barrikade # 7 - Abrechnung mit Seidmans 'Gegen die Arbeit'.pdf
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arrikade sieben - April 2012<br />
Die Genossenschaften aber haben <strong>die</strong> einstigen Voraussetzungen ihrer Bestrehungen<br />
längst vergessen und sieh in Organe der kapitalistischen Gesellschuft<br />
umgewandelt. Wir wollen nicht bestreiten, daß sie auch in <strong>die</strong>ser Form dem<br />
einzelnen Arbeiter noch von bescheidenem Nutzen sein können; aber der<br />
sozialistische Fernblick, den Robert Owen einst hatte, ist ihnen verlorengegangen<br />
und zusammen <strong>mit</strong> ihm der Drang zur konstruktiven sozialistischen Betätigung.<br />
Und doch stehen wir heute wieder vor einer Wende, wo sich <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />
für ein konstruktives Wirken im Sinne des Sozialismus mehr und mehr bemerkbar<br />
macht und Verständnis findet. In jedem Lande sind bereits Ansätze eines solchen<br />
Wirkens wahrzunehmen. Aus <strong>die</strong>sem Grunde halten wir eine ernste Betrachtung über<br />
<strong>die</strong> verschiedenen Fomen des konstruktiven Sozialismus, von den ersten Versuchen<br />
des alten Experimentalsozialismus bis zum modernen Gildensozialismus,<br />
für geboten.<br />
• RUDOLF ROCKER<br />
wir wollen <strong>die</strong> Dezentralisation der wirtschaftlichen<br />
Kräfte, soweit <strong>die</strong> Technik das gestattet und <strong>die</strong> Produktivität<br />
der Arbeit nicht darunter leidet. Das wollen wir<br />
im Interesse der persönlichen Freiheit jedes einzelnen.<br />
Stellen wir uns aber <strong>die</strong>s ideale gesellschaftliche Zukunftsgebilde,<br />
so müssen wir uns dessen auch bewußt<br />
sein, daß es ohne den ausgeprägtesten genossenschaftlichen<br />
Geist, der <strong>die</strong> Persönlichkeit beherrscht, nicht<br />
durchführbar sein wird.“<br />
Das es im Kapitalismus keine sozialistischen<br />
Genossenschaften geben kann, erklärt Roche so:<br />
„Sozialistische Genossenschaften müßten unter Ausschaltung<br />
der Lohnarbeit Güter für den Verbrauch und<br />
nicht für den Warenhandel erzeugen, sozialistische Genossenschaften<br />
dürfen nicht Waren von ahgestellten<br />
Lohnarbeitern austauschen lassen, sondern haben jegliche<br />
Lohnarbeit sowohl bei der Eigenproduktion wie im<br />
Vertrieb unter <strong>die</strong> Mitglieder grundsätzlich abzulehnen.<br />
Jegliche genossenschaftliche Arbeit, <strong>die</strong> gegen Lohn ausgeführt<br />
wird, ist nicht sozialistisch – sie ist kapitalistisch<br />
und da wir Genossenschaften ohne Mithilfe der Lohnarbeit<br />
nicht haben, so haben wir auch keine sozialistischen<br />
Genossenschaften. Alle bestehenden Genossenschaften<br />
müssen kapitalistisch sein, da sie von der Warenproduktion<br />
und dem Warenverschleiß abhängig sind. Der<br />
Kapitalismus läßt sich nicht zerlegen in kapitalistisch<br />
und sozialistisch; er ist ein wirtschaftliches Ganzes und<br />
<strong>die</strong> Genossenschaften sind naturgemäß wirtschaftsorganisch<br />
<strong>mit</strong> ihm verbunden. So wenig wie in der auf der<br />
Lohnarbeit ruhenden Produktionsweise es sozialistische<br />
Genossenschaften geben kann – ebensowenig können <strong>die</strong>se<br />
Genossenschaften der oder ein Weg zum Sozialismus<br />
sein.“<br />
Als „interessant und beinahe spaßhaft“ analysiert<br />
Roche, „wie sich <strong>die</strong> modernen Genossenschaftstheoretiker,<br />
an deren Spitze Dr. Hans Müller in der Schweiz,<br />
<strong>die</strong> Ablösung des Kapitalismus durch <strong>die</strong> Arbeiterkonsumvereine<br />
denken. Der Kapitalismus soll nach Müller<br />
überwunden werden durch das Sparen der Arbeiter. (...)<br />
Sozialdemokratische Theoretiker , wie Kautsky, Rosa<br />
Luxemburg, Pannekoek und andere erkennen natürlich<br />
den Unsinn <strong>die</strong>sesGrundsatzes, aber sie sagen nichts dagegen,<br />
weil <strong>die</strong> Genossenschaften einen gewaltigen Einfluß<br />
auf <strong>die</strong> sozialdemokratische Arbeiterbewegung haben.<br />
Sie haben nicht den Mut, gegen das unmarxistische<br />
und unkämpferische Prinzip <strong>die</strong>ser Genossenschaften<br />
anzutreten.“ Roche zitiert dann Müller wie folgt aus<br />
der KonsuMGenossensCHaFtliCHen RunDsCHau: „ ...<br />
der moderne Arbeiter ...ist darauf bedacht, <strong>die</strong> Genossenschaft<br />
in jeder Weise kapitalkräftig zu machen. Seine<br />
Genossenschaft ist seine Sparkasse, in der er seine überschüssigen<br />
Groschen anlegt, und sie ist gleichzeitig sein<br />
Kollektivkapital, <strong>mit</strong> dem er das Privatkapital aus dem<br />
Sattel heben will.“<br />
Der Kongreß reagiert auf <strong>die</strong>ses Zitat <strong>mit</strong> „Heiterkeit“<br />
und beschließt dann eine Resolution, <strong>die</strong> zwar<br />
den kapitalistischen Charakter der sozialdemokratischen<br />
Genossenschaften aufgrund der Warenproduktion<br />
und der Lohnarbeit deutlich benennt, aber<br />
auch erklärt:<br />
„Aber nichtsdestoweniger führen <strong>die</strong> Konsumgenossenschaften<br />
ein Stück direkter öknomomischer Aktion<br />
gegen den Kapitalismus durch. Sie schalten das parasitäre<br />
Kleinhandelsgewerbe aus und ver<strong>mit</strong>teln dessen<br />
Profite ihren Mitgliedern. Da<strong>mit</strong> erhöhen sie ihren Arbeiter<strong>mit</strong>gliedern<br />
den Reallohn und heben deren soziale<br />
Existenzmöglichkeit.“<br />
Gegen <strong>die</strong> Gründung von Produktivgenossenschaften<br />
durch Mitglieder der FVdG erklärt der<br />
Kongreß abschließend: „Solche Gründungen sind<br />
sind lediglich als private Unternehmungen zu betrachten.<br />
Mittel aus den syndikalistischen Organisationen<br />
dürfen dazu nicht verwendet werden.“<br />
• Protokoll über <strong>die</strong> Verhandlungen vom 11. Kongreß der<br />
FVdG, 1914<br />
Roches letzten Beitrag finden wir kurz vor<br />
Kriegsausbruch 1914:<br />
Genossenschaftliches.<br />
Wer möchte wohl den Wald von Literatur – <strong>die</strong><br />
knorrigen und schlanken Baumriesen, das Unterholz<br />
und Gestrüpp und auch viel poetisches Blumenwerk<br />
– zu übersehen, den der Sozialismus<br />
schon auf den Markt und vor das interessierte Publikum<br />
geworfen hat. Jeder, der zur Feder greift<br />
und nicht als Reaktionär gelten möchte, liebäugelt<br />
<strong>mit</strong> dem Sozialismus. Es gibt ja „Sozialisten“ in<br />
des Königs Rock und auf Thronen; es gibt „Sozialisten“<br />
in der Heilsarmee, und dazwischen tummelt<br />
sich eine breite Herde sozialistischer Denker<br />
oder Schaumschläger.<br />
Es wird heute bald jede Bewegung, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong><br />
Anteilnahme der Arbeiterschaft reflektiert, als sozialistisch<br />
bezeichnet. Die Arbeiter haben Augen und<br />
Ohren aufzuhalten, um das Falsche vom Wahren<br />
zu erkennen.<br />
Identisch <strong>mit</strong>einander sind <strong>die</strong> Begriffe „genossenschaftlich“<br />
und „sozialistisch“. Nur müssen sie<br />
auseinandergehalten werden, wenn es sich um <strong>die</strong><br />
sozialistische Bemäntelung kapitalistischer Entwicklungsphasen<br />
handelt.<br />
kr.<br />
• Der Pionier, 4. Jahrgang, Nr. 31 – 8. August 1914<br />
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