82Rezensionenden Roman – wie Stocker konstatieren muss – leider sehr schnell in Vergessenheit geraten.Die Novelle Katz und Maus von Günter Grass ist Gegenstand der Untersuchung vonHermann Korte (Siegen). Sie ist nach ihrem Erscheinen 1961 zum Kanontext in deutschenGymnasien avanciert und wird vornehmlich unter dem Aspekt von Adoleszenzgelesen. Die Kleine Fabel von Franz Kafka ist das Referenzmodell für den Grass-Text,auf die schon der Titel anspielt. Sie bietet eine Deutung, die die Schuld des Ich-Erzählers Pilenz in den Vordergrund stellt und seinen Wunsch nach einem Schlussstrichunter die Geschichte vom Ritterkreuzträger Mahlke, den aber die Novelle nichtzulässt: „Manche Geschichten hören nie auf“, heißt es im Text von Grass. Das ist nachKorte die schmerzhafte Erfahrung der Danziger Kriegskinder.Werner Nell (Kingston, Kanada) und Pawel Zimniak stellen in ihren Untersuchungenverschiedener literarischer Texte die Besonderheit der kindlichen Standortgebundenheitund Perspektive in den Vordergrund: der Blick von unten. Zimniak konstatiert in seinemFazit: „Die Welt kindlichen Denkens, Fühlens und Handelns wird zum Raum derGewalt- und Machtausübung, der Erniedrigung und Bedrohung, zu einem Raum derErfahrung von Ausgeliefertsein.“ (S. 169).Carsten Gansel setzt sich mit Uwe Johnsons Roman Jahrestage auseinander und arbeitetheraus, dass es der Protagonistin Gesine Cresspahl nicht gelingt, ihrer Erinnerungauf die Spur zu kommen und eine gedankliche Wiederholung des ursprünglich Erlebtenzu erreichen. Eine authentische Darstellung mit Hilfe des ,<strong>Kinder</strong>blicks’ misslingt ihrimmer wieder, weil der Blick auf eine glückliche Kindheit in der Vergangenheit durchdas aktuelle Wissen von Holocaust, Mord und Vernichtung unmöglich gemacht wird.„Insofern wird dem Versuch, das erinnerte und das erinnernde Ich in eins zu bringen,eine Absage erteilt.“ (S. 179)Der „Körper als Erinnerungsort“ ist das Thema von Arletta Szmorhun (Zielona Góra),das sie anhand von jüdischen Mädchenschicksalen im 2. Weltkrieg untersucht, undzwar anhand einiger Texte von Nechama Tec, Alona Frankel und Ruth Klüger. Das Zitatvon Nietzsche, das sie ihrem Artikel als Motto voranstellt, verdeutlicht kurz undknapp die Intention ihrer Untersuchung und nimmt das Ergebnis quasi vorweg: „Manbrennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt; nur was nicht aufhört, wehzutun,bleibt im Gedächtnis.“ (S. 185) Arletta Szmorhun formuliert das zum Schluss so: „Alledrei jüdischen Protagonistinnen [die in den literarischen Texten der drei genannten Autorinnenim Mittelpunkt stehen] haben rassistische Verfolgung und Ausgrenzung erfahren,die sie an ihrem Körper weitertragen und so das erfahrene Leid dem Vergessenentreißen.“ (S. 192)Monika Hernik (Zielona Góra) versucht in ihrem Aufsatz, dem Kriegstrauma und derErinnerung in Peter Härtlings Werk auf die Spur zu kommen. Dass das besondersschwierig ist, formuliert der Autor selbst: „In jedem Gedächtnis gibt es Zellen, die verschlossensind“ (zit. S. 193). Peter Härtling will diese Zellen durch sein Schreiben öffnen.Aber er muss feststellen, dass die Zellen der Kriegs- und Kindheitserinnerungenz.T. – trotz aller Bemühungen – noch immer einen Zugang verweigern. Deswegenumkreist er sie mit seinem Schreiben immer wieder, um ihnen näher zu kommen. MonikaHernik stellt am Ende fest, dass sich die Schockerlebnisse, die Härtling gehabt
Rezensionen 83hat, abgrundtief in sein Gedächtnis eingegraben haben und dass sein Schreiben einetherapeutische Funktion für ihn hat.Die literarischen Texte von Janosch und Horst Bienek stehen im Zentrum der Untersuchungvon Tobiasz Janikowski (Siegen). Beide Autoren sind ein Beispiel für die „verzauberteLebenswelt und traumatische Kriegswirklichkeit“ (S. 205) von <strong>Kinder</strong>n inOberschlesien in den Jahren 1939-1945. Es ist nach Ansicht des Autors wichtig, dieRomane dieser beiden Autoren nicht aus dem Blick zu verlieren, wenn es um die Problemeder Nachkriegsliteratur in Deutschland nach 1945 geht. Viele der deutschstämmigen<strong>Kinder</strong> waren durch ihre Erziehung für den Krieg sozialisiert, aber letztlich bliebensie wie ihre polnischen Altersgenossen von den „transgenerationellen Traumatisierungsprozessen“(S. 216) nicht verschont. Unabhängig von ihrer Abstammung, Erziehungund Gesinnung mussten sie die Lasten der Nachkriegszeit unverschuldet ertragen.Ein Fazit: Die Texte dieser Sammlung zeigen, wie nahezu alle <strong>Kinder</strong> im östlichenEuropa, insbesondere aber im besetzten Polen,Opfer von Kriegshandlungen, erzwungenenUmsiedlungen und Vertreibung wurden.Ihre Traumata werden den <strong>Kinder</strong>nvon damals, obwohl Jahrzehnte nach ihrerEntstehung vergangen sind, heute erst langsambewusst. Deren Verarbeitung und Bewältigungwird noch Jahre, wenn nicht lebenslangdauern.Gansel, Carsten/Zimniak, Pawel (Hrsg.):Kriegskindheiten und Erinnerungsarbeit.Zur historischen und literarischen Verarbeitungvon Krieg und Vertreibung. (PhilologischeStudien und Quellen; Heft 235). Berlin:Erich Schmidt <strong>2012</strong> (ISBN <strong>97</strong>8 3 50313703 9; eBook: ISBN <strong>97</strong>8 3 503 13704 6;gedrucktes Werk: 39,80 €)