23.11.2012 Aufrufe

Mein Kranken-Haus

Mein Kranken-Haus

Mein Kranken-Haus

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Mit Übung können wir lernen, diese<br />

Filter zu öffnen und Wahrnehmungen zu<br />

akzeptieren, die zunächst unannehmbar<br />

scheinen. Menschen, die in solchen leidvollen<br />

Situationen stehen, die erleben,<br />

was niemand erleben möchte, die Gefühle<br />

haben, die schier unerträglich sind, brauchen<br />

Gegenüber, die dies mit ihnen aushalten<br />

und annehmen können. Dabei hilft mir<br />

die vertrauensvolle Beziehung zu der unbegreifl<br />

ichen Macht, die diese Welt so, wie sie<br />

ist und insbesondere mich selbst existieren<br />

lässt und bejaht. Eine solche Beziehung<br />

wächst in lebenslanger Praxis von Gebet,<br />

Gottesdienst, Meditation, Achtsamkeitsübungen<br />

und nicht zuletzt dem Dialog mit<br />

anderen Menschen auf diesem Weg.<br />

Zum Akzeptieren gehört auch die Bereitschaft,<br />

nicht ändern zu wollen, was<br />

nicht zu ändern ist. Oft wirkt die akzeptierende<br />

Präsenz eines Menschen bereits lindernd,<br />

sie ist in jedem Falle eine wichtige<br />

Ergänzung zum aktiven Eingreifen. Und<br />

ich erlebe bei nicht wenigen Pfl egenden<br />

und Ärzten die Fähigkeit zu dieser akzeptierenden<br />

Präsenz beim Patienten während<br />

sie gleichzeitig aktiv intervenieren.<br />

Die seelsorgliche Begegnung<br />

ist eine solidarische<br />

Begegnung<br />

Wenn wir die Gefühle unseres Gegenübers<br />

wahrnehmen entsteht Mitgefühl. Als<br />

Mensch leiden wir mit, auch wenn wir vielleicht<br />

dieses Gefühl aus unserem Leben gar<br />

nicht kennen. Zunächst begegnen wir uns<br />

von Mensch zu Mensch und nicht als Hilfsbedürftige<br />

vs. Helfer, Kranke vs. (medizinisch)<br />

Kompetente. Ich versuche, mich mit<br />

meinem Gegenüber auf die gleiche Ebene<br />

zu stellen, wenn nötig dafür ganz nach unten<br />

zu gehen. Auch ich kenne Gefühle der<br />

Schwäche, Frustration, Ohnmacht oder<br />

Wertlosigkeit.<br />

Im Gespräch mit Herrn A. spüre ich<br />

seine Scham, sein Gefühl, die Unversehrtheit<br />

und Ganzheit seines Körpers verloren<br />

zu haben. In der besonderen Atmosphäre<br />

dieses Gesprächs scheint es mir möglich zu<br />

sein, auch diese Verletzung anzuschauen.<br />

Ich frage vorsichtig danach, ob er bei<br />

der Operation auch einen künstlichen<br />

Darmausgang bekommen habe. Wir<br />

sprechen darüber, wie es ihm damit<br />

geht, dass er Gefühle des Ekels hat, wie<br />

er diese Situation bewertet und dass er<br />

es seiner Frau nicht abnimmt, wenn<br />

sie sagt, dass sich dadurch nichts Wesentliches<br />

geändert habe und dass er<br />

sich große Sorgen mache, wie es mit<br />

seiner Frau und ihm weitergehen könne.<br />

Ich fühle mich gerade auch als Mann<br />

sehr angerührt von dem, was Herr A. mir<br />

von sich zeigt.<br />

Die Bibel verwendet für diese Verbundenheit<br />

das Bild vom Leib Christi. Jeder<br />

von uns ist wie eine Zelle dieses Leibes.<br />

Auch wenn wir vielleicht an ganz verschiedenen<br />

Stellen „sitzen“, gehören wir doch<br />

alle zusammen, sind auf vielfältige Weise<br />

miteinander verbunden und Empfangen<br />

vom Ganzen her Sinn und Energie.<br />

Die seelsorgliche Begegnung<br />

ist eine „phantastische“<br />

Begegnung<br />

Kürzlich sagte eine Patientin aus ihrer<br />

86jährigen Lebenserfahrung: „Gott hilft immer<br />

fünf vor 12.“ In meinen Worten: ganz<br />

unten erfahre ich, dass ich zwar gebrochen,<br />

doch auch ganz und heil bin.<br />

Mit Herrn A. spreche ich darüber, dass<br />

darin wie er seine Frau und sie ihn liebt<br />

viel, viel mehr ist als körperliche Anziehung<br />

und dass diese Liebe auch diese Schwierigkeit<br />

„aufheben“ kann. Ich schlage am Ende<br />

Herrn A. vor, dieser geistigen Dimension des<br />

Menschlichen immer wieder einmal nachzuspüren,<br />

die seinen Körper übersteige, die<br />

ihn mit seiner Frau über die Körperlichkeit<br />

hinaus verbinde und die ihm einen neuen,<br />

manchmal sogar humorvollen Blickpunkt<br />

biete, auch auf sich selbst.<br />

Krankheit bringt viele Menschen an<br />

den Rand ihrer Identität. „Wer bin ich<br />

noch, wenn mein Körper kraftlos und<br />

hilfsbedürftig ist? Wenn gar meine Erinnerung<br />

und mein Gehirn schwindet?“<br />

Ich glaube<br />

und erfahre,<br />

dass unsere<br />

Ich-Identität im<br />

Lieben, Leiden<br />

und Sterben aufgehoben<br />

wird in eine umfassendere,<br />

ganzheitliche Identität. Oft ahne ich<br />

dieses Gesicht hinter den Augen,<br />

empfi nde einen Kontakt dazu im<br />

Schweigen, spüre diese Identität in<br />

einer Berührung. Oder ich höre<br />

diese Identität aus phantastischen<br />

Worten heraus, die vielleicht gerade<br />

Kontakt zu Toten beschreiben<br />

oder zu anderen Zeiten.<br />

Und natürlich sprechen wir unser Gegenüber<br />

auch durch Gebete, Segensgesten,<br />

kleine Rituale, die <strong>Kranken</strong>kommunion<br />

oder <strong>Kranken</strong>salbung auf dieser „göttlichen<br />

Frequenz“ an.<br />

MKH 07

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!