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Mit Übung können wir lernen, diese<br />
Filter zu öffnen und Wahrnehmungen zu<br />
akzeptieren, die zunächst unannehmbar<br />
scheinen. Menschen, die in solchen leidvollen<br />
Situationen stehen, die erleben,<br />
was niemand erleben möchte, die Gefühle<br />
haben, die schier unerträglich sind, brauchen<br />
Gegenüber, die dies mit ihnen aushalten<br />
und annehmen können. Dabei hilft mir<br />
die vertrauensvolle Beziehung zu der unbegreifl<br />
ichen Macht, die diese Welt so, wie sie<br />
ist und insbesondere mich selbst existieren<br />
lässt und bejaht. Eine solche Beziehung<br />
wächst in lebenslanger Praxis von Gebet,<br />
Gottesdienst, Meditation, Achtsamkeitsübungen<br />
und nicht zuletzt dem Dialog mit<br />
anderen Menschen auf diesem Weg.<br />
Zum Akzeptieren gehört auch die Bereitschaft,<br />
nicht ändern zu wollen, was<br />
nicht zu ändern ist. Oft wirkt die akzeptierende<br />
Präsenz eines Menschen bereits lindernd,<br />
sie ist in jedem Falle eine wichtige<br />
Ergänzung zum aktiven Eingreifen. Und<br />
ich erlebe bei nicht wenigen Pfl egenden<br />
und Ärzten die Fähigkeit zu dieser akzeptierenden<br />
Präsenz beim Patienten während<br />
sie gleichzeitig aktiv intervenieren.<br />
Die seelsorgliche Begegnung<br />
ist eine solidarische<br />
Begegnung<br />
Wenn wir die Gefühle unseres Gegenübers<br />
wahrnehmen entsteht Mitgefühl. Als<br />
Mensch leiden wir mit, auch wenn wir vielleicht<br />
dieses Gefühl aus unserem Leben gar<br />
nicht kennen. Zunächst begegnen wir uns<br />
von Mensch zu Mensch und nicht als Hilfsbedürftige<br />
vs. Helfer, Kranke vs. (medizinisch)<br />
Kompetente. Ich versuche, mich mit<br />
meinem Gegenüber auf die gleiche Ebene<br />
zu stellen, wenn nötig dafür ganz nach unten<br />
zu gehen. Auch ich kenne Gefühle der<br />
Schwäche, Frustration, Ohnmacht oder<br />
Wertlosigkeit.<br />
Im Gespräch mit Herrn A. spüre ich<br />
seine Scham, sein Gefühl, die Unversehrtheit<br />
und Ganzheit seines Körpers verloren<br />
zu haben. In der besonderen Atmosphäre<br />
dieses Gesprächs scheint es mir möglich zu<br />
sein, auch diese Verletzung anzuschauen.<br />
Ich frage vorsichtig danach, ob er bei<br />
der Operation auch einen künstlichen<br />
Darmausgang bekommen habe. Wir<br />
sprechen darüber, wie es ihm damit<br />
geht, dass er Gefühle des Ekels hat, wie<br />
er diese Situation bewertet und dass er<br />
es seiner Frau nicht abnimmt, wenn<br />
sie sagt, dass sich dadurch nichts Wesentliches<br />
geändert habe und dass er<br />
sich große Sorgen mache, wie es mit<br />
seiner Frau und ihm weitergehen könne.<br />
Ich fühle mich gerade auch als Mann<br />
sehr angerührt von dem, was Herr A. mir<br />
von sich zeigt.<br />
Die Bibel verwendet für diese Verbundenheit<br />
das Bild vom Leib Christi. Jeder<br />
von uns ist wie eine Zelle dieses Leibes.<br />
Auch wenn wir vielleicht an ganz verschiedenen<br />
Stellen „sitzen“, gehören wir doch<br />
alle zusammen, sind auf vielfältige Weise<br />
miteinander verbunden und Empfangen<br />
vom Ganzen her Sinn und Energie.<br />
Die seelsorgliche Begegnung<br />
ist eine „phantastische“<br />
Begegnung<br />
Kürzlich sagte eine Patientin aus ihrer<br />
86jährigen Lebenserfahrung: „Gott hilft immer<br />
fünf vor 12.“ In meinen Worten: ganz<br />
unten erfahre ich, dass ich zwar gebrochen,<br />
doch auch ganz und heil bin.<br />
Mit Herrn A. spreche ich darüber, dass<br />
darin wie er seine Frau und sie ihn liebt<br />
viel, viel mehr ist als körperliche Anziehung<br />
und dass diese Liebe auch diese Schwierigkeit<br />
„aufheben“ kann. Ich schlage am Ende<br />
Herrn A. vor, dieser geistigen Dimension des<br />
Menschlichen immer wieder einmal nachzuspüren,<br />
die seinen Körper übersteige, die<br />
ihn mit seiner Frau über die Körperlichkeit<br />
hinaus verbinde und die ihm einen neuen,<br />
manchmal sogar humorvollen Blickpunkt<br />
biete, auch auf sich selbst.<br />
Krankheit bringt viele Menschen an<br />
den Rand ihrer Identität. „Wer bin ich<br />
noch, wenn mein Körper kraftlos und<br />
hilfsbedürftig ist? Wenn gar meine Erinnerung<br />
und mein Gehirn schwindet?“<br />
Ich glaube<br />
und erfahre,<br />
dass unsere<br />
Ich-Identität im<br />
Lieben, Leiden<br />
und Sterben aufgehoben<br />
wird in eine umfassendere,<br />
ganzheitliche Identität. Oft ahne ich<br />
dieses Gesicht hinter den Augen,<br />
empfi nde einen Kontakt dazu im<br />
Schweigen, spüre diese Identität in<br />
einer Berührung. Oder ich höre<br />
diese Identität aus phantastischen<br />
Worten heraus, die vielleicht gerade<br />
Kontakt zu Toten beschreiben<br />
oder zu anderen Zeiten.<br />
Und natürlich sprechen wir unser Gegenüber<br />
auch durch Gebete, Segensgesten,<br />
kleine Rituale, die <strong>Kranken</strong>kommunion<br />
oder <strong>Kranken</strong>salbung auf dieser „göttlichen<br />
Frequenz“ an.<br />
MKH 07