Das Magazin 2|2012 (PDF, 3.6 MB) - Deutsche BKK

❯❯ FRAGE UND ❮❮ ANTWORT
Im Gespräch mit Dr. med. Gabriele Müller, Ärztin
am Schmerzzentrum Rhein-Main in Frankfurt
Dr. med Gabriele Müller, Ärztin für Anästhesie, Spezielle
Schmerz therapie, Palliativmedizin und Akupunktur
❯❯ Magazin: Gerade bei Rückenoperationen
sind viele Eingriffe überflüssig. Woran liegt
dies?
❮❮ Wir sind in Deutschland, vielleicht sogar
in ganz Europa, sehr fixiert auf die bildgebende
Diagnostik. Im Vergleich dazu kommen
die körperliche Diagnostik und die Erhebung
der Krankengeschichte des Patienten
eher zu kurz. Auch die psycho-soziale
Dimension des Patienten wird vielfach vernachlässigt.
Zeigt ein MRT-Bild zum Beispiel
einen Bandscheibenvorfall, kommt es
schnell zu dem Schluss, dass eine Operation
die beste Behandlungsform wäre. Chronische
Schmerzen generell, und vor allem
Rückenschmerzen, sind bio-psycho-sozial.
Und das erkennt man nicht auf dem MRT-
Bild. CT, MRT und Röntgen können zudem
sehr gut abrechnet werden, Gespräch und
körperliche Untersuchung werden dagegen
bescheiden bezahlt.
❯❯ Magazin: Warum weicht die Zweitmeinung
gerade in diesen Fällen so oft von
der Erstmeinung ab?
❮❮ Das hängt von dem Arzt ab, bei dem sie
sind. Orientiert sich dieser eher an konservativen
Behandlungsmethoden oder neigt
er eher zu Operationen. Bei uns werden die
Patienten von drei Therapeutengruppen je
eine Stunde untersucht, hinterher gibt es
eine Teamsitzung. Das ist eine ganzheitlichere
Herangehensweise als bei einem einzelnen
Arzt.
❯❯ Magazin: Handelt es sich in solchen
Fällen um schlechte Ärzte, wenn sie eine
Therapie wählen, die sich als die falsche
erweist?
❮❮ So schwarz-weiß kann man das nicht
sehen. Häufig gibt es verschiedene Handlungsoptionen,
deswegen muss man genau
hinschauen, was das individuell Passende
für den Patienten ist. Es geht auch um die
Frage, wie gut die Alternativen sind. Mit einer
schnellen und billigen konservativen
Methode kann häufig eine Operation nicht
vermieden werden, wohl aber mit einer intensiven
und interdisziplinär abgestimmten
konservativen Therapie.
❯❯ Magazin: Warum kann ein Patient sicher
sein, wenn er bei Ihnen in einem der 37
Schmerzzentren als Vertragspartner der
Deutschen BKK war, dass die Zweitmeinung
die richtige ist?
❮❮ Zum einen, weil wir uns mit drei Therapeuten
ausreichend Zeit für den Patienten
nehmen, mit einer Psychologin, einem Physio-Therapeuten
und einem ärztlichen
Schmerztherapeuten. Wir untersuchen
nicht nur seinen Rücken, sprich seine biomechanische
Situation, sondern auch seine
bio-psycho-soziale Situation. Vielfach haben
Patienten mit Rückenproblemen auch
eine Muskelschwäche oder eine Fehlhaltung.
Dies versuchen wir aufzudecken, mit
dem Patienten zu besprechen und Alternativen
aufzuzeigen.
❯❯ Magazin: Wie reagieren Versicherte der
Deutschen BKK, wenn sie eine abweichende
Zweitmeinung bei Ihnen bekommen?
❮❮ Durchweg sehr positiv, wobei die Patienten
ja nicht nur eine Zweitmeinung, sondern
eine individuelle Beratung bekommen,
die auf ihre Situation abgestimmt ist. Zudem
kommen die Patienten ja gerade mit
der Motivation zu uns, etwas über mögliche
Alternativen zu einer Operation zu erfahren.
Wenn wir die Indikation einer Operation
bestätigen, was ja auch vorkommt,
schafft das für die Patienten eine höhere
Sicherheit. Bei uns fühlen sich die Patienten
zudem viel eher als Person und weniger
als MRT-Bild wahrgenommen.
❯❯ Magazin: Welche Erkenntnisse könnte
denn ein Gespräch mit einer Psychologin
über eine bildgebende Diagnostik hinaus
ergeben?
ZWEITMEINUNG VOR BANDSCHEIBEN-OP � GESUNDHEIT
❮❮ Ein Patient mit wenig Geduld könnte
zum Beispiel eher zu einer Operation neigen
als ein hoch motivierter Patient, der
auch bereit ist, viel für seine Gesundheit
zu tun. Wir wissen heute, dass Rückenprobleme
und Bandscheibenvorfälle oft soziale
Ursachen haben, also Stress, Belas -
tungen, hohen Druck am Arbeitsplatz
usw. An diesen Ursachen ändert eine
Operation nichts.
Foto: Robert Kneschke
❯❯ Magazin: Welche alternativen Therapien
gibt es bei Rückenproblemen zu einer
Operation?
❮❮ Die Alternativen sind im Rahmen der
ambulanten Regelversorgung eher bescheiden
und deswegen oft keine wirklichen
Alternativen. Im Rahmen der integrierten
Versorgung gibt es gute Alternativen,
weil diese ausführlicher sein dürfen
und wir kompetent interdisziplinär arbeiten
können. Im Prinzip handelt es sich um eine
intensive ambulante Behandlung – der Patient
braucht kein Bett und auch kein Essen
auf Kosten der Krankenkasse. Die Ausgaben
sollen in die Qualität der Behandlung
investiert werden. Zudem bleibt er in seiner
gewohnten Umgebung, was den Transfer
von Behandlungsmaßnahmen in seinen
Alltag leichter macht.
❯❯ Magazin: Macht das Einholen einer
Zweitmeinung in einem Schmerzzentrum
auch dann Sinn, wenn jemand schon einmal
am Rücken operiert worden ist?
❮❮ Mit der Häufigkeit von Operationen sinken
die Chancen auf Heilung. Somit macht
auch hierfür eine Zweitmeinung Sinn. �
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