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barrikade # 7 - Abrechnung mit Seidmans 'Gegen die Arbeit'.pdf

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arrikade sieben - April 2012<br />

Michael <strong>Seidmans</strong> Hintergrund, in der Republic<br />

of Egos, ist ebenfalls der Bürgerkrieg, und auch hier<br />

hauptsächlich aus der Perspektive des republikanischen<br />

Spanien betrachtet. Der Autor behauptet<br />

ausdrücklich, eine Sozialgeschichte geschrieben<br />

zu haben. Das aber stellt sich aus einer Reihe von<br />

Gründen als problematisch heraus. Erstens schließt<br />

<strong>die</strong> eigentümlich statische thematische Struktur, <strong>die</strong><br />

Seidman adaptiert, <strong>die</strong> Analyse aus, wie <strong>die</strong> materiellen<br />

Bedingungen, <strong>die</strong> gesellschaftliche Erfahrung<br />

und <strong>die</strong> unterschiedlichen Bedeutungen, <strong>die</strong> ihnen<br />

Gruppen und Individuen zumaßen, sich während<br />

des Krieges entwickelten. Obwohl ein normaler<br />

Leser es durch <strong>die</strong> Lektüre des Buches wahrscheinlich<br />

nicht <strong>mit</strong>bekommen würde, so lagen zwischen<br />

1938 und 1936 Welten, was <strong>die</strong> Bedingungen des<br />

täglichen Lebens im republikanischen Spanien und<br />

<strong>die</strong> variierenden Erwartungen der Bevölkerung für<br />

<strong>die</strong> Zukunft betraf. Das lag zum nicht geringen Teil<br />

an dem sich verschlechternden internationalen diplomatischen<br />

Klima und dem Einfluß des ökonomischen<br />

Embargos, das sich gegen <strong>die</strong> Republik<br />

richtete, als Konsequenz der von den europäischen<br />

Mächten verhängten Politik der Nichteinmischung.<br />

Dies hatte einen direkten und in wachsendem<br />

Maße zerstörerischen Effekt auf <strong>die</strong> Fähigkeit der<br />

Republik, ihre Armee und Bevölkerung zu versorgen,<br />

und so<strong>mit</strong> auf jeden Aspekt des Lebens im republikanischen<br />

Spanien. Am Ende sollte <strong>die</strong> daraus<br />

resultierende Krise, <strong>die</strong> zu ernsthaftem Hunger<br />

führte, alles untergraben, einschließlich der politischen<br />

Legiti<strong>mit</strong>ät der Republik. Doch <strong>Seidmans</strong><br />

Beitrag ignoriert <strong>die</strong> Tatsache, daß das alltägliche<br />

Leben, welches er beschreibt, eigentlich von dem<br />

‚größeren Bild‘ geformt war. Aus irgend einem<br />

Grund scheint der Verfasser zu denken, daß <strong>die</strong>s<br />

als Thema einer völlig anderen Art von historischer<br />

Untersuchung abgetrennt werden kann.<br />

<strong>Seidmans</strong> Gliederung ist auch auf andere Art<br />

höchst fraglich. Ihre fast völlige Mißachtung der<br />

Chronologie bedeutet, daß der Autor in zahlreiche<br />

Widersprüche verfällt. Manchmal sind sie real (auf<br />

Seite 27 wird der Bürgerkrieg als ein Konflikt beschrieben,<br />

in den <strong>die</strong> Massen nicht verwickelt waren,<br />

während der Autor, ohne weiteren eigenen<br />

Kommentar, auf Seite 47 <strong>die</strong> Selbsteinschätzung der<br />

rebellierenden Militärs zitiert, daß <strong>die</strong> arbeitenden<br />

Massen gegen sie wären). Bei anderen Gelegenheiten<br />

ergeben sich <strong>die</strong> Widersprüche als Nebeneffekt<br />

seiner mangelhafte Gliederung: <strong>die</strong> republikanischen<br />

Milizen waren effektiv (S. 29; S. 34), dann<br />

wieder nicht (S. 42 & ff.). Tatsächlich waren sie im<br />

städtischen Straßenkampf effektiv, aber schwach,<br />

wenn sie in der konventionellen Kriegsführung im<br />

offenen Gelände gegen reguläre Truppen eingesetzt<br />

wurden. Seidman macht <strong>die</strong>sen Unterschied,<br />

der von kardinaler Bedeutung für <strong>die</strong> Entwicklung<br />

der militärischen, politischen und sozialen Organisation<br />

im republikanischen Spanien war, nicht annähernd<br />

genug deutlich. Aber ob nun real oder nur<br />

scheinbar, solche Widersprüche (und es gibt viele<br />

davon) werden unter normalen Lesern und Studenten,<br />

<strong>die</strong> eine kohärente Analyse zeitlicher Entwicklungen<br />

suchen, ernste Verwirrung anrichten.<br />

Was wir durchgängig in <strong>die</strong>sem Buch bekommen,<br />

ist überhaupt keine wirkliche historische Analyse,<br />

sondern eher ein Schliddern über <strong>die</strong> Oberfläche,<br />

ein beschreibendes Kompendium , zusammengestellt<br />

aus archivalischen oder bibliographischen<br />

Schnipseln, <strong>die</strong> in keine besondere Richtung führen.<br />

Die Primär- und Sekundärreferenzen sind<br />

gelegentlich nachlässig (einige der archivalischen<br />

Referenzen sind in der Tat ziemlich merkwürdig),<br />

und der regelmäßige Gebrauch veralteten angloamerikanischen<br />

Schrifttums ist unakzeptabel, wo<br />

eine umfangreiche Zahl spezieller spanischer historischer<br />

Werke jetzt problemlos zur Verfügung<br />

steht. Was sich im Detail summiert, summiert sich<br />

auch in den verallgemeinernden Abschweifungen.<br />

Diese werfen jede Menge entscheidender Fragen<br />

auf und sind, gelegentlich, erschreckend schlecht<br />

durchdacht. Wo ist der Beweis, daß ein ‚gemeinsam<br />

geteilter Katholizismus Einfluß darauf nahm,<br />

<strong>die</strong> brutalsten Aspekte des Krieges zu mildern‘?<br />

Psychologische und physische Ausrottung konnte<br />

regelmäßig bei fanatischen, ultramontanen[2] Katholiken<br />

beobachtet werden, gegen <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong><br />

sie als <strong>die</strong> schlimmsten ‚Häretiker‘ ansahen, genau<br />

weil ihr Leben soziale Modernität und liberalen katholischen<br />

Glauben kombinierte. Im Bürgerkrieg<br />

wurde das, was einen Katholiken ausmachte, genauso<br />

wie das, was einen Spanier ausmachte, brutal<br />

herausgefordert.<br />

Aber der schwerste Fehler in <strong>Seidmans</strong> Arbeit<br />

– ob nun als Sozialgeschichte oder als Geschichte<br />

tout court – ist ihr Scheitern, <strong>die</strong> intimen Verbindungen<br />

zwischen massenhafter politischer Mobilisierung,<br />

kulturellem Wandel und individueller<br />

Identität/Subjektivität im Europa der 1930er Jahre<br />

zu verstehen. Ideologie war nichts zusätzlich ‚Aufgepropftes‘,<br />

wie uns Seidman glauben machen<br />

möchte. Sie war ein integraler Bestandteil des gesellschaftlichen<br />

Bewußtseins, der Wahrnehmung<br />

der Leute von sich Selbst – und <strong>mit</strong> ‚Leuten‘ meine<br />

ich ‚gewöhnliche Leute‘, nicht nur eine politische<br />

Avantgarde. Natürlich gab es Gemeinschaften, <strong>die</strong><br />

am Rande der Kriegserfahrungen blieben (ein Ausnahmefall<br />

wurde von Norman Lewis in Voices of<br />

the Old Sea skizziert). Aber Dr. Seidman erkundet<br />

<strong>die</strong>se Frage nicht wirklich. Stattdessen versucht er<br />

etwas zu leugnen, auf das sogar seine eigenen empirischen<br />

Beweise hindeuten: daß <strong>die</strong> Mobilisierung<br />

im republikanischen Spanien eine gesellschaftliche<br />

und kulturelle Massenereignis war – tatsächlich ein<br />

psychisches/seelisches Ereignis. Er diskutiert selbst<br />

Möglichkeiten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> republikanische Mobilisierung<br />

für Tausende junger Frauen eröffnete. Es gibt<br />

zahllose Zeugnisse, <strong>die</strong> andeuten, wie persönliche<br />

und politische Wandlungen in den Leben junger<br />

spanischer Frauen unauflöslich verbunden waren,<br />

<strong>die</strong> der sozialistisch-kommunistischen Jugendorganisation<br />

(JSU) beitraten, <strong>die</strong> Hunderttausende<br />

während des Krieges mobilisierte. Eine Geschlechter-<br />

und Generationsrevolution fand statt, in den<br />

Köpfen der Leute ebenso wie auf der Straße. Die<br />

Jugend explo<strong>die</strong>rte auf <strong>die</strong> politische Bühne im<br />

republikanischen Spanien der Kriegszeit – der Beweis<br />

dafür findet sich<br />

überall in den Quellen,<br />

wenn man nur weiß,<br />

wo man suchen muß.<br />

Michael <strong>Seidmans</strong> reduktiver<br />

Text erzählt<br />

uns weniger über <strong>die</strong><br />

Sozialgeschichte des<br />

republikanischen Spaniens<br />

der Kriegszeit als<br />

vielmehr darüber, wie<br />

23<br />

Seidman aktuelles Buch -<br />

Die Siegreichen Konterrevolution<br />

(2011)

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