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Es gehörte zur Praxis der Tagesrückschau, die er lückenlos nach wie vor machte, dass er auch<br />

gelegentlich über die Tätigkeiten einer größeren Zeitspanne eine Rückschau hielt. Hierbei legte er<br />

sich nicht nur Rechenschaft über sein Verhalten ab, sondern auch über alle Tätigkeiten und welche<br />

Früchte sie gebracht hatten. Bei dieser Rückschau jetzt stellte er fest, dass ihm das Studium all der<br />

philosophischen und gelehrten Schriften über Mystik, Erleuchtung und sonstigen tiefen<br />

Weltgeheimnissen kein nachvollziehbares Verständnis brachten. All die Zitate und Abhandlungen<br />

erschienen ihm wie tote Worthülsen, von Menschen geschrieben, die all das worüber sie schrieben<br />

nie erlebt hatten. Severin erwarb hierdurch eine hohle Gelehrsamkeit, die bestenfalls seiner Eitelkeit<br />

diente.<br />

Mit einiger Betrübnis notierte Severin die Ergebnisse der Selbstbefragung und was diese als Resultat<br />

auf all die viele Mühe brachte. Es war ihm keine Freude die hierbei wirkenden Mechanismen zu<br />

entschlüsseln. Das worauf er vor kurzem noch stolz war, entpuppte sich als ein Mäntelchen der<br />

Eitelkeit und als Glaube durch den Intellekt die Geheimnisse der Schöpfung entschlüsseln zu<br />

können. Auch sah er zu seiner Enttäuschung, dass je mehr er las, er mit desto mehr<br />

unterschiedlichen Meinungen konfrontiert wurde. Und alle diese Meinungen wurden in ihrer Weise<br />

mit logischen Argumenten belegt.<br />

Zum Abschluss der Überlegungen schrieb Severin folgendes in sein elektronisches Notizheft:<br />

Seit der Volksschule, durch alle Schulen hindurch bis zur höheren Ausbildung, sind die Kinder<br />

und Jugendlichen gezwungen sogenanntes Wissen zu büffeln, egal, ob sie sich dafür<br />

interessieren oder nicht, egal, ob das Wissen veraltet und wertlos ist oder nicht. Ich erinnere<br />

mich zurück, wie ich in der zweiten Klasse des Realgymnasiums in der Pflanzenkunde die<br />

einzelnen Blütenpflanzen erlernen musste, indem ich aufzählen musste wie viele<br />

Staubgefäße, Stempel, Blütenblätter und Kelchblätter die Pflanzen hatten. Sollte dadurch<br />

vielleicht uns Schülern die Liebe zur Natur nahe gebracht werden? Und es wäre mir ein<br />

Leichtes aus der Erinnerung viele weitere Beispiele hinzuzufügen. Durch all die Schulklassen,<br />

von der Volksschule bis zum Abitur und im Studium in ähnlicher Weise weiter, musste das<br />

sogenannte Wissen erlernt werden und der Erfolg wurde je nach der angereicherten Menge<br />

des lexikalischen Lerngutes mit Noten belohnt oder bestraft.<br />

Jetzt vor zwei Tagen ging mir ein Licht auf als ich rein zufällig den Ausspruch eines Sadhu las:<br />

"Wissen ohne Erfahrung führt in die Irre.<br />

Erfahrung ohne Wissen führt ebenfalls in die Irre."<br />

Ab dem Moment als ich den Spruch gelesen hatte, begann ich all mein Streben um<br />

Wissenserwerb zu überdenken. Das Ergebnis war ernüchternd. Der Ausspruch, den ich las,<br />

kam zum richtigen Zeitpunkt. Vielleicht hätte ich ihn einige Monate vorher überlesen. Jetzt<br />

aber schien die Zeit dafür reif. - Ich danke dem Sadhu für diesen Ausspruch und die damit<br />

verknüpfte Hilfe!<br />

Severin schrieb zusammenfassend seine Gedanken über das Lernen und das Wissen:<br />

Wissen ist für einen inneren Fortschritt unentbehrlich. Ohne Wissen bleibt der Mensch<br />

oberflächlich und kann keine Tiefe erreichen.<br />

Wissen ist ähnlich einem Werkzeug, einem Hammer etwa. Es kann vernünftig eingesetzt<br />

werden und eine Hilfe sein, oder es kann sinnlos eingesetzt werden, wobei es dann neutral bis<br />

destruktiv wirkt. Beim inneren Weg der Reifung ist es schlecht, wenn man nicht nachdenkt und<br />

glaubt sich das Denken durch Lernen ersparen zu können. Dann ist ein solches Lernen wie<br />

eine Flucht. Es hindert den Menschen seine eigene Tiefe auszuloten, was dieser Mensch<br />

vielleicht auch nicht will, aus Angst, dass Unerwünschtes zu Tage treten könne.<br />

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