Tag der Württ. Pfarrerinnen und Pfarrer - Evangelischer Pfarrverein ...
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10<br />
III Mitleidenschaft in<br />
Dienstleistung <strong>und</strong> Anwaltschaft<br />
Zu den ethisch-diakonischen Gr<strong>und</strong>orientierungen<br />
zähle ich, dass die<br />
Würde jedes Menschen unteilbar ist.<br />
Weil jedes Menschenleben das unverwechselbare<br />
Geschenk Gottes ist <strong>und</strong><br />
weil wir alle uns <strong>der</strong> Gnade Gottes<br />
verdanken. Daher ist es so gut, dass in<br />
Artikel 1 des Gr<strong>und</strong>gesetzes auch<br />
Martin Luthers Rechtfertigungslehre<br />
zum Tragen kommt. Ob jemand arm,<br />
schwach, versklavt o<strong>der</strong> fremd ist – sie<br />
o<strong>der</strong> er ist immer schon eine Schwester,<br />
ein Bru<strong>der</strong>. Der an<strong>der</strong>e will geliebt<br />
sein als <strong>der</strong>, <strong>der</strong> er ist, als <strong>der</strong>, für den<br />
Gott Mensch geworden ist. Diesen Gedanken<br />
aus Dietrich Bonhoeffers<br />
Schrift »Gemeinsames Leben« hat die<br />
Diakoniedenkschrift von 1998 aufgenommen:<br />
»Den an<strong>der</strong>en in seiner Würde<br />
anzunehmen <strong>und</strong> entscheiden zu<br />
lassen, ist die gr<strong>und</strong>legende Haltung<br />
<strong>der</strong> Diakonie« (Ziffer 67).<br />
Das hat sehr praktische Konsequenzen:<br />
Endlich dürfen etwa in Hessen<br />
Kin<strong>der</strong> von statuslosen Eltern zur<br />
Schule gehen, ohne dass die Schule<br />
zur Meldepflicht gezwungen ist. Der<br />
Mensch ist nicht die Summe seiner<br />
Defizite, son<strong>der</strong>n – auch in aller Gebrochenheit<br />
– von Gott mit einer unverlierbaren<br />
Würde begabt – <strong>und</strong> über<br />
allen Preis erhaben« (Kant). (…)<br />
Weiter gehört zu den Gr<strong>und</strong>orientierungen<br />
die vorrangige Option für die<br />
Armen. Bereits das Wirtschafts- <strong>und</strong><br />
Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen von 1997 hat<br />
diesen Begriff aus <strong>der</strong> lateinamerikanischen<br />
Befreiungstheologie übernommen.<br />
150 Jahre zuvor hat Johann<br />
Hinrich Wichern seinen Mitchristen<br />
zugerufen: »Habt ihr nicht lange genug<br />
euren kleinen privaten Frieden mit<br />
Gott gemacht? Habt ihr etwa nicht gesehen,<br />
wie sich eure Arbeiter mit ihren<br />
Weibern <strong>und</strong> Kin<strong>der</strong>n in Löchern drän-<br />
gen? ... habt ihr nicht gemerkt, dass sie<br />
nur noch höhnisch lachen, wenn ihr ihnen<br />
mit Gott, Staat, Vaterland <strong>und</strong><br />
Nächstenliebe daherkommt? Habt ihr<br />
nicht sonntags euren Gott gelobt, dass<br />
er die Welt für euch so schön eingerichtet<br />
hat, <strong>und</strong> den Rest <strong>der</strong> Woche<br />
habt ihr den Gott eures Büros, eurer<br />
Kasse, eures Warenlagers angebetet?«<br />
Es ist nicht mehr mo<strong>der</strong>n, vom prophetischen<br />
Wächteramt <strong>der</strong> Kirche zu<br />
reden.<br />
Die Diakonie als Stimme <strong>der</strong> Stummen<br />
wird aus ihrer anwaltschaftlichen<br />
Rolle nicht entlassen. Ihre Perspektive<br />
von unten enthält zugleich einen Maßstab<br />
für Gerechtigkeit: Die Stärke eines<br />
Gemeinwesens, die Stärke auch<br />
unserer Gesellschaft misst sich am<br />
Wohl <strong>der</strong> Schwachen. Und das ist hoch<br />
aktuell – angesichts von drei Millionen<br />
Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen in Deutschland<br />
in Armut, angesichts eines dramatisch<br />
wachsenden Niedriglohnsektors<br />
<strong>und</strong> angesichts zunehmen<strong>der</strong> sozialer<br />
Ausgrenzung <strong>der</strong> Ärmsten <strong>und</strong><br />
Schwächsten, vor allem in den sozialen<br />
Brennpunkten <strong>der</strong> Großstädte.<br />
Deswegen geht es um mitleidenschaftliche<br />
Weltverantwortung – Not sehen,<br />
Not benennen, Not überwinden. Noch<br />
einmal begegnet uns in Wicherns Haltung<br />
die frühe Form befreiungstheologischer<br />
Hermeneutik. Jesu erster Blick<br />
galt nicht <strong>der</strong> Sünde, son<strong>der</strong>n dem<br />
Leid <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. Warum die Verantwortung<br />
für das gesellschaftliche Miteinan<strong>der</strong><br />
so zwingend ist, hat unschlagbar<br />
Hans Jonas definiert: »Jetzt<br />
ist es am Menschen, Gott zu geben.<br />
Und er kann dies tun, indem er in den<br />
Wegen seines Lebens darauf sieht, dass<br />
es nicht geschehe, o<strong>der</strong> nicht zu oft geschehe,<br />
<strong>und</strong> nicht seinetwegen, dass es<br />
Gott um das Werden Lassen <strong>der</strong> Welt<br />
gereuen muss.« Das heißt: Es gibt eine<br />
unzertrennliche Einheit von Gottes-