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4<br />
THEMA<br />
die chaotische Energie hüten und<br />
für die Gemeinschaft wieder nutzbar<br />
machen, sie können aber auch dem<br />
Chaos soviel Ordnung geben, dass<br />
das Chaos sich nicht verselbständigt<br />
und alles überflutet. Erdheim führt<br />
dann weiter aus: „Meine These lau-<br />
tet, dass dieses Chaos aus der Gesellschaft<br />
in die Individuen versetzt<br />
wurde, und dass wir es heute in der<br />
Adoleszenz wiedererkennen kön-<br />
nen. Mit der Beschleunigung des<br />
Kulturwandels kam es zu einer Dezentrierung,<br />
Entsakralisierung und<br />
Subjektivierung des Chaos. Die<br />
Initiationsrituale wurden aufgegeben<br />
und das gemeinsam Verpflichtende<br />
der Feste trat allmählich zurück.<br />
Das Individuum musste nun selbst<br />
sehen, wie es mit dem Chaos, das<br />
nun in ihm drin war, zurechtkam. ...<br />
In dem Maße, als die Initiation in den<br />
modernen Kulturen an Bedeutung<br />
verlor, kam es zu einer Verlängerung<br />
der Adoleszenz; es traten also zwei<br />
Prozesse in Interaktion. Mit der<br />
Auflösung der Initiationsrituale, die<br />
die chaotischen Antriebe des Menschen<br />
einst zu numinosen und<br />
heiligen Kräften gebündelt hatten,<br />
verlor das Chaos seinen sakralen<br />
Charakter und verwandelte sich im<br />
Feuer der verlängerten Adoleszenz in<br />
kreative und destruktive Energie.“ 6<br />
<strong>Rituale</strong> – in Schule, in Jugendarbeit -<br />
können Jugendlichen helfen, Chaos<br />
zuzulassen und zu bändigen.<br />
Nochmals – wir kennen alle die<br />
<strong>Rituale</strong>, die Jugendliche entwickeln,<br />
Mutproben, die Angst machen, Aufnahmerituale<br />
in eine Gruppe, zum<br />
Teil Gewaltinszenierungen, die uns<br />
erschrecken. Aggressive Impulse wie<br />
Alkoholexzesse, andere Suchtmittel<br />
etc. müssen ernst genommen und auf-<br />
gefangen werden. Christliche <strong>Rituale</strong><br />
sind so entkörperlicht und spiritualisiert,<br />
dass die Erfahrung von<br />
Ordnung und Chaos verloren<br />
gegangen ist. Handauflegung statt eines<br />
Backenstreichs, wirklich Mann- und<br />
Frauwerden ersetzt durch symboli-<br />
sche Handlungen. Wenn wir um<br />
<strong>Rituale</strong> bei jungen Menschen ringen,<br />
dann müssen diese <strong>Rituale</strong> das<br />
Prickeln und die Herausforderung<br />
beinhalten, sie müssen Chaos<br />
bündeln und die Energie in kreativkonstruktive<br />
Prozesse leiten – Musik<br />
und Sport und Filmemachen u.v.m.<br />
Intensität und Grenzen / Ordnung und<br />
Chaos – das scheinen mir wichtige<br />
Stichworte zu sein – beides ist nötig.<br />
Ritualisieren an Kernpunkten des<br />
(Erwachsenen-)Lebens<br />
Wenn sich Beziehungen verändern,<br />
brauchen wir <strong>Rituale</strong> für Liebe<br />
und für Trennungen. Neue<br />
Familienkonstellationen brauchen<br />
neue Ritualisierungen: konkret –<br />
wie feiern wir Weihnachten, wenn<br />
die Familie aus Teilfamilien besteht,<br />
bei wem sind wir wann, wer ist wo<br />
mit dabei... Vermutlich kennen<br />
wir das alle aus eigener Erfahrung<br />
oder aus den Großfamilien und<br />
dem Freundeskreis. <strong>Rituale</strong> bei<br />
Arbeitswechsel oder Ortswechsel,<br />
beim Übergang in die Pensionierung,<br />
bei schweren Erkrankungen. (Oft<br />
sind es ja nicht die „großen“ <strong>Rituale</strong>,<br />
die helfen, sondern unsere kleinen,<br />
entstanden in frühen Erfahrungen<br />
der „Andacht“, auf die wir hoffentlich<br />
wieder zurückgreifen können, wenn<br />
es schwierig wird, z.B. ein Kerzchen<br />
anzünden.<br />
Friedrich Schweitzer 7 u.a. beschreiben,<br />
was viele von uns wahrnehmen:<br />
Religiosität und Glaube orientieren<br />
sich nicht am Sonntagmorgen,<br />
sondern an Lebensübergängen, an<br />
Lebenseinschnitten des Individuums<br />
– Geburt und Schuleintritt, Hochzeit<br />
und Trennung, Pensionierung, Krank-<br />
heit und Tod. Vor allem an den<br />
Lebenswenden werden Feiern gewünscht<br />
und gesucht, um Sicherheit<br />
zu geben, um Orientierung zu finden,<br />
ein Neubeginn soll gesegnet sein.<br />
Dass an diesem Übergang mit dem<br />
Segen die Aufnahme in die Kirche<br />
verbunden ist, ist meines Erachtens<br />
unterschiedlich bewusst.<br />
Menschen treten an Übergängen<br />
näher heran an religiöse <strong>Rituale</strong>, sie<br />
gehen auch auf christlich-kirchliche<br />
Traditionen näher zu, feiern diese<br />
mit und ziehen sich dann auch<br />
wieder zurück oder gehen teilweise<br />
auf Distanz. Religiöse <strong>Rituale</strong> leben<br />
von Menschen, die sie glaub-würdig<br />
feiern, die diese <strong>Rituale</strong> tragen und<br />
gestalten, um so anderen Menschen<br />
egal welchen Alters zu ermöglichen,<br />
sich anzunähern, diese <strong>Rituale</strong><br />
mitzufeiern und sich davon tragen zu<br />
lassen.<br />
Wir brauchen Sprache für das, was<br />
uns berührt, was uns lachen und<br />
weinen lässt, was uns Kummer und<br />
Freude macht. Symbolische Sprache,<br />
das Symbol selbst ist eine bedeutsame<br />
Form, die unseren Erfahrungen<br />
Ausdruck und Deutung gibt – nicht<br />
g Mitteilungen 2 - 2009<br />
primär als religiöse Sprache, sondern<br />
als Sprache auch für Religiöses. Wir<br />
brauchen Ausdruck für unsere Angst,<br />
für die Liebe und für den Streit, das<br />
ist nicht neu. Neben den festgelegten<br />
symbolischen Zeiten für die <strong>Rituale</strong><br />
brauchen wir sie an den Übergängen<br />
im eigenen Leben, an den geplanten<br />
und ungeplanten Übergängen.<br />
Die von den Kirchen, hier von der<br />
katholischen Kirche angebotenen<br />
„symbolischen Ordnungen“, vor<br />
allem die Riten und Feiern an den<br />
Lebenswenden („rites de passage“),<br />
werden von Menschen mit unterschiedlicher<br />
Nähe bzw. Distanz zur<br />
Kirche in Anspruch genommen.<br />
Kirche bietet damit eine Chance zum<br />
Ausdruck von Gefühlen und Gedanken,<br />
zur Erfahrung von Bedeutsamkeit<br />
und „Sinn“. Entscheidend ist,<br />
inwieweit sie diese Erfahrungen so<br />
auszudrücken vermag, dass sowohl<br />
die Einzelperson als auch die Gruppe<br />
ihre Bezugspunkte finden kann. Für<br />
junge Menschen: eine Feier an einem<br />
Übergang zwischen den Schuljahren,<br />
oder eine Wanderung in der Nacht,<br />
oder auch - ein Ritual, wenn ich Angst<br />
habe – vor einer Prüfung, um die<br />
gerade gefundene „Liebe“, oder auch<br />
zur Versöhnung. In Krisen und in<br />
geplanten Übergängen - immer wieder<br />
brauchen wir Ritualisierungen, die<br />
uns Ordnung geben, einen Anfang<br />
und ein Ende, einen Ort und<br />
einen Rahmen, die uns helfen, den<br />
Gefühlen Raum zu geben, ohne dass<br />
sie entgleiten. Auch wenn es keine<br />
Garantie für das Gelingen gibt, auch<br />
wenn Aggressives aus dem Ritual nicht<br />
ausgeschlossen sein sollte, bleibt für<br />
religiöse <strong>Rituale</strong> der Anspruch, dass<br />
sie Struktur und Ordnung geben im<br />
Chaos – nach außen und nach innen.<br />
Sie können einen Raum eröffnen, in<br />
dem Angst begrenzt und Zuversicht<br />
wachsen kann. g<br />
1 Zum Gesamten: Kohler-Spiegel, Helga: Erfahrungen<br />
d. Heiligen. Religion lernen u.lehren, München 2008.<br />
2 Jetter, Werner: Symbol und Ritual. Anthropologische<br />
Elemente im Gottesdienst, Göttingen 2 1986, 96.<br />
3 Leistner, Herta u.a. (Hg.): Laß spüren deine Kraft.<br />
Feministische Liturgien. Grundlagen - Argumente -<br />
Anregungen, Gütersloh 1997, 37.<br />
4 Vgl. Mahler, Margaret u.a.: Die psychische Geburt<br />
des Menschen. Symbiose und Individuation, Frankfurt<br />
a.M. 1993.<br />
5 Vgl. Kuld, Lothar: Das Entscheidende ist unsichtbar.<br />
Wie Kinder und Jugendliche Religion verstehen,<br />
München 2001.<br />
6 Erdheim, Mario, Ritual und Reflexion, in: Caduff,<br />
Corina/Pfaff-Czarnecka, Joanna (Hrsg.), <strong>Rituale</strong> heute.<br />
Theorien – Kontroversen – Entwürfe,165-178, 170.<br />
7 Vgl. Schweitzer, Friedrich: Postmoderner<br />
Lebenszyklus und Religion. Eine Herausforderung für<br />
Kirche und Theologie, Gütersloh 2003.