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Winter/zima 2008/2009 - Pavelhaus

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Schicksal einer Zwangsarbeiterin<br />

Schicksal einer Zwangsarbeiterin<br />

Ab dem 5. November befand sich meine Großmutter<br />

im RAD-Lager Müncheberg im Gau<br />

Brandenburg, östlich von Berlin. Dort leistete<br />

sie bis April 1945 Zwangsarbeit. Sie wurde<br />

nicht wie die anderen Zwangsarbeiter am<br />

Feld oder in Fabriken eingestellt. Meine Großmutter<br />

wurde zur Arbeit im Lager eingeteilt.<br />

Schnell musste sie Deutsch lernen (was sie<br />

noch immer kann) und sich die deutschen Tugenden<br />

aneignen. Durch ihr vertrauensseliges<br />

Wesen baute sie schnell eine besondere Beziehung<br />

zum Lagerführer auf. Sie wurde zum<br />

persönlichen Dienstmädchen des Lagerführers<br />

Erich Kessler befördert. Trotz Großmutters<br />

Nationalität und „nicht-arischen Aussehens“<br />

wurde sie gut behandelt. Generell ist zu<br />

sagen, dass sie Glück im Unglück hatte. Ihrem<br />

kleinen Bruder und ihrer Stiefmutter erging es<br />

verhältnismäßig nicht so gut. Beide arbeiteten<br />

unter schlechten Bedingungen bei Bauern am<br />

Feld bzw. auf einem Hühnerhof.<br />

Bis Mitte Februar 1945 rückte die Rote Armee<br />

im Osten in mehreren Offensiven bis<br />

zur Oder vor und besetzte auch die westlich<br />

der Oder gelegenen Teile Schlesiens. Aus dieser<br />

Ausgangslage bereitete die Rote Armee die<br />

Eroberung Berlins vor, die zuvor Josef Stalin<br />

Anfang 1945 befohlen hatte. Da sich das Lager<br />

Müncheberg im Gebiet der Schlacht um<br />

Berlin befand, musste meine Großmutter wieder<br />

den Ort, an dem sie bis dahin vier Jahre<br />

gelebt hatte, verlassen. Nur diesmal war diese<br />

„Abreise“ keineswegs geplant.<br />

Der Lagerführer packte seine Sachen, zog Zivilkleidung<br />

an und sagte zu den Zwangsarbeitern,<br />

dass sie flüchten sollten: „Lauft weg! Die<br />

Russen kommen! Geht, wohin euch eure Füße<br />

tragen!“ Von diesem Augenblick an war meine<br />

Großmutter frei, aber keinesfalls sicher. Wohin<br />

sollte sie jetzt gehen? Nicht nur sie stellte<br />

sich diese Frage, sondern auch alle anderen.<br />

Zur Eroberung Berlins sammelte die Sowjetunion<br />

eine gigantische Armee, die sich auf die<br />

letzte Schlacht vorbereitete. Westlich von Berlin<br />

befanden sich letzte Reste der Deutschen<br />

Armee und östlich näherte sich die Rote Armee.<br />

Am 16. April 1945 leitete die Rote Armee,<br />

mit einem Zangenangriff auf Berlin, das<br />

nahe Ende des NS-Regimes ein. Die 1. Ukrainische<br />

Front überrollte die deutschen Verteidigungsstellungen<br />

an der Lausitzer Neiße<br />

südlich von Berlin, wohingegen die 1. Weißrussische<br />

Front nach verlustreichen Kämpfen<br />

auf den Seelower Höhen die Stadt im Norden<br />

umging. Nur in vergleichsweise zähen und blutigen<br />

Straßenkämpfen gelang es den Sowjets,<br />

in das Zentrum vorzustoßen. Am 30. April<br />

hissten Rotarmisten auf der Spitze des Reichstags<br />

die rote Fahne mit Hammer und Sichel.<br />

Die Schlacht um Berlin war die letzte bedeutende<br />

Schlacht des Zweiten Weltkriegs in Europa.<br />

Sie dauerte vom 16. April bis zum 2.<br />

Mai 1945 und hatte die Besetzung Berlins,<br />

der Hauptstadt des nationalsozialistischen<br />

Deutschen Reichs, durch die Rote Armee der<br />

UdSSR zur Folge. Die Kämpfe forderten mehr<br />

als 800.000 Todesopfer. Die Mehrheit waren<br />

sowjetische Soldaten und mindestens 150.000<br />

Tote waren Zivilisten. Mit dem Ende dieser<br />

Schlacht war die Diktatur des Nationalsozialismus<br />

nach der bereits erfolgten Befreiung<br />

der vom Deutschen Reich besetzten Gebiete<br />

Europas auch im Ausgangsland dieses Krieges<br />

militärisch besiegt.<br />

Es dauerte von April bis Oktober 1945, bis<br />

meine Großmutter wieder in ihre Heimat<br />

zurückkehrte – ganz allein, denn unterwegs<br />

hatte sie ihre Familie verloren. Bangen Herzens<br />

suchte sie nach ihren Lieben und zu ihrer<br />

großen Erleichterung erfuhr sie, dass alle<br />

Familienmitglieder überlebt hatten. Die Wiedersehensfreude<br />

war gewaltig. Seitdem lebt<br />

meine Großmutter in Sromlje, nahe Krško. Sie<br />

heiratete ihren Mann Anton Kostanjšek und<br />

wurde Mutter von drei Kindern.<br />

Ich bin sehr dankbar, dass ich meine Großmutter<br />

– die mittlerweile 78 Jahre alt ist – so<br />

genau kennen lernen durfte. Sie erzählte zwar<br />

oft von ihren Kindheitserlebnissen, aber nach<br />

jetzigem Stand meines Wissens wurden ihre<br />

Erlebnisse und ihr Schicksal zu wenig beachtet.<br />

Ich bewundere meine Großmutter dafür,<br />

wie sie diese traumatischen Ereignisse, den<br />

frühen Tod ihrer Mutter, die Zurückweisung<br />

durch ihre Stiefmutter, ihre Verschleppung<br />

nach Deutschland bewältigt hat. Mich überwältigt<br />

ihr Durchhaltevermögen, ihre Robustheit,<br />

ihre pragmatische Lebensweisheit.<br />

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