barrikade # 7 - Abrechnung mit Seidmans 'Gegen die Arbeit'.pdf
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risierung, das angegriffen oder<br />
unterstützt wird, je nachdem,<br />
welche Position <strong>die</strong> Betreffenden<br />
gegenüber der Regierung haben.<br />
(…) Beiden liegt <strong>die</strong> Einschätzung<br />
zugrunde, <strong>die</strong> Politik sei wichtiger<br />
als <strong>die</strong> Kooperativen. Das Genossenschaftswesen<br />
wird anderen<br />
politischen Zielen untergeordnet.<br />
Die Kooperative wird nicht als politische<br />
und soziale Option an sich<br />
gesehen, <strong>die</strong> in der Lage ist, hier<br />
und heute von uns aus eine andere<br />
Gesellschaft aufzubauen, wie wir<br />
sie wollen. Diese Sichtweise ist zutiefst<br />
politisch und unterscheidet<br />
sich grundlegend von derjenigen,<br />
<strong>die</strong> immer wieder verkündet, dass<br />
es notwendig sei, <strong>die</strong> Macht zu<br />
übernehmen, um den Anderen <strong>die</strong><br />
eigene Sichtweise von Gesellschaft<br />
aufzudrängen. Als Kooperativistas<br />
bauen wir tagtäglich eine neue Gesellschaft<br />
auf. Da<strong>mit</strong> zeigen wir<br />
uns selbst und allen Anderen, dass<br />
eine andere Welt möglich ist.“ (S. 151 – „Venezuela:<br />
Frascasaron las cooperativas?“)<br />
Genossenschaften sind nicht per sé oder Definition<br />
etwas Gutes – das wissen wir, seit auch Schlipsträger<br />
ihre modernen Firmenkonstrukte genossenschaftlich<br />
organisieren oder der Sozialabbau durch<br />
privat Selbsthilfe-Genossenschaften kompensiert<br />
werden sollen. Genossenschaften sollen der bürgerlichen<br />
Gesellschaft helfen, Probleme kostengünstig<br />
(also über freiwilllige Lohndrückerei und<br />
Selbstausbeutung) unter dem Deckmantel der<br />
„Bürgerbeteiligung“ zu verwalten. Mit „Selbstermächtigung“<br />
hat das nichts zu tun. Genauso, wie<br />
in Venezuela kapitalistische oder auch staatliche<br />
Unternehmen Teilbereiche genossenschaftlich ausgliedern,<br />
um <strong>die</strong> Kosten zu drücken – und auch<br />
etablierte Genossenschaften gliedern Nichtgenosse<br />
als Lohnarbeiter│innen aus. Der Staat macht es sich<br />
bequem, indem er sozialpolitisches Engagement in<br />
Armutsquartieren und Elendsvierteln befördert,<br />
da<strong>mit</strong> <strong>die</strong> Armen sich selbst um <strong>die</strong> Lebens<strong>mit</strong>telund<br />
Gesundheitsversorgung kümmern. Daraus<br />
Bücher │ Skorpion • Rezensionen<br />
kann „solidarische Ökonomie“ entstehen, muss es<br />
aber nicht.<br />
Das größte Problem für deutsche Verhältnisse<br />
ist der Vergleich. Was alles in Venezuela möglich<br />
ist, stößt hier sofort an gesetzliche Grenzen und<br />
erfordert einen Kampf um den durch den Nationalsozialismus<br />
eingeschränkten und gefesselten<br />
Genossenschaftsgedanken. Genossenschaften dürfen<br />
hierzulande keine Kreditgeschäfte machen – da<br />
kommen hier gleich <strong>die</strong> Herren <strong>mit</strong> dem Schlapphut<br />
der BaFin (Bundesfinanzaufsicht), statt sich<br />
um wichtigere Dinge zu kümmern. Das bedeutet<br />
schlicht, daß hiesige Genossenschaften ihren Mitgliedern<br />
keine Kredite geben dürfen in Notzeiten<br />
oder auch als Konzept. Dazu bedarf es einer genossenschaftlichen<br />
Bank – also weiterer staatlicher<br />
Kontrollinstanzen und Behörden.<br />
Abschließend sei ausdrücklich <strong>die</strong>ses Buch denjenigen<br />
empfohlen, <strong>die</strong> eine „andere Welt“ wollen<br />
und dabei lieber „handeln“ als politisch nur rumlamentieren<br />
und <strong>die</strong> Macht übernehmen wollen. Alternative<br />
und solidarische Ökonomie <strong>mit</strong> dem Kapitalismus<br />
in allen unseren Knochen ist bestimmt<br />
eine KnochenArbeit, aber es geht darum, nicht alle<br />
Utopien auf den berühmten St. Nimmerleinstag<br />
nach dem großen Kladderadatsch zu verschieben –<br />
der in den deutschen Breitengraden mehr als Lichtjahre<br />
entfernt ist.<br />
• fm<br />
Nachtrag – Tupamaros<br />
Es hat nach dem Erscheinen des Buches wohl interessiert,<br />
ob denn nicht ehamlige uruguayische Tupamaros<br />
an der Gründung von CECOSESOLA beteiligt<br />
gewesen wären. Deutsche Linke brauchen immer<br />
Führer, nur sie können Gewichtiges angestoßen haben,<br />
sonst fehlt ihnen der Glaube daran. In <strong>die</strong>sem<br />
Fall ist <strong>die</strong> Antwort unzweideutig: „Kein Tupamaro<br />
hat je an dem Projekt <strong>mit</strong>gewirkt; schon gar nicht bei<br />
der Gründung.“ (Contraste, April 2012).<br />
Das beruhigt mich ungemein, denn derartige Projekte<br />
funktionieren wohl gerade deshalb, weil hier<br />
eher Pfaffen als leninistische Guerilleros das Sagen<br />
haben; dabei haben beide Fraktionen längst ihre<br />
Heiligenscheine verloren ...