Situation noch deutlicher: Die beteiligten Frauen beschreiben quasi selber den<br />
öffentlichen Raum. Allerdings fallen die Auswahl der einzelnen Ausschnitte und<br />
Handschriften und ihr Arrangement weiterhin den Künstlerinnen zu, ebenso bestimmen<br />
sie über die Form, in der sie die Erinnerungen in ihren Bildern darstellen. Wie die<br />
entsprechend von den Teilnehmerinnen ausgewählten Farben letztlich genau zum<br />
Einsatz kommen, liegt ebenfalls bei den Künstlerinnen, aber die Farben markieren auch<br />
die bedeutendste Möglichkeit für eine Mehrfachautorschaft bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong><br />
<strong>II</strong>: Dadurch, dass die Frauen diese auswählen, geben Reinhart und Verkerk die<br />
Entscheidung über ein elementares, wenn nicht sogar das wichtigste, künstlerische<br />
Gestaltungsmittel ab. 246<br />
Auf diese Weise sind die Partizipientinnen selbst in bedeutenden Aspekten unmittelbar<br />
an der Darstellung ihrer Erinnerungen beteiligt, und sie werden so zu Mitgestalterinnen<br />
der städtischen Umwelt. Nach Gidion wird durch <strong>Sehnsucht</strong> kreatives Potential<br />
freigesetzt und <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> kann als eine Weise verstanden werden, dies<br />
zu kanalisieren.<br />
Es gilt zu bedenken, dass Farben – im Vergleich zur Sprache – ein anderes,<br />
unmittelbareres Wirkungspotential besitzen. Wenn Milica Reinhart sagt, dass die<br />
Brücke zum Gedächtnis der Anwohnerinnen wird, hat dies vor allem eine Bedeutung<br />
für die Frauen selber: Die Begegnung mit ihren persönlich bedeutsamen Farben, die mit<br />
verschiedenen Orten, Situationen und Beziehungen verbunden sind, könnte als<br />
sinnlicher Auslöser ihres Erinnerns an diese und damit verbundene Gefühle im<br />
öffentlichen Raum fungieren. 247 Gleichzeitig kann hierin auch ein besonderer Einfluss<br />
auf ihre individuellen Identifikationsprozesse gesehen werden. 248<br />
Für die übrigen Rezipienten gelten andere Wirkungsweisen, von denen hier einige<br />
skizziert werden sollen 249 : Vordergründig durch die verschiedenen Sprachen kann die<br />
Brücke die Menschen öffentlich daran erinnern, dass sie in einer transkulturell<br />
geprägten Stadt leben und gegebenenfalls daran, dass es unter diesen Umständen gilt,<br />
ein verändertes Verständnis von Kultur und damit möglicher kultureller Identitäten zu<br />
246 Vgl.: Linares, 2005, S. 87.<br />
247 Die Erinnerungsprozesse, die durch ihre Sprachen und Handschriften sowie Geschichten ausgelöst<br />
werden könnten, funktionieren vornehmlich im sprachlichen Modus. Dabei ist auch nur eine Auswahl<br />
der Schriften und Geschichten zu sehen, so dass dies nicht für alle Frauen gleichermaßen gilt.<br />
248 Hierbei muss bedacht werden, dass die dargestellten Erinnerungen sowohl transnationale Orte als<br />
auch <strong>Hagen</strong> betreffen.<br />
249 Allein dadurch, dass das Gestaltungskonzept offensichtlich nicht durch eine Autorin entstanden ist,<br />
die zumindest intendieren könnte, dessen Sinn vorzugeben, ist es in besonderer Weise offen für<br />
vielfältige Deutungen.<br />
52
entwickeln. Migranten, die vielleicht sogar ihre Sprache an der Brücke wieder finden,<br />
kann sie umgekehrt auch daran erinnern, dass Veränderungen bezüglich des<br />
gesellschaftlichen Selbstverständnisses stattfinden: Ihr ‚In-<strong>Hagen</strong>-Sein‘ wird in dem<br />
Maße anerkannt, dass ein solches Projekt umgesetzt werden konnte. 250 Diese Lesarten<br />
sind auch abhängig davon, wie viel Wissen um die vorgängigen Diskussionen der<br />
jeweilige Betrachter hat.<br />
Dadurch, dass wiederum jeder Rezipient ein anderes Verhältnis zu bestimmten Farben<br />
hat, können die Bilder, in denen die Farben im Zusammenspiel mit den Formen der<br />
Künstlerinnen wirken, in ihm ebenso persönliche Erinnerungen und Gefühle<br />
evozieren. 251<br />
250 Im Interview mit Inês Marques Gomes wird deutlich, dass es die Absicht der Künstlerinnen ist, über<br />
die jeweiligen Frauen eine Repräsentation in diesem Fall der gesamten ‚Portugiesen‘ zu erzielen.<br />
251 Insgesamt erschließen sich für Betrachter, die den ‚Brückenführer‘ oder vielleicht sogar den Katalog<br />
kennen, andere Zugangsmöglichkeiten.<br />
53
7 Fazit<br />
<strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> legt als in sozialer Hinsicht ortsspezifisch vorgehende Kunst<br />
Strukturen zugrunde und frei, die Altenhagen und die gesamte Stadt prägen:<br />
Translokale und -kulturelle Verbindungen, die besonders über Migranten hergestellt<br />
werden und auch deren persönliche Identitätsbildung beeinflussen. 252 In der<br />
Aufrechterhaltung dieser Bezüge spielen normalerweise nicht sichtbare psychischmentale<br />
Prozesse wie Erinnerung und <strong>Sehnsucht</strong>, die in den Interviews zu Tage<br />
kommen und stimuliert werden, eine entscheidende Rolle. Zur physischarchitektonischen<br />
Ortsspezifität des Projekts ist zu bemerken, dass der künstlerische<br />
Umsetzungsort die beschriebene Bedeutungsebene um den symbolischen Gehalt der<br />
Brücke ergänzt, die Anbindung über das städtische Territorium hinaus ist. Gerade im<br />
Hinblick auf die Bilder wird allerdings nicht versucht, derart festgelegte Lesarten<br />
vorzugeben.<br />
Die <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> einer anderen <strong>Ebene</strong> wird allgemein im Hinblick auf eine<br />
Verbesserung des Stadtbildes und andere Wahrnehmungsmöglichkeiten innerhalb des<br />
öffentlichen Raumes erfüllt. So kann die neue Farbwirkung persönliche Erinnerungen<br />
und Gefühle beim Rezipienten evozieren, was speziell für die beteiligten Frauen als<br />
gleichzeitige Mitautorinnen eine zusätzliche Brücke zu Orten und sozialen und<br />
kulturellen Kontexten außerhalb <strong>Hagen</strong>s bilden kann.<br />
Der künstlerisch gestaltete Ort bedeutet im Hinblick auf die Partizipientinnen, aber<br />
auch andere Betrachter mit Migrationshintergrund, eine neue <strong>Ebene</strong> der öffentlichen<br />
Anerkennung. Es wird sozusagen eine Brücke zu ihrem ‚In-<strong>Hagen</strong>-Sein‘ geschlagen.<br />
Den Teilnehmerinnen werden dabei kulturelle Mitgestaltungsmöglichkeiten gegeben,<br />
was sich auch auf ihre Identifikationsprozesse auswirken kann.<br />
<strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> spiegelt eine partielle gesellschaftliche – im Einzelnen<br />
besonders künstlerische und politische – Hinwendung zur Transkulturalität. Zugleich<br />
sind die entsprechenden Diskussionen im Vorfeld der Umsetzung ein wichtiger Effekt,<br />
den das Projekt erzielt hat. Es ist abhängig von den jeweils bestehenden Einstellungen<br />
und der diesbezüglichen Flexibilität der Beobachter, Kommentatoren und letztlich<br />
Rezipienten, inwiefern der künstlerisch gestaltete Ort als Brücke zwischen Menschen in<br />
einer transkulturellen Gesellschaft und zu deren kulturellen Kontexten fungieren kann.<br />
252 Interessant ist hierbei die Aussage der Künstlerinnen, dass es sich um ein Projekt handele, welches<br />
aufgrund vergleichbarer sozialer – aber auch baulicher – Strukturen beispielhaft für ganz Westeuropa sei.<br />
(Vgl.: Anhang A, I 2, Min. 13,37 - 14,30) An dieser Stelle ist ein Zusammenhang zu Hausers Thesen zu<br />
sehen. Während die Ortsspezifität darin liegt, den speziellen sozialen und baulichen Kontext in <strong>Hagen</strong><br />
einzubeziehen, spiegelt dieser für die Künstlerinnen eine örtliche Indifferenz.<br />
54
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