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Sehnsucht nach Ebene II - Hagen Ruhr.2010

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Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf<br />

Philosophische Fakultät<br />

Institut für Kultur und Medien<br />

Bachelor-Arbeit im Studiengang Medien- und Kulturwissenschaft<br />

Zwischen persönlichem und öffentlichem Erinnern -<br />

Eine Analyse des transkulturellen Kunstprojekts<br />

“<strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong>“<br />

Vorgelegt von:<br />

Maria Wigbers<br />

Matrikel-Nr.: 1732487<br />

6. Fachsemester<br />

Erstgutachter: Dr. Hans Malmede<br />

Zweitgutachter: Jun.-Prof. Dr. Timo Skrandies<br />

Düsseldorf, den 10. Dezember 2008<br />

1


Inhaltsverzeichnis<br />

1 Einleitung………………………………………………………………………..4<br />

2 <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> als ortsspezifische Kunst<br />

2.1 Ortsspezifische Kunst<br />

2.1.1 Soziale Ortsspezifität…...………………………………………………………..7<br />

2.1.2 Physisch-architektonische Ortsspezifität………...………………………………8<br />

2.2 Die Brücke und ihr sozialer Kontext in Altenhagen……………………………..8<br />

3 Verhältnis von Mensch und Umgebung/Ort<br />

3.1 Mensch und Farbe………………………………………………………………12<br />

3.2 Mensch und Ort<br />

3.2.1 Symbolische Ortsbezogenheit…………………………………………………..15<br />

3.2.2 Mobilität, Stadt und Identifikation……………………………………………...16<br />

3.2.3 Mobilität, Mehrfachverbundenheit und Identität……………………………….18<br />

4 Erinnerung/<strong>Sehnsucht</strong><br />

4.1 Das bewusste persönliche Erinnern……………………………………………..20<br />

4.2 Erinnerung, Gefühl und <strong>Sehnsucht</strong>……………………………………………...22<br />

5 Interviews<br />

5.1 Einführung………………………………………………………………………23<br />

5.2 Analyse der Interviews<br />

5.2.1 Inês Marques Gomes……………………………………………………………24<br />

5.2.2 Fernanda Pohlmann……………………………………………………………..28<br />

5.2.3 Hayat Güler und Jennifer Berg………………………………………………….30<br />

5.2.4 Rose Busia………………………………………………………………………34<br />

5.3 Zwischenfazit…………………………………………………………………...37<br />

6 Umsetzung im öffentlichen Raum<br />

6.1 Vorgehensweise………………………………………………………………...40<br />

6.2 Veränderung des Stadtbildes in Altenhagen…………………………………....41<br />

6.3 Transkulturalität, Konsensbildung und Möglichkeiten der Mitgestaltung<br />

6.3.1 Nationales und transkulturelles Selbstverständnis……………………………...41<br />

3


6.3.2 Stadt, öffentlicher Raum und Teilhabe...............................................................43<br />

6.3.3 Transkulturalität und öffentliche Meinung bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong>...........45<br />

6.3.4 Mitgestaltung des öffentlichen Raumes durch die Teilnehmerinnen..................49<br />

6.4 Autorschaft und Ausblick....................................................................................51<br />

7 Fazit…………………………………………………………………………….53<br />

8 Literaturverzeichnis…………………………………………………………..54<br />

9 Anhangsverzeichnis/Anhang<br />

4


1 Einleitung<br />

In Deutschland wurde das heutige ‚Zeitalter der Migration‘ 1 durch eine wachsende<br />

Zuwanderung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeläutet: Sogenannte<br />

‚Gastarbeiter‘ kamen in den 1960/70er Jahren aus Südeuropa hierher, in den folgenden<br />

Jahrzehnten ‚Spätaussiedler‘, Asylsuchende und Bürgerkriegflüchtlinge. Dadurch hat<br />

sich die Bevölkerungsstruktur grundlegend verändert, so dass in der Bundesrepublik<br />

heute 15,3 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund leben. Dazu zählen zum einen<br />

alle Personen, die – unabhängig von ihrer derzeitigen Staatsbürgerschaft – selbst <strong>nach</strong><br />

Deutschland zugewandert sind oder als Ausländer hier geboren wurden. Zum anderen<br />

fallen auch Kinder mit einem Elternteil aus der beschrieben Gruppe unter diesen<br />

Begriff. 2<br />

In der nordrhein-westfälischen Stadt <strong>Hagen</strong> mit 196.991 Einwohnern hat ein Drittel der<br />

Menschen einen solchen Hintergrund. 3<br />

Diesen Gegebenheiten in <strong>Hagen</strong>, im<br />

Besonderen in dessen Viertel Altenhagen, geht das Kunstprojekt <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong><br />

<strong>II</strong> 4 <strong>nach</strong>. Die Künstlerinnen Milica Reinhart, gebürtige Kroatin und wohnhaft in <strong>Hagen</strong>,<br />

sowie die in Amsterdam lebende Marjan Verkerk haben dafür insgesamt 50 Frauen 5<br />

interviewt, von denen die meisten Migrantinnen sind. Bei den Gesprächen standen die<br />

persönlichen Erinnerungen der Frauen an für sie bedeutsame Orte und Farben im<br />

Mittelpunkt. Dabei zeigten sie die Farben auch auf einer Skala. Diese Begegnungen<br />

1 Als internationales ‚Age of Migration‘ beschreiben und prognostizieren die Migrationsforscher Castles<br />

und Miller 1993 das ausgehende 20. und beginnende 21. Jahrhundert. Sie legen hierfür eine quantitative<br />

und bedeutungsmäßige Zunahme an weltweiter Migration zugrunde. (Vgl.: Castles, Stephen/Miller,<br />

Mark J.: The Age of Migration. International Population Movements in the Modern World. London,<br />

1993, S. 3 f.)<br />

2<br />

Diese Definition bezieht sich auf den Zeitraum <strong>nach</strong> 1949. (Vgl.: Statistisches Bundesamt:<br />

„Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des<br />

Mikrozensus 2005“, 2007. URL: https://www-ec.destatis.de/csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls<br />

cmspath=struktur,vollanzeige.csp&ID=1020313 [Stand 18. September 2008], S.6 f.)<br />

Angaben bezüglich des Erscheinungsjahres von Texten im Internet sind in vier Fällen für diese Arbeit<br />

gegeben.<br />

Synonym wird hier der Begriff ‚MigrantIn‘ verwendet, was sich somit auch auf Nachkommen von selbst<br />

Migrierten bezieht. In einer Position wird ‚Einwanderer‘ verwendet, was hier ebenso auf die genannte<br />

Personengruppe bezogen wird.<br />

3<br />

Diese Angabe bezieht sich auf unveröffentlichte Informationen des Ressorts ‚Statistik und<br />

Stadtforschung‛ der Stadt <strong>Hagen</strong>.<br />

4 Außer in Zitaten erfolgen alle kursiven oder sonstigen Hervorhebungen in dieser Arbeit grundsätzlich<br />

durch die Autorin. In Ausnahmefällen wird dies angemerkt.<br />

Im Rahmen von <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> finden auch Theater-, -Tanz-, Film-, Musik- und<br />

Literaturprojekte statt, hier wird allerdings nur das im Folgenden beschriebene Kernprojekt untersucht.<br />

(Vgl.: Kulturamt der Stadt <strong>Hagen</strong> (Hg.): „Die <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> 2. Kunstprojekt für eine Brücke“<br />

(Broschüre). <strong>Hagen</strong>, 2007. S. 16 ff.)<br />

5 Die Künstlerinnen begründen ihr Vorgehen, nur Frauen zu befragen, damit, dass sie in Versuchs-<br />

Gesprächen mit Männern bemerkt hätten, dass es schwieriger für sie sei, mit diesen über ihre<br />

persönlichen Geschichten und vor allem für sie bedeutsame Farben zu kommunizieren. (Vgl.: Anhang A,<br />

Interview 2 mit Milica Reinhart und Marjan Verkerk, Min. 14,31 - 15.30) Der Aspekt, dass in das<br />

Kernprojekt nur Frauen eingebunden sind, wird in dieser Arbeit nicht gesondert betrachtet.<br />

5


ildeten die Grundlage für die künstlerische Umgestaltung einer bisher grauen<br />

Hochbrücke in Altenhagen, deren offizielle bautechnische Bezeichnung ‚<strong>Ebene</strong> <strong>II</strong>‘ ist.<br />

Nach einer vierjährigen Vorbereitungsphase realisieren Verkerk und Reinhart die<br />

künstlerische Umsetzung seit Juli 2008 und werden diese weitestgehend im Dezember<br />

2008 fertigstellen.<br />

Da insbesondere Kunst im öffentlichen Raum einen demokratischeren Zugang zu<br />

Kunst jenseits der Institutionen ermöglichen kann 6 , erscheint ein entsprechendes<br />

Projekt mit einem besonderen Fokus auf Migranten geeignet, um deren derzeit<br />

unzureichender Berücksichtigung als Zielgruppe kultureller Einrichtungen<br />

entgegenzuwirken. 7<br />

<strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> soll zunächst als ortsspezifische Kunst eingeordnet werden.<br />

Dabei bietet es sich an, in dem entsprechenden zweiten Abschnitt dieser Arbeit<br />

Ergänzungen zu den nun folgenden Erläuterungen bezüglich ihrer Grundstruktur<br />

anzubringen.<br />

Da die Interviews den Kern des Projektes bilden, erscheint es sinnvoll, einen<br />

Schwerpunkt der Arbeit auf die Analyse einiger beispielhafter Interviews zu legen.<br />

Dies geschieht vor einem theoretischen Hintergrund, in dem unter Bezugnahme auf<br />

verschiedene Autoren das Verhältnis des Menschen zu Farben, seiner Umgebung<br />

allgemein und damit Orten thematisiert wird. Dort wird auch dargelegt, zu welchen<br />

Formen von Ortsbezügen und Identitätsbildung es speziell bei transnationalen<br />

Migranten kommt. Zudem werden Theorien bezüglich biographischer Erinnerung<br />

sowie Erinnerung und Gefühl herangezogen. Die Ergebnisse der Interview-Analyse<br />

werden in einem Zwischenfazit zusammengefasst und liefern ebenso wie einzelne<br />

Thesen aus dem vorgängigen Theorieteil wichtige Anknüpfungspunkte für die<br />

Reflexionen über die Umgestaltung der Brücke im sechsten Teil der Arbeit.<br />

In diesem werden zudem weitere Theorien und Positionen dargelegt, um die<br />

gesellschaftlichen und politischen Dimensionen des Projekts, die insbesondere ein<br />

(trans-)kulturelles Selbstverständnis betreffen, ermessen zu können. Abschließend wird<br />

skizziert, auf welchen verschiedenen <strong>Ebene</strong>n die umgestaltete Brücke im öffentlichen<br />

Raum erinnernde Funktionen erfüllen kann. Weitere Anmerkungen zu diesem Teil<br />

erfolgen in Abschnitt 2.2.1.<br />

6 Vgl.: Lewitzky, Uwe: Kunst für alle. Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention<br />

und Neuer Urbanität. Bielefeld, 2005, S. 7.<br />

7 Vgl.: Cerci, Meral: „Daten, Fakten, Lebenswelten – Annäherung an eine (noch) unbekannte Zielgruppe.<br />

Datenforschungsprojekt Interkultur“. In: Jerman, Tina (Hg.): Kunst verbindet Menschen. Interkulturelle<br />

Konzepte für eine Gesellschaft im Wandel. Bielefeld, 2007, S. 50.<br />

6


Für diese Arbeit werden interdisziplinär Theorien und Positionen von einzelnen<br />

Autoren hauptsächlich aus der (Farb-)Psychologie, Kunstwissenschaft, Soziologie,<br />

Germanistik, Geschichtswissenschaft, Philosophie sowie Kulturwissenschaft<br />

verwendet.<br />

Zudem wird mit verschriftlichten Versionen der Interviews gearbeitet, die die<br />

Künstlerinnen mit den Frauen geführt haben. 8 Weiterhin hat die Autorin dieser Arbeit<br />

Reinhart und Verkerk sowie die Koordinatorin des Projekts, Tina Jerman 9 , befragt.<br />

Diese Gespräche stehen als Audio-Versionen zur Verfügung. Aus den Interviews wird<br />

teilweise zitiert, an anderen Stellen wird der Inhalt indirekt oder paraphrasiert<br />

wiedergegeben. Auch Leserbriefe aus <strong>Hagen</strong>er Tageszeitungen sowie Informationen<br />

aus der begleitenden Projekt-Broschüre und von der Internetseite zu <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong><br />

<strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> werden verwendet. Zum Verständnis der Vorgehensweise sind einzelne Stufen<br />

des künstlerischen Prozesses ebenso wie Bilder der umgestalteten Brücke im Anhang<br />

zu finden.<br />

8 Die Interviews wurden nicht von der Autorin verschriftlicht und werden in der vorgefunden Art<br />

übernommen. Es wird zugrunde gelegt, dass diese Version für die Untersuchungsziele der Arbeit<br />

ausreicht.<br />

9 Tina Jerman ist Geschäftsführerin des Vereins EXILE-Kulturkoordination in Essen.<br />

7


2 <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> als ortsspezifische Kunst<br />

Bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> handelt es sich um eine Form der ortsspezifischen Kunst.<br />

Diese zeichnet sich allgemein dadurch aus, dass sie über verschiedene Wege in<br />

Beziehung zu ihrer Umgebung tritt, die im Folgenden erläutert werden. 10<br />

2.1 Ortsspezifische Kunst<br />

2.1.1 Soziale Ortsspezifität<br />

Ein wichtiges Merkmal, welches <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> als ortsspezifisch<br />

kennzeichnet, ist seine Beschäftigung mit dem sozialen Kontext des<br />

Durchführungsortes. 11 Hierin besteht eine Parallele zu der ortsspezifisch arbeitenden<br />

New Genre Public Art (NGPA), deren Ursprünge in den 1960er Jahre liegen. 12<br />

Im Rahmen der NGPA werden Kunstobjekte bzw. -projekte durch direkte<br />

Kommunikation und Interaktion über einen längeren Zeitraum partizipativ mit den<br />

Bewohnern eines Viertels entwickelt, die gleichzeitig das direkte Publikum der Arbeit<br />

sind. 13 Oftmals handelt es sich hierbei um sozial be<strong>nach</strong>teiligte Stadtteile. 14 Gegenstand<br />

sind hierbei <strong>nach</strong> der Künstlerin Suzanne Lacy „(…) issues directly relevant to [the<br />

audience`s] lives” 15 , wobei sie kulturelle Identität als ein Beispiel hierfür nennt.<br />

Ein zentrales Merkmal der NGPA ist dementsprechend die Auseinandersetzung mit<br />

gesellschaftlichen Fragestellungen und das Bestreben der Künstler, soziale und<br />

politische Verantwortung zu übernehmen. Kennzeichnend ist hierbei auch ein<br />

interventionistischer Ansatz. Speziell im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen<br />

geht es dabei um die Abwendung von einer autonomen und funktionslosen Kunst. 16<br />

Stattdessen handelt es sich um eine Methode, mittels derer die Aufmerksamkeit auf<br />

10 Diese Form der Inklusion der Umgebung steht im Gegensatz zu modernistisch-abstrakten Skulpturen,<br />

die im öffentlichen Raum autonom gegenüber ihrem Kontext verbleiben und von Mitte der 1960er Jahre<br />

bis Mitte der 1970er Jahre die dominante künstlerische Praxis im öffentlichen Raum der USA waren.<br />

(Vgl.: Kwon, Miwon: One Place after Another. Site-Specific Art and Locational Identity. Cambridge,<br />

USA, 2004, S. 11, 60) In Deutschland gab es seit den 1950er Jahren entsprechende Ansätze, die<br />

ebenfalls bis in die 1970er Jahre vorherrschten. (Vgl.: Lewitzky, 2005, S. 78 ff.)<br />

11 Vgl.: ebd. S. 86.<br />

12 Den Begriff hat die Künstlerin Suzanne Lacy <strong>nach</strong>träglich geprägt. (Vgl.: Lacy, Suzanne: “Cultural<br />

Pilgrimates and Metaphoric Journeys”. In: Lacy, Suzanne (Hg.): Mapping the Terrain: New Genre<br />

Public Art. Seattle, 1996, S. 19)<br />

Hier soll der Hinweis gegeben werden, dass diese Art der Kunst innerhalb des Kunstdiskurses nicht<br />

unumstritten ist. So übt die Kunstkritikerin Miwon Kwon Kritik an einzelnen durchgeführten Projekten<br />

und über deren beispielhafte Funktion an dem Ansatz als solchem. Sie räumt aber auch positive<br />

Möglichkeiten ein und weist auf funktionierende Vorgehensweisen hin. (Vgl.: Kwon, 2004, S. 52 f., 83<br />

ff., 97 f., 100 ff., 130 ff.)<br />

13 Vgl.: ebd. S. 82.<br />

14 Vgl.: Lewitzky, 2005, S. 96.<br />

15 Siehe: Lacy (Hg.), 1996, S. 19.<br />

16 Vgl.: Lewitzky, 2005, S. 96 f.<br />

8


estimmte soziale, politische, institutionelle und urbanistische Strukturen gelenkt wird,<br />

auch mit der Intention, diese umzugestalten. 17<br />

Nach dem bildenden Künstler und Kulturwissenschaftler Martin Köttering handelt<br />

Kunst im öffentlichen Raum grundsätzlich in gesellschaftlichen Zusammenhängen und<br />

interveniert allein aufgrund ihrer Ortsbestimmung in soziale Kontexte, die<br />

Konfliktpotentiale beinhalten. Für ihn entsteht ihr Wert gerade daraus, keine<br />

Affirmation gesellschaftlicher Parameter zu sein. Wenn hingegen Einstimmigkeit über<br />

die Realisation eines Kunstprojekts herrscht, bestätigt es lediglich inhaltliche oder<br />

ästhetische Konventionen. 18<br />

2.1.2 Physisch-architektonische Ortsspezifität<br />

Eine andere Form der Ortsspezifität künstlerischer Praktiken im öffentlichen Raum<br />

entstand in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren im Zuge des Minimalismus.<br />

Hier ist die Ortsspezifität durch die Auseinandersetzung mit dessen physischen<br />

Gegebenheiten gekennzeichnet, wobei beispielsweise architektonische Faktoren in die<br />

Arbeiten einbezogen werden und erst hierdurch die Bedeutung der Kunst entsteht. 19<br />

Obwohl die künstlerische Praxis Reinharts und Verkerks keineswegs dem<br />

Minimalismus 20 zugerechnet werden soll und sie sich auf andere Weise mit dem<br />

gegebenen Ort auseinandersetzen, soll hier darauf hingewiesen werden, dass für die<br />

Ortspezifität bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> auch die Berücksichtigung der physischarchitektonischen<br />

Bedingungen von Bedeutung ist.<br />

2.2 Die Brücke und ihr sozialer Kontext in Altenhagen<br />

Die Hochbrücke im Viertel Altenhagen wurde in den 1970er Jahren erbaut und führt<br />

auf die A1. Damalige verkehrspolitische Planungen sollten den Bürgern einen<br />

schnelleren Zugang zur Autobahn ermöglichen, um so ihre Lebensqualität zu<br />

verbessern. Heute nutzen die graue Betonbrücke täglich 40.000 Autofahrer. Sie liegt<br />

auf Höhe des zweiten Wohngeschosses in unmittelbarer Nähe der umgebenden Häuser<br />

und führt zu einer verbauten Sicht und erhöhten Lärmbelastung für die dortige<br />

Bevölkerung. Laut Tina Jerman waren diese Nachteile ausschlaggebend für den<br />

17 Vgl.: Lewitzky, 2005, S. 97.<br />

18 Vgl.: Köttering, Martin: „Störenfriede im öffentlichen Interesse“. In: Köttering, Martin (Hg.):<br />

Störenfriede im öffentlichen Interesse. Der Skulpturenweg Nordhorn als offenes Museum. Köln, 1997, S.<br />

7.<br />

19 Vgl.: ebd. S. 3 f., 11 ff.<br />

20 Eine hauptsächlich plastische Kunstform, bei der Farbe und Form reduziert eingesetzt werden. In der<br />

Regel werden einfache geometrische Körper in Bezug zur Umgebung gesetzt.<br />

9


Wegzug der materiell privilegierten Anwohner. Kostengünstiger Wohnraum entstand,<br />

und aufgrund der Finanzierbarkeit zogen zunehmend Migranten in diese Gegend. Heute<br />

leben dort Staatsangehörige 82 verschiedener Länder. 21 Im Jahr 2006 hatte ungefähr ein<br />

Viertel der in Altenhagen Ansässigen eine ausländische Staatsangehörigkeit. 22<br />

Insgesamt gilt Altenhagen als ‚Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf‘. 23<br />

Aufgrund statistischer Daten der Stadt <strong>Hagen</strong> war den Künstlerinnen bekannt, woher<br />

die Menschen mit nicht-deutscher Staatszugehörigkeit in Altenhagen kommen. Ihr<br />

Ausgangspunkt war, Personen aus den dort quantitativ am stärksten vertretenen<br />

Ländern über die Interviews in ihr Projekt einzubinden. 24 Zum Teil haben die<br />

Partizipientinnen allerdings die deutsche Staatsbürgerschaft und gleichzeitig einen<br />

Migrationshintergrund. Fünf der Gesprächspartnerinnen haben keinen<br />

Migrationshintergrund. 25 Zudem haben sie auch Frauen befragt, die in den umliegenden<br />

Stadtteilen leben. 26 Elementar für ihr Vorgehen ist die Beschäftigung mit einem durch<br />

Migration geprägten Stadtteil, dessen Bevölkerung sich bezüglich des familiären oder<br />

persönlichen Herkunftslandes heterogen zusammensetzt. Diesen Ansatz dehnen sie<br />

über die Teilnehmerinnen auf weitere Viertel aus, wodurch die Vielfalt innerhalb der<br />

gesamten Stadt in den Blick genommen wird. Damit sind zwar nicht nur Teile des<br />

unmittelbaren Publikums im Sinne von direkten Anwohnern der Brücke beteiligt, aber<br />

die Gegebenheiten am Umsetzungsort liefern den Ansatzpunkt, um einen die gesamte<br />

21 Vgl.: Anhang A, Interview 3.2 mit Tina Jerman, Min. 1,54 - 3.06 sowie Jerman, Tina: „Die <strong>Sehnsucht</strong><br />

<strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong>. <strong>Hagen</strong>er Kunstprojekt für eine Brücke“. In: Jerman, Tina (Hg.), 2007, S. 165.<br />

22 Stadt <strong>Hagen</strong>: „Statistisches Jahrbuch <strong>Hagen</strong> 2007“. <strong>Hagen</strong>, 2007, S. 24.<br />

23 Vgl.: Anhang A, I 3.2, Min. 3, 07 - 3,25. Als Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf bezeichnet<br />

die Landesregierung Nordrhein-Westfalen diejenigen Viertel, die im Hinblick auf die Beschäftigungsund<br />

Wohnsituation, die Wirtschaftsentwicklung, die Gesundheitsförderung usw. einer Förderung<br />

bedürfen. (Vgl.: Jasper, Karl: „Ressortübergreifendes Handlungsprogramm des Landes Nordrhein-<br />

Westfalen ‚Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf’ und Bund-Länder-Programm ‚Stadtteile mit<br />

besonderem Erneuerungsbedarf – die soziale Stadt’ “.<br />

URL: http://www.sozialestadt.de/veroeffentlichungen/arbeitspapiere/band3/4_nrw_jasper.phtml [Stand<br />

19. September 2008])<br />

24 Vgl.: Anhang A, Interview 1 mit Milica Reinhart und Marjan Verkerk, Min. 6,26 - 7,10.<br />

Ihr Grundgedanke bei der Teilnehmersuche war, dass hinter jedem Menschen eine Geschichte steckt.<br />

(Vgl.: ebd. Min. 27,17 - 27,47) Von dieser Gleichwertigkeit der Gespräche ausgehend, kommt auch für<br />

die Analyse grundsätzlich jedes geführte Interview in Frage.<br />

Bei der Suche war von Vorteil, dass Milica Reinhard in <strong>Hagen</strong> lebt. Ein Teil der Frauen wurde ihr durch<br />

persönliche Beziehungen weitervermittelt. Andere Teilnehmerinnen haben die Künstlerinnen auch auf<br />

der Straße, in den umliegenden Geschäften oder an einer Kirche angesprochen. Zudem war ihnen<br />

beispielsweise eine Beratungsstelle in der <strong>Hagen</strong>er Stadtmitte bei der Suche <strong>nach</strong> Partizipientinnen<br />

behilflich. (Vgl.: ebd. Min. 5,24 - 7,45)<br />

25 Vgl.: ebd. 26,38 - 26, 45.<br />

Dass die Zahl der Teilnehmerinnen ohne Migrationshintergrund nicht ihrem Anteil an der Bevölkerung<br />

entspricht, verdeutlich die Konzentration der Künstlerinnen auf Migranten.<br />

26 14 der Interviewten leben in Altenhagen, von den Übrigen wohnen <strong>nach</strong> Angaben Reinharts viele in<br />

direkt an Altenhagen angrenzenden Stadtteilen und in relativer Nähe zur Brücke.<br />

10


Stadt betreffenden demographischen Wandel und dessen Implikationen zum<br />

Gegenstand des Projekts zu machen: Orts- und Länderbezüge über Deutschland hinaus<br />

sowie damit korrelierende kulturelle Identitäten sind zentrale Themen der Interviews.<br />

Dies sind Fragen, die in einem Stadtteil wie Altenhagen, aber auch in der gesamten<br />

Stadt von Relevanz für die Menschen sind. Wieweit dieser Ansatz für das Publikum der<br />

umgestalteten Brücke noch erkennbar ist, wird im letzten Teil der Arbeit aufgegriffen.<br />

Dort wird auch beleuchtet, auf welche Weise die Teilnehmerinnen selbst am<br />

künstlerischen Prozess beteiligt werden.<br />

Die Vorgehensweise der Künstlerinnen impliziert bereits ein soziales und politisches<br />

(Verantwortungs-)Bewusstsein. Ausdrücklich formulieren sie ein solches im<br />

Interview: 27<br />

So kritisiert Verkerk eine Sichtweise, die einseitig Kommunikations- und<br />

Integrationswillen (in diesem Fall als Anpassung gedacht) von den Ausländern 28<br />

verlangt. 29 Es werde erwartet, dass diese ihre Persönlichkeit im Herkunftsland<br />

zurücklassen (oder diese unterdrücken) und „ (…) ein[e] ander[e] Person sein<br />

soll[en]“ 30 , bemerkt Verkerk. Ein Selbstbewusstsein in Hinblick auf die eigene<br />

Persönlichkeit, die für die Künstlerin Vergangenheit und Gegenwart eines Menschen<br />

mit Migrationshintergrund umfasst, werde gesellschaftlich nicht akzeptiert, obwohl viel<br />

von Integration gesprochen werde. Sie sei sich nicht mehr sicher, was dieser Begriff<br />

bedeute. Mit ihrem Projekt hat sie nicht den Anspruch, daran etwas zu ändern. 31 So ist<br />

Verkerk im Hinblick auf dessen Effekte <strong>nach</strong> eigenen Angaben bescheiden geworden,<br />

solche seien nicht absehbar. Sie visualisierten lediglich eine Frage oder Problematik.<br />

Positiv gedeutet, sei dies eine Aufforderung: „Guckt, was wir hier alles haben, und wir<br />

wissen es nicht.“ 32 So könne die Neugestaltung der Brücke als eine Feier auf die<br />

veränderte Gesellschaft und deren neue Möglichkeiten gesehen werden, weiter könnten<br />

die Künstlerinnen nichts tun. 33<br />

27 Hier wurde im Hinblick auf den thematischen Fokus dieser Arbeit eine Auswahl der diesbezüglichen<br />

Aussagen getroffen, die allerdings die grundlegenden Einstellungen und Intentionen der Künstlerinnen<br />

erfasst.<br />

28<br />

Die Künstlerinnen benutzen die Begriffe ‚Ausländer‘, ‚Migranten‘ sowie ‚Menschen mit<br />

Migrationshintergrund‘ synonym.<br />

29 Vgl.: Anhang A, I 1 , Min. 28,28 - 28,33.<br />

30 Siehe: ebd. Min. 35,51 - 35,54<br />

31 Vgl.: ebd. Min. 40, 35 - 41,22<br />

32 Siehe: Anhang A, I 1, Min. 37,29 - 37,32.<br />

33 Vgl.: ebd. Min. 36,52 - 37,57.<br />

Speziell für Migranten erhoffen die Künstlerinnen sich jedoch Effekte: Verkerk, betont, dass ihre<br />

Konzentration auf einzelne Menschen sich dem vorherrschenden Denken von Menschen in den Gruppen<br />

‚Einheimische‘ und ‚Migranten‘ entgegensetze und sie zeigten, dass es wichtig ist, auf eine<br />

Persönlichkeit oder Identität einzugehen. Damit einher gehe die Hoffnung, dass einigen „hier in dieser<br />

11


Es wird deutlich, dass die Künstlerinnen auf bestimmte städtisch-soziale Strukturen<br />

bezüglich der Bevölkerungszusammensetzung aufmerksam machen wollen, aber nicht<br />

davon ausgehen, hierdurch gesellschaftliche Veränderungen im Sinne einer<br />

Intervention erzielen zu können. Prozesse, die im Zusammenhang damit stehen, was<br />

Verkerk als ‚Persönlichkeit‘ beschreibt, werden im Laufe der Arbeit unter dem Begriff<br />

‚Identität‘ aufgegriffen.<br />

Dass Verkerk und Reinhart sich mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen<br />

beschäftigen, führte auch zu entsprechenden Reaktionen in der Öffentlichkeit:<br />

Sie beschreiben, dass es im Laufe der Projektplanung langwierige<br />

Auseinandersetzungen mit der Kommunalpolitik gab. Insgesamt sei Verkerk im<br />

Vorfeld der Umsetzung darin bestätigt worden, dass es sich um ein politisches Thema<br />

handle: Es gab innerhalb der öffentlichen Meinungsbildung heftige Gegenstimmen,<br />

„(…) die (...) nicht wollen, dass die Ausländer (…) zu sehen sind an der Brücke.“ 34<br />

Andererseits hätten sie auch Befürwortern viel zu verdanken. Entsprechende<br />

Diskussionen wurden teilweise über Leserbriefe geführt, wobei sie begrüßten, dass<br />

diese Auseinandersetzungen somit in der Öffentlichkeit stattfanden. 35<br />

In Abschnitt 6.3.3 wird unter anderem anhand der Leserbriefe näher betrachtet, in<br />

welchem Verhältnis <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> inhaltlich zu gesellschaftlichen und<br />

politischen Konventionen steht.<br />

Grundsätzlich impliziert bereits der Titel <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> eine Hoffnung auf<br />

mögliche Veränderungen durch das Projekt. Vor diesem Hintergrund wird im sechsten<br />

Teil der Arbeit betrachtet, inwiefern durch die Umgestaltung neuartige<br />

Wirkungsweisen der städtischen Umwelt auf den Betrachter angestoßen werden<br />

können. Zudem wird beleuchtet, welche Bedeutung die künstlerisch bearbeitete Brücke<br />

hinsichtlich der gesellschaftlichen und speziell kulturellen Teilhabe der Frauen hat. In<br />

diesem Zusammenhang wird ein möglicher Einfluss auf ihre persönlichen<br />

Identifikationsprozesse angesprochen.<br />

Gegend oder was auch immer“ (Siehe: ebd. Min. 40,05 - 40,08) ein selbstbewusster Umgang mit der<br />

eigenen Persönlichkeit in der Öffentlichkeit vermittelt werden kann. (Vgl.: ebd. Min. 39,20 - 40,32) Ein<br />

wichtiger Aspekt bezüglich der Frauen ist laut Milica Reinhard, dass sie bereits gemerkt hätten, wie stolz<br />

diese schon im Vorfeld über die geplante 10 Meter große Darstellung ihrer Geschichten waren. (Vgl.:<br />

ebd. Min. 38, 01 - 38, 30)<br />

Hier zeigt sich der explizite Wunsch <strong>nach</strong> einem verändernden Potential ihrer Arbeit dahingehend,<br />

speziell bei Migranten Selbstbewusstsein zu stiften, wobei die genaue Zielgruppe unklar bleibt. Zudem<br />

legen sie erste Wirkungen bei den Frauen dar: Beides ist als Anzeichen einer Intervention mit<br />

intendiertem Veränderungspotential zu sehen. Diese erhofften Wirkungen sollen nicht näher untersucht<br />

werden.<br />

34 Siehe: ebd. Min. 44, 57 - 45, 01.<br />

35 Vgl.: ebd. Min. 42,26 - 45,53.<br />

12


3 Verhältnis von Mensch und Umgebung/Ort<br />

Zunächst wird hier aufgezeigt, in welcher Relation Mensch und farbige Umgebung<br />

stehen. Im Anschluss wird allgemein die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt<br />

beziehungsweise einem Ort dargelegt. Während die hierzu herangezogene Position des<br />

Soziologen Wolfgang Hilgers detailliert, aber konservativ, entsprechende Prozesse<br />

aufzeigt, berücksichtigt sie den Aspekt der transnationalen Mobilität und damit<br />

zusammenhängend der Ortsbezüge und Identitätsbildung von Migranten<br />

unzureichend. 36 Diese Prozesse sind Gegenstand der darauf folgenden Abschnitte.<br />

3.1 Mensch und Farbe<br />

„Ohne Farbe wäre die Welt um ihre wichtigste Aussage ärmer. Ja, am farbigen Abglanz<br />

haben wir wirklich das Leben, wie Goethe sagte (...)“. 37<br />

Der Mensch kann etwa zwei Millionen verschiedene Farben <strong>nach</strong> deren Ton, Helligkeit<br />

und Sättigung unterscheiden, wobei der Farbwahrnehmung des Menschen eine<br />

unmittelbare Funktion bei der visuellen Orientierung zukommt. 38 Der Farbpsychologe<br />

Heinrich Frieling konstatiert, dass Farben uns mit einer grundlegenden Ordnung<br />

umgeben und ihnen niemand in einem gleichgültigen Verhältnis gegenüber stehen<br />

kann. Sie sind Kräfte, mit denen wir in positiver und negativer Weise in Beziehung<br />

stehen. 39<br />

Er stellt das Farbempfinden als einen wichtigen Teil nicht nur unserer<br />

Wahrnehmungs-, sondern auch der Gefühlsstruktur fest, wobei jedem äußeren Farbreiz<br />

eine Reaktion in der Innenwelt des Menschen entspricht. 40<br />

Gefühle und sind durch eine unmittelbare Wirkungskraft gekennzeichnet. 41<br />

Farben erwecken also<br />

Insgesamt funktioniert die Farbwahrnehmung im Alltag immer gebunden an eine<br />

Oberfläche, ein Objekt, eine Landschaft etc.: Wenn wir beispielsweise eine grüne<br />

Wiese betrachten, dann sind wir nicht in der Lage, das Grün losgelöst von der Wiese zu<br />

sehen bzw. eine Wiese wird immer schon untrennbar mit ‚Grün‘ verbunden. Zudem<br />

funktioniert dieser Vorgang wie das Anschlagen von „(…) Saiten, die durch ihre<br />

36 Vgl. hierzu auch Fußnote 67.<br />

37 Siehe: Frieling, Heinrich: Mensch und Farbe. Wesen und Wirkung von Farben in allen menschlichen<br />

und zwischenmenschlichen Bereichen. Göttingen, 1981, S. 12.<br />

38 Vgl.: Marschall, Susanne: Farbe im Kino. Marburg, 2005, S. 119.<br />

39 Vgl.: Frieling, 1981, S. 13, 33.<br />

40 Vgl.: Frieling, Heinrich: Farbe im Raum. Angewandte Farbenpsychologie. München, 1974, S. 7 sowie<br />

Frieling, 1981, S. 11.<br />

41<br />

Vgl.: Linares, Marina: Alles Wissenswerte über Farben. Farbenlehre, Kunsttheorie,<br />

Farbenpsychologie, Kulturgeschichte, Neue Medien. Essen, 2005, S. 9, 170.<br />

13


Schwingung in sich selbst weiterklingen“ 42 . Die grüne Wiese kann Erinnerungen an<br />

Urlaub, eine bestimmte Freundin oder ein Erlebnis auslösen. 43<br />

Der Mensch wird durch die Farben seiner Umgebung auch in Stimmungen versetzt: Als<br />

die natürlichsten Erlebnisse diesbezüglich beschreibt Frieling die Wahrnehmung einer<br />

bergigen Wiesenlandschaft und das ‚Verstehen‘ 44 dieses Eindrucks als ‚friedlich‘ oder<br />

des blauen Himmels als ‚heiter‘. Dabei sind die durch die Umgebung hervorgerufenen<br />

psychischen Stimmungen nicht zu trennen von den Einflüssen von Farbe und Licht auf<br />

der leiblich-physischen <strong>Ebene</strong>. Dies wird dadurch deutlich, dass der Mensch das Licht<br />

und seine Farbanteile nutzt, um Energien daraus aufzubauen, wobei hierzu warmes<br />

Licht förderlich ist, während kühles Licht verbrauchend wirkt. 45 Deshalb nehmen wir<br />

Farben auch als kalt oder warm wahr. „(...) [D]ie Verknüpfung von Farbe und<br />

Temperatur [scheint] die festeste aller synästhetischen Verbindungen zu sein“: 46<br />

Warmes Licht, also die Strahlung der Farben im rot-orange-gelben Bereich, bewirkt<br />

eine höhere Körpertemperatur als blaue und damit kalte Strahlung. 47 Von elementarer<br />

Bedeutung für den Menschen ist <strong>nach</strong> Frieling dabei der Farbwechsel, der mit<br />

verschiedener Lichtenergie und -intensität einhergeht. Deshalb kann sich beispielsweise<br />

die dauerhafte Wahrnehmung einer weißen Polarlandschaft oder auch einer eintönig<br />

weiß-grau-schwarz gestalteten Fabrik-Umgebung negativ auf die Psyche auswirken. 48<br />

Dies ist auch im Zusammenhang mit allgemeingültigeren Wirkungsweisen von Farben<br />

zu sehen: Grau 49<br />

wird unter anderem mit den Gefühlen oder Stimmungen Angst,<br />

Zwang und Melancholie in Verbindung gebracht, in der Umweltgestaltung wirkt es<br />

langweilig. 50<br />

Bezüglich Bauweisen,<br />

„(…) die ohne jeden Höhepunkt (…), ohne Liebenswürdigkeit und Verspieltheit konstruiert<br />

sind“ bemerkt Frieling, dass sie „die Seele des Menschen [verarmen], (..) Neurosen und<br />

Konflikte (..), Depressionen, Vereinsamung, Kriminalität [aufkommen lassen]“ 51 .<br />

Farbgestaltungen können hier allerdings kompensatorisch wirken. 52<br />

42 Siehe: Frieling, 1981, S. 9.<br />

43 Vgl.: ebd. S. 9 f.<br />

44 Hervorhebungen des Autors Frieling.<br />

45 Vgl.: Frieling, 1981, S. 42 f.<br />

46 Siehe: Linares, 2005, S. 89.<br />

47 Vgl.: ebd. S. 88 f.<br />

48 Vgl.: Frieling, 1981, S. 43.<br />

49 Schwarz, Weiß und Grau werden in dieser Arbeit als (unbunte) Farben betrachtet. (Vgl.: Linares,<br />

2005, 150 f.)<br />

50 Vgl.: Frieling, 1981, S. 120 f.<br />

51 Siehe: Frieling, 1974, S. 63.<br />

52 Wobei sie laut Frieling nur „als Alibi für des Architekten Unplan funktionieren“. (Siehe: ebd. S. 64) In<br />

ihnen zeigen sich aber schon Ansätze eines möglichen Stadtbildes von morgen, weil er darin ein<br />

Umdenken von Architekten und Farbgestaltern erkennt, auf die er sich in seinen Thesen bezieht. (Vgl.:<br />

14


Wie eng gekoppelt Farben an Gefühle sind, wird besonders deutlich, wenn ein Mensch<br />

ein einprägsames Erlebnis seiner Vergangenheit mit einer Farbe verbindet. Diese<br />

Erinnerungen werden im limbischen System des Gehirns gespeichert, das physische<br />

Eindrücke und emotionale Reaktionen verbindet. Sie können beim Betrachten einer<br />

Farbe unbewusst, aber heftig, wiederauftauchen. 53 Farbpräferenzen und -abneigungen<br />

gehen also mit bestimmten psychischen Zuständen einher. 54 So werden beispielsweise<br />

durch die Wahl der Farben im Rahmen der psychoanalytischen Bilddiagnostik<br />

unbewusste Strukturen deutlich. 55 Zu dieser Methode bemerkt Jolande Jacobi: „In den<br />

Bildern ist es die Farbe, die vor allem die Gefühle anspricht und sie unter Umgehung<br />

des [begrifflichen] Denkens zum Erklingen bringt.“ 56<br />

Während die Umwelt etwas in uns bewirkt und uns in Stimmungen versetzt, werden<br />

gleichzeitig auch farbliche Vorprägungen auf die Umgebung bzw. Objekte projiziert,<br />

die dann bevorzugt oder als angenehm empfunden werden. 57 Hier wird die<br />

Wechselbeziehung zwischen der Wirkung der farbigen Umwelt und deren<br />

Wahrnehmung durch den Menschen besonders deutlich.<br />

Den circa zwei Millionen wahrnehmbaren Farben stehen 7500 internationale<br />

Farbnamen gegenüber. Das bedeutet, dass das Farbempfinden in hohem Maße<br />

differenzierter ist als die menschlichen Beschreibungsmöglichkeiten. 58 Zudem werden<br />

Farben von den meisten Menschen wesentlich ungenauer und schlechter erinnert als sie<br />

gesehen werden. 59<br />

3.2 Mensch und Ort<br />

3.2.1 Symbolische Ortsbezogenheit<br />

Der Soziologe Wolfgang Hilgers beschreibt eine Form der Verbundenheit und<br />

Identifikation mit einem speziellen lokalen und überschaubaren Lebensumfeld als<br />

ebd. S. 64) Seine oben angeführten Grundaussagen lassen sich allerdings auch auf die Vorgehensweise<br />

der Künstlerinnen übertragen. Es wird zudem angenommen, dass seine 1974 veröffentlichten Thesen für<br />

die Brücke in Altenhagen weiterhin zutreffen.<br />

53 Vgl.: Malpas, Phil: Farbe. München, 2007, S. 38.<br />

54 Vgl.: Frieling, 1974, S. 40.<br />

55 Vgl.: Frieling, 1981, S. 35.<br />

56 Siehe: Jacobi, Jolande: Vom Bilderreich der Seele. Wege und Umwege zu sich selbst. Olten, 1969, S.<br />

128.<br />

57 Vgl.: Frieling, 1974, S. 38, 42, 46 f.<br />

58 Vgl.: Marschall, 2005, S. 119.<br />

59<br />

Vgl.: Linares, 2005, S. 172. Wobei unter anderem Künstler meist ein wesentlich besseres<br />

Farbgedächtnis haben.<br />

15


symbolische Ortsbezogenheit. 60 Diese Beziehung fällt in der Alltagssprache unter den<br />

Begriff Heimat, was für viele Menschen der Ort ist, an dem sie geboren und<br />

aufgewachsen sind. 61<br />

Grundlegend dafür ist, dass Kinder eine Umwelt sinnlich<br />

erschließen und sich allmählich an diese binden: 62<br />

„Dieses erste Stück Welt besteht aus vielen, vielen kleinen, oft sehr unscheinbaren Dingen,<br />

die aber Heimat stiften, in der Wohnung, im Haus, im Viertel, in der Landschaft und in<br />

allem, was den Sinnen sich im einzelnen bietet; es sind die Silhouetten für das Auge, es<br />

sind Gerüche für die Nase, es sind Dachböden (...); Steinbrüche, Straßenbahndepots um die<br />

Ecke, Forellenstandplätze, Baumhütten, Bolzplätze, die Stellen am Waldrand (...).“ 63<br />

Es kommt zu einer anhaltenden positiven emotionalen Besetzung dieser Umwelt. 64<br />

Neben diesen physischen 65<br />

Aspekten sind dabei Interaktionsmöglichkeiten und die<br />

Zugehörigkeit zu einer dauerhaft bestehenden, überschaubaren sozialen Gemeinschaft<br />

von großer Bedeutung. Insofern diese den Wunsch <strong>nach</strong> Sicherheit, Vertrauen und<br />

Anerkennung erfüllt, bildet sie einen Satisfaktionsraum. Ein solcher kann durch die<br />

Familie, Freundschaften, Nachbarschaften, den Arbeitsplatz usw. gewährleistet sein.<br />

Die Bildung von symbolischer Ortsbezogenheit beinhaltet auch eine Identifikation mit<br />

der für die Gesamtgesellschaft spezifischen, kollektiven Weltauslegung und<br />

Sinngebung. Dies funktioniert vor allem über die gemeinsame Sprache. 66<br />

Eine Trennung von der vertrauten Umgebung kann zu Heimweh führen. Es ist<br />

allerdings bei trans- oder intranationaler Migration auch möglich, durch Ablösung vom<br />

Herkunftskontext und die Anpassung an und Identifikation mit einer anderen<br />

physischen und sozio-kulturellen Umwelt erneut eine symbolische Ortsbezogenheit zu<br />

entwickeln. 67 Allgemein formuliert, kommt einem Ort eine besondere Bedeutung für<br />

das Selbstverständnis bzw. die Identität eines Menschen zu, wenn er länger mit einem<br />

60<br />

Hilgers entlehnt den Begriff bei den Autoren Treinen und Teuteberg. (Vgl.: Hilgers, Wolfgang W.:<br />

Lebensraum, Sozialisation und Identitätsbildung. Sozialökologische sowie umweltpsychologische<br />

Erklärungsansätze zur symbolischen Ortsbezogenheit. Düsseldorf, 1990, S. 31)<br />

61 Vgl.: Hilgers, 1990, S. 5. Der Begriff ‚Heimat‘ ist unter anderem aufgrund seiner Nutzung durch den<br />

Nationalsozialismus vorbelastet. Dies ist einer der Gründe, warum Hilgers den Begriff explizit nicht<br />

gebraucht. (Vgl. ebd. S. 5, 31)<br />

62 Vgl.: ebd. S. 6.<br />

63 Siehe: Brückner, A: „Heimat verlieren – Heimat gewinnen“. In: Pädagogische Hochschule Weingarten<br />

(Hg.): Umwelt und Heimat. Weingarten, 1982, S. 9. Zitiert <strong>nach</strong>: Hilgers, 1990, S. 6.<br />

64 Vgl.: Hilgers, 1990, S. 6, 87.<br />

65 Unter physischer Umwelt beziehungsweise Umgebung werden in dieser Arbeit Faktoren wie<br />

Landschaft, Klima, Bauten und Objekte zusammengefasst. Hilgers benutzt ursprünglich den Begriff<br />

materiell-räumlich.<br />

66 Vgl.: ebd. S. 5, 7, 18 ff., 158.<br />

67 Vgl.: Hilgers, 1990, S. 6, 18, 87, 130 f., 179 f.<br />

Diese ‚assimilative‘ These entspricht dem Hilger’schen Verständnis von Kultur als abgeschlossen und<br />

einheitlich (national). Hieraus ergibt sich einer der Gründe für die Bewertung seiner Theorie als<br />

konservativ. (Vgl. hierzu Abschnitt 6.3.1 dieser Arbeit) Zudem hat er ein unten als überholt dargelegtes<br />

Verständnis von Identität als innerer Einheit. Weiterhin spricht er von einer ‚Invasion‘ der Gastarbeiter,<br />

Asylanten und Aussiedler. (Vgl.: Hilgers, 1990, S. 18 ff., 179, 181)<br />

16


Wohnumfeld vertraut ist und innerhalb eines sozialen Kontexts seine Bedürfnisse<br />

befriedigt werden konnten. Zudem muss er sich an positive Erfahrungen dort erinnern<br />

und Zukunftsperspektiven sehen. 68<br />

„Sofern Menschen eine gedankliche Verknüpfung ihrer Vergangenheit, Gegenwart und<br />

Zukunft am Ort immer wieder gelingt, erlangen sie schließlich eine symbolische<br />

Ortsbezogenheit.“ 69<br />

Trotz Individualisierungsprozessen suchen Menschen <strong>nach</strong> der Zugehörigkeit zu einem<br />

vertrauten sozialen Umfeld. Dieses ist durch vergleichbare Einstellungen, Wert- und<br />

Handlungsziele gekennzeichnet. 70<br />

Die mangelnde Partizipation am sozialen Entscheidungsprozess, die zum Erleben von<br />

Fremdbestimmtheit führt, wirkt sich negativ auf die symbolische Ortsbezogenheit aus.<br />

Diese ist entsprechend abhängig von den Möglichkeiten des Bürgers, seine öffentlich<br />

relevanten Interessen zu artikulieren, indem er beispielsweise durch die Organisation in<br />

Bürgerinitiativen etc. Einfluss auf die Gestaltung seines Lebensumfeldes nehmen kann.<br />

Die Notwendigkeit hierfür kann unter anderem aufgrund von Beeinträchtigungen durch<br />

Verkehrslärm oder bauliche Strukturen gegeben sein. 71<br />

3.2.2 Mobilität, Stadt und Identifikation<br />

Als Konsequenz des festzustellenden Anstiegs freiwilliger wie unfreiwilliger Mobilität<br />

bemerkt die Kunst- und Kulturhistorikerin Susanne Hauser, dass die heutigen<br />

Bedingungen der Identitätsbildung im Gegensatz zu denjenigen sesshafter<br />

Gesellschaften nicht mehr unhinterfragt in lokaler Identifikation zu suchen sind. 72<br />

Hauser bezieht sich implizit auf die Globalisierung 73 , wenn sie schreibt, dass nicht nur<br />

in Bezug auf Menschen, sondern auch für Informationen, Waren und Kapital eine<br />

schnellere, häufigere und weitreichendere Beweglichkeit festzustellen ist. Sie skizziert<br />

und untersucht theoretische Überlegungen seit den 1980er Jahren, die infolgedessen die<br />

Homogenisierung und Entdifferenzierung des globalen Raumes postulieren. 74 Es wird<br />

68 Vgl.: ebd. S. 5, 182.<br />

69 Siehe: ebd. S. 178.<br />

70 Vgl.: ebd. S. 87, 174.<br />

71 Vgl.: ebd. S. 177,182.<br />

72 Vgl.: Hauser, Susanne: „Über Städte, Identität und Identifikationen“. In: Kröncke, Meike et al. (Hg.):<br />

Kultureller Umbau. Räume, Identitäten, und Re/Präsentationen. Bielefeld, 2007, S. 29.<br />

73 Laut dem Kulturtheoretiker Stuart Hall haben seit dem 1970er Jahren Spielraum und Tempo der<br />

globalen Integration und damit der Verbindungen zwischen den Ländern zugenommen, obwohl dieses<br />

Phänomen nicht neu ist. (Vgl.: Hall, Stuart: „Kulturelle Identität und Globalisierung“. In: Hörning, Karl<br />

H. el al. (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt a. M., 1999, S.<br />

425)<br />

74 Die neuen Merkmale des globalen, homogenisierten Raumes und seiner Produktion werden als<br />

Auswirkung und Hintergrund der angesprochenen Faktoren Wirtschaftentwicklung und -politik,<br />

17


unter anderem angenommen, dass hierbei die Orte gleichgültig werden, an denen sich<br />

soziale Prozesse abspielen: Die Stadt verliert ihren spezifischen Charakter. 75<br />

Dies sieht sie darin bestätigt, dass die bauliche Umwelt der Städte wenig Anreiz zur<br />

Identifizierung bietet: In den wirtschaftlich florierenden Teilen Europas kennzeichnen<br />

Siedlungen, Industrieanlagen, Infrastrukturen etc. ohne die ehemals vorhandenen<br />

markante Zentren die Städte. Innenstädte sind heute durch Büroansammlungen oder<br />

durch international gleiche shopping malls 76 geprägt, wodurch keine städtische<br />

Besonderheit entsteht und wozu es auch keiner solchen bedarf. 77<br />

Zudem kommt es durch die gesteigerte Mobilität zu einer Relativierung der Bedeutung<br />

von Herkunft und Gewohnheit. Damit einher geht ein kurzfristiger Umgang mit<br />

Territorien, und es gibt keine konstante Bürgerschaft, die sich mit noch vorhandenen<br />

bedeutsamen Orten der Stadt identifiziert. Die Annahme von einer Homogenisierung<br />

des Raums relativiert Hauser andererseits mit dem Hinweis auf lokal bezogene<br />

elektronische Medien, wie beispielsweise Internetseiten mit lokalem Fokus. Es kommt<br />

also nicht einfach zu einer Angleichung des globalen Raums, sondern lokale<br />

Bindungen machen nur noch einen Teil –und nicht notwendigerweise den wichtigsten–<br />

der persönlichen Identitätsbildung aus. 78<br />

Im Weiteren sind Städte immer schon durch die Anwesenheit von Fremden geprägt<br />

gewesen, die nur beschränkt sozial integriert waren und bei denen es nur teilweise zu<br />

einer lokalen Identifikation kam. Auch heute leben dort vielfältige Individuen und<br />

Gruppen, deren wichtigste kulturelle Bezüge und soziale Netzwerke weit über das<br />

städtische Territorium hinausgehen. Somit können die primären lokalen Bindungen<br />

diejenigen zum Herkunftsort sein. Gerade die Ansammlung vieler, über das städtische<br />

Territorium hinausgehender sozialer Beziehungen ist signifikantes Merkmal der Stadt.<br />

Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann die Identifikation mit dem konkreten<br />

Aufenthaltsort sich gegenüber früheren Gegebenheiten allerdings noch verringern, weil<br />

moderner Kommunikationstechnologien sowie Migration gesehen. Die Faktoren stehen in<br />

Wechselwirkung. (Vgl.: Kröncke (Hg.), 2007, S. 30)<br />

75 Vgl.: ebd., S. 29 f., 34. Hauser nennt den Kulturwissenschaftler Frederic Jameson und den<br />

Geographen David Harvey als Wegbereiter dieser Theorien. Diese Ansätze werden hier nicht näher<br />

untersucht, sondern als Grundlage für Hausers Überlegungen betrachtet, mit deren Ergebnissen im<br />

Folgenden weitergearbeitet wird.<br />

76 Hervorhebung der Autorin Hauser.<br />

Vergleiche hierzu Marc Augés Konzept der Nicht-Orte. (Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte.<br />

Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. 2. Auflage. Frankfurt a. M., 1994, S. 90 - 135)<br />

77 Vgl.: Kröncke (Hg.), 2007, S. 34.<br />

78 Vgl.: ebd. S. 32 ff.<br />

18


über (digitale) Kommunikationstechnologien ortsunabhängig soziale Kontakte darüber<br />

hinaus gehalten werden können. 79<br />

Kommunen bemühen sich, der drohenden Homogenisierung und der Gleichgültigkeit<br />

ihrer oftmals nur temporären Bewohner, die jederzeit den Ort wechseln können, etwas<br />

entgegenzusetzen. Sie wollen Identifizierungspunkte schaffen: „Dazu dienen in<br />

kleinerem Maßstab Kunstwerke, die besondere Orte im städtischen Raum markieren.“ 80<br />

Diese Prozesse sind allerdings nicht von außen steuerbar, sondern müssen als<br />

räumliche und soziale Bindung gelebt und von der Kommunikation einer lokal<br />

orientierten Gruppe getragen werden. 81<br />

3.2.3 Mobilität, Mehrfachverbundenheit und Identität<br />

Die zunehmende Mobilität der Menschen zeigt sich zum einen deutlich im Bereich des<br />

Tourismus. 82 Regelmäßige Reisen in ein Land beziehungsweise an einen Ort können zu<br />

einer subjektiven Verbundenheit mit dem entsprechenden sozialen und kulturellen<br />

Kontext führen. Dementsprechend wird angenommen, dass es auch zu Bindungen an<br />

die physischen Gegebenheiten eines Ortes kommen kann. Zum anderen führt besonders<br />

die im Folgenden fokussierte, transnationale Migration zu Mehrfachverbundenheit. 83<br />

Bei der oben dargelegten Beschreibung durch Susanne Hauser kommt es zu einer<br />

starken Konzentration auf den Herkunftsort. Dies entspricht Umständen, unter denen<br />

die Migranten am Ort ihres Aufenthalts zugleich anwesend und abwesend sind.<br />

Obwohl sie physisch einen langen Zeitraum dort verbringen, findet ein relevanter<br />

psychisch-mentaler Teil ihres Lebens oder ihr ‚eigentliches Leben‘ 84 woanders statt. 85<br />

Es ist jedoch festzustellen, dass Menschen, die selbst oder deren Familienangehörige<br />

migriert sind, häufig in multiplen und transnationalen 86 Beziehungen zu Orten stehen,<br />

die „durch (widersprüchliche) konkrete Erfahrungen, Erinnerungen und Imaginationen<br />

79 Vgl.: Kröncke (Hg.), 2007, S. 35 f. Derart lose Beziehungen zu Städten sind <strong>nach</strong> Hauser keineswegs<br />

im Sinne einer Heimatbindung anzusehen.<br />

80 Siehe: ebd. S. 37.<br />

81 Vgl.: ebd. S. 35, 37 ff.<br />

82<br />

Vgl.: Wesselhöft, Christine: Literarische und biographische Deutungsmuster im<br />

Einwanderungskontext (Quebec, 1983 - 2003). Frankfurt am Main, 2006, S. 18.<br />

83<br />

Vgl.: Mecheril, Paul: „Doppelte Heraussetzung und eine Utopie der Anerkennung.<br />

Mehrfachverbundenheit in natio-ethno-kultureller Pluralität“. In: Frieben-Blum, Ellen et al. (Hg.): Wer<br />

ist fremd. Ethnische Herkunft, Familie und Gesellschaft. Opladen, 2000, S. 231.<br />

Die Autoren Holert und Terkessidis weisen darauf hin, dass Migration und Tourismus nicht so deutlich<br />

voneinander abzugrenzen sind wie angenommen wird und legen diesbezügliche Definitionsunklarheiten<br />

und Parallelen dar. (Vgl.: Holert, Tom/Terkessidis, Mark: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von<br />

Migranten und Touristen. Köln, 2006, S. 241 ff.)<br />

84 Hervorhebung der Autoren Holert und Terkessidis.<br />

85 Vgl.: Holert/Terkessidis, 2006, S. 247.<br />

86 Transnational wird hier in der Bedeutung ‚über einen Staat hinausgehend‘ gebraucht.<br />

19


hervorgerufen werden“ 87 und ihre Identitätsbildung beeinflussen. Denn diese müssen<br />

sich auf die beiden von der Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus beschriebenen<br />

Identitätsfragen „ ‚Wer bin ich‘ und ‚Wohin gehöre ich‘ “ 88 auswirken.<br />

Hilgers hat auf den Zusammenhang zwischen Ortsbezogenheit und einer Identifikation<br />

mit kollektiven Sinngebungen und Weltauslegungen hingewiesen. Damit spricht er<br />

kulturelle Identitäten an, seine Vorstellungen müssen aber modifiziert werden. Hierzu<br />

soll der Kulturtheoretiker Stuart Hall herangezogen werden, der kulturelle Identitäten<br />

als durch unsere Zugehörigkeit unter anderem zu nationalen, sprachlichen und<br />

religiösen Kulturen gebildet versteht. Nationale Identitäten entstehen dabei aus der<br />

Staatsangehörigkeit und der Identifikation mit einer nationalen Kultur beziehungsweise<br />

aus der Vorstellung, einer Gemeinschaft anzugehören. 89 Dem entspricht das Gefühl, ein<br />

Heimatland zu haben. 90<br />

In Zeiten der Globalisierung verändern sich diese Prozesse der kulturellen<br />

Identitätsbildung gerade für Migranten, die durch multiple und transnationale<br />

Ortsbezüge geprägt sind. Hall beschreibt, wie diese für einen Teil der Migranten weder<br />

durch Assimilation an die neue kulturelle Umgebung noch durch Rückzug in die Kultur<br />

des Herkunftslandes funktionieren: 91<br />

„[Es] entstehen kulturelle Identitäten, die nicht fixiert sind, sondern im Übergang zwischen<br />

verschiedenen Positionen schweben (…) und die das Resultat komplizierter Kreuzungen<br />

und kultureller Verbindungen sind (…). (…) Sie tragen die Spuren besonderer Kulturen,<br />

Traditionen, Sprachen und Geschichten, durch die sie geprägt wurden, mit sich. (…) [Sie<br />

sind] unwiderruflich das Produkt mehrerer ineinandergreifender Geschichten und Kulturen<br />

(…) und [gehören] zu ein und derselben Zeit mehreren ‚Heimaten‘ und nicht nur einer<br />

besonderen Heimat [an …]. 92<br />

Für die Identitätsbildung von Migranten gilt in besonderem Maße, dass ältere<br />

Vorstellungen, die von einer bestehenden, durch Kohärenz gekennzeichneten Identität<br />

als innerer Einheit ausgingen, überholt sind. Stattdessen wird diese als<br />

87<br />

Siehe: Lutz, Helma/Schwalgin, Susanne: „Globalisierte Biographien: Das Beispiel einer<br />

Haushaltsarbeiterin“. In: Bukow, Wolf-Dietrich et al. (Hg.): Biographische Konstruktionen im<br />

multikulturellen Bildungsprozess. Wiesbaden, 2006, S. 101.<br />

Innerhalb dieser Arbeit wird der Begriff Imagination als (bildliche) Vorstellungskraft verstanden, wobei<br />

er zukunftsgerichtete Akte der Phantasie und Erinnerung umfasst. (Vgl.: Fußnote 102)<br />

88 Siehe: Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche <strong>nach</strong> Heimat. München, 1979, S. 161. Greverus bezieht<br />

sich hier auf die Sozialphilosophin Helen Lynd.<br />

89 Vgl.: Hörning (Hg.), 1999, S. 393, 416, 420. Hall bezieht sich hier unter anderem auf Benedict<br />

Anderson.<br />

90 Die Germanistin Florentine Strzelczyk benennt nationale Zugehörigkeiten weiterhin als einen der<br />

bedeutendsten heutigen Identitätsrahmen und zeigt Probleme mit der entsprechenden Konstruktion von<br />

‚Heimat‘ im deutschen Sprachraum auf. (Vgl.: Strzelczyk, Florentine: Un-heimliche<br />

Heimat. Reibungsflächen zwischen Kultur und Nation. München, 1999, S. 7 ff.)<br />

91 Vgl.: Hörning (Hg.), 1999, S. 435.<br />

92 Siehe: Hörning (Hg.), 1999, S. 434 f.<br />

20


unabgeschlossener, fortdauernder Prozess verstanden, der sich nicht durch möglichst<br />

hohe Konsistenz auszeichnet. Kennzeichen gelingender Identität ist dabei, dass<br />

Menschen alltäglich auf kreative Weise aus vielfältigen und widersprüchlichen<br />

Orientierungsrahmen ein für sie stimmiges Muster entwickeln. Dabei muss gerade für<br />

Migranten der zweiten Generation, die nicht an den Orten ihres transnationalen Bezugs<br />

aufgewachsen sind, bedacht werden, dass kulturelle Einflüsse unter anderem durch die<br />

Familie oder den Freundeskreis gegeben sind. 93 Grundsätzlich machen auch soziale<br />

Zuschreibungen 94 und – wie bei Hilgers bereits angesprochen – Anerkennung 95 durch<br />

andere einen Teil der Identitätsbildung aus.<br />

4 Erinnerung/<strong>Sehnsucht</strong><br />

Im nächsten Ausschnitt wird das persönliche oder biographische Erinnern insbesondere<br />

im Hinblick auf die Frage der Identität dargestellt. Darauf folgen Reflexionen zum<br />

Zusammenhang zwischen Gefühlen und (leiblich-sinnlicher) Erinnerung sowie zu<br />

<strong>Sehnsucht</strong>.<br />

4.1 Das bewusste persönliche Erinnern<br />

Die Form des persönlichen 96 bzw. biographischen Erinnerns, bei der bewusst die eigene<br />

Vergangenheit rekonstruiert und verbalisiert wird, bezeichnet die<br />

Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann als Ich-Gedächtnis. Dabei ist wesentlich,<br />

dass wir eine Erzählung unseres Lebens konstruieren, die wir anderen oder auch uns<br />

selbst mitteilen können. Hierbei werden die Erinnerungen geordnet und ihnen wird<br />

Bedeutung zugewiesen, was entscheidend für unsere Identitätsbildung ist und<br />

Perspektiven für die Zukunft bereitstellt. 97 Die Germanistin Gabriele Michel beschreibt<br />

diesbezüglich das biographische Interview als eine Situation, die für die<br />

Auseinandersetzung mit der eigenen Identität prädestiniert ist, und fasst das Erzählen<br />

der Lebensgeschichte ebenfalls als (Re-)Konstruktion der Identität des Sprechenden<br />

93 Vgl.: Hermann, Thomas/Hanetseder, Christa: „Jugendliche mit Migrationshintergrund: heimatliche,<br />

lokale und globale Verortungen“. In: Bonfadelli, Heinz et al. (Hg.): Medien und Migration. Europa als<br />

multikultureller Raum. Wiesbaden, 2007, S. 238 f.<br />

94 Vgl.: Frieben-Blum (Hg.), 2000, S. 232.<br />

95 Vgl.: Greverus, 1979, S. 161 f.<br />

96 Hierbei ist ‚persönlich‘ dahingehend konnotiert, dass es sich um Erinnerungen handelt, die sich auf<br />

einen einzelnen Menschen beziehen. Gerade in der Interviewsituation bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> zeigt<br />

sich jedoch, inwiefern diese Vorgänge von anderen beeinflusst werden.<br />

97 Vgl.: Assmann, Aleida: „Wie wahr sind unsere Erinnerungen“. In: Welzer, Harald et al. (Hg.):<br />

Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung.<br />

Stuttgart, 2006, S. 95 f.<br />

21


auf. Im Falle der Rekonstruktion kommt bereits Bestehendes zum Ausdruck, im Falle<br />

der Konstruktion werden Teile der Identität erst gestaltet und geschaffen. Beides findet<br />

untrennbar im Erzählvorgang statt. 98<br />

Die Gegenwart bestimmt über die Art der Erzählstruktur 99 und das jeweilige darin<br />

inhärente Selbstbild. Sie verändert unsere subjektive Erinnerung an die<br />

Vergangenheit. 100 Im Einzelnen wird dieser Vorgang stark durch die jeweilige<br />

Befindlichkeit des Erzählenden und den Kontext, also auch die Interviewsituation,<br />

beeinflusst. 101<br />

Wenn in neueren Identitätskonzepten Widersprüche und Inkonsistenz berücksichtigt<br />

werden und der Fokus darauf liegt, inwiefern Menschen kreativ für sich ein stimmiges<br />

Muster entwickeln, dann muss sich dieses in ihren Erzählungen bzw.<br />

Ordnungsversuchen spiegeln. Frühere Vorstellungen dazu, die bei biographischen<br />

Erzählungen in der Regel von der Herstellung einer Kohärenz und<br />

Widerspruchsfreiheit ausgingen, gehen in einem aktuellen Biographiekonzept mit auf:<br />

Diesem liegt zugrunde, dass die Lebenserfahrungen zu mehr oder weniger<br />

widersprüchlicher Erlebnisverarbeitung aufgeschichtet werden. 102 Insgesamt gilt, dass<br />

Menschen, die in ihrem Leben Veränderungen und Umstellungen ausgesetzt waren,<br />

eher in der Lage sind, über ihr Leben zu erzählen. Das hängt damit zusammen, dass sie<br />

verstärkt auf Reibungspunkte stoßen und damit unter größeren Reflexionsdruck<br />

geraten. 103<br />

Wenn wir von unserer Lebensgeschichte berichten, ist ein bedeutendes<br />

Selektionskriterium die Erzählbarkeit. 104 Für diese Arbeit wird zugrundegelegt, dass in<br />

den zu untersuchenden Interviews eine bestimmte Atmosphäre und emotionale<br />

Besetzung von Objekten, Menschen und Landschaften ohne die Frage <strong>nach</strong> den Farben<br />

in geringerem Maße mitteilbar wäre.<br />

98 Vgl.: Michel, Gabriele: Biographisches Erzählen. Zwischen individuellem Erlebnis und kollektiver<br />

Geschichtentradition. Untersuchung typischer Erzählfiguren, ihrer sprachlichen Form u. ihrer<br />

interaktiven u. identitätskonstituierenden Funktion in Geschichten u. Lebensgeschichten. Tübingen,<br />

1985, S. 78.<br />

99 Vgl.: ebd. S. 79.<br />

100 Vgl.: Fuchs-Heinritz: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. 2.,<br />

überarb. und erweit. Auflage. Wiesbaden, 2000, S. 51.<br />

101 Vgl.: Kast, Verena: „Wurzeln und Flügel. Zur Psychologie von Erinnerung und <strong>Sehnsucht</strong>“. In:<br />

Neuen, Christiane (Hg.): <strong>Sehnsucht</strong> und Erinnerung. Aufbruch zu neuen Lebenswelten. Düsseldorf, 2006,<br />

S. 12.<br />

Dass Erinnerung sich verändert, weist auf ihre Beschaffenheit als kreativem, die Phantasie betreffenden<br />

Akt hin.<br />

102 Vgl.: Apitzsch, Ursula et al.: „Die Biographienforschung – kein Artefakt, sondern ein Bildungs- und<br />

Erinnerungspotential in der reflexiven Moderne“. In: Bukow et al. (Hg.), 2006, S. 57.<br />

103 Vgl.: Fuchs-Heinritz, 2000, S. 58 f.<br />

104 Vgl.: ebd. S. 59.<br />

22


4.2 Erinnerung, Gefühl und <strong>Sehnsucht</strong><br />

Grundsätzlich erinnern wir nur, was von gefühlsmäßiger Bedeutung für uns war, und<br />

indem wir erinnern und erzählen, kommt es auch zu einem aktuellen emotionalen<br />

Erleben. „(…) [W]ir versetzen (…) uns in gewesene Situationen mit Gefühlen und<br />

Vorstellungen hinein – und so werden sie gegenwärtig.“ 105 Für die Psychologin Verena<br />

Kast ist diese Verbindung zu unseren Emotionen der entscheidende Zugang zu unseren<br />

Wurzeln und damit unserer Identität beim Erinnern. Unter anderem sind Wurzeln dabei<br />

für sie in Form der geographischen Heimat und Familie gegeben. 106<br />

Wie oben dargelegt, bemerkt Jacobi bezüglich ihrer Arbeit mit der Bilddiagnostik, dass<br />

mittels Farben das Denken umgangen werden kann und dadurch eine direkte<br />

Verbindung zu Gefühlen entsteht. In der Übertragung dieses Gedankens auf die<br />

Vorgehensweise bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> wird daher angenommen, dass die Frage<br />

<strong>nach</strong> Farben den bewusst-verbalisierten Modus der Erinnerung in den Interviews<br />

ergänzt: Diese können mit Erinnerungen in Verbindung stehen, bei denen starke<br />

Gefühle von Bedeutung sind. Auch binden die Künstlerinnen somit die<br />

Erinnerungsfähigkeit auf sinnlich-leiblicher <strong>Ebene</strong> ein. Nach dem Psychoanalytiker<br />

Christopher Bollas wird durch Projektionen auf Orte, Dinge etc. und deren<br />

Rückwirkung auf uns durch ihre strukturelle Eigenart 107 bei Wiederbegegnung mit<br />

ihnen ein „(…) innere[r] seelische[r] Zustand voller Bilder, Gefühle und starker<br />

körperlicher Empfindungen“ 108 wachgerufen. Ein solches Erlebnis ist nicht sprachlich<br />

mitteilbar 109 , zumindest nicht in voller Intensität. In den untersuchten Interviews liegt<br />

allerdings kein Auslöser in Form des ursprünglichen Reizes vor, sondern nur die Frage<br />

<strong>nach</strong> Farben, deshalb kann eine solche ‚Begegnung‘ hier nur rein imaginativ<br />

verlaufen. 110<br />

105 Siehe: Neuen (Hg.), 2006, S. 14.<br />

106 Vgl.: ebd. 10 f., 16.<br />

Obwohl das Erinnerte, wie oben angemerkt, keineswegs dem tatsächlich Erlebten entspricht, ist <strong>nach</strong><br />

Kast das subjektive Gefühl entscheidend, das dies so sei. (Vgl.: ebd. 12 ff.)<br />

107 Wozu auch die Farbe gehören kann, für die spezielle Wechselwirkungen bereits skizziert wurden:<br />

Bollas nennt hier beispielsweise eine rote Eisenbahn, die er allerdings nur im Film sieht. (Vgl.: Bollas,<br />

Christopher: Genese der Persönlichkeit. Stuttgart, 2000, S. 25)<br />

108 Siehe: Bollas, 2000, S. 11.<br />

109 Vgl.: ebd. S. 11 f.<br />

Die vom ihm dargelegte Erinnerungsform beschreibt Aleida Assmann als Mich-Gedächtnis, wobei sie<br />

einen anderen Fokus hat als Bollas und ihre Thesen diesbezüglich einen zu starren Rahmen für diese<br />

Arbeit bilden. (Vgl.: Welzer (Hg.), 2006, S. 95 ff.)<br />

110 Die Frage, inwiefern das Zeigen der Farben annährend einen solchen Reiz darstellt, wird in Fußnote<br />

196 wieder aufgegriffen.<br />

23


Die psychische Verbindung zu einem identitätsstiftenden Ort zeigt sich allgemein in<br />

der Erinnerung an und in der <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> diesem. 111 Die Literaturwissenschaftlerin<br />

Heidi Gidion hebt anhand literarischer Beispiele die kreative Kraft hervor, die durch<br />

<strong>Sehnsucht</strong> hervorgerufen wird. Dabei beschreibt sie zwei Richtungen, die diese<br />

einschlagen kann: „[S]ei’s [sic] <strong>nach</strong> vorwärts gerichtet in ein fernes Unbekanntes oder<br />

erträumt Utopisches, sei’s zurückgewandt als Erinnerung an ein von früher her<br />

Vertrautes (...).“ 112 Letztere ist für sie auch gleichbedeutend mit Heimweh und bewegt<br />

immer wieder zum Erzählen. 113 Im Gegensatz zu der in Abschnitt 3.2.1 dargelegten<br />

Auffassung von Hilgers, die Heimweh als etwas Negatives, zu Überwindendes begreift,<br />

schreibt Gidion also Heimweh und <strong>Sehnsucht</strong> kreatives Potential zu.<br />

5 Interviews<br />

5.1 Einführung<br />

Die Künstlerinnen haben in der zweiten Hälfte des Jahres 2006 insgesamt 42<br />

Interviews geführt, wobei zum Teil zwei und in einem Fall drei Frauen zusammen<br />

befragt wurden. Es fanden jeweils ein oder zwei Treffen statt. Sie haben sowohl Frauen<br />

mit Migrationshintergrund befragt, die in Deutschland geboren wurden oder im<br />

Kleinkindalter hierher kamen als auch solche, die erst im späteren Verlauf ihres Lebens<br />

hierher gekommen sind. Unter den Teilnehmerinnen waren Jugendliche, Frauen<br />

mittleren Alters und Seniorinnen. Die Tatsache, dass Milica Reinhard ebenfalls <strong>nach</strong><br />

Deutschland eingewandert ist und ihr selber ein Lebensstil als ‚Nomade‘ bekannt ist,<br />

hatte <strong>nach</strong> Verkerk positive Auswirkungen in Hinblick auf eine vertrauensvolle<br />

Interviewatmosphäre. Zudem seien sie beide ebenfalls Frauen und Mütter. 114<br />

Die Gespräche sind durch Offenheit gekennzeichnet, allerdings ging es den<br />

Künstlerinnen speziell darum, Farben zu ermitteln, die für die Frauen eine besondere<br />

Bedeutung haben und im Laufe ihres Lebens hatten. Dabei wurden die<br />

Lebensgeschichten der Frauen und insbesondere ihre Erinnerungen an für sie wichtige<br />

Orte außerhalb Deutschlands thematisiert 115 , die größtenteils mit persönlichen oder<br />

111 Vgl.: Kwon, 2004, S. 165.<br />

112 Siehe: Gidion, Heidi: „Auf der Suche <strong>nach</strong> der verlorenen Zeit. Produktivkraft Erinnerung“. In:<br />

Neuen (Hg.), 2006, S. 207.<br />

113 Vgl.: ebd. S. 207.<br />

114 Vgl.: Anhang A, I 1, Min. 8, 34 - 10,50.<br />

115 Eine Ausnahme bilden einige der Frauen ohne Migrationshintergrund, die allerdings meist innerhalb<br />

Deutschland umgezogen sind: Aber es gibt auch hier Sonderfälle wie die Herkunft aus dem ehemaligen<br />

Ostpreußen oder der früheren DDR.<br />

24


familiären Herkunftsorten zusammenfallen. Es kamen konkret mit diesen Orten<br />

verbundene Objekte, Landschaften und Menschen zur Sprache. Gleichzeitig erzählten<br />

sie über ihre aktuelle Lebenssituation in <strong>Hagen</strong> und ihre Bindung an die Stadt. Auch<br />

ihre Zukunftsvorstellungen wurden angesprochen.<br />

Die entsprechenden Farben wurden – im Laufe der Interviews oder gegen Ende – auf<br />

einer Farbskala mit 475 Auswahlmöglichkeiten gezeigt. 116<br />

Aus den 18 für diese Arbeit vorliegenden Interviews wurden beispielhaft vier<br />

ausgewählt, aus denen Ausschnitte im Folgenden zusammengefasst und vor dem oben<br />

dargelegten theoretischen Hintergrund analysiert werden. Dies erfolgt beim ersten<br />

betrachteten Interview bezogen auf eine Einzelperson etwas ausführlicher, die übrigen<br />

Darstellungen sind in unterschiedlichem Maße kürzer gefasst. Dabei wurde der Name<br />

der jeweiligen Interviewpartnerin verändert. Es sind keine Informationen bezüglich der<br />

Vorgespräche gegeben, so dass deren Einfluss auf den aufgezeichneten Teil der<br />

Interviews nicht berücksichtigt werden kann.<br />

5.2 Analyse der Interviews<br />

5.2.1 Inês Marques Gomes<br />

Inês Marques Gomes kam 1975 im Alter von drei Jahren <strong>nach</strong> Deutschland. Als das<br />

Interview geführt wurde, war sie 33. Der Vater war wegen einer Arbeitsstelle <strong>nach</strong><br />

Deutschland ausgewandert und so war die gesamte Kernfamilie <strong>nach</strong> Haspe in <strong>Hagen</strong><br />

gezogen. In diesem Stadtteil lebt sie noch heute. Bis zum 20. Lebensjahr hat sie jedes<br />

Jahr in den Ferien fünf bis sechs Wochen in Portugal verbracht. Sie ist mit einem<br />

Portugiesen verheiratet, den sie in <strong>Hagen</strong> kennen gelernt hat. 117<br />

An ihre ersten Lebensjahre in Portugal hat sie keine bewussten Erinnerungen. 118 Als<br />

eine Urlaubserinnerung an Portugal, die sie mit Farbe verbindet, nennt sie ihr erstes<br />

Weih<strong>nach</strong>tsfest dort im Alter von sechs Jahren. Ihr habe die weiße Farbe des Schnees<br />

aus Deutschland gefehlt „(…) [u]nd dann war das für mich auch fremd in Portugal.<br />

116 Neben der notwendigerweise eingeschränkten Anzahl an auswählbaren Farben, muss darauf<br />

verwiesen werden, dass auch unser Erinnerungsvermögen bezüglich Farben eingegrenzt ist. Mangelnde<br />

verbale Beschreibungsmöglichkeiten können allerdings bis zu einem gewissen Grad durch das Zeigen<br />

kompensiert werden. Teilweise bezogen sich die Frauen auf Farben, die zwischen verschiedenen<br />

Auswahloptionen lagen. Zum Umgang der Künstlerinnen mit solchen ‚Zwischenfarben‘ vergleiche<br />

Fußnote 200.<br />

117 Vgl.: Anhang B, Interview 4 mit Inês Marques Gomes, S. 7 ff.<br />

Dass sie noch immer in dem gleichen Stadtteil lebt, lässt sich aus ihrer aktuellen Adresse entnehmen.<br />

118 Vgl.: ebd. S. 8.<br />

25


Meine eigene Heimat war für mich fremd, weil ich keinen Schnee gesehen habe.“ 119<br />

Alles sei grün gewesen und habe auch <strong>nach</strong> Eukalyptus gerochen. 120<br />

In dieser Erinnerung zeigt sich die Wechselwirkung zwischen ihr und den Farben der<br />

Umgebung: Die entscheidend durch diese hervorgerufene Stimmung in Portugal war<br />

signifikant anders, als in <strong>Hagen</strong> üblicherweise zur Weih<strong>nach</strong>tszeit. Hierbei erwähnt sie<br />

auch die Verbindung zu anderen sinnlichen Wahrnehmungsmodi. In den drei Jahren in<br />

<strong>Hagen</strong> hat sie sich an die dortige Umgebung gewöhnt und diese emotional besetzt, was<br />

zu Fremdheitsgefühlen gegenüber ihrem Geburtsland geführt hat. Dadurch, dass sie<br />

Portugal als ihre Heimat benennt, wird deutlich, dass sie konkrete ortsgebundene<br />

Gefühle und Erfahrungen in den nationalen Kontext einordnet.<br />

Sie berichtet zudem von Bootstouren, die sie als Kind mit ihrem Onkel, einem Fischer,<br />

immer am frühen Morgen unternommen hat. Dabei erinnert sie sich an die<br />

verschiedenen Farbschattierungen des Meeres von Schwarz, über Dunkelblau, Hellblau<br />

und Türkis bis zu Braun-Blau am Strand. Dies sei in Erinnerung geblieben, weil es das<br />

hier nicht gebe. 121 An einer späteren Stelle sagt sie, dass sie heute unter anderem das<br />

Meer, die Sonne und die Berge Portugals vermisse. 122<br />

Durch ihre Urlaubsaufenthalte in Portugal hat auch die dortige physische Umgebung<br />

eine Bedeutung für sie.<br />

Allerdings nennt sie ihre Großeltern als Hauptgrund, warum sie immer <strong>nach</strong> Portugal<br />

gewollt habe. Wegen dieser habe sie auch vornehmlich schöne Erinnerungen an das<br />

Land, denn sie und ihre Geschwister wurden von den Großeltern geliebt und dort<br />

besonders gut behandelt: 123 „Weil, wir waren ja halt in Portugal die Ausländer, hier<br />

sind’s zwar auch die Ausländer, aber wenn wir kamen, waren wir für die die Könige.<br />

Sozusagen.“ 124<br />

Ihre Bindung an Portugal, konkret an den Wohnort ihrer Großeltern, der in der Nähe<br />

ihrer Geburtsstadt liegt 125 , ist maßgeblich durch familiär-soziale Beziehungen und<br />

Erinnerungen an diese geprägt. 126 Zudem ist hier die Bemerkung interessant, dass sie<br />

sowohl in der Wahrnehmung der Menschen in Portugal als auch in Deutschland<br />

Ausländerin ist.<br />

119 Siehe: ebd. S. 11.<br />

120 Vgl.: ebd. S.11.<br />

121 Vgl.: ebd. S. 11.<br />

122 Vgl.: ebd. S. 18.<br />

123 Vgl.: ebd. S. 10, 14 f.<br />

124 Siehe: Anhang B, I 4, S. 14.<br />

125 Vgl.: ebd. S. 13.<br />

126 Ihre Großeltern sind fünf Jahre vor dem Interviewzeitpunkt verstorben. (Vgl.: ebd. S. 10)<br />

26


Sie betont, dass ein Teil von ihr immer in Portugal sei und bemerkt: „(…) [D]as bleibt<br />

mein Land. Ich lebe nur hier.“ 127 Deswegen möchte sie nicht die deutsche<br />

Staatsbürgerschaft annehmen, allerdings richte sie sich <strong>nach</strong> Deutschland. 128 Fremd<br />

fühle sie sich in Portugal nicht, dies liege nicht nur an der Familie 129 , sondern unter<br />

anderem auch daran, dass sie portugiesisch spreche und sie jetzt auch mit dem Geld<br />

umgehen könne, weil es genau wie in Deutschland sei. 130<br />

Hier zeigt sich, dass für sie die portugiesische Staatsangehörigkeit und Sprache<br />

wichtige Bindeglieder zu Portugal darstellen. Während sie durch das<br />

Possessivpronomen ein Zugehörigkeitsgefühl ausdrückt, bewertet sie ihr Verhältnis zu<br />

Deutschland pragmatisch. Zudem ist bemerkenswert, dass sie die<br />

Währungsangleichung im Rahmen der EU als Argument gegen Fremdheitsgefühle<br />

nennt. Dadurch wird fehlende Alltagspraxis für sie unwichtiger.<br />

Andererseits sagt sie, dass Portugal in ihrem Leben ein schönes Land zum Urlaub<br />

machen war und ist, aber sie und ihr Mann auch in Zukunft nicht dort wohnen möchten.<br />

Dies begründet sie unter anderem damit, dass sie ein Haus gebaut hätten und ihr Leben<br />

in <strong>Hagen</strong> sei, wo sie zudem den größten Teil ihres Lebens verbracht habe. Obwohl sie<br />

und ihr Mann in Portugal gute Arbeitsstellen finden könnten, möchte sie nicht von<br />

vorne anfangen und insbesondere ihre fünfjährige Tochter nicht von ihrem Leben und<br />

ihren Freunden in Deutschland trennen. Sie selbst sei froh, dass sie so jungem Alter<br />

gekommen sei 131 , „(…) [w]eil, wo man anfängt, ist da, wo der Kindergarten<br />

anfängt“ 132 . An anderer Stelle sagt sie, dass sie an ihre Grund- und Vorschulzeit keine<br />

negativen Erinnerungen im Sinne von Fremdheitserfahrungen habe, sie wurde lediglich<br />

später eingeschult, weil sie noch kein Deutsch konnte. 133 Zu ihrem Freundeskreis, der<br />

bis heute besteht, gehörten bis zu ihrem 18. Lebensjahr nur Portugiesinnen, später auch<br />

Frauen aus anderen Herkunftsländern, darunter auch Deutsche. 134<br />

127 Siehe: ebd. S. 9.<br />

128 Vgl.: ebd. S. 9.<br />

129 Von noch lebenden Familienmitgliedern in Portugal berichtet sie im Interview nicht, als weitere<br />

Verwandtschaft taucht nur der Onkel in der Kindheitserinnerung auf.<br />

130 Vgl.: ebd. S. 18 f.<br />

131 Vgl.: ebd., S. 9, 16.<br />

132 Siehe: ebd. S. 18.<br />

133 Vgl.: Anhang B, I 4, S. 16.<br />

134 Vgl.: ebd. S. 24.<br />

27


Ihre Eltern werden als Rentner in einigen Jahren zusammen mit ihrem Bruder <strong>nach</strong><br />

Portugal zurückgehen, wo sie ein Haus besitzen. 135<br />

In diesem Abschnitt wird deutlich, dass sie im Hinblick auf ihre Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft ihren Lebensmittelpunkt in <strong>Hagen</strong> verortet. Dabei bewertet sie<br />

ihren Lebensverlauf bezüglich Freundschaftsnetzwerken und der Eingliederung in<br />

öffentliche Bildungseinrichtungen positiv. Im Sinne der symbolischen Ortsbezogenheit<br />

kann sie sich eine Zukunft nur hier vorstellen, was sich signifikant am Hausbau<br />

festmacht. Im Gegensatz dazu scheint bei den Eltern eine Bindung an Portugal<br />

vorzuliegen, die zum Rückzug bewegt. Explizit verweist sie auf die sozialen<br />

Beziehungen ihrer Tochter, aber auch ihre eigenen wichtigsten Sozialkontakte sind in<br />

<strong>Hagen</strong>. Das zunächst ausschließliche Zusammensein mit Portugiesinnen wie auch die<br />

Hochzeit mit einem Portugiesen deuten darauf hin, dass sie die Verbindung zu<br />

Aspekten portugiesischer Kultur – wie der Sprache – auch auf diese Weise<br />

aufrechterhielt und -erhält.<br />

Sie fasst folgendermaßen zusammen:<br />

„[Deutschland und <strong>Hagen</strong> sind] meine zweite Heimat. Also, meine erste Heimat ist zwar<br />

Portugal, weil ich da geboren bin. Da bin ich halt geboren. Aber, das ist sozusagen meine<br />

zweite Heimat, die... Es ist meine zweite Heimat, aber meine Heimat, die ich für immer<br />

bleiben möchte. (...) Aber die andere möchte ich nicht vermissen. (...) Da möchte ich<br />

immer wieder hin. (...) Nee, das bleibt so. Ich war jetzt 2 Jahre nicht in Portugal und ich<br />

vermisse Portugal. (...) Das ist anders. Die Luft ist anders. Die Menschen sind anders. Das<br />

Leben ist anders. Sogar das Fleisch ist anders da! So Kleinigkeiten. Es ist alles anders. Das<br />

sind Sachen, wo man vielleicht, so aus einer Welt raus möchte. Wo man die ganze Zeit,<br />

man möchte sich in eine andere Welt, so eine Vorstellung.“ 136<br />

Hier formuliert Inês Marques Gomes explizit ihre multiplen Orts- und Länderbezüge.<br />

Ihre Beziehung zu Portugal, ‚ihrem‘ (Geburts-)Land, dessen Staatsangehörigkeit sie<br />

besitzt und dessen Sprache sie vermutlich auch in Deutschland spricht, scheint sie wie<br />

selbstverständlich als heimatartig einzuordnen. Dies ist für sie konkret auch durch an<br />

einen Ort gebundene positive soziale Erlebnisse und die emotionale Besetzung der<br />

Umwelt bestimmt und wird in ihren Erinnerungen und dem Vermissen deutlich,<br />

obwohl sie dort nie ihren Lebensmittelpunkt hatte. Diese Verbindung möchte sie nicht<br />

missen bzw. die <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> Portugal mildern. Dabei fungierte der Urlaub in<br />

135 Vgl.: ebd. S. 21.<br />

Sie hat eine sehr schlechte Beziehung zu ihrem Vater, so dass sie den Kontakt abgebrochen hat. Über die<br />

Beziehung zur Rest-Familie macht sie kaum Angaben, aber sie erwähnt nicht explizit einen<br />

Kontaktabbruch. Das Verhältnis zu den Geschwistern beschreibt sie aber als fürsorglich und auf Kontakt<br />

zur Schwester lässt sich indirekt schließen. Ihr Wohnort wird nicht genannt. (Vgl.: ebd. S. 22 f., 26 f.)<br />

Aufgrund der ungenauen Angaben und auch des Wohnortwechsels der Eltern kann hier nicht festgestellt<br />

werden, inwiefern die Bindung an die Familie ihre Beziehung zu <strong>Hagen</strong> beeinflusst beziehungsweise wie<br />

sich der Wegzug von Familienmitgliedern auf ihr Verhältnis zu Portugal auswirkt.<br />

136 Siehe: ebd. S. 18.<br />

28


Portugal als eine Alternative zum Alltag in Deutschland. Den Status als Ausländerin<br />

nimmt sie in diesem Fall als vorteilhaft wahr. In obigem Zitat wird deutlich, dass<br />

Portugal imaginativ weiterhin eine Fluchtoption aus ihrem ‚normalen‘ Leben in<br />

Deutschland ist. 137<br />

Dass sich in ihrer Beziehung zu Deutschland Pragmatismus zeigt, hängt wohl auch mit<br />

deren alltäglichem Charakter zusammen. 138 Durch die Weih<strong>nach</strong>tserinnerung, sozialfamiliäre<br />

Bindungen und Zukunftspläne wird die Beschreibung <strong>Hagen</strong>s und<br />

Deutschlands als ihrer zweiten, auch gefühlbesetzten Heimat, deren Sprache sie längst<br />

spricht, untermauert. Es wird allerdings deutlich, dass sie sich dort auch als<br />

Ausländerin wahrgenommen fühlt, was auf Brüche zwischen ihrer Identifikation und<br />

Zuschreibungen anderer hinweist.<br />

5.2.2 Fernanda Pohlmann<br />

Fernanda Pohlmann ist 53 Jahre alt und wurde in Kolumbien geboren. In Kolumbien<br />

hat sie an verschiedenen Orten gelebt. So kam sie beispielsweise mit acht Jahren in ein<br />

Internat. Später hat sie in einer deutschen Firma gearbeitet. Das führte dazu, dass sie<br />

nur mit Deutschen befreundet war. Als sie diese in Deutschland besuchte, lernte sie<br />

ihren heutigen Ex-Mann kennen und zog 1974 mit 21 Jahren hierher. 139 Sie versucht<br />

jedes Jahr <strong>nach</strong> Kolumbien zu fliegen. 140 In ihrer Freizeit malt sie. 141<br />

Es werden in ihrer Erzählung multiple Ortsbezüge innerhalb Kolumbiens deutlich.<br />

Zudem ist interessant, dass sie bereits in Kolumbien über ihre Arbeit in einem<br />

transnational agierenden Unternehmen einen ersten Bezug zu Deutschland hatte,<br />

beispielsweise muss sie dort auch mit der deutschen Sprache in Kontakt gekommen<br />

sein. Dies konkretisiert sich vor allem über die Freundschaften, die letztlich auch<br />

137 Nach dem Ethnologen Arjun Appadurai imaginieren sich mittels (globaler) Mediensysteme die<br />

meisten Menschen auch ohne Migrationshintergrund andere potentielle Leben für sich. (Vgl.: Appadurai,<br />

Arjun: „Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen<br />

Anthropologie“. In: Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a. M., 1998, S. 20<br />

ff.)<br />

138<br />

Es findet sich abermals Pragmatismus, wenn sie hervorhebt, dass ihr in Portugal die Sicherheit in<br />

Form von Krankenkassen und Mutterschutz fehlen würde, die es in Deutschland gibt. (Vgl.: Anhang B, I<br />

4, S. 17)<br />

139 Vgl.: Anhang B, Interview 5 mit Fernanda Pohlmann, S. 42 ff., 47, 49 f.<br />

140 Vgl.: ebd. S. 58.<br />

141 Fernanda Pohlmann hat eine besondere Beziehung zu Farben: „Farben sind für mich – davon lebe<br />

ich.“ (Siehe: ebd. S. 61) Sie ist Sozialpädagogin und betreut psychisch kranke Jugendliche. Zum<br />

Interviewzeitpunkt machte sie eine Zusatzausbildung als Kunsttherapeutin. Damals arbeitete sie aber<br />

bereits mit Farben, weil sie so besser mit den Jugendlichen kommunizieren könne als über die deutsche<br />

Sprache, mit der sie Schwierigkeiten habe. (Vgl.: ebd. S. 42)<br />

29


mittelbar zu ihrem Umzug <strong>nach</strong> Deutschland führten, wo sie den größten Teil ihres<br />

Lebens verbracht hat.<br />

Sie beschreibt Kolumbien als das Land, wo das Grün tausend Farben habe und<br />

bezeichnet dieses als üppig und satt. Auch gebe es abhängig vom Aufenthaltsort sehr<br />

viele unterschiedliche rote Farbnuancen der Blumen. 142<br />

Wenn sie heute <strong>nach</strong><br />

Kolumbien fahre, nehme sie die Farbenpracht ihrer Umgebung stärker wahr, während<br />

dies früher selbstverständlich gewesen sei.<br />

„(…) [W]eil ich das hier nicht habe, ja. Also schon, ne Also, das ist, sagen wir, in<br />

Deutschland sieht man natürlich, wenn ich in Wald geh, klar. Je <strong>nach</strong>dem was für<br />

Jahreszeiten, kann das auch schon, schon Erinnerungen von, äh,äh, aufwecken.“ 143<br />

Zwar fokussiert sie an dieser Stelle Wahrnehmungsveränderungen, aber es deutet sich<br />

auch an, dass ihre aktuelle Farb-Umwelt durch Assoziationen mit den Farben der<br />

Umgebung in Kolumbien Erinnerungen an diese und entsprechende Situationen etc.<br />

evozieren kann. Hierbei zeigt sich die Wechselwirkung zwischen auslösendem Effekt<br />

der Farben und Projektion durch den Menschen.<br />

Sie sei froh, dass sie in <strong>Hagen</strong> so nah am Wald lebe, wo sie immer spazieren gehen<br />

könne. Über die Stadt sagt sie: „<strong>Hagen</strong> hat eine Geschichte. Für mich.“ 144 Sie lebe<br />

schon seit 1976 dort, und während es früher aufgrund der Industrie grau gewesen sei,<br />

habe sich das Bild mittlerweile positiv verändert. Sie möge <strong>Hagen</strong> und fühle sich<br />

wegen ihres guten Freundeskreises mit der Stadt verbunden. Sie lebe schon lange im<br />

Stadtteil Wehringhausen, in dem die Menschen sich kennen. Durch die Menschen mit<br />

denen sie zu tun habe, entstehe eine Lebendigkeit, und diese Beziehungen hätten auch<br />

mit Farben zu tun. Um diese zu beschreiben, verweist sie auf die Farben, in denen sie<br />

ihren Wohnraum gestaltet hat: Orange, Ocker, Rot und Grün. Aufgrunddessen bemerke<br />

sie das Grau nicht, das durch das Wetter doch gegeben sei. Man könne sich selber<br />

Farben geben und so Lebendigkeit schaffen. 145<br />

Fernanda Pohlmann bewertet die Nähe zur Natur an ihrem Wohnort positiv und<br />

identifiziert sich mit <strong>Hagen</strong> dadurch, dass sie schon lange dort bzw. in einem<br />

bestimmtem Viertel lebt. Dieser Ortsbezug ist für sie durch soziale Beziehungen<br />

geprägt. Sie hat ihren Wohnraum in von ihr als lebendig empfundenen Farben gestaltet,<br />

wobei die Wechselwirkung zwischen ihr und der farbigen Umgebung abermals deutlich<br />

wird. Gleichzeitig projiziert sie diese persönlich besetzten Farben auf<br />

142 Vgl.: Anhang B, I 5, S. 44, 47.<br />

143 Siehe: ebd. S. 47.<br />

144 Siehe: ebd. S. 51.<br />

145 Vgl.: ebd. S. 51.<br />

30


zwischenmenschliche Verbindungen bzw. nutzt sie als Bilder, um diese zu beschreiben.<br />

Dabei vermischen sich in ihrer Darstellung die <strong>Ebene</strong>n Farbe des Wohnraums und der<br />

Freundschaften, aber die kompensatorische Wirkung der Farben gegenüber negativ<br />

besetzten grauen Aspekten der physischen Umgebung bezieht sich wohl auf beides.<br />

Wenn sie in Kolumbien sei, habe sie <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> Deutschland und hier umgekehrt.<br />

Als Rentnerin würde sie gerne zwischen Kolumbien und Deutschland pendeln.<br />

Bezüglich der Zukunft in Südamerika sagt sie: „Ich habe ein bestimmtes Bild<br />

irgendwie, auch so was ich irgendwo in Kolumbien irgendwie Haus irgendwie, wo es<br />

sehr üppig auch ist. Wo man malen kann.“ 146<br />

Es wird deutlich, dass sie sowohl zu Kolumbien als auch zu Deutschland eine<br />

gefühlsmäßige Bindung hat, wobei sich ein damit zusammenhängender konkreter<br />

Ortsbezug im Fall <strong>Hagen</strong>s gezeigt hat. Ein solcher bleibt für Kolumbien unklar, in ihren<br />

Erinnerungen kommen mehrere Orte vor, und es kristallisiert sich keine bedeutende<br />

Rolle der in Kolumbien lebenden Familie diesbezüglich heraus. 147 In ihrer Zukunft<br />

verortet sie sich zwischen beiden Ländern. Für diese Perspektive erschafft sie sich in<br />

Kolumbien imaginativ einen Ort. Dabei zeigt sich eine Vermischung beider Richtungen<br />

der <strong>Sehnsucht</strong>, die Gidion beschreibt: Die üppige Umgebung dieses Ortes ist ihr aus<br />

ihrer Vergangenheit und ihren Erinnerungen vertraut. Gleichzeitig hat der Ort einen in<br />

die Zukunft gerichteten erträumt-unbekannten Charakter und ist nicht tatsächlich<br />

geographisch lokalisierbar.<br />

5.2.3 Hayat Güler und Jennifer Berg<br />

Hayat Güler und Jennifer Berg sind zusammen interviewt worden und beschreiben sich<br />

als „beste Freundinnen“ 148 . Sie sind 18 und 19 Jahre alt. 149 Beide leben in<br />

Altenhagen. 150 Zunächst werden die Hayat Güler betreffenden Ausschnitte näher<br />

betrachtet, gegen Ende kürzer diejenigen bezüglich Jennifer Berg.<br />

Hayat Güler erzählt, dass sie, wenn es in der Stadt vom Regen grau ist, <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong><br />

ihrem „Heimatland“, der Türkei, fühle. Weil „(…) es in meinem Dorf um die gleiche<br />

Jahreszeit heller sein könnte und noch fröhlicher und noch bunter. So denke ich mir das<br />

146 Siehe: Anhang B, I 5, S. 53 f.<br />

147 Vgl.: ebd. S. 47, 53.<br />

148 Siehe: Anhang B, Interview 6 mit Hayat Güler und Jennifer Berg, S. 72.<br />

Die für diese Arbeit vorliegende Interviewaufzeichnung setzt im Gespräch ein, der Anfang fehlt.<br />

149 Vgl.: ebd. S. 74.<br />

150 Vgl.: Anhang B, I 6, S. 73, 6, 85. Dies ist in den Interviews missverständlich thematisiert, weil beide<br />

innerhalb des Stadtteils umgezogen sind. Nach Angaben von Milica Reinhart zählen die gegenwärtigen<br />

Wohnorte ebenfalls zu Altenhagen.<br />

31


dann.“ 151 Aber vor allem falle ihr in solchen Augenblicken ihre kranke Großmutter dort<br />

ein, die sie gerne öfter als einmal im Jahr sehen würde, wenn sie die gesamten<br />

Sommerferien dort verbringt. 152 Sie vermissten sich gegenseitig sehr und<br />

telefonierten. 153 Zudem habe sie eine gute Beziehung zu den jüngeren Cousinen ihres<br />

Vaters, mit denen sie ebenfalls telefoniert. 154 Als erste Farbe, die sie mit der Türkei<br />

verbinde, falle ihr das Rot-Braun der Tonerde ein, aus der in der Nähe des Wohnortes<br />

ihrer Großmutter Vasen etc. hergestellt werden und die sich auch auf dem Grundstück<br />

ihrer Großmutter finde. 155 Der zweite Gedanke sei das Rot „unserer Flagge“ 156 .<br />

Bei negativen Stimmungen durch die farbige physische Umgebung in <strong>Hagen</strong>, wird bei<br />

Hayat Güler die Imagination einer besseren Umwelt und Stimmung in ‚ihrem‘ Dorf in<br />

der Türkei geweckt. Diese Ortsbindung wird verstärkt durch die Beziehung zu ihren<br />

Verwandten, vor allem der Großmutter, wobei Kommunikationsmittel genutzt werden,<br />

um diese Vernetzungen abseits der Besuche aufrechtzuerhalten. Neben den Farben der<br />

Umgebung des Dorfes fällt ihr auch die Farbe der Flagge, also eines nationalen<br />

Symbols ein. Hierin sowie in der der Verwendung des Wortes ‚Heimatland‘ spiegeln<br />

sich kulturelle Identifikationsprozesse mit der Nation Türkei.<br />

Sie erinnert sich daran, als Kind am Meer gewesen zu sein. Heute fahre sie allerdings<br />

direkt zu ihrer Oma und nicht mehr ans Meer. Letzteres gefalle ihr jetzt weniger, weil<br />

sie aufgrund ihrer Religion nicht mehr schwimmen könne. 157 Sie vergleicht später ihre<br />

Kindheitserinnerungen mit der heutigen Situation und sagt, dass sie damals freier war:<br />

„ (…) Da hatte ich beispielsweise einen pinken Minirock. (…) In der Türkei ist es ja<br />

ziemlich warm und dann, dann ist man auch barfuß gelaufen und alles war einem ziemlich<br />

egal. Und jetzt ist man eigentlich im Verhalten ziemlich eingeschränkt. Man kann<br />

eigentlich nicht alles einfach so machen, wie in der Kindheit. Und da gibt es schon<br />

ziemlich viele Unterschiede, vor allen auch durch meine Religion, dass ich jetzt ein<br />

Kopftuch tragen muss, dass ich, ich werde jetzt langsam erwachsen. (…) Man, auch wenn<br />

ich zum Beispiel, wenn wir am Strand vorbei gegangen sind, ich bin damit direkt ins Meer<br />

gelaufen. (…) Ja, ich habe mich sehr frei gefühlt und es war einfach luftig, windig an<br />

meine Körper. Wenn ich dran denke, spüre ich das immer noch. Dieser trockene Wind, das<br />

war richtig toll. Ja.“ 158<br />

151 Siehe: ebd. S. 68.<br />

152 Vgl.: ebd. S. 68 f., 71, 81. Sie reflektiert, dass Grau eine trübe, dunkle, einengende Farbe sei, und sie<br />

diese deshalb mit ihrer kranken, allein wohnenden Großmutter verbinde. (Vgl.: ebd. S. 2)<br />

153 Vgl.: ebd. S. 83.<br />

154 Sie sagt über die Cousinen, dass diese auch verstreut irgendwo lebten. Doch sie trifft sie in der Türkei,<br />

also leben diese vermutlich an anderen Orten innerhalb des Landes. Eine andere Möglichkeit wäre, dass<br />

diese ebenfalls aus dem Ausland dorthin kommen. (Vgl.: ebd. S. 71, 81)<br />

155 Vgl.: ebd. S. 69 f.<br />

156 Siehe: ebd. S. 69.<br />

157 Vgl.: ebd. S. 70 f.<br />

158 Siehe: Anhang B, I 6, S. 77.<br />

32


Die Entscheidung, ein Kopftuch zu tragen, habe sie freiwillig getroffen, aber ihre<br />

Mutter habe sie vorher über diesen muslimischen Brauch aufgeklärt. 159 „Da fühle ich<br />

mich auch jetzt eigentlich trotzdem frei“ 160 , sagt sie diesbezüglich. An anderer Stelle<br />

äußert sie, dass sie zu Hause meist Türkisch sprächen. 161<br />

Die Erinnerung an ein farbiges, emotional besetztes Objekt löst hier laut Selbstauskunft<br />

Assoziationen und ein Wieder-Eintauchen in eine sinnliche Erfahrung und den damit<br />

verbundenen Gefühlszustand aus. Es ist bemerkenswert, dass sie dies sprachlich<br />

annähernd mitteilen kann. Sie stellt diese Situation beispielhaft für ihre Kindheit<br />

heutigen kulturell-religiösen Beschränkungen gegenüber. In diesen Ausschnitten zeigt<br />

sich ihre kulturelle Identitätsbildung durch Religion und Sprache, die durch die Familie<br />

in Deutschland vermittelt werden. Hier findet sich ein Widerspruch: Einerseits „muss“<br />

sie das Kopftuch tragen, andererseits ist es „freiwillig“.<br />

Hayat Güler ist in Deutschland geboren und merkt an, sie habe zwei Heimatländer.<br />

Kurz vorher sagt sie, dass sie nie ganz zurück in die Türkei wolle, weil sie sich hier<br />

wohl fühle und hier ihre Freundinnen und Bekannten habe. 162 Zudem würden sie in der<br />

Türkei auch als Deutsche wahrgenommen und fühlten sich dadurch „ (…) nie so<br />

richtig“ zugehörig im Sinne von „ (…) Türken oder (...) Landesmenschen, (…) [n]ur<br />

für’n Urlaub ist okay.“ 163<br />

Sie identifiziert sich mit zwei ‚Heimatländern‘. Der sozial geprägte Ortsbezug zu<br />

<strong>Hagen</strong>, wo sie implizit auch ihre Zukunft sieht, entscheidet über ihre Bindung an<br />

Deutschland. Ihre türkisch-nationale Identifikation ist mit Widersprüchen konfrontiert,<br />

denn eine solche ergibt sich ja gerade aus dem Zugehörigkeitsgefühl zu einem<br />

nationalen Kollektiv. Diese Erfahrungen nutzt sie als Argumentation, wenn sie ihren<br />

Lebensmittelpunkt in Deutschland verortet, während die Aufenthalte in der Türkei nur<br />

Urlaub sind.<br />

Sie besuche die Moschee an der Brücke in Altenhagen. Einmal sei sie mit ihrer Mutter<br />

auf dem Nachhauseweg von dort gewesen, als sie auch schon ihr Kopftuch trug. Dabei<br />

kam es zu einem rassistischen Zwischenfall mit zwei Nazis, die sie mit Bier bespuckten<br />

und dabei „ ‚Lang lebe Hitler!‘ und ‚Ausländer raus‘ und so“ 164 gesagt hätten. 165<br />

159 Vgl.: ebd. S. 77 f.<br />

160 Siehe: ebd. S. 78.<br />

161 Vgl.: ebd. S. 88.<br />

162 Vgl.: ebd. S. 68 f.<br />

163 Siehe: ebd. S. 69.<br />

164 Siehe: Anhang B, I 6, S. 89.<br />

165 Vgl.: ebd. S. 85, 89.<br />

33


Mit ihrem Stadtteil verbindet sie unter anderem dieses Erlebnis, in dem in extremer<br />

Weise die Differenz auch zwischen ihrer persönlichen Identifikation mit Deutschland<br />

und Fremdzuschreibungen hervortritt.<br />

Bezüglich grauer Farben in <strong>Hagen</strong> 166 sagt sie, dass sie diese zwar manchmal mit<br />

Traurigkeit verbinde, aber es dann auch wieder „ziemlich in Ordnung“ 167 und nicht so<br />

schlimm sei. Man gewöhne sich auch daran, und im Sommer sehe es ganz anders<br />

aus. 168 Sie beschreibt auch, dass sie die engen Straßen, den Schnee, den grauen Himmel<br />

und die Kälte in <strong>Hagen</strong> nicht wahrnehme, wenn sie und Jennifer zusammen seien. Sie<br />

hätten Spaß, alles werde bunt und „(…) [man] hat diese, diese Wärme vom Unterhalten<br />

mit der Freundin (…).“ 169 Jennifer stimmt ihr zu, und beide bringen die jeweils andere<br />

mit warmen rot-gelb-orange Tönen in Verbindung. „(…) Orange (…), irgendwie so die<br />

Wärme vom Herzen her“ 170 , umschreibt Jennifer. 171 Hayat Gülers Relativierung ihrer<br />

negativen Wahrnehmung der Stimmungen durch die <strong>Hagen</strong>er Umgebung mit Hilfe der<br />

Argumente Gewohnheit und Wechsel deutet an, dass sie auch einen Bezug zur<br />

physischen Umwelt hat. Vor allem aber betont sie, dass negative Aspekte der<br />

physischen Umwelt durch ihre befriedigende soziale Beziehung zu Jennifer<br />

kompensiert werden, was diese ebenso wahrnimmt. Synästhetische Verknüpfungen von<br />

Farbe und Temperatur zeigen sich, wenn sie beide warme Farben nutzen, um auf<br />

zwischenmenschliche, gefühlsmäßige Wärme zu verweisen, die sich auch auf das<br />

subjektive Erleben der physischen Umgebung auswirkt. 172<br />

Jennifer Berg hat immer in <strong>Hagen</strong> gelebt 173 und nennt den Ischelandteich in Altenhagen<br />

als einen bedeutenden Ort für sie in der Stadt, denn sie sei ja immer in der Nähe<br />

gewesen. Die Farbe Blau habe immer ihr Leben bestimmt, weil Wasser für sie an erster<br />

Stelle stehe. 174 Ähnliche Erinnerungen wie Hayat mit ihrem pinken Minirock verbinde<br />

sie mit Frankreich, im Einzelnen mit einem bestimmten Ort in der französischen<br />

Bretagne, wo sie sich frei fühle. Sie erinnert sich an die braunen Felsen und den Wind.<br />

166 Dieses Thema ist bereits angesprochen worden, bevor die vorliegende Interviewabschrift einsetzt. Es<br />

bezieht sich wohl auf den Gesamteindruck der Stadt. (Vgl.: ebd. S. 68 f.)<br />

167 Siehe: ebd. S. 69.<br />

168 Vgl.: ebd. S. 69.<br />

169 Siehe: ebd. S. 74.<br />

170 Siehe: ebd. S. 75.<br />

171 Vgl.: ebd. S. 68, 74 f.<br />

172<br />

Es besteht erwiesenermaßen ein Zusammenhang zwischen dem Empfinden körperlicher und<br />

zwischenmenschlicher Wärme. (Vgl.: Science Magazine: ,,Experiencing Physical Warmth Promotes<br />

Interpersonal Warmth”, 2008. URL: http://www.sciencemag.org/cgi/content/abstract/322/5901/606<br />

[Stand 28. November 2008])<br />

173 Ob Hayat Güler innerhalb Deutschlands umgezogen ist, ist nicht bekannt. Bei Jennifer Berg fehlen<br />

Fragen da<strong>nach</strong>, wo sie sich in Zukunft sieht bzw. es stellt sich im Laufe des Gesprächs nicht raus.<br />

174 Vgl.: Anhang B, I 6, S. 73.<br />

34


Sie glaubt, ihr Vater sei schon vor ihrer Geburt dort hingefahren. Sie selbst sei<br />

regelmäßig in ihrer Kindheit sowie in dem Jahr vor dem Interviewzeitpunkt erneut dort<br />

gewesen. „Das ist mein zweites Zuhause quasi“ 175 , sagt sie, und dass sie ein<br />

Heimatgefühl für diesen Ort empfinde. Sie erzählt auch, dass sie Frankreich mit dem<br />

Meer verbinde und dies von ihrem Vater mitbekommen habe. Er sei gestorben als sie<br />

zehn war. 176<br />

Jennifer hat eine gewohnheitsmäßige Bindung an einen bestimmten Ort in Altenhagen,<br />

der ihren persönlichen Farb- und Umweltpräferenzen entspricht. Über ihre Bindung an<br />

<strong>Hagen</strong> hinaus wird aber auch ein wichtiger, von ihr als heimatartig beschriebener<br />

transnationaler Ortsbezug deutlich, wobei sie sich im Interview an die physische<br />

Umwelt erinnert. Dieser ist durch ihre regelmäßigen Urlaubreisen entstanden. Eine<br />

Verknüpfung dieses Ortes und Frankreichs mit ihrem Vater zeichnet sich ab, so dass<br />

auf eine besondere emotionale Besetzung geschlossen werden kann. 177<br />

5.2.4 Rose Busia<br />

Rose Busia kommt aus Accra in Ghana und ist 1994 <strong>nach</strong> Deutschland gezogen. 178 Das<br />

Interview mit ihr fand hauptsächlich in englischer Sprache statt, was die dortige<br />

Amtssprache ist. Sie spricht auch eine weitere der in Ghana verbreiteten Sprachen<br />

sowie Deutsch fließend. 179 In Ghana lernte sie ihren Mann kennen, der damals bereits<br />

in Deutschland lebte und mit dem sie ein Kind bekam. Dass ihr Ehemann in<br />

Deutschland war und sie mit Zwillingen erneut schwanger, nennt sie als Gründe,<br />

warum sie <strong>nach</strong> sechs Jahren Beziehung zu ihm <strong>nach</strong> <strong>Hagen</strong> ziehen musste. 180<br />

Sie erzählt, dass sie eigentlich in Ghana bleiben wollte.<br />

„Yea, because I’ve been born in Ghana and all my familiy is in Ghana. And to leave there<br />

to come to a place where I don’t know anyone, don’t know the language... I don’t know<br />

nothing about Deutschland. (...) My mum and also my twin sister, to leave her it was very<br />

difficult.” 181<br />

175 Siehe: ebd. S. 79.<br />

176 Vgl.: ebd. S. 79 f.<br />

177 Es ist nicht klar geworden, inwiefern Jennifer Berg sich tatsächlich <strong>nach</strong> dem Ort in Frankreich sehnt:<br />

Allerdings geben ihre Selbstbeschreibung des Bezugs als heimatartig und eine Bemerkung Hayat Gülers,<br />

dass ihre Freundin sich monatelang vor der Reise darauf freue, Hinweise hierauf. (Vgl.: ebd. S. 80)<br />

178 In einem vorherigen Interview, das hier nicht vorliegt, hat sie bereits detailliert mit den Künstlerinnen<br />

über ihre Erinnerungen an die Farben Accras gesprochen. (Vgl.: Anhang B, Interview 7 mit Rose Busia,<br />

S. 94 f.)<br />

Eine Altersangabe liegt nicht vor.<br />

179 Vgl.: Anhang B, I 7, S. 93 f., 99, 103 f. Letzteres geht aus ihrem Einsatz der deutschen Sprache gegen<br />

Interviewende hervor.<br />

180 Vgl.: Anhang B, I 7, S. 93.<br />

181 Siehe: ebd. S. 93.<br />

35


Ihr Mann wolle in Deutschland bleiben, aber sie werde zurück <strong>nach</strong> Ghana gehen,<br />

wenn die Kinder erwachsen sind. 182 Am liebsten würde sie jetzt schon gehen. Dann<br />

sagt sie, dass es wegen der Kinder nicht möglich sei. 183<br />

„Ghana is always in my mind, every minute, every minute. I wake up in the morning and<br />

my mind is in Ghana. (...) Yeah, I’m here, but I’ m still there 184 . I don’t know how to take it<br />

out of my mind. Weiß ich nicht. I have friends, and I like to stay here, but I don’t know, I<br />

always have Ghana in my mind.” 185<br />

Wenn sie an Ghana denke, dann hauptsächlich an ihre Familie. 186 Sie fahre regelmäßig<br />

alle drei Jahre <strong>nach</strong> Hause und telefoniere fast jeden Tag mit ihrer<br />

Zwillingsschwester. 187 Dann sprächen sie über alles, über die Familie usw. „(…) and I<br />

mean, es gibt immer was. Either marrying (…)“. 188 Ihre Schwester habe ihr Handy<br />

immer dabei, und so seien sie stets füreinander erreichbar: „(...) I can pretend that I’m<br />

there, but I’m not there.“ 189<br />

Rosa Busia ist nicht freiwillig <strong>nach</strong> Deutschland gekommen, und ihre primären lokalen<br />

Bindungen kommen durch die sozial-familiären Beziehungen in Ghana zustande. 190<br />

Ihre symbolische Ortsbezogenheit gilt ihrem Geburts- bzw. dem Wohnort ihrer<br />

Familie, wo sie auch ihre Zukunft sieht. Sie benennt ihre gleichzeitige An- und<br />

Abwesenheit in <strong>Hagen</strong>, was für Ghana umgekehrt zutrifft. Nach ihrer Beschreibung ist<br />

sie psychisch-mental immer in Ghana, besonders bei ihrer Familie und deren oder auch<br />

ihrem ‚eigentlichen Leben‘ dort, obwohl sie schon lange in Deutschland lebt und relativ<br />

selten dorthin fährt. Dabei spielt zusammen mit Erinnerung und Imagination die<br />

Möglichkeit des permanenten Kontakts per Mobiltelefon eine bedeutende Rolle. Diese<br />

Identifikationsprozesse sind im Zusammenhang damit zu sehen, dass die von ihr<br />

bevorzugte Sprache im Interview Englisch ist. Im ersten Zitat wird auch die Bedeutung<br />

der Sprache bezüglich einer negativen Einstellung zu einem Ort deutlich.<br />

182 Vgl.: ebd. S. 94.<br />

183 Vgl.: ebd. S. 103.<br />

184 Die kursiven Hervorhebungen an dieser Stelle sowie im übernächsten Zitat sind durch die Autorin<br />

dieser Arbeit erfolgt.<br />

185 Siehe: ebd. S. 98.<br />

An anderer Stelle sagt sie, sie habe deutsche und afrikanische Freunde hier. (Vgl.: ebd. S. 94)<br />

186 Vgl.: ebd. S. 102.<br />

187 Vgl.: ebd. S. 93 f.<br />

188 Siehe: ebd. S. 94.<br />

189 Siehe: ebd. S. 99.<br />

190 In einem Gedankenexperiment stellt sie fest, dass sie auch lieber in Accra leben würde, wenn ihre<br />

gesamte Familie in Deutschland wäre. Sie beschreibt dortige, ihrer Auffassung <strong>nach</strong> weniger isolierte,<br />

allgemeine Formen des sozialen Zusammenlebens und -halts und nennt dies als Gründe. Dadurch wird<br />

ein Satisfaktionsraum deutlich, der über ihre Familie hinausgeht. (Vgl.: Anhang B, I 7, S. 10)<br />

36


Sie erläutert detailliert farbige Kleidungsvorschriften für verschiedene Zeremonien in<br />

Ghana: Anlässlich der Geburt eines Kindes werde Weiß mit etwas Schwarz getragen.<br />

Beim Tod eines Menschen werde abhängig von dessen erreichtem Alter Schwarz-Weiß<br />

oder Schwarz-Rot getragen. Dies befolgt sie auch in Deutschland auf afrikanischen<br />

Beerdigungen, aber bei Geburten könne jeder tragen, was er wolle, denn hier sei nicht<br />

Afrika. 191<br />

Hier zeigt sich ihre Prägung durch Traditionen ihres Herkunftsortes, die sie in<br />

Deutschland partiell aufrechterhält. Darin, dass sie diese auch teilweise aufgegeben hat,<br />

wird ansatzweise eine Auflösung ihrer ‚ghanaischen‘ Identitätsbildung deutlich: Sie<br />

berücksichtigt verschiedene kulturelle Orientierungsrahmen. Ebenso mischen sich in<br />

ihre Erzählung immer wieder Wörter, Satzfragmente, Sätze und ganze Abschnitte 192<br />

auf Deutsch.<br />

An anderer Stelle sagt sie, ihr gefalle die lebendige Stimmung in dem Stadtteil<br />

Wehringhausen 193 , wo sie wohnt, und sie nennt auch eine spezielle Ecke, die sie schön<br />

findet, weil dort nicht so viele Autos und Menschen seien. 194 Als sie feststellt, dass sie<br />

wegen der Kinder vorerst bleiben muss, betont sie daraufhin: „(…) I like Germany, ist<br />

schön here. I have a lot of German friends. I’m in (…) freie englische Gemeinde<br />

(...).” 195<br />

Rosa Busia gibt positive Einschätzungen ihrer Umwelt in <strong>Hagen</strong> ab, woran sich zeigt,<br />

dass diese ebenso wie die deutsche Sprache eine alltägliche Bedeutung für sie hat.<br />

Bereits in dem zweiten längeren Zitat auf Seite 35 hat sie angemerkt, dass sie in <strong>Hagen</strong><br />

Freunde habe und gerne dort sei. Diesen Hinweis auf soziale Bindungen wiederholt sie<br />

hier, was im Kontext betrachtet als Versuch zur (Teil-)Auflösung der<br />

widersprüchlichen Erfahrungen zwischen ihrem physischen und psychisch-mentalen<br />

Lebensmittelpunkt zu sehen ist. Gleichzeitig wird deutlich, dass sie über die<br />

Kernfamilie hinaus noch andere soziale Bindungen in <strong>Hagen</strong> hat und sie sich dort<br />

alltagspraktisch eingerichtet hat.<br />

191 Vgl.: ebd. S. 95 f. Aus dem Gespräch geht hervor, dass sie ein Geschäft hat, in dem sie entsprechende<br />

Kleidungsstücke verkauft. (Vgl.: ebd. S. 94, 96 f.)<br />

Indem sie hier von Afrika und nicht Ghana spricht, deutet sich an, dass die Zeremonien über Ghana<br />

hinaus verbreitet sind. Zudem wird möglicherweise ein erweiterter, ‚afrikanischer‘ Rahmen für ihre<br />

Identitätsbildung deutlich.<br />

192 Vgl.: ebd. S. 101, 103 f.<br />

193 Einer ihrer Söhne besucht die Schule in Altenhagen. (Vgl.: ebd. S. 100)<br />

194 Vgl.: ebd. S. 101.<br />

195 Siehe: Anhang B, I 7, S. 103.<br />

37


5.3 Zwischenfazit<br />

Es wurden hauptsächlich Frauen interviewt, deren lokale, emotional gefärbte<br />

Identifikationen sich nicht geschlossen und ungebrochen auf einen Ort beziehen und<br />

damit multipel sind. In einem Fall lag eine Diskrepanz zwischen psychischem und<br />

physischem Lebensmittelpunkt vor, wobei letzterer zumindest eine alltagspraktische<br />

Bedeutung hat. Ihre translokalen und -nationalen Orts- und Länderbezüge über <strong>Hagen</strong><br />

und Deutschland hinaus kommen dabei auf ganz unterschiedliche Weise zustande, und<br />

sie müssen nicht notwendigerweise dort geboren und/oder aufgewachsen sein.<br />

Urlaubreisen oder Besuche spielen bei allen in unterschiedlichem Ausmaß eine Rolle.<br />

Bei fast allen Migrantinnen hat sich jedoch eine exponierte Bedeutung des familiären,<br />

wenn nicht persönlichen, Herkunftsortes herausgestellt, an den sie als Besucherinnen<br />

fahren. Es hat sich beispielhaft gezeigt, dass soziale Kontakte über<br />

Kommunikationsmedien aufrechterhalten werden. Soziale Netzwerke können immer<br />

noch durch die Hilger’schen Attribute dauerhaft und für den Einzelnen überschaubar<br />

gekennzeichnet sein, beziehen sich aber nicht ausschließlich auf das unmittelbare<br />

Umfeld des physischen Wohnortes, an dem sich beispielsweise die familiäre<br />

Gemeinschaft geschlossen aufhält.<br />

In den verschiedenen Gesprächen wurde zudem deutlich, inwiefern die Ortsbezüge<br />

durch sinnliche Wahrnehmungen, soziale Erfahrungen, emotionale Besetzungen und<br />

daran anknüpfend vor allem Erinnerungen, aber auch Imaginationen zustande kommen.<br />

Exemplarisch wird bei Fernanda Pohlmann deutlich, inwiefern die aktuelle physische<br />

Farb-Umgebung dabei eine Rolle spielen kann. Der Interviewrahmen ist als eine<br />

außergewöhnliche Situation zur Stimulation von Erinnerung und Imagination zu<br />

betrachten. 196<br />

Es variiert, wie sehr die Frauen von der mental-psychischen Bindung an den Ort<br />

geprägt sind, von dem sie die meiste Zeit physisch getrennt sind. Der Ort des primären<br />

Lokal- und verwoben damit Länderbezugs überschneidet sich jedoch mit dem in<br />

Zukunft angestrebten Wohnort. Die Migrantinnen haben dementsprechend einen<br />

unterschiedlichen Grad an <strong>Sehnsucht</strong> formuliert. Fernanda Pohlmann bildet jedoch eine<br />

196 Es wird angenommen, dass innerhalb der Gesprächssituation das Zeigen der Farben als ein besonderer<br />

Stimulus fungiert, dessen Einfluss anhand zentraler Abschnitte allerdings aufgrund des <strong>nach</strong>träglichen<br />

Zeigens der Farbe nicht <strong>nach</strong>weisbar ist und aufgrund der Versprachlichung grundsätzlich schwierig<br />

<strong>nach</strong>zuvollziehen. Beispielsweise hat Hayat Güler die zu ihrer sinnlichen Minirock-Erinnerung<br />

gehörende Farbe erst <strong>nach</strong>träglich ausgesucht, unmittelbar da<strong>nach</strong> konzentrierte sich das Gespräch auf<br />

Jennifer Berg. (Vgl.: Anhang B, I 6, S. 78 f.) Auch Inês Marques Gomes sucht ihre Farben erst gegen<br />

Ende des Interviews aus, wobei allerdings sehr detaillierte Erinnerungen an ihre sinnliche Wahrnehmung<br />

der Umwelt und deren Beschaffenheit zu Tage kommen. (Vgl.: Anhang B, I 4, S. 36)<br />

38


Ausnahme, indem sie bereits multiple Ortsbezüge in Kolumbien hat und sich zukünftig<br />

zwischen Orten und Ländern sieht, was auch ihrer <strong>Sehnsucht</strong>sbeschreibung entspricht.<br />

Teilweise von Widersprüchen begleitete (Re-)konstruktionsprozesse bezüglich ihrer<br />

Identitäten, die sich aus ihren multiplen Orts- und kulturellen Bezügen ergeben, werden<br />

an mehreren Stellen beispielhaft deutlich:<br />

Inês Marques reflektiert in der mit der farbigen Umgebung zusammenhängenden<br />

Kindheits- und Weih<strong>nach</strong>terinnerung bewusst ein damaliges Fremdheitsgefühl<br />

gegenüber dem zugleich als Heimat bewerteten Land Portugal und verweist damit auf<br />

Brüche, denen ihre Identitätsbildung ausgesetzt war und ist. An anderen Stellen spiegelt<br />

sich unreflektiert Inkonsistenz: Sie bezeichnet Portugal als ‚ihr‘ Land, wobei die<br />

Geburt auf dessen Territorium und dessen Staatsbürgerschaft für sie wichtige<br />

(nationale) Identifikationspunkte markieren. Demgegenüber steht an der gleichen<br />

Textstelle zunächst eine Abwertung ihres Lebens in Deutschland durch das Wort ‚nur‘.<br />

Dies ist besonders im Zusammenhang mit der vorgängigen Kindheitserinnerung oder<br />

mit der späteren Aussage, dass Portugal lediglich ein Urlaubsland sei, in dem sie keine<br />

Zukunft für sich sieht, als Hinweis auf widersprüchliche (Zugehörigkeits-)Gefühle zu<br />

deuten. Später im Gespräch entwickelt sie allerdings eine für sie stimmige Einstellung<br />

und bringt diese zum Ausdruck, indem sie <strong>Hagen</strong> bzw. Deutschland, wo ihr<br />

Lebensmittelpunkt ist, als zweite Heimat bezeichnet.<br />

Auch in Hayat Gülers Erzählung zeigen sich Differenzen, mit denen sie bei ihrer<br />

Identitätsbildung konfrontiert ist: Zwar identifiziert sie sich mit zwei Heimatländern,<br />

erlebt aber andersartige Fremdzuschreibungen als jeweils nicht zugehörig: Im Fall der<br />

Türkei generalisiert sie diese Erfahrung, was für sie zu einer eindeutigen Verortung in<br />

Deutschland und <strong>Hagen</strong> führt. Wenn sie einerseits sagt, sie müsse das Kopftuch tragen<br />

und andererseits, dass dies freiwillig sei, treten Widersprüche in der Erzählung zu Tage,<br />

die auch auf die damit zusammenhängende kulturell-religiöse Identitätsbildung<br />

schließen lassen. Aber auch sie versucht dies für sich aufzulösen, indem sie darauf<br />

verweist, sich eigentlich auch momentan in ihren Entscheidungen frei zu fühlen.<br />

Obwohl bei Rose Busia die primäre lokale Identifikation eindeutig nicht in <strong>Hagen</strong> liegt,<br />

zeigt sich bei ihr deutlich eine Verwebung verschiedener Traditionen beziehungsweise<br />

kultureller Orientierungsrahmen sowie Sprachen. Durch ihre Betonung sozialer Bezüge<br />

in <strong>Hagen</strong> wird zudem deutlich, dass sie auch dort nicht-familiäre soziale Bindungen<br />

hat. Weiterhin versucht sie, widersprüchliche Erfahrungen und Gefühle zu ordnen.<br />

39


Insgesamt verortet sich der Großteil der hier betrachteten Migrantinnen bewusst<br />

zwischen verschiedenen Heimaten und stellt aktiv Mehrfachbezüge her. Für sie alle gilt<br />

eine Prägung durch mehrere Sprachen.<br />

Die in Abschnitt 3.2.2 dargelegten Thesen Hausers haben sich insofern bestätigt, als<br />

dass lokale Bindungen an die Stadt <strong>Hagen</strong> nur noch einen Teil der Identitätsbildung<br />

ausmachen, die allerdings in zwei Fällen eindeutig den wichtigsten Ortsbezug<br />

darstellen. Für eine der Frauen ist der transnationale Ortsbezug primär. Zudem wird<br />

teilweise ein nur temporärer, allerdings nicht unbedingt kurzfristiger, Umgang mit dem<br />

konkreten Aufenthaltsort deutlich: Hier deutet sich die Auflösung einer konstanten<br />

städtischen Bürgerschaft an. Wenn als Kriterium für den Status als Stadtbürger eine<br />

gleichzeitige Staatsbürgerschaft zugrunde liegt, betrifft dies auch permanente<br />

Anwohnerinnen.<br />

Dass die konkreten physischen Gegebenheiten in <strong>Hagen</strong> 197 aber unter anderem durch<br />

Gewöhnung immer noch eine Rolle bei diesen Prozessen spielen, deutet sich ebenfalls<br />

an. 198<br />

Allerdings wird in den Interviews tatsächlich bei keiner der Frauen eine<br />

Identifikation mit spezifischen baulichen Merkmalen <strong>Hagen</strong>s oder gar dem<br />

‚Stadtzentrum‘ deutlich.<br />

6 Umsetzung im öffentlichen Raum<br />

6.1 Vorgehensweise<br />

„Der Beton mutiert zum Gedächtnis seiner Anwohnerinnen.“ 199 (Milica Reinhart)<br />

Die Künstlerinnen haben bei ihrer Umsetzung mit den Erinnerungen der Frauen<br />

gearbeitet: Auf Grundlage dieser sowie der entsprechend gezeigten Farben haben sie<br />

zunächst Bilder erstellt. 200 Diese beziehen sich entweder auf eine Frau oder sind<br />

Zusammenfassungen beispielsweise der Partnerinterviews, so dass insgesamt 38<br />

197 Hauser bezieht sich explizit auf europäische Städte.<br />

Bei den transnationalen Ortsbezügen der Frauen wird die Bedeutung der physischen Umgebung über die<br />

Frage <strong>nach</strong> den Farben offensichtlich.<br />

198 Die Gewöhnung an eine graue Umgebung in <strong>Hagen</strong> erwähnt Hayat Güler. Zudem ist die Bedeutung<br />

der physischen Umgebung aus Jennifer Bergs Hinweis auf den Teich in Altenhagen, Fernanda<br />

Pohlmanns Wertschätzung des Waldes in Nähe ihres Wohnortes sowie Rose Busias positiver Bewertung<br />

einer bestimmten Ecke im Stadtteil Wehringhausen zu schließen.<br />

199 Vgl.: Kulturamt der Stadt <strong>Hagen</strong> (Hg.), 2007, S. 6.<br />

200 Die Farben für die später folgende Umsetzung an der Brücke wurden durch ein Unternehmen für<br />

Beton-Farben gesponsert, das insgesamt 450 (größtenteils verschiedene) Farb-Portionen hierfür geliefert<br />

hat. Wenn eine Farbe zwischen verschiedenen Auswahlmöglichkeiten auf der Skala lag, haben die<br />

Künstlerinnen – den Beschreibungen der Frauen entsprechend – bei der Sponsorfirma eine Mischfarbe<br />

bestellt oder diese <strong>nach</strong>träglich selber gemischt.<br />

40


Entwürfe entstanden. 201 In verschieden starkem Ausmaß kamen dabei Abstraktionen<br />

zum Tragen, die in jedem Fall der Darstellung des Inhaltes der Erzählungen dienen.<br />

Dementsprechend variiert es, wie weit sie sich dabei vom Gegenständlichen entfernen,<br />

wobei bereits die Inhalte und Farben nicht immer einen gegenständlichen Bezug<br />

aufweisen. Reinhart und Verkerk beschäftigten sich jeweils einzeln mit einer<br />

Geschichte oder zusammenhängenden Geschichten, die sie entsprechend ihrer<br />

jeweiligen Interpretation umgesetzt haben. Verkerk sagt hierzu, dass sie die ersten<br />

Entwürfe gleich <strong>nach</strong> den Interviews angefertigt hätten und diese so beeindruckend<br />

gewesen seien, dass sie selbst das Gesagte jetzt noch <strong>nach</strong>erzählen könnte. Aber auch<br />

ihre Aufnahmen und Mitschriften hätten sie benutzt. Sie habe keinen Kommentar<br />

abgegeben, sondern die Geschichte mit visuellen Mitteln so weitererzählt, wie die<br />

Frauen sie „gemeint haben“ 202 , wobei sie vorher einräumt, dass dies nicht exakt<br />

möglich ist. Allerdings haben sie von den Frauen eine positive Resonanz auf die Bilder<br />

bekommen. 203<br />

Aus den einzelnen Bild-Elementen entwickelten sie ein Gestaltungskonzept für 450<br />

Meter der vorher grauen Betonbrücke in der Nähe des <strong>Hagen</strong>er Hauptbahnhofs. Dabei<br />

werden ab Januar 2009 auch kleine Ausschnitte aus einigen der Interviews auf<br />

Acrylplatten an den Brückenpfeilern zu sehen sein. 204 Zudem haben die Interviewten in<br />

ihrer Handschrift und der Sprache ihres Herkunftslandes das Wort Brücke<br />

aufgeschrieben: 16 dieser Schriftzüge sind vergrößert und durch Neon-Leuchtröhren<br />

materialisiert an der Brücke befestigt und werden in der Dämmerung eingeschaltet. Die<br />

Anzahl ergibt sich aus Doppelungen der Sprache des Herkunftslandes und gleichen<br />

Wörtern in verschiedenen Sprachen. 205<br />

201 Vgl.: Anhang A, I 1, Min. 14, 27 - 14,50.<br />

202 Siehe: Anhang A, I 2, Min. 6,45 - 6, 46.<br />

203 Vgl.: ebd. Min. 5,05 - 7,40.<br />

Vergleiche zum Verständnis der künstlerischen Vorgehensweise die Beispiele für eine Skizze und<br />

verschiedene fertiggestellte Einzelbilder: Anhang C, Abbildungen 1, 2, 3, 5; S. 105 ff.<br />

204 Zurzeit sind die Künstlerinnen noch mit der Auswahl der Ausschnitte beschäftigt.<br />

Ab Januar 2009 wird zudem für Interessierte ein ‚Brückenführer‘ zu Verfügung stehen, in dem zu den<br />

einzelnen Bildern die Erinnerungen bezüglich der Farben zu finden sind. Umfangreicher wird dasselbe<br />

Material später in einem Katalog veröffentlicht.<br />

205 Vgl.: Anhang A, I 2, Min. 2,11 - 3, 50.<br />

Vergleiche zur künstlerisch bearbeiteten Brücke: Anhang C, Abbildungen 4, 6, 7, 8; S. 106 ff.<br />

Ein Gesamteindruck des Gestaltungskonzepts ist unter dem Stichwort ‚Projekt‘ (Unterpunkt<br />

‚Computeranimation‘) gegeben auf: Exile Kulturkoordination: „Die <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> 2.<br />

Kunstprojekt für eine Brücke“. URL: http://www.sehnsucht<strong>nach</strong>ebene2.de [Stand 23. November 2008].<br />

41


6.2 Veränderung des Stadtbildes in Altenhagen<br />

Wie oben bereits angesprochen, berücksichtigen die Künstlerinnen in ihrer<br />

ortsspezifischen Vorgehensweise auch die architektonische Umgebung in Altenhagen.<br />

In den Gesprächen hat sich gezeigt, dass die Farbe Grau eher negativ konnotiert war.<br />

Bei der bisher grauen Betonbrücke kann sicherlich von einer (mindestens) langweiligen<br />

Farbwirkung ausgegangen werden, und sie ist insgesamt durch eine eintönige Bauweise<br />

gekennzeichnet. Die künstlerischen Veränderungen stellen jedoch eine Abwechslung<br />

und einen Höhepunkt in der Umweltgestaltung dar, und tragen, mit Frielings Worten,<br />

allgemein zu deren ‚Liebenswürdigkeit‘ und ‚Verspieltheit‘ bei.<br />

Das Stadtbild in Altenhagen wird also partiell verbessert, was zu einer veränderten<br />

Wahrnehmung der Umwelt durch die Betrachter führt.<br />

6.3 Transkulturalität, Konsensbildung und Möglichkeiten der Mitgestaltung<br />

In diesem Abschnitt werden zunächst Positionen dargelegt, mittels derer ein<br />

nationalkulturelles einem transkulturellen gesellschaftlichen Selbstverständnis<br />

gegenübergestellt wird. Im Anschluss wird speziell die Frage der gesellschaftlichen und<br />

kulturellen Teilhabe von Migranten im öffentlichen Raum fokussiert.<br />

6.3.1 Nationales und transkulturelles Selbstverständnis<br />

Der Philosoph Wolfgang Welsch konstatiert, dass Konzepte monokultureller,<br />

nationaler Kultur, die sich seit dem 19. Jahrhundert durchsetzen, weiterhin Geltung<br />

haben. Dies ist der Fall, obwohl sie, ausgestattet mit einem fiktiv-ideologischen Gehalt,<br />

deskriptiv die damalige, aber auch heutige Realität verzeichnen: Kultur ist dort<br />

Merkmal einer bestimmten Ethnie, die durch eine Sprache gekennzeichnet und an ein<br />

Territorium gebunden ist. Konstitutiv dafür ist die Differenz zu und Abgrenzung von<br />

anderen Kulturen. 206 Die Autorinnen Frieben-Blum und Jacobs bemerken, dass solche<br />

Vorstellungen zu der Annahme einer lokalen Vorherrschaft der jeweiligen Kultur<br />

führen. In Deutschland folgt daraus, dass Fremdes mit Ausländischem gleich gesetzt<br />

wird.<br />

206 Vgl.: Welsch, Wolfgang: „Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen“. In:<br />

Schneider, Irmela (Hg.): Hybridkultur. Medien, Netze, Künste. Köln, 1997, S. 67 ff., 74.<br />

42


Aus diesem Grund wird alles, „(…) was fremd erscheint, mit einem anderen Ort und<br />

einer anderen Gesellschaft verbunden (…), wo es eigentlich herkomme oder<br />

hingehöre.“ 207<br />

Zentraler Gegenstand der Welsch’schen Ausführungen ist seine Beschreibung<br />

gegenwärtiger Kulturen und Gesellschaften als transkulturell, womit er deren<br />

tatsächlicher Verfassung gerecht werden möchte. Als ursächlich hierfür sieht er unter<br />

anderem diejenigen Prozesse, die oben als Globalisierung beschrieben wurden und<br />

<strong>nach</strong> ihm zur Vernetzung und gegenseitigen Durchdringung der Kulturen führen. 208 Im<br />

Zusammenhang damit steht deren innere Hybridisierung, die partiell 209 durch das<br />

Zusammenleben von Menschen mit ursprünglich verschiedenen Herkunftsländern<br />

zustande kommt: „Im Innenverhältnis einer Kultur (…) existieren heute ebenso viele<br />

Fremdheiten wie in ihrem Außenverhältnis zu anderen Kulturen.“ 210 Dem entspricht,<br />

dass die Identitätsbildung der meisten Menschen transkulturell ist, was durch Bezüge<br />

zu kulturellen Elementen verschiedener Länder auch jenseits ihrer Staatsbürgerschaft<br />

zustande kommt. 211<br />

Er fordert in Bezug auf die normative Wirkung von Kulturkonzepten die Hinwendung<br />

zu einer transkulturellen Konzeptualisierung und Selbstauffassung, was von einer<br />

Ausgrenzung des Fremden, wie sie durch das vorherige nationale Selbstverständnis<br />

hervorgerufen wurde, allmählich wegführen würde. Stattdessen würde die Suche <strong>nach</strong><br />

Anknüpfungsmöglichkeiten begünstigt, die durch die transkulturellen Verbindungen<br />

beziehungsweise gemeinsamen kulturellen Elemente gegeben sind. 212 Damit einher<br />

207<br />

Siehe: Frieben-Blum, Ellen/Jacobs, Klaudia: „Vom Oder zum Und: Zur Konstruktion von<br />

Bindestrich- Identitäten“. In: Frieben-Blum, Ellen et al. (Hg.), 2000, S. 11.<br />

Eine Langzeitstudie des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität in Bielefeld<br />

belegt, dass die Identifikation mit einer Nation die Abwertung des Fremden beeinflusst. Seit Beginn der<br />

Studie ist die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland gestiegen: Während 2001 33% der Menschen Angst<br />

vor Überfremdung hatten, waren es 2006 47%. Dies bezieht sich insbesondere auf Muslime. (Vgl.:<br />

Levend, Helga: „Deutsche Zustände“. In: Psychologie Heute, Jahrgang 34, Mai 2007, S. 71)<br />

208 Welsch meidet den Begriff ‚Globalisierung‘, weil er für ihn ‚Verwestlichung‘ bedeutet. (Vgl.:<br />

Schneider (Hg.), 1997, S. 79)<br />

Als ein weiteres zentrales Merkmal der Transkulturalität gilt für ihn die innere Differenzierung der<br />

Gesellschaften, die sich unter anderem in verschiedenen Milieus und den sozialen Geschlechtern findet.<br />

(Vgl.: ebd., S. 68). In diesem Zusammenhang soll angemerkt werden, dass <strong>nach</strong> Stuart Hall nationale<br />

Identitäten männlich konnotiert sind, wofür er das ‚Englisch-Sein‘ als Beispiel anführt. (Vgl.: Hörning<br />

(Hg.), 1999, S. 422).<br />

209 Als andere Faktoren nennt er die zunehmend global gleiche Verfügbarkeit von Waren und<br />

Informationen. (Vgl.: Schneider (Hg.), 1997, S. 72)<br />

210 Siehe: ebd. S. 72.<br />

211 Vgl.: ebd. S. 68, 71 ff.<br />

212 Vgl.: Schneider (Hg.), 1997, S. 75 ff., 85 (Fußnote 28).<br />

Welsch nutzt in diesem Zusammenhang den problematischen Begriff ‚Integration‘ (Vgl. dazu auch<br />

Abschnitt 6.3.3). Welche Konsequenzen gegenwärtige Bedingungen für Konzepte von ‚Integration‘ und<br />

damit zusammenhängend ‚Gesellschaft‘ haben, legen die Autoren Holert und Terkessidis dar.<br />

(Vgl.: Holert/ Terkessidis, 2006, S. 263)<br />

43


geht die Anerkennung unterschiedlicher, transkultureller Identitätsformen innerhalb<br />

einer Gesellschaft. 213 Die Zukunftsaufgaben bezüglich Politik, Pädagogik, Kunst etc.<br />

sieht er nur durch die Hinwendung zur Transkulturalität lösbar. 214<br />

Dass er sich in seiner Argumentation weiterhin auf Länder bezieht, impliziert, dass<br />

bestehende geographische Referenzen (noch) relevant sind. 215<br />

6.3.2 Stadt, öffentlicher Raum und Teilhabe<br />

Die durch Translokalität und -kulturalität geprägte urbane Situation, wie sie in den<br />

Interviews deutlich wurde, beschreiben die Kulturwissenschaftler Tom Holert und<br />

Mark Terkessidis als Städte ohne (Staats-) Bürger. Sie konstatieren diesbezüglich eine<br />

postnationale Bürgerschaft. Aufgrund der schwindenden Relevanz der Nation auf<br />

politischer und rechtlicher <strong>Ebene</strong> betonen sie, dass unter anderem 216 die städtischen<br />

Kommunen als Orte lokal gebundener Rechte und Partizipation wichtiger werden.<br />

Dabei werfen sie die Frage auf, wie dies möglich ist, also das von ihnen postulierte<br />

Recht auf einen Ort 217 sowie dessen politische und kulturelle Gestaltung durchgesetzt<br />

werden kann. 218<br />

Die Historiker Jan Motte und Rainer Ohliger stellten im Jahr 2004 fest, dass „weder das<br />

Sprechen oder das Gehörtwerden noch die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum“ 219<br />

Einwanderern in Deutschland bisher hinreichend ermöglicht wird. 220 Beispielsweise<br />

zeigt sich dies in einem Fehlen von Orten der Teilhabe und Anerkennung von<br />

213 Vgl.: Welsch, Wolfgang: „Netzdesign der Kulturen“, 2002.<br />

URL: http://www.ifa.de/index.phpid=welsch [Stand 26. September 2008].<br />

214 Vgl.: Schneider (Hg.), 1997, S. 80.<br />

215 Vgl.: ebd. S. 68, 71 f. Dies betrifft seine Beschreibungen der Gegenwart und die entsprechende<br />

Argumentationslinie. Dem entspricht, dass er sein Konzept in einer Übergangsphase zwischen der<br />

Existenz (nationaler) Einzelkulturen bzw. dem bisher dominanten Verständnis von Kulturen als<br />

dergestalt in Richtung einer transkulturellen Verfassung verortet. Nach einer solche Erläuterung umfasst<br />

‚Transkulturalität‘ auch den in dieser Arbeit bereits gebrauchten Begriff ‚Transnationalität‘, was unter<br />

anderem dem folgenden Gebrauch von ‚Transkulturalität‘ zugrunde liegt. Gleichzeitig weist<br />

‚Transkulturalität‘ aber darüber hinaus. Dies entspricht auch der Hall’schen Konzeption von kultureller<br />

Identität, in der ‚Nation‘ ein Aspekt der Identitätsbildung unter anderen ist und konzeptuell<br />

beispielsweise nicht bereits Sprache inkludiert. Als zukünftige Entwicklungen stellt Welsch im zweiten<br />

Teil seines Textes in Aussicht, dass sich künftig aus der durch Relationen und Netzwerkbildung<br />

gekennzeichneten Transkulturalität eine Loslösung kultureller Prozesse von nationalen oder<br />

geographischen Vorgaben ergeben wird. (Vgl.: ebd. S. 67, 73, 78, 84 f. (Fußnote 25)).<br />

216 Zudem spielt bezüglich Politik und Rechten die globale <strong>Ebene</strong> verstärkt eine Rolle.<br />

217 Hervorhebung der Autoren Holert/Terkessidis.<br />

218 Vgl.: Holert/Terkessidis, 2006, S. 263 ff.<br />

219 Siehe: Motte, Jan/Ohliger, Rainer: „Einwanderung – Geschichte – Anerkennung. Auf den Spuren<br />

geteilter Erinnerung“. In: Motte, Jan et al. (Hg.): Geschichte und Gedächtnis in der<br />

Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik.<br />

Essen, 2004, S. 26.<br />

220 Es wird angenommen, dass diese These trotz Veränderungen weitestgehend immer noch Gültigkeit<br />

hat.<br />

44


Migranten, wie sie durch diese betreffende Kunstwerke, Straßennamen oder Denkmäler<br />

gegeben wären. Dies weist darauf hin, dass ihr Hiersein nicht auch noch symbolisch<br />

manifestiert und damit bestätigt werden soll. Dadurch wird das politische Dogma,<br />

Deutschland sei kein Einwanderungsland, in die künstlerisch-ästhetische Symbol- und<br />

Formensprache verlängert und dadurch verfestigt. 221<br />

„ ‚Der Fremde‘ lebt in einer Welt, an deren symbolischer Ausgestaltung er nicht mitwirken<br />

kann, die von [der Mehrheitsgesellschaft] betrieben und definiert wird. Jenseits des<br />

privaten oder zumindest teilweise geschützten Raums ethnischer Enklaven finden sich<br />

keine Signaturen der Einwanderung, es herrscht ein symbolischer Ausschluss.“ 222<br />

Wenn im öffentlichen Raum ein Kunstwerk oder Denkmal entsteht, wird daran auch<br />

das Selbstverständnis der Gesellschaft deutlich. Hierfür kann der vorgängige Prozess<br />

der Entscheidungsfindung und Konsensbildung ein wichtiger Hinweis sein. 223<br />

Es soll darauf hingewiesen werden, dass Kunst im öffentlichen Raum finanziert werden<br />

muss. Die Historikerin Christiane Harzig bemerkt, dass die Umsetzung von Projekten<br />

abhängig von politischer Unterstützung und damit verbundenen öffentlichen Geldern<br />

ist. 224<br />

6.3.3 Transkulturalität und öffentliche Meinung bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong><br />

Durch ihren ortspezifischen Ansatz ist der Ausgangspunkt der Künstlerinnen die<br />

Auseinandersetzung mit einer veränderten transkulturellen (Stadt-)Gesellschaft durch<br />

Migration. Sie erfüllen damit die von Welsch formulierten Aufgaben an die Kunst.<br />

Weil sie bei ihrer Auswahl der Interviewpartnerinnen persönliche oder familiäre<br />

Herkunftsländer zugrunde legen – unter anderem Deutschland – berücksichtigen sie<br />

die kulturelle Hybridisierung betreffende Prozesse, wie sie auch von Welsch<br />

beschrieben werden.<br />

Dementsprechend thematisieren sie in ihrem Projekt die externe Vernetzung und<br />

Durchdringung von Kulturen und Gesellschaften, die durch die Migrantinnen und ihre<br />

multiplen Länder- bzw. Ortsbezogenheiten und damit korrelierende kulturelle Einflüsse<br />

sowie Bezüge hergestellt werden. Diese können <strong>nach</strong>vollzogen werden anhand der<br />

221 Vgl.: ebd. S. 18, 28 ff.<br />

222 Siehe: ebd. S. 18.<br />

223 Vgl.: ebd. S. 28 (u.a. Fußnote 37) Eigentlich beziehen sie sich hier speziell auf Denkmäler, es wird<br />

allerdings eine Übertragbarkeit allgemein auf Kunstwerke im öffentlichen Raum angenommen.<br />

224 Vgl.: Harzig, Christiane: „Zur persönlichen und kollektiven Erinnerung in der Migrationsforschung“.<br />

In: Harzig, Christiane (Hg.): Migration und Erinnerung. Reflexionen über Wanderungserfahrungen in<br />

Europa und Nordamerika. Göttingen, 2006, S. 11.<br />

45


Interviews und den darin zutage tretenden Erinnerungen beziehungsweise (Re-)<br />

Konstruktionen gegenwärtiger transkultureller Identitäten, in die auch weiterhin<br />

nationale Versatzstücke verschiedener Art verwoben werden. Dabei stellt der Großteil<br />

der betrachteten Migrantinnen aktiv Mehrfachbezüge her, während kulturelle Einflüsse<br />

ihres aktuellen Wohnorts einer der Frauen eher zu widerfahren scheinen. Inwiefern die<br />

Prozesse auch für Menschen ohne Migrationshintergrund gelten und auf sie wirken,<br />

zeigt sich in Ansätzen bei Jennifer Berg, wobei zudem ihre Freundschaft zu Hayat<br />

Güler eine Rolle spielt. Exemplarisch stellt diese Freundschaft auch die Hilger’sche<br />

Behauptung in Frage, dass das sozialen Umfeld durch vergleichbare Werteinstellungen<br />

geprägt sei. Allein aufgrund der Religion Hayat Gülers gibt es hier Brüche.<br />

In der künstlerischen Umsetzung ist die dargelegte transkulturelle Bedeutungsebene vor<br />

allem anhand der verschiedenen Sprachen manifest. 225<br />

In der Vorgehensweise der Künstlerinnen ist deutlich eine Hinwendung zur<br />

Transkulturalität zu erkennen, was von ihren Förderern 226<br />

unterstützt wird 227 : Das insgesamt 250.000 Euro teure Kunst-Projekt 228<br />

zumindest implizit<br />

wird unter<br />

anderem maßgeblich von der Staatkanzlei Nordrhein-Westfalens, im Speziellen durch<br />

das 2002 eingerichtete Referat für interkulturelle Kunst- und Kulturarbeit finanziert. 229<br />

Zudem hat dieser Förderer das Projekt ‚Kommunales Handlungskonzept Interkultur‘<br />

initiiert, an dem <strong>Hagen</strong> seit 2005 teilgenommen hat. In diesem Rahmen hat die<br />

Kommune ein Leitbild für eine interkulturelle Kulturarbeit entwickelt, das vom Stadtrat<br />

verabschiedet wurde und sich zur Ermöglichung der kulturellen Beteiligung von<br />

Migranten bekennt. Dies war eine der Voraussetzungen für die Realisierung des<br />

Projekts mit Unterstützung des Kulturamts <strong>Hagen</strong>. 230 Weiterhin ist <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong><br />

<strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> Kulturhauptstadtprojekt im Rahmen von <strong>Ruhr.2010</strong> und steht auf ideeller<br />

225 Es ist anzunehmen, dass dies für die Ausschnitte aus den Geschichten variiert, was der Verfasserin<br />

aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht bekannt ist.<br />

226 Diese kamen erst <strong>nach</strong> der Initiative der Künstlerlinnen hinzu.<br />

227 Ob die Intentionen und Konzepte von Kultur allerdings im Einzelnen und in jedem Fall tatsächlich<br />

mit der Transkulturalität Welschs übereinstimmen, kann hier nicht überprüft werden. Allerdings bejaht<br />

Ulla Harting, Leiterin des Referats für Interkulturelle Kunst- und Kulturarbeit der Staatskanzlei NRW, in<br />

der Darlegung ihrer Förderungsgrundsätze das Vorhandensein einer transkulturellen<br />

Gesamtbevölkerung, wobei sie sich sogar explizit auf ein Zitat der Welsch’schen Definition bezieht.<br />

(Vgl.: Harting, Ulla: „Interkultureller Klimawandel. Kulturpolitik in Nordrhein-Westfalen: die<br />

integrierende Wirkung der Künste fördern“. In: Jerman, (Hg.), 2007, S. 25 f. sowie Hörning (Hg.), 1997,<br />

S. 71)<br />

228 Aufgrund der Durchführung von <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> wird die ohnehin geplante Sanierung der<br />

Hoch-Brücke hauptsächlich durch Finanzierung der Stadt <strong>Hagen</strong> vorgezogen, so dass sich die<br />

Gesamtkosten auf 800.000 Euro belaufen. (Vgl.: Anhang A, I 3.1, Min. 16, 42 - 17, 52)<br />

229 Vgl.: ebd. Min. 14, 10 - 14,58.<br />

Die Existenz eines solchen Referats ist bisher deutschlandweit einmalig.<br />

230 Kulturamt der Stadt <strong>Hagen</strong> (Hg.), 2007, S. 77 sowie Viehhoff, Rita: „Stadt <strong>Hagen</strong>. Guter Mix aus<br />

Theorie und Praxis“. In: Jerman (Hg.), 2007, S. 148 f.<br />

46


Förderungsebene unter der Schirmherrschaft der Deutschen UNESCO Kommission. 231<br />

Bei anderen Sponsoren handelt es sich um Firmen und Privatpersonen: Eigentlich hätte<br />

die Kommune <strong>Hagen</strong> 40.000 Euro Eigenbeitrag leisten müssen, um die Förderung mit<br />

Landesmitteln zu ermöglichen. Als die hochverschuldete Stadt diese nicht aufbringen<br />

konnte, kam die Summe innerhalb von zehn Tagen durch Spenden aus der Bevölkerung<br />

zustande. 232 Während das Projekt auf verschiedenen <strong>Ebene</strong>n Zustimmung erfährt, die<br />

von globalen bis zu lokalen Akteuren reichen, gibt es trotz des neuen Leitbildes sowohl<br />

in der <strong>Hagen</strong>er Lokalpolitik als auch in der Bevölkerung keinen eindeutigen Konsens<br />

diesbezüglich. Wie oben bereits angesprochen, wurde zwei Jahre lang in den<br />

politischen Parteien und in der Lokalpresse diskutiert, woran sich auch die<br />

Bevölkerung über Leserbriefe beteiligte. 233 Schließlich kam es im Oktober 2007 zu<br />

einem knappen Ratsbeschluss, der für die Durchführung nötig war. 234 In den<br />

vorgängigen Auseinandersetzungen war ein zentraler Aspekt die Finanzierung, wobei<br />

Milica Reinhart diesbezüglich die verzerrte Medienberichterstattung kritisiert. 235<br />

Es können hier keine quantitativen Aussagen über Zustimmung und Ablehnung in der<br />

öffentlichen Meinung getroffen werden. Dass bei den Kontroversen auch das kulturelle<br />

Selbstverständnis und die Anerkennung verschiedener Formen der Identitätsbildung<br />

verhandelt wurden und inwiefern bereits im Vorfeld veränderte städtisch-soziale<br />

Strukturen besondere Aufmerksamkeit erfuhren, zeigt sich in den Leserbriefen, von<br />

denen hier einige beispielhaft betrachtet werden sollen. Die Einsender appellieren<br />

teilweise an den Stadtrat:<br />

Sie habe zwar Verständnis für das Problem der Integration von Einwanderern, schreibt<br />

eine Altenhagenerin, doch halte sie das Projekt für ungeeignet. Sie fährt fort:<br />

231 Vgl.: Anhang A, I 3.1, Min. 12,51 - 14, 03 sowie 18, 05 - 19, 06.<br />

Für Letzteres ist insbesondere die Erfüllung der Grundsätze der Unesco-Konvention zum ‚Schutz und<br />

zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen‘ aus dem Jahr 2005 ausschlaggebend. Dies<br />

entspricht auch Holerts und Terkessidis’ These, dass globale rechtliche <strong>Ebene</strong>n bedeutsamer werden.<br />

Bezüglich der Kulturhauptstadt spielt die EU eine Rolle.<br />

232 Vgl.: ebd. Min. 11, 23 - 12, 50 sowie 16, 03 - 16,31.<br />

233 Vgl.: ebd. Min. 5,44 - 6,08. Für diese Arbeit liegen Zeitungsausschnitte für den Zeitraum zwischen<br />

März 2006 und August 2008 vor, die von einer permanenten Berichterstattung zeugen.<br />

234 Vgl.: ebd. Min. 8,39 - 10, 47.<br />

235 Vgl.: Anhang A, I 1, Min. 48,43 - 49, 30.<br />

47


„Will die Türkische Kulturgemeinschaft in der Wittekindstraße wirklich Integration, wenn<br />

mit großer Werbetafel für den SVIS-Istanbul Spor e.V. geworben wird Müssen wir als<br />

Altenhagener die Lebensweisen aus Anatolien hinnehmen, wo Kürbisspelzen auf die Straße<br />

gespuckt werden oder Leute auf der Eingangstreppe sitzen, so dass meine behinderte<br />

Tochter nur noch mit Hilfe der Krücken Durchgang erhält“ 236<br />

Ein anderer Leser, der nicht in Altenhagen lebt, schreibt:<br />

„Sinnbildlich soll ‚<strong>Ebene</strong> 2‘ für die Integration von Einwanderern werben: Wer zieht denn<br />

die Vorteile aus Einwanderungen und wer bezahlt für Integration Deutschkurse in den<br />

Heimatländern sind sicher geeigneter, allerdings nicht auf Kosten des deutschen<br />

Steuerzahlers. (…) Die Multikulti-Befürworterinnen übersehen hier, dass die einheimische<br />

Bevölkerung (…) allmählich ihre Heimat verliert und wenig erfreut über fremdsprachige<br />

Schriftzüge an der Brücke sein wird. Ist man denn schon ein Fremdenhasser, wenn man als<br />

Europäer die türkische Sprache nicht lernen möchte oder Kulturen im Multimix mit der<br />

Sprache Kauderwelsch nicht verdauen will Kulturen sind doch nur dort identisch, wo sie<br />

entstanden und gelebt werden. Keiner will sich andere Lebensweise aufzwingen lassen und<br />

sollte die Freiheit haben selbst auszuwählen, was er übernehmen möchte. Schließlich sind<br />

die Früchte der französischen Revolution und der Zeit der Aufklärung im islamisch<br />

beherrschten Raum noch nicht angekommen. (…) Vielleicht sollten die Damen die<br />

Fördertöpfe nutzen, um die Würde kopfbetuchter Frauen zu ermöglichen oder deutschen<br />

Familien ihre Heimat und Bildungschancen in Altenhagen zu erhalten.“ 237<br />

Hier zeigen sich zunächst Probleme im Zusammenhang mit dem polysemen Begriff<br />

‚Integration‘, weshalb es auch problematisch ist, ein Kunstprojekt als Symbol hierfür<br />

oder als einen solchen Effekt erzielend darzustellen. In beiden Äußerungen wird<br />

Integration eher als Assimilation verstanden:<br />

Im ersten Zitat wird diese grundsätzlich als Problem gesehen, wobei translokale und -<br />

kulturelle Bezüge, hier in Form der Benennung eines Sportvereins 238 in <strong>Hagen</strong> <strong>nach</strong><br />

einem großen Fußballclub in Istanbul, Zeichen von Verweigerung sind und nicht<br />

akzeptiert werden. Zudem werden bestimmte Verhaltensweisen als einem anderen Ort<br />

und einer anderen Gesellschaft zugehörig empfunden, die vor dem Hintergrund der<br />

Annahme einer lokalen Vorherrschaft der deutschen Kultur nicht hingenommen werden<br />

müssen. Die Leserin bringt negative Erfahrungen mit einer anderen Kultur in<br />

Verbindung, wobei anzunehmen ist, dass diese auf einer individuelleren <strong>Ebene</strong><br />

betrachtet werden müssten.<br />

Für den zweiten Kommentator bedeutet Integration unter anderem das Lernen der<br />

Sprache, was an einem anderen Ort stattfinden soll, bevor das Leben in der deutschen<br />

236 Siehe: Anhang D, Leserbrief 1, S. 109 (erschienen am 13. Oktober 2007 im ‚Wochenkurier‘).<br />

Die Leserbriefe sind teilweise in verschiedenen Zeitungen erschienen. Hier wurden die umfangreichsten<br />

Versionen ausgewählt.<br />

237 Siehe: ebd. Leserbrief 2, S. 110 (3. Oktober 2007, ‚Wochenkurier‘). Interessanterweise ist dieser<br />

Leser Architekt und Stadtplaner, der auch die Zweckhaftigkeit der Brücke betont.<br />

238 Auf der Internetseite des Vereins findet sich das Symbol der türkischen Flagge, aber die Seite<br />

erscheint auf Deutsch. (Vgl.: SV Istanbulspor <strong>Hagen</strong> 2006. URL: http://www.istanbulspor-hagen.de<br />

[Stand 25. November 2008]).<br />

48


Gesellschaft überhaupt beginnen dürfte. Er spricht zudem die ‚Überfremdung‘ durch<br />

Zuwanderung an und einheimisch ist nur, wer eindeutig deutsch ist. Das<br />

Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen kulturellen Bezügen und Sprachen<br />

in einer Gesellschaft wird von ihm nicht gebilligt, wobei die deutsche Kultur dominant<br />

ist. Andere kulturelle Einflüsse gehören an ihren ‚Ursprungsort‘. Zudem fokussiert er<br />

muslimische Zuwanderer und bringt dies in einen größeren diskursiven Zusammenhang<br />

bezüglich des Verhältnisses zwischen ‚europäischer‘ und ‚islamischer‘ Welt.<br />

In beiden Leserbriefen wird ein nationales Verständnis von Kultur deutlich, das nur<br />

eine Form der kulturellen Identitätsbildung zulässt.<br />

Positiv hingegen reagiert ein Altenhagener, der dem bereits erwähnten Sportverein und<br />

der Moschee gegenüberwohnt und dessen Wohnung auf Höhe der Brücke liegt. Er ist<br />

Stadtratsmitglied und betont, dass er viele Kontakte zu seinen Mitmenschen gegenüber<br />

habe. Auch verweist er allgemein auf soziale Prozesse und Interaktionen, die um die<br />

Brücke stattfänden und sagt: „Ich lebe und wohne gern hier und möchte mit meinen<br />

Mitmenschen dieses Umfeld gestalten und verbessern. “239 Eine andere Meinung lautet:<br />

„<strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> (...) ist ein Projekt, das für alle Teile der <strong>Hagen</strong>er<br />

Bevölkerung ein Symbol der Integration und des Zusammenlebens werden kann.“ 240<br />

Einer der privaten Sponsoren betont ebenfalls die integrative Funktion des Projekts und<br />

verweist darauf, dass in seinem Betrieb seit langer Zeit Integration gelebt werde, was er<br />

durch das harmonische Zusammenarbeiten von Menschen unterschiedlicher<br />

Nationalitäten begründet, die zudem Ansprechpartner für Kunden unterschiedlicher<br />

Sprachen seien. 241<br />

In den positiven Rückmeldungen liegen andere Verwendungsweisen von Integration<br />

vor. Es wird das Funktionieren einer durch Migration entstandenen (Stadt-)<br />

Gesellschaft hervorgehoben. Implizit findet sich hier ein Verständnis selbiger im Sinne<br />

der Transkulturalität.<br />

Insgesamt scheint zwar ein Konsens zu bestehen, dass Integration, die allerdings<br />

verschieden aufgefasst wird, notwendig und positiv ist. Allerdings werden hier<br />

Konflikte deutlich, und das Kunstprojekt ist keineswegs nur Bestätigung bestehender,<br />

allgemein akzeptierter gesellschaftlicher Parameter. Ein wichtiger Teil der Bedeutung<br />

239 Siehe: Anhang D, Leserbrief 3, S. 111 (24. Oktober 2007, ‚Wochenkurier‘). Er reagiert damit auf<br />

einen ablehnenden Leserbrief.<br />

240 Siehe: Anhang D, Leserbrief 4, S. 112 (12. September 2007, ‚Westfalenpost‘).<br />

241 Vgl.: ebd. Leserbrief 5, S. 113 (22. November 2007, ‚Westfälische Rundschau‘).<br />

49


von <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> besteht darin, als Auslöser notwendiger öffentlicher<br />

Diskussionen zu fungieren.<br />

6.3.4 Mitgestaltung des öffentlichen Raumes durch die Teilnehmerinnen<br />

Nur eine der Migrantinnen hat in den oben untersuchten Interviews ihre<br />

Staatsbürgerschaft thematisiert. Bei den übrigen ist diese nicht bekannt. Es ist also<br />

nicht klar, inwiefern ihnen in vollem Umfang staatsbürgerliche Rechte zu Teil werden.<br />

Sie gehören jedoch nicht der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ an. In den Interviews mit Hayat<br />

Güler und Inês Marques Gomes zeigt sich, dass sie trotz der Geburt und/oder dem<br />

Aufwachsen in Deutschland zumindest teilweise als Fremde wahrgenommen werden.<br />

Zudem wurde in einem der Leserbriefe deutlich, dass das Kopftuch Hayat Gülers als<br />

Zeichen von Fremdheit gedeutet werden kann. 242<br />

Dass das Projekt maßgeblich durch politische Unterstützung realisiert werden konnte,<br />

ist bereits als Resultat der Debatten um Einwanderungsland und im Einzelnen das<br />

Zuwanderungsgesetz zu sehen. 243 Das Kunstwerk kann für die Migrantinnen als ein Ort<br />

der Anerkennung im öffentlichen Raum und der Teilhabe bei dessen symbolischer<br />

Ausgestaltung betrachtet werden, der ihr ‚In-<strong>Hagen</strong>-Sein‘ bestätigt.<br />

Vermittelt über die Künstlerinnen, werden die Frauen befähigt, sich an der kulturellen<br />

Gestaltung des städtischen Raumes zu beteiligen: Ihr Recht auf einen Ort wird damit<br />

erfüllt, wobei sich dies hier nicht nur auf die Stadt als solche bezieht, sondern auf einen<br />

konkreten Ort innerhalb der Stadt. Gleichzeitig sind ihre Mehrfachbezogenheit und das<br />

subjektive Gefühl, auch – oder eigentlich – an andere Orte zu gehören, elementarer<br />

Bestandteil des Kunstprojekts, womit die Anerkennung ihrer transkulturellen<br />

Identitätsbildung zumindest in dessen Rahmen einhergeht. Hierauf haben durch das<br />

interkulturelle <strong>Hagen</strong>er Leitbild kommunal gegebene Möglichkeiten Einfluss<br />

242 An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass natürlich auch schon die Bezeichnungen ‚Mensch mit<br />

Migrationshintergrund‘, ‚Migrant‘, aber auch ‚Mehrheitsgesellschaft‘ etc. eine Trennung beinhalten und<br />

die Nutzung dieser Begriffe nicht unproblematisch ist. Aus deskriptiven Gründen sind sie hier<br />

unvermeidbar.<br />

243 Die Integrationsbeauftragte der damaligen rot-grünen Bundesregierung, Marieluise Beck, bewertet<br />

das Zuwanderungsgesetz, das 2005 <strong>nach</strong> jahrelangen zwischenparteilichen Debatten in Kraft trat,<br />

folgendermaßen: „Wir haben mit dem neuen Zuwanderungsgesetz eine Schneise geschlagen in dem<br />

Sinne, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist (…).“ (Vgl.: Kohlmann, Thomas (Deutsche Welle):<br />

„Deutschland ist ein Einwanderungsland“, 2005.<br />

URL: http://www.dw-world.de/dw/article/0,2144,1689933,00.html [Stand 10. November 2008])<br />

Auch Ulla Harting von der Staatskanzlei bezieht sich unter anderem auf die Diskussionen um das<br />

Zuwanderungsgesetz. (Vgl.: Jerman (Hg.), 2007, S. 23) Ebenso wertet Tina Jerman das<br />

Zuwanderungsgesetz als einen Wegbereiter für die Förderungsmöglichkeiten von <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong><br />

<strong>II</strong>. (Vgl.: Anhang A, I 3.1, Min. 3,30 - 3,56)<br />

50


genommen, was den Grundgedanken Holerts und Terkessidis’ entspricht. Allerdings<br />

war in diesem Fall maßgeblich die landespolitische <strong>Ebene</strong> von großer Relevanz bei der<br />

schrittweisen Etablierung nur kommunal wahrzunehmender Teilhabe. Zudem geht es<br />

sicherlich nicht um Bürgerrechte und politische Partizipation im konventionellen Sinne,<br />

sondern um eine außerordentliche Möglichkeit für Mitwirkung durch die speziellen<br />

Mittel der Kunst.<br />

Es hat sich in den Interviews in Anknüpfung an Hausers Thesen bei keiner der Frauen<br />

eine Identifikation mit besonderen Merkmalen der baulichen Umwelt in <strong>Hagen</strong> gezeigt.<br />

Die Kunsthistorikerin beschreibt aber zudem, wie Kommunen versuchen, solche<br />

spezifischen Identifikationspunkte unter anderem durch Kunstwerke zu schaffen.<br />

Weiterhin legt Hilgers die Abhängigkeit der symbolischen Ortsbezogenheit von den<br />

Mitgestaltungsmöglichkeiten des Lebensumfeldes dar. Folglich kann <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong><br />

<strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> als eine Möglichkeit für die mitwirkenden Frauen betrachtet werden, die<br />

maßgeblich durch die Künstlerinnen, aber indirekt auch durch ihre unter anderem<br />

kommunalen Förderer geschaffen wird: Einem Identifikationspunkt im baulichstädtischen<br />

Umfeld.<br />

Ob eine solche räumliche Bindung tatsächlich entstehen und gelebt werden wird, ist<br />

allerdings nicht absehbar, sicherlich nicht im weitestgehend ausschließlichen Sinne der<br />

symbolischen Ortsbezogenheit. 244<br />

Wie die Sichtbarkeit der Frauen im öffentlichen Raum und dessen Mitgestaltung im<br />

Einzelnen zustande kommt, ist Gegenstand des letzten Abschnitts.<br />

6.4 Autorschaft und Ausblick<br />

Die Künstlerinnen sind nicht als alleinige Autorinnen des Gestaltungskonzepts für die<br />

Brücke zu sehen, auch die Teilnehmerinnen werden zu Mit-Autorinnen im<br />

künstlerischen Prozess. 245 Dies deutet sich schon an, wenn Verkerk und Reinhart in<br />

ihrer Interpretation der Geschichten versuchen, den von den Frauen ihrer Meinung <strong>nach</strong><br />

intendierten Bedeutungen möglichst gerecht zu werden oder wenn sie die Frauen in den<br />

Ausschnitten aus ihren Geschichten selbst zu Wort kommen lassen. Indem sich die<br />

244 Wie bei Hauser angesprochen, könnte soziale Kommunikation hierbei zwar ebenfalls eine Rolle<br />

spielen, allerdings wird angenommen, dass diese Prozesse bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> individueller<br />

verlaufen. Zudem handelt es sich nicht in allen Fällen im Sinne Hilgers’ um das direkte Lebensumfeld.<br />

245 Der Kunsttheoretiker Stephan Schmidt-Wulffen zeigt am Beispiel eines Projekts, wie hierdurch die<br />

Trennung zwischen Rezipient und (Kunst-)Produzent unscharf wird. (Vgl.: Schmidt-Wulffen, Stephan:<br />

„Rosendale überall – Zum Neuverständnis von Kunst im öffentlichen Raum“. In: Köttering (Hg.), 1997,<br />

S. 179 f.) Diese Trennungslinie verwischt auch bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong>.<br />

51


Handschrift einiger Frauen und das Wort Brücke in ihrer Sprache wieder finden, wird<br />

diese Situation noch deutlicher: Die beteiligten Frauen beschreiben quasi selber den<br />

öffentlichen Raum. Allerdings fallen die Auswahl der einzelnen Ausschnitte und<br />

Handschriften und ihr Arrangement weiterhin den Künstlerinnen zu, ebenso bestimmen<br />

sie über die Form, in der sie die Erinnerungen in ihren Bildern darstellen. Wie die<br />

entsprechend von den Teilnehmerinnen ausgewählten Farben letztlich genau zum<br />

Einsatz kommen, liegt ebenfalls bei den Künstlerinnen, aber die Farben markieren auch<br />

die bedeutendste Möglichkeit für eine Mehrfachautorschaft bei <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong><br />

<strong>II</strong>: Dadurch, dass die Frauen diese auswählen, geben Reinhart und Verkerk die<br />

Entscheidung über ein elementares, wenn nicht sogar das wichtigste, künstlerische<br />

Gestaltungsmittel ab. 246<br />

Auf diese Weise sind die Partizipientinnen selbst in bedeutenden Aspekten unmittelbar<br />

an der Darstellung ihrer Erinnerungen beteiligt, und sie werden so zu Mitgestalterinnen<br />

der städtischen Umwelt. Nach Gidion wird durch <strong>Sehnsucht</strong> kreatives Potential<br />

freigesetzt und <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> kann als eine Weise verstanden werden, dies<br />

zu kanalisieren.<br />

Es gilt zu bedenken, dass Farben – im Vergleich zur Sprache – ein anderes,<br />

unmittelbareres Wirkungspotential besitzen. Wenn Milica Reinhart sagt, dass die<br />

Brücke zum Gedächtnis der Anwohnerinnen wird, hat dies vor allem eine Bedeutung<br />

für die Frauen selber: Die Begegnung mit ihren persönlich bedeutsamen Farben, die mit<br />

verschiedenen Orten, Situationen und Beziehungen verbunden sind, könnte als<br />

sinnlicher Auslöser ihres Erinnerns an diese und damit verbundene Gefühle im<br />

öffentlichen Raum fungieren. 247 Gleichzeitig kann hierin auch ein besonderer Einfluss<br />

auf ihre individuellen Identifikationsprozesse gesehen werden. 248<br />

Für die übrigen Rezipienten gelten andere Wirkungsweisen, von denen hier einige<br />

skizziert werden sollen 249 : Vordergründig durch die verschiedenen Sprachen kann die<br />

Brücke die Menschen öffentlich daran erinnern, dass sie in einer transkulturell<br />

geprägten Stadt leben und gegebenenfalls daran, dass es unter diesen Umständen gilt,<br />

ein verändertes Verständnis von Kultur und damit möglicher kultureller Identitäten zu<br />

246 Vgl.: Linares, 2005, S. 87.<br />

247 Die Erinnerungsprozesse, die durch ihre Sprachen und Handschriften sowie Geschichten ausgelöst<br />

werden könnten, funktionieren vornehmlich im sprachlichen Modus. Dabei ist auch nur eine Auswahl<br />

der Schriften und Geschichten zu sehen, so dass dies nicht für alle Frauen gleichermaßen gilt.<br />

248 Hierbei muss bedacht werden, dass die dargestellten Erinnerungen sowohl transnationale Orte als<br />

auch <strong>Hagen</strong> betreffen.<br />

249 Allein dadurch, dass das Gestaltungskonzept offensichtlich nicht durch eine Autorin entstanden ist,<br />

die zumindest intendieren könnte, dessen Sinn vorzugeben, ist es in besonderer Weise offen für<br />

vielfältige Deutungen.<br />

52


entwickeln. Migranten, die vielleicht sogar ihre Sprache an der Brücke wieder finden,<br />

kann sie umgekehrt auch daran erinnern, dass Veränderungen bezüglich des<br />

gesellschaftlichen Selbstverständnisses stattfinden: Ihr ‚In-<strong>Hagen</strong>-Sein‘ wird in dem<br />

Maße anerkannt, dass ein solches Projekt umgesetzt werden konnte. 250 Diese Lesarten<br />

sind auch abhängig davon, wie viel Wissen um die vorgängigen Diskussionen der<br />

jeweilige Betrachter hat.<br />

Dadurch, dass wiederum jeder Rezipient ein anderes Verhältnis zu bestimmten Farben<br />

hat, können die Bilder, in denen die Farben im Zusammenspiel mit den Formen der<br />

Künstlerinnen wirken, in ihm ebenso persönliche Erinnerungen und Gefühle<br />

evozieren. 251<br />

250 Im Interview mit Inês Marques Gomes wird deutlich, dass es die Absicht der Künstlerinnen ist, über<br />

die jeweiligen Frauen eine Repräsentation in diesem Fall der gesamten ‚Portugiesen‘ zu erzielen.<br />

251 Insgesamt erschließen sich für Betrachter, die den ‚Brückenführer‘ oder vielleicht sogar den Katalog<br />

kennen, andere Zugangsmöglichkeiten.<br />

53


7 Fazit<br />

<strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> legt als in sozialer Hinsicht ortsspezifisch vorgehende Kunst<br />

Strukturen zugrunde und frei, die Altenhagen und die gesamte Stadt prägen:<br />

Translokale und -kulturelle Verbindungen, die besonders über Migranten hergestellt<br />

werden und auch deren persönliche Identitätsbildung beeinflussen. 252 In der<br />

Aufrechterhaltung dieser Bezüge spielen normalerweise nicht sichtbare psychischmentale<br />

Prozesse wie Erinnerung und <strong>Sehnsucht</strong>, die in den Interviews zu Tage<br />

kommen und stimuliert werden, eine entscheidende Rolle. Zur physischarchitektonischen<br />

Ortsspezifität des Projekts ist zu bemerken, dass der künstlerische<br />

Umsetzungsort die beschriebene Bedeutungsebene um den symbolischen Gehalt der<br />

Brücke ergänzt, die Anbindung über das städtische Territorium hinaus ist. Gerade im<br />

Hinblick auf die Bilder wird allerdings nicht versucht, derart festgelegte Lesarten<br />

vorzugeben.<br />

Die <strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> einer anderen <strong>Ebene</strong> wird allgemein im Hinblick auf eine<br />

Verbesserung des Stadtbildes und andere Wahrnehmungsmöglichkeiten innerhalb des<br />

öffentlichen Raumes erfüllt. So kann die neue Farbwirkung persönliche Erinnerungen<br />

und Gefühle beim Rezipienten evozieren, was speziell für die beteiligten Frauen als<br />

gleichzeitige Mitautorinnen eine zusätzliche Brücke zu Orten und sozialen und<br />

kulturellen Kontexten außerhalb <strong>Hagen</strong>s bilden kann.<br />

Der künstlerisch gestaltete Ort bedeutet im Hinblick auf die Partizipientinnen, aber<br />

auch andere Betrachter mit Migrationshintergrund, eine neue <strong>Ebene</strong> der öffentlichen<br />

Anerkennung. Es wird sozusagen eine Brücke zu ihrem ‚In-<strong>Hagen</strong>-Sein‘ geschlagen.<br />

Den Teilnehmerinnen werden dabei kulturelle Mitgestaltungsmöglichkeiten gegeben,<br />

was sich auch auf ihre Identifikationsprozesse auswirken kann.<br />

<strong>Sehnsucht</strong> <strong>nach</strong> <strong>Ebene</strong> <strong>II</strong> spiegelt eine partielle gesellschaftliche – im Einzelnen<br />

besonders künstlerische und politische – Hinwendung zur Transkulturalität. Zugleich<br />

sind die entsprechenden Diskussionen im Vorfeld der Umsetzung ein wichtiger Effekt,<br />

den das Projekt erzielt hat. Es ist abhängig von den jeweils bestehenden Einstellungen<br />

und der diesbezüglichen Flexibilität der Beobachter, Kommentatoren und letztlich<br />

Rezipienten, inwiefern der künstlerisch gestaltete Ort als Brücke zwischen Menschen in<br />

einer transkulturellen Gesellschaft und zu deren kulturellen Kontexten fungieren kann.<br />

252 Interessant ist hierbei die Aussage der Künstlerinnen, dass es sich um ein Projekt handele, welches<br />

aufgrund vergleichbarer sozialer – aber auch baulicher – Strukturen beispielhaft für ganz Westeuropa sei.<br />

(Vgl.: Anhang A, I 2, Min. 13,37 - 14,30) An dieser Stelle ist ein Zusammenhang zu Hausers Thesen zu<br />

sehen. Während die Ortsspezifität darin liegt, den speziellen sozialen und baulichen Kontext in <strong>Hagen</strong><br />

einzubeziehen, spiegelt dieser für die Künstlerinnen eine örtliche Indifferenz.<br />

54


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