Einseitiges Strafanwendungsrecht und entgrenztes Internet?_____________________________________________________________________________________nicht auf Basis eines rein staatlichen Souveränitätsgedankens,sondern auf Basis eines Solidaritätsgedankens gegenüber deneigenen Staatsbürgern und gegenüber den anderen Staaten.„We need traffic rules“, heißt es bei Ladeur. 77 So soll etwadie Zuständigkeit für Gerichte in den USA betreffend Tätigkeitenim Internet nach US-amerikanischem Recht danngegeben sein, wenn der Beschuldigte durch seine Handlungnicht nur geringfügige Auswirkungen (minimum contacts)auf den Staat, welcher die Zuständigkeit der Strafverfolgungfür sich in Anspruch nimmt, herbeiführt. 78 Der im Bereich derRechtshilfe bereits geforderten Solidarität bedarf es im Hinblickauf territorial entgrenzte transnationale und internationaleKriminalitätsbereiche auch für die Strafanwendungsrechteund auch in der Verständigung über die transnationalzu schützenden Rechtsgüter selbst. Das sollte auf Dauer zueinem Umdenken weg von staatlich einseitig gedachter Souveränitätführen. An Lotus anschließend könnte das die Nachrichtvon 2011 aus Istanbul sein.77 Ladeur, German Law Journal 2009, 1201 (1214): „ […] forthe internet and the information society, not the protection ofany data of a nomadic individualism which fights against anyrestriction of its autonomy. […] Hybridization and the proliferationof linkages through networks are two of the characteristicsof the internet. Instruments for the protection of thevariety of the internet and the limitation of state power in thenetwork of networks should make use of these paradigmaticphenomena.“78 Hervorgehend aus dem Verfahren „Pres-Kap v. SystemOne Direct“ (District Court of Appeal of Florida, Third District,Urt. v. 12.4.1994 – No. 93-1440), der ersten Entscheidung,in welcher sich US-Gerichte mit Zuständigkeitskonfliktenim Internet beschäftigen mussten. Vgl. dazu Primig,Internationales Strafrecht und das Internet, 2002, S. 4 f.(unter:http://rechtsprobleme.at/doks/primig-1-internationales_strafrecht.pdf[12.7.2012]); Kuner, CR 1996, 454. Im Internet istdiese Entscheidung einsehbar unter:http://www.loundy.com/CASES/Pres-Kap_v_System_One.html(12.7.2012). S. zu den verschiedenen Bestimmungen desU.S.C. (United States Code) z.B.:http://uscode.house.gov/search/criteria.shtml (12.7.2012). Ausder Entscheidung: „It is settled law that an individual‘s contractwith an out-of-state party alone can (not) automaticallyestablish sufficient minimum contacts in the other party'shome forum to support an assertion of in personam jurisdictionagainst the out-of-state defendant, even where, as here,the foreign defendant allegedly breaches that contract byfailing to make the required payments in Florida.“_____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com465
Steuerstrafrecht als Cybercrime!Zwischenruf aus der PraxisVon Rechtsanwalt Dr. Bernd Groß, LL.M., Frankfurt a.M.Nur ganz wenige Wirtschaftsstraftaten haben heute nichts mitComputern zu tun. Während man bis Ende der neunzigerJahre Straftaten im Zusammenhang mit dem Internet mitKinderpornographie in Verbindung setzte, ist in den letztenJahren das Internet von Kriminellen meist dazu gebrauchtworden, illegal Gelder zu verdienen. 1 Was genau unterCybercrime zu verstehen ist, lässt sich nur sehr schwer exaktdefinieren. Allgemein werden dem Cybercrime alle Straftatenzugeordnet, bei denen die EDV Tatmittel und/oder Tatobjektist. Oft werden das Internet und Computer im Zusammenhangmit Betrugsfällen (Abofallen, Phishing, Skimming etc.)wahrgenommen, also mit Taten, bei denen es ein ganz konkretesOpfer gibt.Ein aktuelles Beispiel aus der Praxis zeigt, dass man alleinmit Computern, Fachwissen und krimineller Energieausgerüstet dem deutschen Steuerzahler hunderte MillionenEuro „stehlen“ kann und hierbei – unter Ausnutzung derSchwierigkeiten internationaler Rechtshilfe – weitgehendungestört bleibt.I. Das PrinzipIm Jahr 2005 wurde innerhalb der Europäischen Union zumSchutz der Umwelt der Handel mit CO2-Zertifikaten eingeführt.2 Vereinfach dargestellt funktioniert der Handel so, dassjeder Industrienation eine feste Menge an Zertifikaten zugeteiltwird. Soweit diese Zertifikate nicht benötigt werden,kann damit (zunächst zwischen Staaten) Handel getriebenwerden. Die Europäische Union hat darüber hinaus denEmissionshandel auf Unternehmensebene eingeführt. Unternehmenwerden zu einem Stichtag bestimmte Verschmutzungsrechteeingeräumt, wobei die Zuteilung jedes Jahr abnimmt.Verbraucht ein Unternehmen die ihm zugeteilten Rechtenicht, so kann es diese an andere Unternehmen veräußern,die einen höheren Bedarf haben. Somit entsteht ein Handel,der zum einen über Börsen (wie beispielsweise die EEX inLeipzig), zum anderen zwischen Unternehmen direkt (Overthe Counter „OTC-Handel“) stattfindet.Bei den Emissionszertifikaten handelt es sich um eine lediglichvirtuell existierende Nummernkette. Um am Handelmit Zertifikaten teilnehmen zu können, bedarf es der Anmeldungbei einem Emissionshandelsregister. In Deutschland werdendiese Konten bei der Deutschen Emissionshandelsstelle(DEHSt) geführt. Die Anmeldeformalitäten konnten jedenfallsin der Vergangenheit sehr einfach elektronisch erledigtwerden. Die Zertifikate werden dann zwischen den Vertragspartnernvon Register zu Register übertragen, indem festgelegtePasswörter eingegeben werden, die die Übertragung inetwa vergleichbar mit dem Online-Banking legitimieren. DerZugang zu dem Emissionshandelsregister konnte von jedem1 Vgl. Vassilaki, MMR 2006, 212.2 Grundlage bildet das Kyoto-Protokoll von 1997, das am16.2.2005 in Kraft trat. Der Emissionshandel in der EU begannam 1.1.2005.Internetanschluss aus weltweit erfolgen. Eine Übertragungder Emissionszertifikate außerhalb des Registers ist nichtmöglich, so dass die Transaktionen nur online stattfindenkönnen.Die Emissionszertifikate unterliegen der Umsatzsteuerund erst im Sommer 2010 wurde das sog. „Reverse-Charge-Verfahren“ 3 eingeführt, das Umsatzsteuerkettenbetrug unmöglichmacht. Umsatzsteuervoranmeldungen werden im Übrigenelektronisch – d.h. über das Internet – abgegeben.Bereits seit einigen Jahren haben Kriminelle erkannt, dassdas System der Umsatzsteuer in Europa in hohem Maße anfälligfür Betrug ist. Durch sog. „Umsatzsteuerkarusselle“entsteht beispielsweise dem deutschen Steuerzahler ein jährlicherSchaden in Milliardenhöhe. Das System ist dabei verblüffendeinfach: Eine (gerade gegründete oder bislang inaktive)Gesellschaft importiert eine beliebige Ware aus einemanderen EU-Land. Diese Gesellschaft erhält die Ware ohneUmsatzsteuer. Sie verkauft die Ware zu einem günstigenPreis 4 plus Umsatzsteuer (19 %) an eine weitere Gesellschaft(Buffer), die die Ware ihrerseits mit Umsatzsteuer an einedritte Gesellschaft (Distributor) veräußert. Die letzte Gesellschaftin der Kette veräußert die Ware ins Ausland zurückund erhält vom Finanzamt die Vorsteuer erstattet. Der Buffererhält ebenfalls die abgeführte Vorsteuer zurück. Weil erselbst jedoch etwas mehr Steuer vom Distributor erhält als erbezahlt, entsteht beim Buffer eine Zahllast.Je professioneller die Ketten organisiert sind, desto mehrBuffer werden eingesetzt. Die erste Gesellschaft erhält dieUmsatzsteuer von ihrem direkten Handelspartner, sie gibtjedoch keine Steuererklärung ab. Vielmehr wird die Vorsteuerins Ausland transferiert und die Hintermänner verschwinden,weshalb die erste Gesellschaft auch „missing trader“genannt wird. Weil es sich bei den „missing tradern“ zumeistum Gesellschaften handelt, die von der monatlichen Abgabevon Umsatzsteuererklärungen befreit sind, fällt das Ganze oftlange Zeit nicht auf. 5Der Distributor ist – jedenfalls bei groß angelegten Ketten– zumeist eine renommierte Gesellschaft, deren Verantwortlicheentweder benutzt werden, ohne selbst an der Kette be-3 Vgl. § 13b Abs. 2 Nr. 6 UStG. Beim Reverse-Charge-Verfahrenwird die Verpflichtung zur Zahlung der Umsatzsteuerauf den Leistungsempfänger verlagert. Der Vorteil bestehtdarin, dass Vorsteuerbeträge in erheblichem Umfang nichtmehr durch das Finanzamt ausgezahlt werden, sondern nurnoch verrechnet werden.4 Der günstige Preis ist das Haupterkennungsmerkmal einerUmsatzsteuerhinterziehungskette (vgl. § 25d Abs. 2 UStG).Es gilt der Grundsatz: „If a deal is too good to be true, it isprobably not true.“5 Neuerdings werden bei Hinterziehungsketten auch Gesellschaftenals Importeur eingesetzt, die ihre Steuererklärungenkorrekt abgeben, zum Zeitpunkt der Zahlungsverpflichtungallerdings – wie von Anfang an geplant – insolvent sind._____________________________________________________________________________________466<strong>ZIS</strong> 8-9/2012