S P E C I A L : K U N S T U N D G E H I R N Die Erfindung der Form Ingo Rentschler Ingo Rentschler, Univ.-Prof. Dr. rer. nat, habilitierte 1977 in Physik und 1979 in Psychophysik. Seit 1982 Professor für Medizinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät der Universität München. Rentschler war Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1978–82) sowie Gastwissenschaftler und -professor am Institut für Neurophysiologie CNR, Pisa/Italien und an den Universitäten von Cambridge/England, Zürich/Schweiz, Edmonton/Canada und Perth/Australien. Seine Forschungsinteressen liegen unter anderem bei der visuellen Sinnesphysiologie, der Neuropsychologie, dem Bilderverstehen und der Objekterkennung. Die Öffentlichkeit zeigte sich irritiert als in jüngster Zeit von Seiten der Hirnforschung die Existenz des freien Willens in Abrede gestellt wurde. Anlass dazu waren Untersuchungen des Neuropsychiaters Benjamin Libet und seiner Mitarbeiter. 1 Diese hatten beobachtet, dass die elektrische Reizung der Hirnrinde während eines neurochirurgischen Eingriffs schon eine halbe Sekunde angedauert hat, wenn sie der wache und schmerzfreie Patient bemerkt. In weiteren Experimenten hatten sie gesunde Personen veranlasst, innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne aus freien Stücken eine schnelle Handbewegung zu machen. Mithilfe einer Uhr sollten die Probanden sich den Zeitpunkt merken, zu dem ihnen der Wunsch nach Ausführung der Bewegung bewusst wurde. Die gleichzeitige Ableitung elektrischer Hirnpotentiale erwies, dass auch einem solchen Wunsch ein neuronaler Vorbereitungsprozess von einigen Zehntelsekunden vorausgeht. Wenn also die Versuchsteilnehmer den Entschluss fassten, eine Hand zu bewegen, dann war ihr Gehirn immer schon vorher tätig geworden. Kein Wunder also, dass dieses Organ in den Verdacht geriet, der eigentliche Urheber von Willkürbewegungen zu sein. Seite 27. Alberto Giacometti: Vier Figuren und ein Kopf, 1960, Bleistift, 50 x 35,5 cm, Sammlung Bruno Giacometti, Zürich Seite 29. Giacometti: Große Frau II, 1960, Bronze bemalt, 277 x 32 x 58 cm, Fondation Marguerite et Aime Maeght, Saint-Paul Libet selbst ist allerdings nicht der Ansicht, dass seine Befunde die Möglichkeit des freien Willens ausschließen: Der vom Gehirn vorbereitete Entschluss zum Handeln kann nach seinem Bewusstwerden bis zum Ereignis der Handlung befördert oder durch ein Veto unterbunden werden. 2 So gesehen mag der Mensch nur wollen können, was sein Gehirn will; die Entscheidung aber, ob das Gewollte zur Tat wird, bleibt bei ihm. Wer je versucht war, vom Balkon eines Theaters auf den Kopf eines im Parkett sitzenden Zuschauers zu spucken, der wird diese Unterscheidung zu schätzen wissen. Durch die Neurowissenschaftler und Philosophen Bennett und Hacker 3 wird Libets experimenteller Ansatz gar als solcher in Frage gestellt. Sie meinen, ein bewusster Wunsch sei zur Ausführung einer willkürlichen Handlung weder notwendig noch hinreichend. Als Beispiel führen sie das Niesen an. Es geschieht nicht aus freiem Willen, obwohl der Drang dazu gefühlt und willentlich unterdrückt werden kann. Bennett und Hacker kommen so zu dem Schluss, Libet und seine Anhänger unterlägen wie Descartes dem Irrtum, Willensakte seien Handlungen der Seele mit körperlichen Folgen. Ernst Ludwig Kirchner, Herrin und Dienerin, um 1910/11 Bleistift und Farbstift auf bräunlichem Papier, 47,5 x 33,7 cm Berlin, Brücke-Museum 28 <strong>BDK</strong> <strong>INFO</strong> <strong>14</strong>/2010
<strong>BDK</strong> <strong>INFO</strong> <strong>14</strong>/2010 29 K U N S T. M E N S C H E N . P R O J E K T E