barrikade # 7 - Abrechnung mit Seidmans 'Gegen die Arbeit'.pdf
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
40<br />
Harpune & Torpedo •<br />
Historisches - Geschichte<br />
RU D O L F ROCKERs<br />
»Zur Betrachtung der Lage in Deutschland«<br />
Von Hans Jürgen Degen<br />
RU D O L F RO C K E R<br />
(Mainz 1873- New York<br />
1958) - führender<br />
anarchistischer und anarchosyndikalistischer<br />
Theoretiker<br />
der FAUD/AS und<br />
der sozial-revolutionären<br />
Internationalen Arbeiter-<br />
Assoziation (IAA-AIT), der<br />
Mitbegründer er 1922 in<br />
Berlin war.<br />
„Wesentliche Impulse für <strong>die</strong> von den westdeutschen<br />
Anarchisten geführte (Nachkriegs-) Diskussion kamen<br />
von den ins Ausland geflohenen ehemaligen<br />
FAUD-Aktivisten ...“ 1<br />
Es waren eindeutig nur „Impulse“, <strong>die</strong> auch R.<br />
Rocker in seiner 1947 erschienen Schrift „Zur Betrachtung<br />
der Lage in Deutschland“ 2 der deutschen<br />
rest-anarchosyndikalistischen Bewegung geben<br />
konnte: Die Schrift war bewußt nicht konzipiert<br />
als Anleitung zum „richtigen“ Handeln; sie war<br />
lediglich eine präzise Zusammenfassung, eine<br />
Bündelung der vorhandenen theoretischen und<br />
organisatorischen Vorstellungen der deutschen<br />
Anarchosyndikalisten im Nachkriegsdeutschland.<br />
Unmißverständlich stellte A. Leinau in einem Brief<br />
an R. Rocker hierzu fest: „Deine Broschüre bestätigt<br />
unsere Erkenntnisse und trug dazu bei, bei manchen Kameraden<br />
Unklarheiten zu beseitigen.“ 3<br />
Die Idee zur Initialzündung der Rocker-Broschüre<br />
ging vermutlich zurück auf <strong>die</strong> Abschriften<br />
eines <strong>mit</strong> Rocker-Zitaten gespickten (aus dem<br />
Schriftwechsel <strong>mit</strong> H. Rüdiger) Briefes von H. Rüdiger<br />
im Oktober 1946, <strong>die</strong> er an deutsche Freunde<br />
schickte. Dieser Brief kursierte unter interessierten<br />
Anarchosyndikalisten. Rüdigers Intention war,<br />
<strong>die</strong> Rocker-„Ideen“, <strong>die</strong> sich „in den letzten 14 Jahren“<br />
herausgebildet hatten, wiederzugeben. Die<br />
Rocker-Zitate drehten sich um <strong>die</strong> „Grundfragen“<br />
des Anarchosyndikalismus. Zu „Unsere(n) Ideen!“<br />
schrieb Rüdiger:<br />
„Die Welt hat sich verändert, seit wir <strong>die</strong>se Ideen bei<br />
der Gründung der IAA formulierten. Die Ausgangspunkte<br />
haben sich verändert, <strong>die</strong> Menschen sind nicht<br />
mehr <strong>die</strong> gleichen, <strong>die</strong> un<strong>mit</strong>telbaren und ferneren Ziele<br />
von damals stehen nicht mehr in derselben Form vor<br />
uns.“<br />
Dies zu belegen war der Sinn des Rüdiger-Briefes<br />
<strong>mit</strong> den ausführlichen Rocker-Zitaten. 4<br />
Im Dezember 1946 schrieb A. Benner an R. Rocker:<br />
„Durch Auszüge aus deinen Briefen an Rüdiger und<br />
Fritz B. (gemeint ist wohl der Bruder von A. Benner,<br />
Fritz Benner, Verf.) bin ich nämlich in etwa im Bilde!<br />
Wir bitten dich sehr ... eine kleine Broschüre ... in<br />
deutsch über <strong>die</strong> heutige Lage und unsere Stellung als<br />
freiheitliche Sozialisten zu schreiben. Denn es fehlt uns<br />
sehr, konkretes schriftliches Material !“ 5<br />
Ein Brief von A. Leinau an H. Rüdiger belegt,<br />
daß weitere Briefe von „Genossen“ an R. Rocker<br />
1945/46 den Wunsch nach einer klärenden Schrift<br />
von ihm ausdrückten. 6 Die Rocker-Broschüre basierte<br />
eindeutig auf den Vorstellungen vieler deutscher<br />
Anarchosyndikalisten, <strong>die</strong> ihre „Meinungen“<br />
1945-1946 in Briefen an ihre exilierten Freunde im<br />
Ausland – so u.a. an R. Rocker – kundtaten. 7<br />
Das Manuskript für <strong>die</strong> Broschüre stellte Rocker<br />
im Januar 1947 fertig. 8 Die Broschüre wurde dann<br />
in Stockholm <strong>mit</strong> Hilfe der SAC und IAA gedruckt; 9<br />
sie traf Mitte/Ende Juni 1947 – also nach FFS-Gründung<br />
- in Deutschland ein. 10<br />
Rockers „Zur Betrachtung der Lage in Deutschland“<br />
ruht auf vier zentralen Kernpunkten: 1. Organisationsfrage<br />
für <strong>die</strong> Anarchosyndikalisten; 2.<br />
Stellung zu den Parteien, Gewerkschaften u.a. sozialen<br />
und politischen Strömungen; 3. Vorschläge<br />
zur politischen Tätigkeit für <strong>die</strong> Anarchosyndikalisten;<br />
4. grundsätzliche theoretisch-politische Erörterungen.<br />
Nach R. Rockers Vorstellung stellte sich für <strong>die</strong><br />
deutschen Anarchosyndikalisten nach dem Ende<br />
der Nazi-Diktatur <strong>die</strong> Organisationsfrage völlig<br />
neu:<br />
„Von der alten FAUD sind <strong>die</strong> letzten Ansätze verschwunden.<br />
... an eine Wiederbelebung unserer alten<br />
Bewegung in ihrer gewesenen Form unter den heutigen<br />
Umständen (kann) kaum gedacht werden ..., da alle Vorbedingungen<br />
dazu fehlen.“ 11<br />
Schon <strong>die</strong> FAUD, so Rocker, habe ihre eigentliche<br />
gewerkschaftliche Funktion nie richtig erfüllen<br />
können. Die FAUD wäre auch „in ihren besten<br />
Zeiten“ nicht zu „grossen selbständigen Aktionen“ fähig<br />
gewesen. Das eigentliche wertvolle, konstruktive<br />
ihrer Arbeit sei gewesen, „das geistige Erbe des<br />
freiheitlichen Sozialismus zu wahren und zu mehren“.<br />
Ihre „mündliche Erziehungsarbeit“ hätte viel „zur<br />
Verbreitung freiheitlicher Ideen“ beigetragen. 12 Auch<br />
heute gelte es, freiheitliche Ideen nach außen zu<br />
vertreten. Um <strong>die</strong>s aber effektiv zu können, sollten<br />
sich <strong>die</strong> Anarchosyndikalisten in einem „Bund freiheitlicher<br />
Föderalisten“ oder „Bund der Föderalisten“<br />
zusammenschließen. Diese Organisation sollte<br />
nicht nur dazu <strong>die</strong>nen „unsere zerstreuten Kräfte zusammenzufassen,<br />
sondern (auch) um bestimmte Aufgaben<br />
zu erfüllen, <strong>die</strong> ohne einen solchen Zusammenschluss<br />
nicht ausführbar sind“: z.B. Produktion freiheitlicher<br />
Literatur und Herausgabe eines „Organ(s), in dem<br />
wir unsere Ideen, Vorschläge und Anregungen ungestört<br />
zum Ausdruck bringen können ...“ 13<br />
Nachdrücklich plä<strong>die</strong>rte Rocker für <strong>die</strong> Autonomie<br />
der eigenen Organisation bei gleichzeitiger<br />
Zusammenarbeit „<strong>mit</strong> anderen“ Organisationen.<br />
„Zusammenarbeit und einfacher Verschmelzung <strong>mit</strong><br />
politischen Parteien, <strong>die</strong> ganz andere Ziele verfolgen“,<br />
lehnte er dagegen kategorisch ab. Kooperationen<br />
könnte es nur geben ohne „Preisgabe grundsätzlicher<br />
Ideen“. 14<br />
Angesichts der desolaten geistigen Verfassung<br />
des deutschen Volkes nach zwölf Jahren Nazi-<br />
Diktatur stand für Rocker fest, „dass gerade heute in<br />
Deutschland eine selbständige, freiheitliche Bewegung<br />
notwendiger ist, denn je zuvor“. Aber eine solche Bewegung<br />
habe nur „Erfolg“, wenn „wir ... in manchen<br />
Dingen umlernen und unsere Tätigkeit den neuen Verhältnissen<br />
anpassen“ und „neue Methoden der Betätigung“<br />
anwenden. 15<br />
Rocker Stellungnahme zu den Parteien u.a. „politischen“<br />
Strömungen ist äußerst differenziert. Da<br />
sich Anarchosyndikalisten ohnehin nach 1945 nur<br />
in „linken“ Parteien organisierten (wenn überhaupt),<br />
setzte sich Rocker auch in erster Linie <strong>mit</strong><br />
<strong>die</strong>sen auseinander: <strong>mit</strong> der „SEP“ (SED) und SPD.