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ProPhil - Philologenverband Sachsen

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<strong>ProPhil</strong><br />

Diskussion: Dieter Schulz<br />

Schule gestalten – Die „soziale Leistungsschule“<br />

Kein zweites Thema<br />

bewegt die Öffentlichkeit<br />

in gleicher<br />

Quantität und Qualität<br />

wie das Thema<br />

„Schule“. Das ist aus<br />

den unterschiedlichen<br />

persönlichen<br />

Erfahrungen und Verbindungen<br />

nahe liegend<br />

und verständlich<br />

zugleich. Eine<br />

zusätzliche Dynamik<br />

erfährt der Komplex<br />

„Schul- und Bildungswesen“<br />

aktuell durch die facettenreichen Diskussionen<br />

zur internationalen Schulleistungsstudie<br />

PISA. Auch wenn alle Beteiligten dabei stets das<br />

Wohl der Kinder und Jugendlichen betonen, so sind<br />

substantielle Konsequenzen bislang nur punktuell<br />

erkennbar. Auch die breit geführte Debatte um neue<br />

Schulstrukturen beantwortet nicht die Vielzahl der<br />

offenen Fragen. Ihr kommt eher die Funktion eines<br />

„Blitzableiters“ zu. Die Fülle neuer Schulformbezeichnungen<br />

assoziiert zwar politisch beruhigend<br />

Veränderungen, ohne dass die zugehörigen Inhalte<br />

mit all den verbundenen Konsequenzen des pädagogischen<br />

Handelns in der gebotenen Reife und Verantwortung<br />

erörtert werden. Und doch ist festzuhalten:<br />

Es gibt keine zeitlos gültige Statik für die<br />

Institution Schule. Sie muss in ihrer inhaltlichen<br />

Gestaltung grundsätzlich so beschaffen sein, dass sie<br />

den Veränderungsprozess, dem eine Gesellschaft<br />

gleichsam naturgemäß unterliegt, mitprägt.<br />

Als in den Jahren des politischen Neuanfangs nach<br />

1989 auch für den wieder begründeten Freistaat<br />

<strong>Sachsen</strong> die Grundsatzentscheidungen für das Schulund<br />

Bildungswesen erforderlich waren, hat man sich<br />

nach einer differenziert geführten Abklärung bewusst<br />

gegen eine Übernahme des drei- bzw. viergliederigen<br />

Schulsystems der Länder der alten Bundesrepublik<br />

entschieden. Die dort in vielen Bereichen<br />

festgestellten Probleme waren nicht zwingend<br />

übernehmenswert. 1) Die erkannten Systemfehler<br />

sollten durch die Festlegung einer Zweigliedrigkeit<br />

in eine „Integrierte differenzierte Mittelschule“<br />

und das „Gymnasium“ als die vierjährige Grundschule<br />

weiterführende Formen vermieden werden.<br />

Die Kriterien der seitdem jeweils empfohlenen Schulform<br />

orientieren sich ausschließlich an der Leistung<br />

und nicht an der Herkunft oder der sozialen Schicht<br />

des Kindes bzw. der Familie. Im Kern hat sich dieses<br />

bewährt, wenngleich mit Blick auf die Mittelschule<br />

und den in ihr integrierten zwei Bildungsgängen<br />

(Hauptschul- und Realschulbildungsgang) durch<br />

deren Verselbständigung Verwerfungen erfolgt sind.<br />

Eine eindeutige Zuweisung mag zwar am jeweiligen<br />

Schulstandort organisatorische Fragen leichter bewältigen<br />

helfen. Mit Blick auf die Förderung der individuellen<br />

Begabungen, Neigungen und Fähigkeiten<br />

sind die in der heutigen Praxis fast durchgängig vorfindbaren<br />

Festlegungen in Hauptschul- und Realschulklassen<br />

jedoch kontraproduktiv. Sie lösen nicht<br />

14 <strong>ProPhil</strong> 2/2008<br />

den gesetzgeberisch gewollten integrativen und<br />

zugleich differenzierenden Ansatz ein. Vielmehr<br />

führen sie immer wieder zu Stigmatisierungen von<br />

Schülern mit all den sich hieraus ableitenden Konsequenzen.<br />

Es ist auch ein Trugschluss, hieraus zwingend<br />

die Etablierung eines (neuen) Einheitsschulsystems<br />

abzuleiten, denn es gibt nichts Ungerechteres,<br />

als von Ungleichen das Gleiche zu verlangen. Hier<br />

liegen die absoluten Grenzen ethischen Handelns.<br />

Der Schule bleibt der konstitutive Auftrag zugeordnet,<br />

den Schüler – wie bereits angesprochen – optimal<br />

zu fördern („Grundsatz der Chancengerechtigkeit“).<br />

Um dem qualitativ zu entsprechen und somit<br />

einer Unterforderung bzw. Überforderung des Einzelnen<br />

zu begegnen, erfolgt deshalb im Schulsystem<br />

des Freistaates <strong>Sachsen</strong> bewusst eine strukturelle<br />

Verzweigung.<br />

Der zunächst eingeschlagene Bildungsweg darf für<br />

den einzelnen Schüler aber keine „Sackgasse ohne<br />

Wendekreis“ bedeuten, denn Kinder und Jugendliche<br />

entwickeln sich äußerst unterschiedlich. Ein<br />

gegliedertes Schulwesen muss deshalb entsprechend<br />

reagieren, indem es individuelle und institutionalisierte<br />

Übergänge zwischen den beiden weiterführenden<br />

Schulen bewusst fördert („Grundsatz der<br />

Durchlässigkeit“). Um dieses qualitativ zu stützen,<br />

bedarf es einer verantwortlichen Leistungsbeobachtung,<br />

unterstützt durch eine individuelle Schullaufbahnberatung.<br />

Auch wenn hierüber Vieles an Förderung<br />

garantiert wird, so nehmen Entwicklungen<br />

sowie berufsbiographische Einflüsse und Veränderungen<br />

– auch über die Schulzeit des Einzelnen<br />

hinwegreichend – ihre eigenen Verläufe und rufen<br />

mitunter neue Qualifikationen ab. Konsequenterweise<br />

ist das Schulsystem im Freistaat <strong>Sachsen</strong> Abschluss<br />

bezogen und curricular angelegt (Grundsatz:<br />

„Kein Abschluss ohne Anschluss!“).<br />

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit ihrer<br />

Gründung am 23. Mai 1949 – abgeleitet aus den<br />

unsäglichen Erfahrungen und sozialen Verwerfungen<br />

der Weimarer Republik und in Einlösung des „Subsidiaritätsprinzips“<br />

für staatliches Handeln – nicht für<br />

eine reine Marktwirtschaft, sondern für die „soziale<br />

Marktwirtschaft“ entschieden. Konsequenterweise<br />

ist bei aller Farbigkeit des Schulsystems in einem<br />

föderalen Staat mit 16 Bundesländern 2) ein weiterer<br />

Grundsatz bindend und zwingend: „Jede Schule ist<br />

eine soziale Leistungsschule“! Es bedarf immer des<br />

Gestaltens und Erfahrens des spezifischen Spannungsverhältnisses<br />

von Leistung und sozialer Verant-<br />

ZUR PERSON:<br />

wortung. Das heißt: Der Leistung wird eine besondere<br />

Bedeutung zugemessen. Unstrittig gilt dabei der<br />

pädagogische Arbeitsgrundsatz „fördern durch fordern“,<br />

und zwar in allen Schulformen. Als eine<br />

wesentliche qualitative Dimension tritt in einem so<br />

fundierten pädagogischen Verständnis von individueller<br />

Leistung ergänzend die „Verantwortung“ als ihr<br />

antinomischer Partner hinzu.<br />

In der aktuellen gesellschaftlichen Situation kommt<br />

der „sozialen Leistungsschule“ eine besondere<br />

erzieherische Aufgabe zu. Ich will dieses an einem<br />

Beispiel erläutern: Wir alle beklagen tagtäglich die<br />

Verhaltensformen in der Marktwirtschaft. Wir erfahren<br />

sie mitunter als menschenverachtend und oftmals<br />

ausschließlich am Profit orientiert. (Anmerkung:<br />

Im eigenen Handeln sind wir jedoch bereitwillig<br />

inkonsequent, denn im Falle des eigenen Vorteils<br />

praktizieren wir die Mechanismen der Marktwirtschaft<br />

selbst – oftmals gar im Stile des „blanken<br />

Manchester-Kapitalismus“). Es zählt nur der Stärkere.<br />

Die soziale Dimension rufen wir nur dann ab und<br />

reklamieren sie, wenn – aus welchen Gründen auch<br />

immer – die wirtschaftlichen Probleme uns selbst<br />

„überrollen“. Unter Rückgriff auf die Weimarer Verfassung<br />

heißt es in Artikel 14 GG Abs. 2 ausdrücklich,<br />

dass Eigentum und somit Leistung verpflichtet.<br />

Diese Feststellung ist zugleich der oberste Grundsatz<br />

der „sozialen Marktwirtschaft“. Sozialstaat heißt<br />

Leistung auf Gegenseitigkeit! Das bedeutet, dass<br />

diejenigen, die mehr leisten können, auch mehr leisten<br />

müssen, damit sie für diejenigen Leistungen mit<br />

erbringen, die dazu nicht oder nur bedingt in der<br />

Lage sind. 3) Da Schule eine Grundeinheit der sozialen<br />

Leistungsgesellschaft ist, muss somit eine ihrer<br />

wesentlichen Erziehungsaufgaben darin bestehen,<br />

die „Sozialpflichtigkeit von schulischer Leistung“<br />

unmittelbar erfahrbar werden zu lassen. Das heißt:<br />

Kinder und Jugendliche sind in allen Dimensionen<br />

selbst gestaltend zu beteiligen. Schließlich bedingen<br />

der freiheitliche Rechts- und Sozialstaat, die soziale<br />

Leistungsgesellschaft und die soziale Leistungsschule<br />

einander. Jede Einseitigkeit oder Überbetonung<br />

einer Komponente wirken sich negativ aus.<br />

Somit ist es eine wesentliche – um nicht zu sagen:<br />

die entscheidende – Aufgabe der sozialen Leistungsschule,<br />

der „Ellbogengesellschaft“ prophylaktisch<br />

und beispielgebend entgegenzuwirken. Immer<br />

geht es um die Einlösung der Maxime pädagogischen<br />

Handelns: „Den Anderen sehen – für den<br />

Anderen da sein“.<br />

Schulz, Dieter, Prof. em. Dr. phil. Dr. h.c.;<br />

geb. 1942 in Görlitz; emeritierter Universitätsprofessor für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik<br />

an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universi-tät Leipzig;<br />

Mitglied des Wissenschaftlichen Rates der Universität Lettlands in Riga;<br />

Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler wissenschaftlicher Fachverbände sowie verantwortlicher<br />

Leiter diverser internationaler EU-Projekte;<br />

Direktor der Theodor-Litt-Forschungsstelle an der Universität Leipzig;<br />

Mitglied des Education Advice. Schwerpunkte in der Forschungs- und Lehrtätigkeit: Lehrerbildung,<br />

Struktur des Schul- und Bildungswesens, Schulentwicklungsplanung und Personalentwicklung.<br />

Fußnoten / Quellennachweis auf Seite 15

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