barrikade # 7 - Abrechnung mit Seidmans 'Gegen die Arbeit'.pdf
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Auf dem Weg - Gelebte<br />
Utopie einer Kooperative<br />
in Venezuela<br />
Die Buchmacherei Berlin<br />
Eine „führerlose“ Organisation in Bewegung – geht das?<br />
Über den autonomen Genossenschaftsverband CECOSESOLA<br />
im Bundesland Lara von Venezuela.<br />
Mit rund 20.000 Mitgliedern in diversen eigenständigen<br />
Genossenschaften und Kollektivbetrieben um<br />
<strong>die</strong> regionale Landeshauptstand Barquisimeto [eine<br />
Million Einwohner westlich von Caracas gelegen]<br />
berichtet das neue Buch der Berliner Buchmacherei<br />
Auf dem Weg – Gelebte Utopie einer Kooperative in<br />
Venezuela. Nun, es ist eben nicht eine Kooperative,<br />
sondern der regionale Dachverband, eben CEN-<br />
TRAL COOPERATIVA DE SERVICIOS SOCIALES<br />
DEL ESTADO LARA und <strong>die</strong>ser Zusammenschluß<br />
erwirtschaftete einen Umsatz von umgerechnet 100<br />
Millionen US$ (430 Mio. Bolívares) im Jahr 2010.<br />
Kann eine Entscheidungsfindung in so einem<br />
großen „Betrieb“ tatsächlich immer „im Konsens“<br />
getroffen werden, wie <strong>die</strong> Autoren behaupten<br />
und der „unorthodoxe“ Marxist John HolloWaY<br />
(Die Welt verändern, ohne <strong>die</strong> Macht zu übernehmen)<br />
tatkräftig bestätigt? Wozu bedarf es dann aber gut<br />
6 Prozent an „Hauptamtlichen“, <strong>die</strong> als trabajadores<br />
asociados den doppelten Mindestlohn als Vorschuß<br />
ver<strong>die</strong>nen? – Beachtlich auch, daß sich jedes<br />
Mitglied <strong>die</strong>se verantwortlichen Tätigkeiten<br />
noch selbst aussuchen kann. Wie funktionieren<br />
„horizontale Strukturen“, wie eine Selbstverwaltung<br />
ohne Chefs, denn „Rotation ist Prinzip: Niemand soll<br />
sich auf bestimmten Posten einbunkern oder es sich auf<br />
Kosten anderer bequem machen. Die Aufgabe in der<br />
Verwaltung werden immer von neuen Kooperativistas<br />
übernommen, da<strong>mit</strong> möglichst viele auch <strong>die</strong>se Bereiche<br />
kennenlernen und sich entsprechende Kompetenzen<br />
aneignen können.“ (S. 8)<br />
»Unsere Treffen werden so zu Möglichkeiten, ein<br />
»Wir« ohne Grenzen zu erleben. Ein Wir, das auch<br />
bedeutet, dass wir uns Kriterien zu eigen machen, <strong>die</strong> wir<br />
alle teilen. Flexible Kriterien, <strong>die</strong> im Konsens geändert<br />
werden, wenn sich <strong>die</strong> Umstände andern und wir uns in<br />
der Reflexion verändern. Diese gemeinsamen Kriterien<br />
erleichtern <strong>die</strong> Beteiligung aller an den Entscheidungen.<br />
Es gibt kein Leitungsgremium, keinen Geschäftsführer<br />
und keine Aufsicht mehr, auf denen wir uns »ausruhen«<br />
könnten, um uns da<strong>mit</strong> der eigenen Verantwortung<br />
zu entziehen. Wir versuchen dafür zu sorgen, dass <strong>die</strong><br />
Treffen nicht zu einem Ersatz für <strong>die</strong> Geschäftsleitung<br />
oder den Geschäftsführer werden, denn auch das würde<br />
unsere Entwicklung beschneiden. Wir fällen zwar<br />
weiterhin Entscheidungen auf unseren Treffen, aber<br />
auf der Grundlage unserer jeweiligen gemeinsamen<br />
Kriterien soll auch jede Person oder Gruppe <strong>die</strong><br />
Verantwortung für Entscheidungen übernehmen, <strong>die</strong><br />
im Alltag getroffen werden müssen. Genauso wie alle<br />
Anwesenden gleichermaßen für Entscheidungen, <strong>die</strong><br />
auf einer Versammlung zustande gekommen sind, <strong>die</strong><br />
Verantwortung tragen. Eine Verantwortung, <strong>die</strong> je<br />
nachdem auch beinhalten kann, dass man für verursachte<br />
Schäden finanziell aufkommt.« (Seite 127)<br />
Daraus „ergibt sich, dass Konsens für uns etwas<br />
Bücher │ Skorpion • Rezensionen<br />
völlig anderes bedeutet als Einstimmigkeit. Für <strong>die</strong><br />
Einstimmigkeit müssen alle Mitglieder anwesend<br />
einer Gruppe oder Organisation anwesend sein. Das<br />
entspricht einer Abstimmung, bei der alle dafür sind.<br />
In unserem Fall ist <strong>die</strong> Entscheidung Konsens, wenn<br />
sie unserem »Wir« entspricht, d.h. den Kriterien, <strong>die</strong><br />
wir in <strong>die</strong>sem Moment teilen – unabhängig davon, ob<br />
<strong>die</strong>se Entscheidung von einer Person, einer informellen<br />
Gruppe oder auf einer Versammlung gefällt wurde.“<br />
Daß <strong>die</strong>se Form der Entscheidungsfindung<br />
nichts <strong>mit</strong> unserer deutschen Vorstellung von<br />
einem „Konsens“ zu tun hat, ist augenfällig.<br />
Wenn es möglich ist, daß nur eine einzige Person<br />
aufgrund ihres »Wir«-Gefühls in einem Moment<br />
etwas entscheidet, dann führt das zwangsläufig<br />
zu der Erkenntnis, daß „es keine »endgültigen«<br />
Entscheidungen, außer in den Fällen, in denen für<br />
Verbesserungen keine Zeit mehr bleibt“ gibt. Daraus<br />
folgt dann konsequent: „Es gibt jederzeit das Recht<br />
zu protestieren. Das Thema kann jederzeit und auf<br />
jedem Treffen neu verhandelt werden, falls jemand<br />
nicht einverstanden oder der Meinung ist, dass beim<br />
Zustandekommen des Beschlusses persönliche Kriterien<br />
<strong>die</strong> Überhand gewonnen haben.“<br />
In der Realität bedeutet <strong>die</strong>s – nach jahrelangen<br />
eigenen Erfahrung in einem recht überschaubaren<br />
Kollektivbetrieb –, dass einmal gefällte Entscheidungen<br />
nicht mehr hinterfragt werden, weil rückwirkend<br />
kaum Änderungen möglich sind im ökonomischen<br />
Alltag oder es extrem unangenehm sein<br />
kann, immer und immer auf einem oder mehreren<br />
Fehlern eines einzelnen oder einer kleinen „informellen<br />
Gruppe“ des Kollektivs herumzuhacken.<br />
Diese blauäugige Verklärung der realen Umstände,<br />
<strong>die</strong> in einem wirtschaftlichen Betrieb bestehen, sind<br />
evident. Wer macht sich gerne zum Kritiker, wenn<br />
hinter dem Rücken der Mehrheit Entscheidungen<br />
gefällt wurden, <strong>die</strong> dann jedoch »endgültig« sind,<br />
weil zum Beispiel Verträge nicht so einfach durch<br />
ein späteres Plenum rückgängig gemacht werden<br />
können? Die Welt um uns herum besteht eben nicht<br />
aus „Gutmenschen“, <strong>die</strong> einsehen, daß ein Vorstand<br />
oder ein anderes Gremium einer Genossenschaft<br />
einen bösen Schnitzer gemacht hat, der von<br />
einem Plenum nachträglich aufgehoben wurde.<br />
„Diese Art Entscheidungen zu treffen, kann<br />
offensichtlich zu Chaos und Fehltritten führen, <strong>die</strong><br />
unter Umständen große ökonomische Verluste nach<br />
sich ziehen. Aber alle ökonomischen Verluste werden<br />
um ein Vielfaches kompensiert durch <strong>die</strong> Flexibilität<br />
und Dynamik, <strong>die</strong> in der Organisation entsteht,<br />
dadurch dass wir uns von den kulturellen Fesseln<br />
befreien, <strong>die</strong> unser aller Kapazitäten und kreatives<br />
Potenzial einengen. Heute reiben wir uns nicht mehr<br />
im schäbigen Hickhack interner Machtkämpfe auf. Und<br />
unsere menschlichen Möglichkeiten sind nicht mehr