44BeiträgeFranz Fühmann entdeckt in dem bekannten Grimm-Märchen vom Wolf und den siebenjungen Geißlein einen Aspekt, der es erlaubt, den alten Text neu zu lesen. Bei den BrüdernGrimm bleibt das jüngste Geißlein übrig, so dass die Mutter erfahren kann, wasgeschehen ist. Sein eher zufälliges Überleben macht die – im Sinne des Märchens zulesende – Rettung aller möglich. Und am Ende singen dann alle voller Freude: „DerWolf ist tot!“Franz Fühmann löst aber noch einen über Rettung und Freude hinausreichenden Denkanstoßaus. Er stellt die Frage, wie es überhaupt einem Geißlein gelingen konnte, demWolf zu entgehen. Die Antwort heißt für ihn: Angeborener Neugier folgend, wollen allesieben Geschwister „überall reinschaun“. Die Mutter lässt sie gewähren, aber siemacht eine Ausnahme: Sie dürfen „überall reinschaun, / nur nicht in den Uhrenkasten, /das könnte die Uhr verderben.“Das Verbot der Mutter scheint einleuchtend. Sechs von den sieben halten sich auch daran.Das siebte aber setzt sich über das Verbot hinweg. Es w i l l „überall reinschaun“,getrieben von einem Erkenntnisdrang, der vor nichts haltmacht.Es entspricht nun dem dialektischen Anspruch des Textes, dass gerade dieser Ungehorsamdas Überleben bewirkt. Die „Artigen“, die der Mutter ‚aufs Wort gehorchen’,werden vom Wolf gefressen. Es überlebt dagegen, wer im Ungehorsam das Risiko derFreiheit auf sich nimmt und dem Angriff auf das Leben mit aufgeklärtem Bewusstseinbegegnet. Solcher Ungehorsam ist im Recht, weil er dem Leben dient. In diesem Sinneist der Titel zu lesen: Gelobt wird ein Ungehorsam, dessen Nein zu tradierten Ansprüchenzugleich ein Ja zum Menschen ist: zur Verantwortung für alles Leben.Der Lyriker Reiner Kunze (geb. 1933), der bis zu seiner Ausreise im April 1<strong>97</strong>7 ebenfallsin der DDR lebte, hätte wohl kaum in der gleichen Weise in das Lob des Ungehorsamseingestimmt, wie es von Franz Fühmann gesungen wurde. Er war in den1960er Jahren aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber dem System massivenRepressionen der Staatssicherheit ausgesetzt, die ihn zermürben wollte und u.a. eineAkte mit dem Decknamen „Lyrik“ anlegte. Als 1969 Kunzes Gedichtband SensibleWege herauskam, ist in der Stasi-Akte über die Intentionen des Autors notiert, er vertretedie Auffassung: „Die DDR ist ein großes Gefängnis, worunter nicht nur die Beschränkungder Bewegungsfreiheit, sondern auch die Einengung des geistigen Lebens20und der Entwicklung der Persönlichkeit und des Talents verstanden wird.“19FWie zutreffend die Beurteilung der Staatssicherheit war, wird u.a. in dem Gedicht-Zyklus 21 variationen über das thema ‚die Post‘ ersichtlich, in dem Reiner Kunze auforiginelle und originäre Weise die Situation des isolierten, in seinem Land eingesperrtenund dort verfolgten Autors beschreibt. Die Post, der Brief als Kommunikationsmittelzwischen Menschen, ist eine, vielleicht sogar die einzige „tür zur welt“, wie es ineiner der variationen heißt. Dank der Post gelingt es den Mächtigen nicht, diese Türvon außen zu vernageln, sie bleibt geöffnet – für ein- und ausgehende Briefe.Als Beförderungsgebühr braucht’s freilich eine Briefmarke, und da gab es in der DDR(ebenso wie in der Bundesrepublik) auch Serien mit Märchenmotiven; auf einer derMarken ist auch das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein zu sehen. Das hat20 Deckname „Lyrik“. Eine Dokumentation von Reiner Kunze. Frankfurt a.M.: Fischer TaschenbuchVerlag 1990, S. 20.
Beiträge 45Reiner Kunze zu folgendem Gedicht – der Form nach ist es ein Dialog mit seinerTochter – motiviert:Reiner Kunze21 variationen über das thema ‚die Post‘O istdie marke schön: der wolf unddie sieben geißlein undseine pfote istganz weiß … Werhat den brief geschrieben?vielleichtdie sieben geißlein,vielleichtder wolf… der wolf ist totIm märchen, tochter, nurim märchenEs ist unschwer zu erkennen, für wen der Wolf hier steht. Dieser Wolf ist nicht tot, erist – anders als der Wolf im Märchen – ganz lebendig und übt seine Macht aus.In dem Gedicht Die sieben Geißlein des Lyrikers Johannes Kühn ist ebenfalls die„Wolf-ist-tot“-Erfahrung des Grimm-Märchens einer realen subjektiven Erfahrung gegenübergesetzt.Johannes KühnDie sieben GeißleinDauerndals ein Gold sind die schönen Enden aller Märchen:Der Wolf ist tot.Der Wolf ist tot.Ihr Märchenzicklein, tanzt:Der Wolf ist tot.Die Geißenmutterhat die Lerchen eingeladenin Märchenewigkeiten hinzutrillerndas Glück: Der Wolf ist tot.Die Nachtigall hat ihre Stimme aufgetan,