24 HE L E N GR A H A M Republikanische Gefangene im Franco-KZ in Ocaña, 1952 der gegenwärtige politische Impuls dafür gesorgt hat, daß <strong>die</strong> 1930er Jahre viel weiter in den Hintergrund getreten sind als es ihrer tatsächlichen historischen Distanz entspricht. Glücklicherweise ist <strong>die</strong> innovative Sozialgeschichte dabei, ein Korrektiv zu bieten, indem sie das pschychische Leben der linken Massenpolitik im Europa der Zwischenkriegszeit untersucht. <strong>Seidmans</strong> enge Verbundenheit <strong>mit</strong> der ‚universellen Individualität‘, sowieso ein völlig unhistorischer Begriff, ist bei einem Sozialhistoriker um so befremdlicher, da zu dessen Aufgaben <strong>die</strong> präzise Identifizierung der Besonderheiten der Kultur und <strong>die</strong> Untersuchung, wie und warum sich Mentalitäten im Laufe der Zeit ändern, gehört. Die erschreckend statischen und undurchsichtigen Kategorien von ‚Zynismus‘ und ‚Opportunismus‘, <strong>die</strong> er aufmarschieren läßt, passen schlecht zu einer sozialgeschichtlichen Analyse, deren Funktion sein sollte, Verhalten in Bezug auf den spezifischen Gang der spanischen gesellschaftlich und politischen Entwicklung vor und während des Bürgerkrieges zu erklären. Doch für den Autor sind ‚Massenapathie und Gleichgütigkeit‘ eine statische Kategorie für <strong>die</strong> ganzen 1930er Jahre, tatsächlich für <strong>die</strong> gesamte moderne spanische Geschichte (S. 26); es mangelt <strong>Seidmans</strong> Analyse großenteils an Schattierung und Nuancierung. (Dieser Mangel an analytischem Ertrag ist auch ein Problem in Holguíns Buch – siehe beispielsweise ‚Spaniens anscheinend ziellose Geschichte …‘ (S. 4).) Eine Richtung, <strong>die</strong> ein Sozialhistoriker erkunden könnte, würde den ‚Opportunismus‘ <strong>mit</strong> einem traditionellen und tief eingewachsenen klientelistischen oder auf Patronage gegründeten Verständnis von Politik und Leben verbinden. Menschen traten politischen Parteien oder anderen Organisationen eher bei, um materielle Wohltaten und berufliches Fortkommen zu erlangen, nicht so sehr, weil sie ein Element einer politischen Vision teilten. Nichtdestoweniger ist einer der grundlegenden Punkte im Spanien der 1930er Jahre, als einer Übergangszeit, daß <strong>die</strong> Politik regelmäßig beides gleichzeitig bedeutete. ‚Zynismus‘ war ebenfalls ein grundlegender Bestandteil, der sich aus den vielen und unterschiedlichen Formen der Kriegsmüdigkeit ergab, <strong>die</strong> sich 1938 unausweichlich intensivierte, als sich <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bedingungen des täglichen Lebens wie <strong>die</strong> internationale Position der Republik dramatisch verschlechterten. Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus] Die bei weitem bizarrste Darbietung des gesamten Buches ist <strong>Seidmans</strong> einleitende Erklärung, daß <strong>die</strong> Männer, Frauen und Kinder des republikanischen Spanien, indem sie taten, was getan werden mußte, um sich <strong>die</strong> grundlegenden Lebens<strong>mit</strong>tel in einer Zeit von wirtschaftlicher Verwerfung und Mangel, <strong>die</strong> durch den Krieg verursacht wurden, zu beschaffen, <strong>mit</strong> ihren ‚gewinnsüchtigen, konsumorientierten und unternehmerischen Impulsen‘ ‚<strong>die</strong> Grundlage für <strong>die</strong> heutige Konsumgesellschaft‘ legten. Kein Beispiel dafür wird diskutiert. Auch nicht anderweitig, denn trotz aller Beschwörungen ‚des Individuums‘ durch Seidman erforscht sein Text nirgendwo <strong>die</strong> inneren Beweggründe seiner historischen Subjekte – weder Soldaten noch Zivilisten. Aber wie ist es ohne <strong>die</strong>s möglich zu wissen, welche gefühlsmäßigen Investitionen <strong>die</strong> Leute in <strong>die</strong> Nahrung und Massenprodukte tätigten, <strong>die</strong> sie sammelten? In einem Buch, das <strong>mit</strong> Referenzen auf ‚das Individuum‘ zugemüllt ist, gibt <strong>die</strong> Nichtbeachtung von Subjektivitäten dem Leser in der Tat einen wichtigen Schlüssel zu den Absichten des Autors. Es ist nicht eine historische Rekonstruktion von Bewußtsein, das Dr. Seidman beschäftigt, sondern eine Verteidigung des neoliberalen Wirtschaftsindividualismus – soviel also zum ‚Tod‘ der Ideologie, <strong>die</strong> er verfrüht verkündet. Indem <strong>die</strong> Sozialgeschichte <strong>die</strong> Dimension der inneren Beweggründe [interiority] <strong>mit</strong> einbezieht, erlaubt sie den Menschen, über ihre gleichzeitige Mitgliedschaft in kollektiven Kategorien wie Klasse und Geschlecht hinaus ‚sie selbst zu sein‘. Dr. Seidman steht dem Gebrauch solcher Kategorien durch Historiker sehr kritisch gegenüber. Aber seine eigenen sind weit weniger flexibel und nuanciert. Was uns eine brauchbare Sozialgeschichte wirklich zeigen kann ist, daß sich <strong>die</strong> Menschen der Vergangenheit von uns so unterscheiden, wie wir uns untereinander unterscheiden. Doch Michael Seidman scheint zu beabsichtigen, sie (und uns) an seine engen und standartisierten konsumorientierten Kategorien zu ketten. Seine beschränkte und beschränkende Analyse des republikanischen Spanien der 1930er Jahre ver<strong>mit</strong>telt nichts von seinen Möglichkeiten, nichts von seiner Energie oder seinen Träumen. Gegenüber der rohen und triumphalistischen Teleologie [3] des Autors sollten wir im Gedächtnis behalten, daß es in jener Vergangenheit bessere Zukünfte gab als <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> wir heute haben. • Anmerkungen: [1] JO U R N A L O F SP A N I S H CU L T U R A L ST U D I E S, Vol. 4/2003 – alle Anmerkungen und [eckigen Klammern] im Text stammen vom Übersetzer. [2] dem Papst fanatisch treu ergeben. [3] Teleologie: philosophische Anschauung von dem (angeblich) vorherbestimmten Lauf der Dinge und Ereignisse.
arrikade sieben - April 2012 25