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Exil Schweiz Tibeter auf der Flucht

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Unterrichtseinheit<br />

<strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

<strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong><br />

Limmat Verlag<br />

Zürich


Recherche und Zusammenstellung von Regula Wyss, Basel<br />

Mitarbeit von Claudia Froelich<br />

www.limmatverlag.ch/schule/<br />

Alle Rechte vorbehalten. Jede kommerzielle Nutzung ausserhalb des<br />

Schulunterrichts ist verboten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner<br />

Form (durch Fotografie, Mikrofilm o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Verfahren) ohne<br />

schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert o<strong>der</strong> unter Verwendung<br />

elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt o<strong>der</strong> verbreitet<br />

werden.<br />

Alle Rechte an den Zusatztexten liegen bei den einzelnen<br />

Verlagen (siehe Nachweise bei den Texten).<br />

Alle Fotografien © by Manuel Bauer<br />

© 2009 by Limmat Verlag, Zürich<br />

www.limmatverlag.ch<br />

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Inhalt<br />

Information für Lehrpersonen<br />

Grob-Lernziele<br />

Text 1 Martin Brauen; Detlef Kantowsky (Hg.): Junge <strong>Tibeter</strong> in <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong>. Studien zum Prozess kultureller Identifikation<br />

Text 2 Martin Brauen: Traumwelt Tibet. Westliche Trugbil<strong>der</strong>.<br />

In Zusammenarbeit mit Renate Koller und Markus Vock<br />

Text 3 Dalai Lama: Die vier edlen Wahrheiten. Die Grundlage<br />

buddhistischer Praxis<br />

Text 4 Gyaltsen Gyaltag: Die Geschichte des tibetischen Volkes<br />

Text 5 Gyaltsen Gyaltag: Die tibetische Familie im Wandel und<br />

Spannungsfeld zweier Kulturen<br />

Text 6 Karénina Kollmar-Paulenz: Kleine Geschichte Tibets<br />

Pressetexte zum 50. Jahrestag des Tibet-Aufstands (März 2009)<br />

Text 7 Neue Zürcher Zeitung vom 10. März 2009: Peter A. Fischer:<br />

Chinas <strong>Tibeter</strong> im Mo<strong>der</strong>nisierungs-Stress<br />

Text 8 Neue Zürcher Zeitung, 11. März 2009: Peter A. Fischer: China<br />

sieht im Dalai Lama einen Spalter<br />

Text 9 Die Zeit, 12. März 2009: Georg Blume: Protest im Lotossitz<br />

Text 10 Tages-Anzeiger, 10. März 2009: Christof Münger: Zuerst<br />

schickte Mao Blumen, dann kamen die Soldaten<br />

Recherche-Aufträge: Menschenrechte und Menschenrechtsverletzungen<br />

Text 11 Manuel Bauer: <strong>Flucht</strong> aus Tibet<br />

Text 12 Christian Schmidt: Jigme Sangpo Takna, Freiheit für Tibet!<br />

Text 13 Christian Schmidt: Dickie Yangzom Shitsetsang, Mein Herz<br />

gehört heute noch Tibet<br />

Vorträge und Kooperationen | Autoren<br />

Portraitierte<br />

Ausstellungen | Experten aus <strong>der</strong> tibetischen Kultur in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

Weitere Referenten und Referentinnen<br />

Webseitenverweise<br />

Archive/Fachbibliotheken | Literaturverweise


Information für Lehrpersonen<br />

Wie die Tagespresse meldete, haben am 30. Oktober 2009 in Zürich<br />

rund 600 <strong>Tibeter</strong> und <strong>Tibeter</strong>innen gegen Hinrichtungen<br />

von Landsleuten mit einem Fackelzug protestiert. Es wurden<br />

Transparente mitgeführt mit Aufschriften wie «Menschenrechte<br />

auch in Tibet», «Tibet braucht ihre Hilfe» sowie «UNO act now».<br />

Die angeprangerten Todesurteile waren am 20. Oktober an Personen<br />

vollstreckt worden, die an den Massenprotesten vom März<br />

2008 in Lhasa teilgenommen hatten.<br />

Es seien dies die ersten bekannt gewordenen Hinrichtungen<br />

von <strong>Tibeter</strong>n und <strong>Tibeter</strong>innen im Zusammenhang mit den Unruhen<br />

vom 14. März, heisst es in einer Mitteilung <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong><br />

Gemeinschaft <strong>Schweiz</strong> und Liechtenstein. Die Hingerichteten<br />

hätten keinen juristischen Beistand gehabt.<br />

Von chinesischer Seite sind offiziell zwei Hinrichtungen bestätigt<br />

worden. Nach Angaben <strong>der</strong> tibetischen Gemeinschaft gibt<br />

es jedoch mindestens vier Fälle. Mit dem Fackelzug for<strong>der</strong>ten die<br />

Tibet­Organisationen in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> die chinesische Regierung<br />

<strong>auf</strong>, die Hinrichtungen sofort zu stoppen. Die <strong>Schweiz</strong>er Regierung<br />

wurde <strong>auf</strong>gerufen, alles Menschenmögliche zu unternehmen,<br />

damit es zu keinen weiteren Hinrichtungen in Tibet kommt.<br />

(Quelle: SDA).<br />

Im März 2009 sind im Limmat Verlag Zürich gleich zwei Bücher<br />

zur tibetischen Thematik erschienen. «<strong>Flucht</strong> aus Tibet» von Manuel<br />

Bauer, sowie «<strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>. <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>. 12 Lebensgeschichten»<br />

von Christian Schmidt und Manuel Bau er.<br />

Beide Bücher werfen Fragen <strong>auf</strong>, die im Unterricht <strong>der</strong> Sekundarstufe<br />

II (Gymnasium, Berufsmaturitätsschule) in den Fächern<br />

Geschichte und Politik, Sozialwissenschaften o<strong>der</strong> Philosophie<br />

bearbeitet werden können – denn <strong>Flucht</strong> bzw. Emigra tion sowie<br />

<strong>der</strong> Aufbau einer neuen Existenz in einem fremden Land sind<br />

heute höchst aktuelle Themen. Die tibetische Thematik steht<br />

hier stellvertretend für die weltweite Migrationsthematik.<br />

Als Ergänzung zu den beiden Büchern legen wir deshalb eine<br />

Auswahl von Texten vor, die Hintergrundinformationen und<br />

Denkanstösse vermitteln. In diesen Zusatztexten werden verschiedene<br />

Themen erörtert, wie zum Beispiel die Situation tibetischer<br />

Flüchtlinge in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, die Geschichte, Gesellschaft<br />

und Kultur des tibetischen Volkes sowie die Grundlagen buddhistischer<br />

Philosophie. Zu diesen Texten sind einige Arbeitsvorschläge<br />

für die Lernenden formuliert.<br />

Das vorliegende Material soll zudem zum neugierigen Weiterforschen<br />

anregen. Zusätzlich finden die Lehrpersonen zwei exemplarische<br />

Porträts aus dem Buch «<strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>. <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Flucht</strong>» sowie einen Ausschnitt aus Manuel Bauers Begleittext in<br />

seinem Fotoband «<strong>Flucht</strong> aus Tibet». Im Anhang <strong>auf</strong>geführt sind<br />

zudem die Adressen <strong>der</strong> Autoren, <strong>der</strong> Porträtierten sowie an<strong>der</strong>er<br />

Experten, die für Vorträge in Schulen eingeladen werden<br />

können o<strong>der</strong> die Ausstellungen zeigen möchten. Die Verweise <strong>auf</strong><br />

Websites, <strong>auf</strong> Archive und Fachbibliotheken sowie eine Literaturliste<br />

ermöglichen es Interessierten, sich noch eingehen<strong>der</strong><br />

über die Thematik zu informieren.<br />

Basel, im November 2009 Regula Wyss<br />

5 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 6


Christian Schmidt und Manuel Bauer<br />

<strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>. <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>. 12 Lebensgeschichten.<br />

Aus dem Vorwort Tsering Chagotsang: «Das eigene Land ist besetzt.<br />

Der Glaube bleibt verboten. Es gibt kein Recht <strong>auf</strong> freie<br />

Meinungsäusserung. Das Oberhaupt lebt im erzwungenen <strong>Exil</strong>.<br />

Seit fünfzig Jahren.<br />

Wie kann man existieren, wenn die Heimat keine Heimat<br />

mehr ist? Was heisst es, zu flüchten und ein Leben lang Flüchtling<br />

zu bleiben? Und wie kann man aushalten, dass es kein Zurück<br />

in das eigene Land gibt?<br />

Zwölf Lebensgeschichten zeichnen nach, wie die noch jungen<br />

<strong>Tibeter</strong> und <strong>Tibeter</strong>innen in <strong>der</strong> Heimat <strong>auf</strong>wachsen, wie sie die<br />

chinesische Invasion erleben und den anfänglich noch freundlichen<br />

Besetzern begegnen, wie sie älter werden und unter Lebensgefahr<br />

nach Indien, Nepal o<strong>der</strong> Bhutan flüchten, von da den Weg<br />

in die <strong>Schweiz</strong> finden und sich hier als Erwachsene eine neue<br />

Existenz <strong>auf</strong>bauen – Männer und Frauen, Händler und Nomadinnen,<br />

Arbeiterinnen und Mönche, Intellektuelle und Bäuerinnen.<br />

Sie alle geraten aus <strong>der</strong> Stille des tibetischen Hochlands mitten<br />

in eine industrialisierte Leistungsgesellschaft.»<br />

Christian Schmidt und Manuel Bauer,<br />

<strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>. <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>. 12 Lebensgeschichten<br />

256 Seiten, 118 Fotos, gebunden<br />

ISBN 978-3-85791-574-1<br />

Limmat Verlag<br />

Manuel Bauer<br />

<strong>Flucht</strong> aus Tibet<br />

Zehntausende <strong>Tibeter</strong> und <strong>Tibeter</strong>innen sind seit dem Volks<strong>auf</strong>stand<br />

gegen die chinesische Besatzungsmacht 1959 aus ihrer<br />

Heimat geflüchtet. Sie haben die Strapazen und Gefahren <strong>der</strong><br />

Himalaya­Überquerung <strong>auf</strong> sich genommen, um in Indien und<br />

an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n Zuflucht zu finden.<br />

Am 1. April 1995 verlassen auch ein Vater und seine sechsjährige<br />

Tochter Lhasa und schreiben ein weiteres Kapitel in <strong>der</strong><br />

traurigen Geschichte <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> des tibetischen Volkes. Der Fotograf<br />

Manuel Bauer hat trotz Hin<strong>der</strong>nissen und Kontrollen diese<br />

lebensgefährliche Reise in die Freiheit mitgemacht und dokumentiert.<br />

Erstmals erscheinen die Fotografien jetzt in Buchform.<br />

Für «<strong>Flucht</strong> aus Tibet» hat Manuel Bauer eine umfassende Auswahl<br />

aus seinem Archiv zusammengestellt. Die Bil<strong>der</strong> erzählen<br />

vom dramatischen Weg des Vaters und seiner kleinen Tochter<br />

und werden zur Metapher des Weges eines ganzen Volkes, das<br />

seit fünfzig Jahren unterwegs ist – und stellvertretend zum Sinnbild<br />

für die weltweite Migrationproblematik.<br />

7 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 8<br />

Manuel Bauer<br />

<strong>Flucht</strong> aus Tibet<br />

280 Seiten, 89 Duplexfotos,<br />

Grossformat, gebunden<br />

ISBN 978-3-85791-573-4<br />

Limmat Verlag


Grob-Lernziele:<br />

– Die Lernenden fassen die Kernaussagen von Texten zu-<br />

sammen, welche Hintergrundinformationen zu Ge-<br />

schichte, Gesellschaft und Kultur Tibets vermitteln.<br />

– Die Lernenden setzen sich mit <strong>der</strong> Situation von Men-<br />

schen auseinan<strong>der</strong>, die nach dem Aufstand in Lhasa<br />

(März 1959) in die <strong>Schweiz</strong> flüchteten. Sie untersuchen<br />

die Frage, inwiefern diese ihre kulturelle buddhistische<br />

Identität in einer westlichen Gesellschaft bewahren<br />

konnten.<br />

– Sie vergleichen die Zielsetzungen von schweizerischen<br />

Flüchtlingsorganisationen um 1960 mit jenen, die heutige<br />

Organisationen haben.<br />

– Die Lernenden informieren sich im Internet über die<br />

Menschenrechte und recherchieren zu Menschenrechtsverletzungen<br />

in Tibet.<br />

– Die Lernenden untersuchen, welche klischeehaften<br />

Vorstellungen über Tibet in <strong>der</strong> Populärliteratur, z. B. in<br />

Comics, zum Ausdruck kommen.<br />

– Die Lernenden machen sich mit den Grundgedanken<br />

<strong>der</strong> buddhistischen Philosophie und Lebenspraxis vertraut.<br />

Sie stellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede<br />

fest im Vergleich mit den ethischen bzw. religiösen<br />

Werten, die in unserer westlichen Gesellschaft gelten.<br />

9 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 10


Text 1<br />

Martin Brauen / Detlef Kantowsky (Hg.)<br />

Junge <strong>Tibeter</strong> in <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong>. Studien zum<br />

Prozess kultureller<br />

Identifikation<br />

Tibetische Flüchtlinge in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

Ethnische und rassische Min<strong>der</strong>heiten in Europa und in den USA<br />

sind wie<strong>der</strong> vermehrt Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen<br />

geworden. Dies ist in erster Linie <strong>auf</strong> die schnell wachsende<br />

Zahl von Emigranten und Flüchtlingen zurückzuführen<br />

und <strong>auf</strong> die damit in Zusammenhang stehenden möglichen o<strong>der</strong><br />

tatsächlich <strong>auf</strong>tretenden Konflikte zwischen <strong>der</strong> lokalen Bevölkerung<br />

und den «Fremden», den Eingewan<strong>der</strong>ten.<br />

Die <strong>Schweiz</strong> ist von dieser Problematik nicht verschont geblieben.<br />

Es sei hier an die «Gast»arbeiter aus Mittelmeerlän<strong>der</strong>n<br />

und an die von vielen <strong>Schweiz</strong>ern gesehene Gefahr <strong>der</strong> Überfremdung<br />

erinnert.<br />

Mit <strong>der</strong> Aufnahme von <strong>Tibeter</strong>n in den frühen Sechziger<br />

Jahren sahen sich die <strong>Schweiz</strong>er zum ersten Mal einer grösseren<br />

Anzahl von Menschen gegenübergestellt, die eine gänzlich an<strong>der</strong>e<br />

Kultur besassen und einer an<strong>der</strong>en Rasse angehörten. Wie es<br />

zu diesem «Flüchtlings­Experiment» kam – die erstmalige Aufnahme<br />

asiatischer Menschen, zur Hauptsache Bauern, Nomaden<br />

und Händler aus einer feudalistischen Theokratie in eine hochtechnisierte<br />

westliche Demokratie muss zweifellos als solches bezeichnet<br />

werden –, soll im folgenden kurz beschrieben werden.<br />

Die drei Milieus <strong>der</strong> Ansiedlung<br />

Im März 1959 floh <strong>der</strong> XIV. Dalai Lama, das weltliche und religiöse<br />

Oberhaupt Tibets nach Nordindien, nachdem es in Lhasa zu<br />

einem blutigen Aufstand gegen die chinesischen Truppen gekommen<br />

war, die seit 1950 in Tibet eingedrungen waren. Dem Dalai<br />

Lama folgten zwischen 80 000 und 100 000 seiner Landsleute, die<br />

zur Hauptsache in Indien, aber auch in Nepal, Bhutan und Sikkim<br />

Aufnahme fanden.<br />

Durch die Stiftung Kin<strong>der</strong>dorf Pestalozzi in Trogen, durch<br />

<strong>Schweiz</strong>er Eltern (die meisten von ihnen <strong>der</strong> «Aeschimann­Aktion»<br />

angehörend) und durch das <strong>Schweiz</strong>erische Rote Kreuz<br />

(SRK) beziehungsweise den Verein <strong>Tibeter</strong> Heimstätten (VTH)<br />

wurden zwischen 1960 und 1981 etwa 1200 tibetische Flüchtlinge<br />

aus den asiatischen <strong>Exil</strong>län<strong>der</strong>n in die <strong>Schweiz</strong> geholt und dort<br />

hauptsächlich im Osten des Landes angesiedelt 1 .<br />

Das Kin<strong>der</strong>dorf Pestalozzi in Trogen<br />

Im Februar 1960 beschloss die Stiftungskommission des Kin<strong>der</strong>dorfes<br />

Pestalozzi <strong>auf</strong> Anregung von Charles Aeschimann und<br />

Rudolf Schatz, eine Gruppe von tibetischen Flüchtlingskin<strong>der</strong>n<br />

und ein Hauselternpaar im Kin<strong>der</strong>dorf anzusiedeln. Im Juni<br />

1960 begann man mit dem Bau des <strong>Tibeter</strong>hauses und im August<br />

trafen bereits die Hauseltern und ihr Töchterchen in Trogen ein.<br />

In ihrer Begleitung befand sich ein <strong>Tibeter</strong>knabe, den die Familie<br />

Aeschimann bei sich <strong>auf</strong>nahm, wodurch eine weitere Hilfsaktion<br />

zugunsten <strong>der</strong> tibetischen Flüchtlinge ihren Anfang nahm,<br />

nämlich die Pflegekin<strong>der</strong>aktion von Aeschimann, <strong>auf</strong> die wir<br />

noch eingehen<strong>der</strong> zu sprechen kommen. Im Oktober flogen 20<br />

von Frau Tsering Dolma Takla, <strong>der</strong> älteren Schwester des Dalai<br />

Lama, in Indien ausgewählte tibetische Kin<strong>der</strong> in die <strong>Schweiz</strong><br />

und bezogen im Dezember desselben Jahres ihr inzwischen fertiggestelltes<br />

Haus im Kin<strong>der</strong>dorf. Vier Jahre danach wurde ein<br />

11 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 12


zweites Haus für die Aufnahme einer Gruppe von 17 tibetischen<br />

Kin<strong>der</strong>n und drei Erziehern fertiggestellt. Später folgten weitere<br />

Gruppen von Kin<strong>der</strong>n – sie ersetzten die in <strong>der</strong> Zwischenzeit vom<br />

Kin<strong>der</strong>dorf weggezogenen Jugendlichen <strong>der</strong> ersten Gruppe –, so<br />

dass insgesamt bis 1981 72 tibetische Kin<strong>der</strong> (37 Mädchen und 35<br />

Knaben) im Pestalozzidorf Aufnahme gefunden haben.<br />

Die «Stiftung Kin<strong>der</strong>dorf Pestalozzi» ist eine gemeinnützige<br />

Stiftung, die <strong>der</strong> gesetzlichen Aufsicht des Bundesrates unterstellt<br />

ist und gemäss Statuten folgende Zweckbestimmung hat:<br />

Die Stiftung Kin<strong>der</strong>dorf Pestalozzi unterhält in Trogen<br />

ein Kin<strong>der</strong>dorf, das notleidende Kin<strong>der</strong> aus allen<br />

Län<strong>der</strong>n <strong>auf</strong>nimmt. Das Kin<strong>der</strong>dorf will diesen Kin<strong>der</strong>n<br />

eine Heimstätte bieten, in <strong>der</strong> sie eine sorgfältige<br />

Erziehung geniessen und im Geiste Pestalozzis zu <strong>auf</strong>-<br />

geschlossenen, <strong>der</strong> Völkerverständigung dienenden<br />

Menschen heranwachsen können. Im Rahmen des Stiftungszweckes<br />

ist es auch möglich, <strong>Schweiz</strong>erkin<strong>der</strong><br />

<strong>auf</strong>zunehmen.<br />

Konkrete Erziehungsziele des Kin<strong>der</strong>dorfes sind (nach Rotten<br />

1947):<br />

– Sicherung <strong>der</strong> leiblichen Existenz und <strong>der</strong> geistig-seelischen<br />

Entwicklung <strong>der</strong> <strong>auf</strong>genommenen Kin<strong>der</strong>, nach<br />

Möglichkeit bis zur vollendeten Berufslehre o<strong>der</strong> bis<br />

zum abgeschlossenen Studium.<br />

– Überleitung in ein den jeweiligen Bedürfnissen und<br />

Veranlagungen entsprechendes Milieu bei <strong>der</strong> Rückkehr<br />

ins Ursprungsland.<br />

– Schaffung einer Wohnstuben-Atmosphäre in den einzelnen<br />

Kin<strong>der</strong>häusern des Dorfes unter Wahrung und<br />

Pflege <strong>der</strong> sprachlichen, national-kulturellen und konfessionellen<br />

Eigenheiten 2 , Aufbau einer Schulgemeinde<br />

von Kin<strong>der</strong>n und Erwachsenen im Geiste <strong>der</strong> Toleranz,<br />

<strong>der</strong> Achtung und Bejahung des Verschiedenen, <strong>der</strong> Zusammengehörigkeit<br />

und <strong>der</strong> gegenseitigen Hilfe.<br />

Das während vieler Jahre als musterhaft geltende Pestalozzidorf<br />

ist in letzter Zeit von Kritik nicht verschont geblieben: Man wirft<br />

dem «Dörfli» vor, es habe sich zu sehr abgekapselt, es sei eine Art<br />

Ghetto und habe dadurch eine zu grosse Distanz zum Alltagsleben.<br />

So vertritt zum Beispiel <strong>der</strong> «<strong>Schweiz</strong>erische Beobachter»<br />

die Ansicht, dass das Leben <strong>der</strong> einzelnen Pestalozzidorf­Familien<br />

in vielen Bereichen kaum Bezugspunkte mit <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

einer durchschnittlichen <strong>Schweiz</strong>erfamilie habe, ganz zu schweigen<br />

von <strong>der</strong> Wirklichkeit in den Heimatlän<strong>der</strong>n 3 . Auch werden<br />

die «perfekten, von Angestellten ausgeübten Dienstleistungen»<br />

gerügt – es gibt eine zentrale Wäscherei, eine zentrale Küche und<br />

einen Landwirtschaftsbetrieb, in denen die Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen<br />

nicht mitzuarbeiten haben –, wodurch «den Kin<strong>der</strong>n mehr<br />

o<strong>der</strong> weniger alles ohne Anstrengungen in den Schoss fällt»<br />

(ibid). Dies haben – wie die folgende Feststellung eines «Ehemaligen»<br />

zeigt – auch die tibetischen Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen zu<br />

spüren bekommen: «Aufgrund unserer Betreuung in <strong>der</strong> ‹Oase<br />

Kin<strong>der</strong>dorf› wurden wir erst nach dem Verlassen des Kin<strong>der</strong>dorfes<br />

mit den Realitäten des Alltags konfrontiert. Dieser abrupte<br />

Milieuwechsel verursachte bei uns zumeist eine innere Verunsicherung<br />

in unserer Haltung und Handlung, die allmählich mit<br />

zunehmenden Lebenserfahrungen in <strong>der</strong> neuen sozialen Umwelt<br />

überwunden werden konnte» (Gyaltag 1980, S. 21).<br />

Kritisiert wird auch, die Dorfkin<strong>der</strong> würden sich während<br />

ihres <strong>Schweiz</strong>er<strong>auf</strong>enthaltes so sehr an das <strong>Schweiz</strong>erleben anpassen,<br />

dass ihnen eine Rückkehr in ihre Heimatlän<strong>der</strong> grösste<br />

Schwierigkeiten bereitet. Die Rückkehrpflicht – anfänglich eine<br />

tragende Idee des Kin<strong>der</strong>dorfes – ist aus diesen Gründen vor einigen<br />

Jahren <strong>auf</strong>gehoben worden. Sie ist auch für die meisten<br />

<strong>Tibeter</strong> keine Selbstverständlichkeit mehr, obschon <strong>der</strong> Dalai<br />

Lama und seine <strong>Exil</strong>regierung sowie die Kin<strong>der</strong>dorfleitung anfänglich<br />

von <strong>der</strong> Rückkehr <strong>der</strong> im Pestalozzidorf <strong>auf</strong>genommenen<br />

Kin<strong>der</strong> überzeugt waren. So begaben sich beispielsweise <strong>der</strong><br />

Präsident und <strong>der</strong> Leiter des Kin<strong>der</strong>dorfes im Jahre 1969 nach<br />

Indien, um Rückglie<strong>der</strong>ungsmöglichkeiten und die dabei zu erwartenden<br />

Probleme an Ort und Stelle zu studieren. Obwohl sich<br />

damals zeigte, «dass wohlausgebildete <strong>Tibeter</strong> in den tibetischen<br />

Landwirtschaftssiedlungen Südindiens hochwillkommen sein<br />

13 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 14


werden» – so <strong>der</strong> damalige Dorfleiter A. Bill –, sind bis heute erst<br />

zwei tibetische Kin<strong>der</strong>dorf­Jugendliche nach Indien zurückgekehrt<br />

und zwar nur für einen zeitlich begrenzten Einsatz von<br />

drei Jahren.<br />

Die <strong>Tibeter</strong> des Kin<strong>der</strong>dorfs sprechen dank eines intensiven<br />

Unterrichts und konsequenter Pflege <strong>der</strong> eigenen Sprache in<br />

den Heimen fliessend Tibetisch, sind mit ihrer Religion gut vertraut<br />

und haben häufig Kontakt unter sich. Viele von ihnen haben<br />

ihre Eltern und Verwandten im asiatischen <strong>Exil</strong>. Umso erstaunlicher<br />

mutet es an, dass noch keiner dieser Jugendlichen<br />

für eine permanente Ansiedlung nach Indien o<strong>der</strong> Nepal zurückgekehrt<br />

ist. Es gibt mehrere Gründe für diese Rückrei­<br />

se­Unwilligkeit <strong>der</strong> tibetischen Jugendlichen: so wird von den<br />

Jugendlichen selbst gesagt, sie hätten Angst davor, im asiatischen<br />

<strong>Exil</strong> wie<strong>der</strong> von Grund <strong>auf</strong> neu anfangen zu müssen. Dazu<br />

kommt, dass konkrete Arbeitsangebote von seiten <strong>der</strong> tibetischen<br />

<strong>Exil</strong>regierung fehlen, und dass die Dorfleitung anscheinend<br />

zu wenig dar<strong>auf</strong> geachtet hat, die Jugendlichen Berufe erlernen<br />

zu lassen, die ihnen im asiatischen <strong>Exil</strong> von Nutzen sind.<br />

Auch ein gewisses Gefühl einer «Entfremdung» von den im asiatischen<br />

<strong>Exil</strong> lebenden Landsleuten mag eine Rückkehr erschweren.<br />

Schliesslich geben die Jugendlichen zu bedenken,<br />

dass sie mit Geldüberweisungen von <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> aus – mit einer<br />

gesicherten Arbeit und einem guten Einkommen – ebenso gut<br />

o<strong>der</strong> noch besser als an Ort und Stelle ihren im asiatischen <strong>Exil</strong><br />

lebenden Leuten helfen können.<br />

Die Pflegekin<strong>der</strong>-Aktion von Charles Aeschimann<br />

Aufgrund eines Artikels in einer <strong>Schweiz</strong>erzeitung, in dem über<br />

die <strong>Flucht</strong> von <strong>Tibeter</strong>n nach Indien, über die prekäre Lage dieser<br />

Flüchtlinge und über den Wunsch des Dalai Lama berichtet<br />

wurde, amerikanische o<strong>der</strong> europäische Familien möchten tibetische<br />

Kin<strong>der</strong> bei sich <strong>auf</strong>nehmen, beschloss die in Olten ansässige<br />

Familie Aeschimann, ein tibetisches Flüchtlingskind in ihre<br />

Obhut zu nehmen. In mehreren Zeitungen wurde die Initiative<br />

<strong>der</strong> Familie Aeschimann wohlwollend erwähnt. In <strong>der</strong> Folge be­<br />

gannen sich weitere Familien für die Aufnahme von tibetischen<br />

Kin<strong>der</strong>n zu interessieren. In Beantwortung eines Antrags von<br />

Herrn Aeschimann erteilte die eidgenössische Fremdenpolizei<br />

die grundsätzliche Bewilligung zur Einreise von 200 <strong>Tibeter</strong>kin<strong>der</strong>n<br />

– einschliesslich <strong>der</strong>jenigen des Kin<strong>der</strong>dorfes Trogen – und<br />

be<strong>auf</strong>tragte Herrn Aeschimann mit <strong>der</strong> persönlichen Überprüfung<br />

<strong>der</strong> Verhältnisse <strong>der</strong> zukünftigen Pflegefamilien und mit<br />

<strong>der</strong> Aufnahme des Kontaktes mit den verantwortlichen tibetischen<br />

Stellen. Nach <strong>der</strong> Auswahl von geeigneten Kin<strong>der</strong>n in den<br />

Kin<strong>der</strong>heimen von Dharamsala im indischen Unionsstaat Himachal<br />

Pradesh und nach Erledigung zeitrauben<strong>der</strong>, komplizierter<br />

Formalitäten gelangten rund 160 Pflegekin<strong>der</strong> – etwa 70 Mädchen<br />

und 90 Knaben – zwischen August 1961 und März 1964 in<br />

die <strong>Schweiz</strong>.<br />

Die <strong>Schweiz</strong>er Familien, welche <strong>Tibeter</strong>kin<strong>der</strong> bei sich <strong>auf</strong>nahmen,<br />

gehören fast ausschliesslich <strong>der</strong> oberen Mittelschicht<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Oberschicht an. Weniger als ein Fünftel <strong>der</strong> Pflegejugendlichen<br />

gingen an eine höhere Schule. Der weitaus grösste<br />

Teil – über 4/5 aller Kin<strong>der</strong> – haben eine Lehre angetreten o<strong>der</strong><br />

bereits abgeschlossen. Einige Jugendliche liessen sich in einer<br />

speziellen Berufsschule (Hotelfachschule, Krankenschwestern­<br />

Schule usw.) ausbilden und nur sehr wenige haben ein Universitätsstudium<br />

begonnen. Die tatsächliche Berufsausbildung und<br />

­ausübung steht somit in deutlichem Gegensatz zu den ursprünglichen<br />

Erwartungen <strong>der</strong> Eltern, die 1968 <strong>der</strong> Meinung waren, für<br />

die Hälfte <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> sei ein Hochschulstudium nicht ausgeschlossen<br />

4 .<br />

Die Auswahl von <strong>Schweiz</strong>er Eltern, die sich für die Aufnahme<br />

tibetischer Kin<strong>der</strong> eigneten, war wohl <strong>der</strong> problematischste<br />

Aspekt <strong>der</strong> gesamten Pflegekin<strong>der</strong>aktion. Welche Kriterien bei<br />

<strong>der</strong> Auswahl entscheidend waren – die Auswahl traf Herr Aeschimann<br />

persönlich – ist nicht bekannt. Auf alle Fälle wurden sie<br />

von jemandem <strong>auf</strong>gestellt, <strong>der</strong> sich bis anhin mit dem Problem<br />

<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><strong>auf</strong>nahme und ­adoption nicht befasst hatte. Die Problematik<br />

<strong>der</strong> Elternauswahl zeigt sich zum Beispiel darin, dass<br />

mehrere Kin<strong>der</strong> <strong>auf</strong>grund schlechter Erfahrungen die erste Pfle­<br />

15 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 16


gefamilie verlassen und in eine an<strong>der</strong>e Familie <strong>auf</strong>genommen<br />

werden mussten. Auffallend ist, dass aus dieser Gruppe die einzigen<br />

Selbstmorde junger in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>auf</strong>gewachsener <strong>Tibeter</strong><br />

bekannt geworden sind.<br />

Der Dalai Lama und seine <strong>Exil</strong>regierung erwarteten von<br />

den in <strong>Schweiz</strong>er Familien <strong>auf</strong>genommenen Jugendlichen Gleiches<br />

wie von den Pestalozzidorfkin<strong>der</strong>n: Dass sie nach <strong>der</strong> beruflichen<br />

Ausbildung ins asiatische <strong>Exil</strong> zurückkehren sollten, ohne<br />

ihrer traditionellen tibetischen Kultur wesentlich entfremdet zu<br />

sein. Dass von tibetischer Seite <strong>der</strong> Kulturerhaltung grosse Bedeutung<br />

beigemessen wurde, kommt in einem zwischen den tibetischen<br />

Behörden und den einzelnen <strong>Schweiz</strong>er Pflegeeltern geschlossenen<br />

Abkommen deutlich zum Ausdruck:<br />

«Dass die Kin<strong>der</strong>, solange sie in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> sind, oft<br />

mit den an<strong>der</strong>en <strong>Tibeter</strong>n in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> Kontakt <strong>auf</strong>nehmen<br />

sollen mit dem Zweck, dass sie ihre eigene Religion<br />

und Kultur nicht vergessen. Sie sollen auch mit<br />

den <strong>Tibeter</strong>n in Indien in Verbindung bleiben. Die<br />

Adoptiveltern sollen die Kin<strong>der</strong> häufig über Tibet informieren<br />

und sie oft dazu ermahnen, später ihrem<br />

Land zu dienen.<br />

Die Adoptiveltern erklären sich damit einverstanden,<br />

dass die Kin<strong>der</strong> darin unterrichtet werden, Tibetisch<br />

zu lesen und zu schreiben, vorausgesetzt, Seine Heiligkeit<br />

werde Lehrer, die diese Aufgabe übernehmen sollen,<br />

schicken o<strong>der</strong> ernennen, allerdings erst ab 1965.<br />

Die Adoptiveltern und Seine Heiligkeit werden die Kin-<br />

<strong>der</strong> oft dazu ermahnen, nach Indien o<strong>der</strong> nach Tibet<br />

zurückzukehren, denn es besteht gegenwärtig die Gefahr,<br />

dass die tibetische Rasse ausgelöscht wird. Wenn<br />

sich das Kind weigert, zurückzukehren, soll es nicht zu<br />

einer Rückkehr überredet werden.»<br />

Bald zeigte sich, dass die Hoffnungen <strong>der</strong> tibetischen <strong>Exil</strong>regierung<br />

unrealistisch waren. Die Vermittlung kultureller tibetischer<br />

Werte erwies sich als ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen.<br />

So beherrschten 1968, also ca. 5 Jahre nach ihrer<br />

Aufnahme in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, ca. 70 % <strong>der</strong> tibetischen Kin<strong>der</strong> ihre<br />

Muttersprache nicht mehr, und nur noch knapp 10 % sprachen<br />

und verstanden noch gut Tibetisch 5 , obschon im Tibetunterricht,<br />

den die Kin<strong>der</strong> alle paar Wochen freiwillig besuchen konnten,<br />

das Hauptgewicht <strong>auf</strong> die Vermittlung <strong>der</strong> tibetischen Sprache<br />

gelegt wurde.<br />

Die Gründe, welche die Einhaltung <strong>der</strong> zwischen dem Dalai<br />

Lama und den Pflegeeltern getroffenen Abmachung erschwerten,<br />

sind vielerlei: Als beson<strong>der</strong>s hin<strong>der</strong>nd wirkte sich aus, dass<br />

den meisten Pflegeeltern das notwendige Wissen über die tibetische<br />

Kultur und Gesellschaft fehlte. An<strong>der</strong>e Eltern setzten sich<br />

bewusst über den Wunsch des Dalai Lama, die Kin<strong>der</strong> sollten<br />

ihre eigene, tibetische Religion nicht vergessen, hinweg. Nach<br />

Auskunft <strong>der</strong> Pflegeeltern wurden<br />

131 tibetische Kin<strong>der</strong> christlich<br />

2 tibetische Kin<strong>der</strong> anthroposophisch<br />

1 tibetisches Kind jüdisch<br />

und nur<br />

13 tibetische Kin<strong>der</strong> buddhistisch erzogen.<br />

Zudem waren – im Jahr 1972 – bereits 48 tibetische<br />

Pflegekin<strong>der</strong> get<strong>auf</strong>t!<br />

Für viele T<strong>auf</strong>en waren – nach Aeschimann (1968, S. 20) – nicht<br />

missionarische Beweggründe ausschlaggebend, son<strong>der</strong>n die Sorge,<br />

die Pflegekin<strong>der</strong> könnten sich abgeson<strong>der</strong>t fühlen, wenn sie<br />

eine an<strong>der</strong>e Behandlung als die ihrer <strong>Schweiz</strong>er Geschwister und<br />

Schulkameraden festzustellen glaubten. Die Beunruhigung<br />

könnte für das Einleben <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> abträglich sein, wurde befürchtet.<br />

Auch die Tatsache, dass nur ein Drittel <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> die tibe­<br />

17 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 18


tische Schule regelmässig besuchte, weist dar<strong>auf</strong> hin, dass die<br />

Kulturerhaltung nicht als vordringliches Ziel <strong>der</strong> Pflegeeltern<br />

angesehen wurde. Der schlechte Besuch <strong>der</strong> Schule darf jedoch<br />

nicht nur dem fehlenden Interesse <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er Eltern angelastet<br />

werden. Die «Kulturvermittlung» wurde auch dadurch erschwert,<br />

dass die von tibetischer Seite in Aussicht gestellte Schulung<br />

durch tibetische Lehrer mangelhaft war. Es fehlte geschultes<br />

Lehrpersonal, das den Kin<strong>der</strong>n mit geeigneten pädagogischen<br />

Methoden ihre tibetische Kultur hätte näherbringen können.<br />

Hauptziel dieses unattraktiven Unterrichts, <strong>der</strong> nur an Wochenenden<br />

stattfinden konnte, war das Eintrichtern von tibetischen<br />

Vokabeln und <strong>der</strong> Versuch, den Kin<strong>der</strong>n das Aufsagen von Gebeten<br />

und das Schreiben und Lesen tibetischer Wörter und einfacher<br />

Sätze beizubringen. Eine Kulturvermittlung in <strong>der</strong> Sprache,<br />

welche die Kin<strong>der</strong> beherrschten, nämlich in deutsch, fand kaum<br />

statt 6 . Es ist nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, dass unter diesen Voraussetzungen<br />

<strong>auf</strong> Seite <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> die Motivation zum Erlernen<br />

traditioneller Werte gering war. Erfolgreicher als <strong>der</strong> Wochenend­Unterricht<br />

waren in dieser Hinsicht die Ferienlager, die teilweise<br />

kulturelle Beiprogramme <strong>auf</strong>wiesen, so unter an<strong>der</strong>em ein<br />

im tibetischen Kloster in Rikon abgehaltenes «Studienlager» im<br />

Jahre 1971.<br />

<strong>Schweiz</strong>erisches Rotes Kreuz und Verein <strong>Tibeter</strong><br />

Heimstätten<br />

Nachdem <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>erische Bundesrat seine Zustimmung zur<br />

Aufnahme von 200 tibetischen Kin<strong>der</strong>n in <strong>Schweiz</strong>er Familien<br />

und im Kin<strong>der</strong>dorf Pestalozzi und – im Jahre 1961 – zur Einreise<br />

von zwei Gruppen von <strong>Tibeter</strong>n gegeben und diese als Flüchtlinge<br />

anerkannt hatte, erklärte er 1962, er stehe den Bestrebungen<br />

zur Aufnahme einer begrenzten Zahl tibetischer Flüchtlinge in<br />

die <strong>Schweiz</strong> wohlwollend gegenüber. Am 29. März 1963 entsprach<br />

dann <strong>der</strong> Bundesrat dem Begehren des Vereins <strong>Tibeter</strong> Heimstätten<br />

(VTH), maximal 1000 tibetische Flüchtlinge in die <strong>Schweiz</strong><br />

einreisen zu lassen. Auf Wunsch <strong>der</strong> Behörden arbeitete dieser<br />

Verein eng mit einem offiziell anerkannten Hilfswerk, dem<br />

<strong>Schweiz</strong>erischen Roten Kreuz (SRK), zusammen. Bereits damals<br />

wurde in einer bundesrätlichen Antwort <strong>auf</strong> eine kleine Anfrage<br />

hingewiesen, «dass die Aufnahme von Flüchtlingen aus fernen<br />

Län<strong>der</strong>n verschiedene beson<strong>der</strong>e Probleme <strong>auf</strong>werfe. Namentlich<br />

wisse man nicht, ob die Verpflanzung solcher Menschen in ganz<br />

an<strong>der</strong>e Verhältnisse opportun sei». Die Bundesbehörden stellten<br />

die Bedingung, dass für jede Gruppe vor <strong>der</strong> Einreise das Einverständnis<br />

<strong>der</strong> <strong>auf</strong>nehmenden Gemeinde und des Kantons vorliege,<br />

und dass Unterkunft und Arbeit sowie die finanziellen Mittel<br />

und die Betreuung sichergestellt seien.<br />

Der Verein <strong>Tibeter</strong> Heimstätten verpflichtete sich, die Kosten<br />

für Auswahl und Einreise <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong>gruppen zu übernehmen<br />

und sich zusammen mit dem <strong>Schweiz</strong>erischen Roten Kreuz<br />

nach einem bestimmten Schlüssel an den Betreuungs­ und Unterstützungskosten<br />

<strong>der</strong> Flüchtlinge zu beteiligen. Das <strong>Schweiz</strong>erische<br />

Rote Kreuz übernahm die Verpflichtung, die Flüchtlinge<br />

zu betreuen 7 und die Kosten für die erste Bekleidung und die<br />

Einrichtung <strong>der</strong> Heimstätten zu tragen. Es leistet ferner zusammen<br />

mit den Bundesbehörden Garantie für den Fall, dass ein<br />

Flüchtling unterstützungsbedürftig wird.<br />

Die Ansiedlung von tibetischen Flüchtlingen in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

durch den Verein <strong>Tibeter</strong> Heimstätten geht <strong>auf</strong> Bemühungen des<br />

nur kurze Zeit existierenden Gönpa­Vereins zurück, dessen Mitglie<strong>der</strong><br />

beabsichtigten, in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> ein tibetisches Kloster<br />

(«gönpa») zu bauen. Die Idee stiess <strong>auf</strong> Ablehnung <strong>der</strong> angefragten<br />

Gemeinden und Kantone, wodurch die Aktion im Sande verlief.<br />

Wertvolle Impulse, die von Mitglie<strong>der</strong>n des Gönpa­Vereins<br />

ausgingen, führten jedoch 1960 zur Gründung des Vereins <strong>Tibeter</strong><br />

Heimstätten. Der Wille, die bedrohte tibetische Kultur zu<br />

bewahren, war somit ein wichtiger auslösen<strong>der</strong> Faktor für die<br />

Ansiedlung tibetischer Familien in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Auch <strong>der</strong> neugegründete<br />

Verein <strong>Tibeter</strong> Heimstätten hatte sich unter an<strong>der</strong>em<br />

zum Ziel gesetzt, «die Kultur, Sprachen und die Religion Tibets<br />

zu bewahren». Die Absicht, die materielle Existenz <strong>der</strong> Flüchtlinge<br />

durch eigenen Broterwerb zu sichern, stand jedoch von allem<br />

Anfang an im Vor<strong>der</strong>grund und liess die anfänglichen Absichts­<br />

19 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 20


erklärungen, die tibetische Kultur zu för<strong>der</strong>n, schnell verblassen.<br />

Bezeichnen<strong>der</strong>weise setzten sich später we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verein<br />

<strong>Tibeter</strong> Heimstätten noch das <strong>Schweiz</strong>erische Rote Kreuz für<br />

den Bau eines eigenen tibetischen Kulturzentrums in Rikon im<br />

Tösstal 8 o<strong>der</strong> für an<strong>der</strong>e kulturerhaltende Bemühungen tatkräftig<br />

ein.<br />

Die Hilfswerke reagierten damals ähnlich wie heute bei <strong>der</strong><br />

Hilfe für Indochina­Flüchtlinge: man sieht die Notwendigkeit<br />

kulturför<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Massnahmen ein, behauptet sogar, die religiöse<br />

Betreuung <strong>der</strong> Flüchtlinge nehme im Einglie<strong>der</strong>ungskonzept<br />

eine erstrangige Stellung ein, von echtem Engagement ist jedoch<br />

in <strong>der</strong> Praxis wenig zu verspüren. Immerhin ist zu erwähnen,<br />

dass jede in die <strong>Schweiz</strong> einreisende Gruppe tibetischer Flüchtlinge<br />

von einem tibetischen Geistlichen begleitet wurde, <strong>der</strong> sich<br />

um die ihm anvertrauten Familien kümmern und die Kin<strong>der</strong> in<br />

tibetischer Sprache, Schrift und Religion unterrichten sollte.<br />

Bald zeigte sich jedoch, dass sich die in diese geistlichen Betreuer<br />

gesetzten Erwartungen nicht erfüllten, wohl vor allem, weil man<br />

den Mönchen Aufgaben zuwies, die sie in Tibet nie in dieser Art<br />

zu erfüllen hatten. Um nicht von Almosen <strong>der</strong> Hilfswerke abhängig<br />

zu sein, arbeiteten sie wie ihre an<strong>der</strong>en Landsleute ganztägig,<br />

wodurch für die Betreuung ihrer Leute zu wenig Zeit und<br />

Energie übrig blieben. Eine genügend hohe Entlohnung <strong>der</strong> Mönche<br />

durch die Hilfswerke hätte wahrscheinlich bewirkt, dass die<br />

Geistlichen den ihnen zugedachten betreuerischen Aufgaben<br />

besser nachgekommen wären.<br />

Ursprünglich hatte man geplant, die <strong>Tibeter</strong> in abgelegenen<br />

Tälern bei Bauern und allenfalls bei Handwerkern arbeiten zu<br />

lassen. Stattdessen wurden die männlichen <strong>Tibeter</strong>, welche bei<br />

ihrer Einreise nicht mehr in die Schule gehen konnten – das waren<br />

alle Erwachsenen und Jugendlichen – zur Hauptsache als<br />

Hilfsarbeiter o<strong>der</strong> als angelernte Arbeiter <strong>auf</strong> unteren Stufen in<br />

industriellen Betrieben angestellt, wo sie häufig in Akkord­,<br />

Fliessband­ und in Schichtarbeit tätig sind. Nach ihrer Einreise<br />

lebten jeweils tibetische Familien aus verschiedensten Regionen<br />

und von unterschiedlichstem Status in einem Heim zusammen 9 ,<br />

was zu Konflikten führte, da den Heimbewohnern neben den<br />

Schlafräumen meistens nur ein Wohnraum, eine Küche und ein<br />

Badezimmer zur gemeinsamen Benützung zur Verfügung standen.<br />

Diese unbefriedigenden Bedingungen und die Tatsache,<br />

dass die Löhne <strong>der</strong> Heimleitung abgegeben werden mussten,<br />

führten bald dazu, dass Familien aus den Heimen wegzogen und<br />

eigene Wohnungen mieteten. Aufgrund <strong>der</strong> nicht sehr positiven<br />

Erfahrungen, die man mit <strong>der</strong> Heim­Ansiedlung machte, wurden<br />

die tibetischen Flüchtlingsfamilien später vermehrt in einzelnen<br />

Wohnungen untergebracht.<br />

Anfangs 1982 betreute das <strong>Schweiz</strong>erische Rote Kreuz und<br />

<strong>der</strong> Verein <strong>Tibeter</strong> Heimstätten 1222 <strong>Tibeter</strong>, darunter 497 Kin<strong>der</strong><br />

und Jugendliche (davon 312 in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> geboren). Noch<br />

heute, rund 20 Jahre nach Beginn <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong>aktion des SRK/<br />

VTH, sind fünf Betreuer ganztags und fünf Betreuer in Teilzeitarbeit<br />

sowie einige unbezahlte Freiwillige für die <strong>Tibeter</strong> tätig.<br />

1 Anfangs 1982 betreute das <strong>Schweiz</strong>erische<br />

Rote Kreuz 1222 <strong>Tibeter</strong> (inkl. in <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> geborene Kin<strong>der</strong>), hinzu kommen<br />

rund 160 Pflegekin<strong>der</strong> schweizerischer Familien<br />

sowie 72 tibetische Zöglinge des<br />

Pes talozzi­Kin<strong>der</strong>dorfs in Trogen. Schwei­<br />

zerische Organisationen waren auch in<br />

Nepal und Indien bemüht, tibetischen<br />

Flüchtlingen zu helfen, so das <strong>Schweiz</strong>erische<br />

Rote Kreuz, <strong>der</strong> «Dienst für technische<br />

Zusammenarbeit» und insbeson<strong>der</strong>e<br />

die <strong>Schweiz</strong>er Tibethilfe (STH). Das<br />

Hauptgewicht dieser Hilfe lag <strong>auf</strong> landwirtschaftlichen<br />

und kleinindustriellen<br />

Entwicklungsprojekten sowie <strong>auf</strong> Schulungsprogrammen<br />

für die Flüchtlingskin<strong>der</strong>.<br />

2 Während <strong>der</strong> fünf (früher sechs) Jahre<br />

dauernden Grundschule (Primarschule),<br />

die im eigenen Heim stattfindet, und – weniger<br />

intensiv – während <strong>der</strong> daran anschliessenden<br />

Sekundarschulzeit werden<br />

die Kin<strong>der</strong> in ihrer eigenen Sprache und<br />

Kultur unterrichtet.<br />

3 Der <strong>Schweiz</strong>erische Beobachter, Nr. 20,<br />

1980, S. 9.<br />

4 Siehe Aeschimann 1968, S. 34.<br />

5 Diese und die folgenden Zahlen wurden<br />

Aeschimann (1968) entnommen.<br />

6 Nur in Aarau wurde zeitweise ein schweizerischer<br />

Kenner Tibets in den Unterricht<br />

miteinbezogen, was sich als sinnvoll erwies,<br />

da die Kin<strong>der</strong> diese Art von Belehrung<br />

sehr schätzten.<br />

21 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 22


7 Alle dem <strong>Schweiz</strong>erischen Roten Kreuz<br />

und dem Verein <strong>Tibeter</strong> Heimstätten unterstehenden<br />

<strong>Tibeter</strong> werden von SRK­<br />

Angestellten betreut, die in den seltensten<br />

Fällen ausgebildete Sozialarbeiter sind.<br />

8 Die 1967 gegründete, <strong>der</strong> Aufsicht des<br />

Bundesrates unterstehende Stiftung «Tibet­Institut<br />

Rikon» hat nach ihrem ersten<br />

Custos, P. Lindegger, drei Grundfunktionen<br />

zu erfüllen: 1. Klösterlicher Mittelpunkt<br />

für die <strong>Tibeter</strong> im <strong>Schweiz</strong>er <strong>Exil</strong><br />

und im benachbarten Ausland zu sein, 2.<br />

eine Stätte für wissenschaftliche Studien<br />

<strong>auf</strong> tibetologisch­buddhologischem Felde<br />

abzugeben; 3, informativ zu wirken: einmal<br />

zur Unterweisung <strong>der</strong> tibetischen<br />

Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen im heimischen<br />

Lesen, Schreiben und <strong>der</strong> religiösen Lehre,<br />

sodann zur Orientierung eines weiteren<br />

westlichen Kreises von Interessierten.<br />

9 Insgesamt gab es 13 solche <strong>Tibeter</strong>­Heime,<br />

von denen heute noch 2 existieren.<br />

Aus: Martin Brauen; Detlef Kantowsky (Hrsg.): Junge <strong>Tibeter</strong> in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Studien zum Pro­<br />

zess kultureller Identifikation. Aus <strong>der</strong> Reihe: Konkrete Fremde. Interkulturell vergleichende<br />

Studien <strong>der</strong> Arbeitsgruppe Entwicklungslän<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Universität Konstanz. Diessenhofen:<br />

Rüegger 1982. S. 8–16.<br />

Bibliographie<br />

Aeschimann, C.: Bericht über die Aufnahme von <strong>Tibeter</strong> Pflegekin<strong>der</strong>n in <strong>Schweiz</strong>er Familien<br />

(hektographiert). Olten 1968.<br />

Kalsang Ch. und Gyaltag, G. (Hrsg.): 20 Jahre <strong>Tibeter</strong> im Pestalozzidorf Trogen. Trogen 1980.<br />

Rotten, E.: Pädagogische Grundziele des Pestalozzidorfes (vervielfältigter Text). Trogen 1947.<br />

Arbeits<strong>auf</strong>träge<br />

Zwischen 1960 und 1981 wurden ca. 1200 tibetische Flüchtlinge<br />

aus den asiatischen <strong>Exil</strong>län<strong>der</strong>n in die <strong>Schweiz</strong> geholt und hauptsächlich<br />

im Osten des Landes angesiedelt. Es gab drei Hilfsprojekte<br />

für die tibetischen Flüchtlinge: das Kin<strong>der</strong>sorf Pestalozzi in<br />

Trogen; die Pflegekin<strong>der</strong>­Aktion von Charles Aeschimann; das<br />

<strong>Schweiz</strong>erische Rote Kreuz und <strong>der</strong> Verein <strong>Tibeter</strong> Heimstätten.<br />

– Informieren Sie sich über den <strong>Schweiz</strong>er Pädagogen Johann<br />

Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und dessen wichtigste<br />

Ziele in Erziehung und Bildung.<br />

– Welche Ziele setzte sich die gemeinnützige «Stiftung<br />

Heinrich Pestalozzi»? – Inwiefern wurden diese Ziele<br />

erreicht?<br />

– Welche positiven und welche eher negativen Erfahrungen<br />

mit dem «Dörfli» nennen die beiden Autoren?<br />

– Fassen Sie die wichtigsten Punkte des Abkommens<br />

zwischen den tibetischen Behörden und den <strong>Schweiz</strong>er<br />

Pflegeeltern (Aeschimann-Aktion) zusammen.<br />

– Inwiefern wurden die in diesem Abkommen genannten<br />

Ziele erreicht, inwiefern nicht? Wie lässt sich dieser<br />

Sachverhalt erklären?<br />

– Weshalb wurde <strong>der</strong> «Verein <strong>Tibeter</strong> Heimstätten» gegründet?<br />

Wie funktionierten diese Heimstätten? Wie<br />

beurteilen die Autoren abschliessend die <strong>Tibeter</strong><br />

Heimstätten?<br />

– Informieren Sie sich über Zielsetzungen heutiger Organisationen<br />

in <strong>der</strong> Flüchtlingshilfe und vergleichen Sie diese<br />

mit jenen <strong>der</strong> oben genannten Institutionen (zum Beispiel:<br />

www.fluechtlingshilfe.ch; www.humanrights.ch).<br />

– Wenn Sie die Gelegenheit hätten, eine <strong>Tibeter</strong>in / einen<br />

<strong>Tibeter</strong> zu treffen, die zwischen 1960 und 1980 in die<br />

<strong>Schweiz</strong> gekommen ist: Welche Fragen würden Sie dieser<br />

Person stellen?<br />

23 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 24


Text 2<br />

Martin Brauen<br />

Traumwelt Tibet.<br />

Westliche Trugbil<strong>der</strong><br />

Tibet in Comics: Lamas, Mönche und Tulkus …<br />

Seit den 50er Jahren ist eine beachtliche Anzahl von Comics erschienen,<br />

welche in <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Art in Tibet spielen<br />

o<strong>der</strong> zumindest einen engen Bezug zu Tibet haben. 1 Es gehört zu<br />

den Charakteristika <strong>der</strong> Comics, dass sie oft eine an<strong>der</strong>e Realität<br />

abbilden wollen, in <strong>der</strong> das Irrationale, Skurrile, Ungewöhnliche,<br />

Bedrohliche, Unbewusste und Märchenhafte vorherrscht. Man<br />

würde dem Comic somit nicht gerecht, würde man alle in ihnen<br />

enthaltenen Tibet­Kuriosa und ­Absurditäten in Abrede stellen<br />

o<strong>der</strong> ihre Nichtexistenz «beweisen» wollen. Es würde bedeuten,<br />

die Comics ihrer Substanz zu berauben. Es geht hier somit nicht<br />

um eine Bewertung, son<strong>der</strong>n darum <strong>auf</strong>zuzeigen, welche Tibetbil<strong>der</strong><br />

in den Comics vorherrschen, welche «Urbil<strong>der</strong>» und welche<br />

möglichen Ursprünge hinter bestimmten Bil<strong>der</strong>n liegen. Eine<br />

kritische Distanz ist jedoch dort angebracht, wo festgefahrene<br />

Klischees, welche borniert, rassistisch o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>swie diskriminierend<br />

sind, perpetuiert werden. Ein Paradebeispiel für ein solches<br />

Comic ist Der Lama von Lhasa (1979), ein Sammelsurium<br />

von angeblichen ethnographischen Fakten: gegrüsst wird mit<br />

herausgestreckter Zunge («die tibetanische Begrüssungssitte»),<br />

die Einheimischen können den Buchstaben r nicht aussprechen,<br />

sie lächeln immer, als Bestrafung erhält man einen Holzschand­<br />

Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 26


kragen und man isst hun<strong>der</strong>tjährigen Yakkäse, Schwalbennester<br />

und faule Eier. Ähnliches erfährt man im Comic In Hight Tibet<br />

(1952), in dem Mickey Mouse ebenfalls mit herausgestreckter<br />

Zunge gegrüsst und mit Tee aus sechsjähriger Yakbutter abgefüllt<br />

wird.<br />

«Wisse, edler Fremdling, dass hier in Tibet Dinge möglich<br />

sind, die die Menschen des Westens für unmöglich halten!», sagte<br />

einmal <strong>der</strong> Abt eines tibetischen Klosters zu Kapitän Haddock in<br />

Tim in Tibet, und sprach damit etwas aus, was in einer sehr grossen<br />

Zahl von Tibet­Comics zum Ausdruck kommt: Tibet ist das<br />

Land <strong>der</strong> Wun<strong>der</strong> wirkenden Mönche, ja man erhält beim Durchlesen<br />

<strong>der</strong> Tibet­Comics den Eindruck, Tibet und <strong>der</strong> Himalaja<br />

würden fast ausschliesslich von solchen Mönchen bewohnt. Laien<br />

scheint es nicht zu geben, und wenn, dann sind sie höchstens<br />

Statisten ohne tragende Rollen.<br />

Die Mönche, Lamas und Tulkus (die Begriffe werden als Synonyme<br />

verwendet) sind häufig alles durchschauend und allwissend.<br />

Sie können sich in Luft <strong>auf</strong>lösen und erreichen den «Zustand<br />

<strong>der</strong> vierten Dimension» 2 und beherrschen die Kunst <strong>der</strong><br />

Levitation, des in <strong>der</strong> Luft Schwebens 3 . In <strong>der</strong> Regel sind sie<br />

freundlich und höflich, nur in Der weisse Lama (1988–1992) sind<br />

einige Mönche äusserst brutal – kritische Mönche werden in unterirdischen<br />

Kellern umgebracht o<strong>der</strong> lebendig eingemauert, und<br />

in <strong>der</strong> gleichen Comicserie schrecken die Bönpos nicht einmal vor<br />

Menschenopfern zurück. Auch in einigen an<strong>der</strong>en Comics nehmen<br />

die Mönche unvermittelt sehr destruktive Züge an, wenn sie<br />

zum Beispiel in völlig unbuddhistischer Art Uneinsichtige mit<br />

dem Tode bestrafen 4 .<br />

Nonnen scheint es in Tibet nicht zu geben, einzig in Jonathan<br />

kommt Miyma, die allwissende Zauberin des weissen Berges,<br />

vor – als grosse Ausnahme. Ansonsten ist die in den meisten<br />

Comics zur Darstellung kommende Welt <strong>der</strong> Religion den Männern<br />

vorbehalten.<br />

Relativ viele Comics nehmen ein Phänomen vorweg, das im<br />

realen Alltag des tibetischen Buddhismus erst später aktuell werden<br />

soll, das wir aber bereits von einigen Romanen her kennen:<br />

27 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>


Auch ein Westler kann ein Mönch <strong>der</strong> tibetischen Tradition werden,<br />

ja gar ein reinkarnierter Mönch (Tulku) sein. Wegbereiter<br />

für diese Idee ist wahrscheinlich Lobsang Rampa/Hoskins mit<br />

seinem Das dritte Auge. Am deutlichsten werden rampaeske Mythen<br />

und Stereotypen in Der weisse Lama umgesetzt. Darin fehlen<br />

die <strong>auf</strong> Drachen fliegenden Mönche genauso wenig wie die<br />

gänzlich unübliche Art <strong>der</strong> Aufnahme eines Novizen in das Kloster<br />

Chakpori – Gabriel muss drei Tage im Klosterhof sitzen und<br />

darf sich nicht bewegen, nach seiner Aufnahme erkämpft er sich<br />

den Respekt des Novizen­Vorstehers, indem er den kampferprobtesten<br />

Mönch des Klosters besiegt. Auch die vergötterten Katzenwächter<br />

kommen vor, welche die Schätze des Klosters bewachen<br />

und – in nicht sehr buddhistischer Art – von den Mönchen mit<br />

29 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>


weissen Mäusen bei Laune gehalten werden! 5 Statt des Einmeisselns<br />

des «dritten Auges» wird im dritten Band des Weissen Lama<br />

das «dritte Ohr» geöffnet, damit Gabriel alle molekularen Schwingungen<br />

als akustische Signale wahrnehmen und über die Zirbeldrüse<br />

in geistige Bil<strong>der</strong> umsetzen kann. Von diesem Moment an<br />

ist Gabriel, ähnlich wie seinerzeit Lobsang Rampa nach <strong>der</strong> Öffnung<br />

des dritten Auges, in <strong>der</strong> Lage, Farbtöne, Gedanken und<br />

Auren an<strong>der</strong>er Menschen zu sehen. Und gleich wie Rampa unternimmt<br />

Gabriel Astralreisen, bei denen <strong>der</strong> Astralkörper mit dem<br />

physischen Körper durch eine feine Schnur verbunden bleibt – die<br />

Silberschnur Rampas, <strong>der</strong> Theosophen und Rosenkreuzer.<br />

… Nazis, Agartha, Thesophen und Rampa<br />

In den vielen Comics ist Tibet lediglich ein Ort, an dem Dinge<br />

geschehen, <strong>auf</strong> die die <strong>Tibeter</strong>innen und <strong>Tibeter</strong> kaum Einfluss<br />

nehmen können: ein abgeschiedener, leerer Raum, <strong>der</strong> manchmal<br />

als Rückzugsgebiet irrer Wesen dient. In den beiden typischsten<br />

Geschichten dieses Genres, Tödliche Kälte (1990) und<br />

Countdown des Wahnsinns (1986), geht es um einen Kampf böser<br />

Welteroberer, die unterhalb Tibets in Höhlen leben, gegen die<br />

lichte Welt. In Tödliche Kälte sind die Bösen uralte SS­Schergen,<br />

die 1943 von Hitler mit dem Auftrag, politische und esoterische<br />

Informationen für seine Rassenlehre zu sammeln, nach Tibet gesandt<br />

worden sind, was an die Schäfer­Expedition und die ihr<br />

angedichteten Geheim<strong>auf</strong>träge erinnert. In Tibet werden sie im<br />

Kloster Peng­Boche (erinnert an das im nepalischen Khumbu<br />

liegende Pangboche) stationiert, in dem anfänglich noch Mönche<br />

wohnen, die in die Geheimnisse <strong>der</strong> Magie eingeweiht sind. Benötigtes<br />

Kriegsmaterial wird per Luftfracht eingeflogen und die<br />

Soldaten bauen einen unterirdischen Bunker und warten <strong>auf</strong> Befehle<br />

– vergeblich, denn nach dem Krieg werden sie vergessen.<br />

Jahre später wird ein ehemaliger SS­Lagerkommandant, Zimmermann,<br />

<strong>auf</strong> den vergessenen Nazi­Stützpunkt und die letzte<br />

aktive Bastion des Nationalsozialismus <strong>auf</strong>merksam und baut<br />

das Kloster und den darunter liegenden Bunker zum Hauptquartier<br />

und hochtechnisierten Zentrum seiner SS­Organisation<br />

31 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong><br />

«Anti» um. Von dort aus kann sich Zimmermann mit einem Supercomputer<br />

weltweit Informationen aus allen Datennetzen beschaffen<br />

und Menschen über eingepflanzte o<strong>der</strong> in Klei<strong>der</strong>n versteckte<br />

Sen<strong>der</strong> manipulieren und zu willenlosen Mitarbeitern<br />

abrichten. So lässt er beispielsweise in einem «Tcheud» genannten<br />

Ritual tibetische Mönche sich selbst verbrennen. Sicherlich<br />

wird unter «Tcheud» das «gcod» genannte tibetische Ritual <strong>der</strong><br />

Selbst<strong>auf</strong>opferung gemeint, das in diesem Comic als eine scheussliche<br />

und irre Blutrauschorgie erscheint.<br />

Dem Superagenten Pharaon gelingt es schliesslich, die Computeranlage<br />

zu zerstören, Zimmermann und den tibetischen<br />

Kollaborateur Obersturmführer Tsering zu töten und die manipulierten<br />

Mitarbeiter zu befreien. Die Anlage wird dem ewigen<br />

Eis und <strong>der</strong> tödlichen Kälte überlassen. Zur lichten Welt gehören<br />

neben Pharaon und seiner Begleiterin Chrystal auch ein tibetischer<br />

Mönch, <strong>der</strong> – wie könnte es an<strong>der</strong>s sein – über übersinnliche<br />

Kräfte verfügt. Er erzählt von «Sieben Weisen» (Gurdjieff<br />

lässt grüssen), die die Welt im Gleichgewicht halten, bis sie von<br />

einem «Achten» besiegt würden.


Aufschlussreich ist, wie Authentizität vorgetäuscht wird,<br />

wie dem Comic – trotz skurrilen Abl<strong>auf</strong>s – ein Glaubwürdigkeitssiegel<br />

<strong>auf</strong>gedrückt wird: Am Ende <strong>der</strong> Geschichte wird <strong>auf</strong> angebliche<br />

Zeugenaussagen hingewiesen, welche Verbindungen zwischen<br />

<strong>der</strong> Waffen­SS und den tibetischen Magiern bestätigten.<br />

Es seien nach dem Einmarsch <strong>der</strong> russischen Truppen in Berlin<br />

im Mai 1945 mehr als tausend Leichen Freiwilliger gefunden<br />

worden, die deutsche Uniformen trugen, aber we<strong>der</strong> Ausweispapiere<br />

noch Abzeichen bei sich hatten. Alle diese Soldaten stammten<br />

aus dem Himalaja. Wir erinnern uns: Diese angeblichen Fakten<br />

wurden erstmals von Bergier/Pauwels anfangs <strong>der</strong> 6oer Jahre<br />

veröffentlicht. Sie wurden nie verifiziert, fanden aber nichtsdestotrotz<br />

immer wie<strong>der</strong> Eingang in Romane, sogenannte Fachbücher<br />

… und Ende <strong>der</strong> 8oer Jahre nun auch in diesen Comic.<br />

Auch im Comic Countdown des Wahnsinns geht es um Nazi­<br />

Überlebende in einer Geheimbasis unter dem Himalaja, welche<br />

die Welt beherrschen und eine ideale Gesellschaft schaffen wollen,<br />

in <strong>der</strong> die Menschen <strong>auf</strong> ewig gleich sind und in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Einzelne<br />

keinen eigenen Willen mehr hat. Auch hier kommt es zu<br />

einem Kampf zwischen dem Guten, in diesem Fall in <strong>der</strong> Gestalt<br />

des «Dalai Lama Sakyamuni Padma Vajrasattva» (ein völliger<br />

Fantasiename) und seinen Verbündeten, sowie dem Bösen. Dieser<br />

heisst Dr. Wreibritisch­Lincorn (eine Verballhornung von<br />

Trebitsch­Lincoln, den wir bereits kennengelernt haben), einem<br />

ehemaligen Nazi, <strong>der</strong> über hochkomplexe Technologien verfügt<br />

und offenbar eine dämonische Wie<strong>der</strong>geburt «Shivas» ist, welcher<br />

unterhalb des «Sumeu» die Hölle «Avici» wie<strong>der</strong>erschaffen<br />

hat. Authentizität wird in diesem Comic durch die häufige Verwendung<br />

tibetischer und indischer Begriffe vorgegaukelt wie Sumeu<br />

(richtig Weltenberg Sumeru), Avici (buddhistische Hölle),<br />

Shiva, Dalai Lama, Sakyamuni, Padma und Vajrasattva und<br />

Agartha, dem angeblichen Kloster des Dalai Lama. Der letztgenannte<br />

Name schlägt den Bogen zu van Helsings Buch Geheimgesellschaften,<br />

nach dem zwar die Hyperboreer Agartha bewohnen,<br />

<strong>der</strong>en Repäsentant <strong>auf</strong> Erden jedoch <strong>der</strong> Dalai Lama sei. Die<br />

beiden hier besprochenen Comics nehmen die von van Helsing<br />

postulierte Nazi­Tibet­Connection <strong>auf</strong>, unterscheiden sich jedoch<br />

in einem wesentlichen Punkt von van Helsings Theorie: Während<br />

er ein enges Zusammenarbeiten <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> und Nazis suggeriert<br />

– Tibet wird von ihm als Rückzugsgebiet von Reichsdeutschen<br />

geschil<strong>der</strong>t, die sich mit den Gelug pas gegen die Chinesen<br />

verbündet haben und <strong>auf</strong> den Tag warten, an dem sie ein neues<br />

Reich <strong>auf</strong> Erden schaffen können –, treten die <strong>Tibeter</strong> in beiden<br />

Comics eindeutig als Gegner <strong>der</strong> Nazis <strong>auf</strong>, mit Ausnahme des<br />

Obersturmführers Tsering in Tödliche Kälte.<br />

In einer weiteren Weltverschwörungsgeschichte – Der Kampf<br />

um die Welt – ist ebenfalls von einem Reich die Rede, das an<br />

Agartha erinnert, dessen Name aber nicht erwähnt wird. In die­<br />

33 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 34


ser vom bekannten Comics­Zeichner Edgar P. Jacobs bereits 1946<br />

publizierten, erst in den 8oer Jahren <strong>auf</strong> Deutsch erschienenen<br />

Geschichte werden in unterirdischen Fabriken unterhalb Lhasas<br />

in gigantischem Ausmass Waffen produziert, unter an<strong>der</strong>em<br />

Atombomben, als Vorbereitung <strong>auf</strong> einen dritten Weltkrieg. Der<br />

Bösewicht ist in diesem Fall <strong>der</strong> tibetische Kaiser Basam­Damdu,<br />

den Details als naziähnlichen Despoten kennzeichnen und <strong>der</strong><br />

die Weltherrschaft erlangen und die an<strong>der</strong>en Völker unterdrücken<br />

will. Ihm steht <strong>der</strong> skrupellose Colonel Olrik zur Seite. Die<br />

Geschichte endet mit dem Tod des Kaisers sowie <strong>der</strong> Zerstörung<br />

<strong>der</strong> Raketenbasis in Tibet und des Kaiserpalastes durch die beiden<br />

Helden Blake und Mortimer, die sich eines vielseitig einsetzbaren<br />

Flugzeugs (Espadon, Schwertfisch) bedienen. An Tibet<br />

erinnert in dieser Geschichte nur die Architektur. Für den Kaiserpalast<br />

hat sicherlich <strong>der</strong> Potala als Vorbild gedient, ein grosser<br />

Stupa sieht dem Kumbum­Stupa von Gyantse ähnlich und<br />

einige weitere Stupas sind ebenfalls tibetischer Provenienz. Details<br />

in den in «Tibet» spielenden Szenen, wie Gesichtszüge, Klei<strong>der</strong>,<br />

Innenarchitektur und Schrift, erinnern jedoch an China. So<br />

wird denn auch in <strong>der</strong> französischen Ausgabe «Lhassa» als «neue<br />

Hauptstadt des grossen gelben Weltimperiums» bezeichnet, und<br />

Basam­Damdu wird Herrscher «<strong>der</strong> Gelben» genannt, eine Vermengung<br />

von Tibet­Mythen und <strong>der</strong> Angst vor <strong>der</strong> «Gelben Gefahr».<br />

Agartha sowie neu­theosophisches und «rampaeskes» Gedankengut<br />

erscheinen auch in einem Comic eines an<strong>der</strong>en Genres,<br />

nämlich in einem Yeti­Comic. In dieser Geschichte, Der<br />

Schneemensch (1991), findet ein Reporter <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Suche nach den<br />

Yetis im Gebiet des Everest Aufnahme in einem tibetischen Kloster,<br />

wo ihn ein seltsamer Alptraum quält. Dabei entdeckt er in<br />

einer Ahnengalerie mumifizierter und mit Gold überzogener<br />

Mönche sein eigenes Ebenbild, welches wie<strong>der</strong> zu leben beginnt.<br />

Eine Stimme heisst ihn als Bru<strong>der</strong> Yza Migdama Lah­Lu (angeblich<br />

ein tibetischer Name) in <strong>der</strong> Vereinigung <strong>der</strong> Agartha willkommen.<br />

Er sieht sich nackt durch die Bibliothek des Paradieses<br />

hetzen, in <strong>der</strong> die gesamte Vergangenheit, Gegenwart und Zu­<br />

Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 36


kunft, alle Leben und Nicht­Leben, <strong>auf</strong>bewahrt werden. Der Reporter<br />

realisiert später, dass er in die Bru<strong>der</strong>schaft <strong>der</strong> Agartha<br />

zurückgekehrt ist. Diese Bru<strong>der</strong>schaft widmet sich in dem völlig<br />

abgeschiedenen tibetischen Kloster unter <strong>der</strong> Leitung des Oberpriesters<br />

Mahatma seit jeher Frieden und Forschung. Damit kein<br />

Unbefugter das Kloster betritt, umgeben die Mönche das Kloster<br />

mit einem Hypnosefeld, das die «atavistischen Ängste» <strong>der</strong> Reisenden<br />

erweckt. Diese sehen dann statt <strong>der</strong> Mönche Schneemenschen,<br />

haben Angst und rennen davon. Von Zeit zu Zeit ziehen<br />

von diesem Kloster und an<strong>der</strong>en ähnlichen Zentren Agartha­<br />

Jünger in die Welt hinaus, um sich unter die Menschen zu mischen,<br />

um ihr Wissen über erwachtes Bewusstsein und das Über­<br />

Ich zu verbreiten und Ratschläge zu erteilen. Unschwer sind hier<br />

mehrere typische theosophische und rampaeske Motive zu erkennen:<br />

Der angeblich tibetische Name Yza Migdama Lah­Lu ist<br />

fast wortwörtlich ein Plagiat aus Rampas Das dritte Auge, das im<br />

Comic natürlich auch erwähnt wird. 6 Die alles Wissen enthaltende<br />

Agartha­«Bibliothek», so etwas wie ein universelles Gedächtnis,<br />

erinnert an die Akasha­Chronik, die Bru<strong>der</strong>schaft und ihr<br />

Führer Mahatma an die theosophischen Mahatmas, die ja den<br />

Theosophen wie auch den «Rampasophen» zufolge ebenfalls von<br />

Zeit zu Zeit in die weite Welt hinausziehen, um ihr Wissen an<strong>der</strong>en<br />

zu vermitteln. Denn die Bru<strong>der</strong>schaft, die sich seit undenklichen<br />

Zeiten dem Frieden und <strong>der</strong> Forschung widmet, hütet ein<br />

allumfassendes Wissen.<br />

Das uralte geheime und in Tibet <strong>auf</strong>bewahrte Wissen ist ein<br />

Motiv, das auch in an<strong>der</strong>en Comics <strong>auf</strong>taucht: In The Origin of<br />

the Avenger enthalten alte Schriftrollen Anweisungen, wie das<br />

ungenützte Potential des Gehirns gebraucht werden kann, in<br />

Mitternacht in Rhodos geht es um eine Bibliothek alter wertvoller<br />

tibetischer Texte, welche das gesamte Wissen des tibetischen<br />

Volkes sowie Informationen über chinesische Militäroperationen<br />

und Standorte nuklearer Waffen in Tibet enthalten, und in Der<br />

weisse Lama suchen Chinesen nach dem Zugang zu einem geheimen<br />

Archiv, welches die Essenz des Wissens einer alten Zivilisation<br />

enthalten soll. Auch Gebetsmühlen enthalten manchmal<br />

schriftliche Geheimnisse, so in Tödliche Kälte – ein Zettel mit<br />

dem Namen eines wichtigen Klosters – und in Top Secret, wo in<br />

einer Gebetstrommel eine Nachricht eines verschollenen und in<br />

Tibet gefangengehaltenen deutschen Atomphysikers zum Vorschein<br />

kommt. Zu den Geheimtexten gehört auch die Formel<br />

«Om mani padme hum», die in den Comics ab und zu ertönt. 7<br />

Es ist von einigem Interesse, mit welchen «ethnographischen»<br />

Details die Comics­Zeichner, von denen sicherlich die wenigsten<br />

in Tibet o<strong>der</strong> im Himalaja gewesen sind, ein tibetisches<br />

Ambiente zu schaffen versuchen. Sie geben uns Aufschluss über<br />

ihre – und damit in gewissem Sinn auch unsere – Tibet­Klischees.<br />

Häufiges Motiv sind tibetische Paläste, sei es <strong>der</strong> Potala­Palast<br />

mit seinen goldenen Dächern 8 o<strong>der</strong> <strong>der</strong> alte Königspalast von<br />

Leh 9 sowie an<strong>der</strong>e bekannte Bauwerke wie die bhutanischen<br />

Klöster Taktsang 10 o<strong>der</strong> Tongsa 11 . Auch <strong>der</strong> Stupa ist ein häufig<br />

anzutreffendes Bauwerk, sei es in <strong>der</strong> Form des bekannten Swayambunath­<br />

o<strong>der</strong> Bodnath­Stupa o<strong>der</strong> als einfachere Form, wie<br />

man sie in Ladakh, Nordnepal o<strong>der</strong> Tibet findet 12 . Zornvolle<br />

Gottheiten, die manchmal zu Leben erwachen, treten unverhältnismässig<br />

oft <strong>auf</strong> 13 , und auch <strong>der</strong> Dalai Lama ist ein relativ beliebtes<br />

Motiv 14 . Zum tibetischen Ambiente scheint für einige Autoren<br />

auch die beson<strong>der</strong>e Art <strong>der</strong> Bestrafung zu gehören: <strong>der</strong><br />

Holzkragen, den man in Tibet gewissen Gefangenen umlegte 15 .<br />

Da die Zeichner in den seltensten Fällen selbst in Tibet waren,<br />

dienten oftmals Fotos aus bekannten Büchern als Vorlagen.<br />

So hat beispielsweise Hergé nachweisbar Fotos von Giuseppe<br />

37 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 38


Tucci, Heinrich Harrer, Lowell Thomas und Ernst Krause (Schäfer­Expedition)<br />

für Tim in Tibet abgezeichnet und dabei – mit<br />

wenigen Ausnahmen – eine glückliche Hand gehabt, was man<br />

von an<strong>der</strong>en Autoren nicht immer sagen kann 16 . Vor allem in billigen<br />

Comics (zum Beispiel <strong>der</strong> Serie Gespenstergeschichten),<br />

werden Details aus verschiedensten Regionen, ja sogar Kulturen<br />

wahllos nebeneinan<strong>der</strong>gestellt. So wurde für das erste Bild in<br />

Das Rätsel <strong>der</strong> Dämonenglocken <strong>der</strong> Potala als Vorlage verwendet,<br />

während ein paar Bil<strong>der</strong> später für dieselbe Klosteranlage<br />

das «Tigernest» (Taktsang) in Bhutan kopiert wurde. Einem Stupa<br />

setzte <strong>der</strong> Zeichner Ertugrul einen Turm wie ein Minarett<br />

<strong>auf</strong>, indem eine «himmlische Glocke» <strong>auf</strong>bewahrt werden soll,<br />

einmal diente ihm für eine Szene eines religiösen Tanzes (’cham)<br />

ein Stupa aus Ladakh als Vorlage, einem Wächter aus Stein setzte<br />

er den Kopf einer thailändischen Statue <strong>auf</strong> und sein Abt<br />

gleicht eher einem Zauberer aus einem europäischen Märchenbuch<br />

als einem tibetischen Mönch.<br />

Auf <strong>der</strong> Suche nach <strong>der</strong> Erinnerung<br />

Zwei Comic­Geschichten zeichnen sich durch sorgfältige Recherche<br />

und damit eine grosse Detailtreue aus: Tim in Tibet und Jonathan.<br />

Interessanterweise entspringen beide Geschichten demselben<br />

Motiv: Sowohl Hergé, <strong>der</strong> Schöpfer von Tim in Tibet, wie<br />

auch Cosey, <strong>der</strong> Jonathan erschuf, projizieren ihre Suche beziehungsweise<br />

Erinnerung an eine reale Person aus ihrem Leben,<br />

die ihnen viel bedeutet hat, in ihren Comic. In Tim in Tibet suchen<br />

<strong>der</strong> Titelheld und sein Hund Struppi den Chinesen Tschang,<br />

von dem alle annehmen, er sei bei einem Flugzeugbsturz im Himalaja<br />

gestorben, mit Ausnahme von Tim, <strong>der</strong> felsenfest davon<br />

überzeugt ist, dass er noch lebt. Hergé verarbeitete mit diesem<br />

zentralen Motiv seines Tibet­Comics seine eigene Suche nach<br />

dem Chinesen Tchang Tchong­Jen, <strong>der</strong> Hergé beim Erschaffen<br />

des Comics Der blaue Lotus eingehendst beraten hatte. Hergé<br />

bewahrte dies davor, einen ähnlich kolonialistischen, rassistischen<br />

und stereotypen Comic zu schaffen wie beispielsweise den<br />

zuvor erschienenen Tim im Kongo, zudem hatte er einen guten<br />

Freund gefunden. Diese Freundschaft brach auch dann nicht ab,<br />

als Tchang 1935 nach China zurückkehrte. Dort verlor sich jedoch<br />

wegen <strong>der</strong> politischen Umwälzungen jede Spur. Hergé<br />

glaubte auch mehr als zwanzig Jahre nach seinem Verschwinden<br />

nicht an den Tod des Freundes, und 1981 gelang es ihm tatsächlich,<br />

seinen chinesischen Freund Tchang Tchong­Jen zu finden<br />

und aus China herauszuholen.<br />

In einer tiefen Lebenskrise und konfrontiert mit dem Ratschlag<br />

eines Psychiaters, das Zeichnen <strong>auf</strong>zugeben, schuf Hergé<br />

1960, 31 Jahre nach Erfindung des «Tintin», Tim in Tibet. Mit<br />

diesem Comic kämpfte Hergé gegen die Hoffnungslosigkeit …<br />

und schuf einen Comic <strong>der</strong> Hoffnung, <strong>der</strong> Selbst<strong>auf</strong>opferung und<br />

<strong>der</strong> Freundschaft: Tim findet, nachdem er sein Leben mehrmals<br />

<strong>auf</strong>s Spiel gesetzt hat, seinen verschollenen Freund Tschang –<br />

und sein Schöpfer Hergé sich selbst. Aufschlussreich ist, wie sehr<br />

sich Hergé in dieser seiner persönlichsten und von ihm am meisten<br />

geschätzten Geschichte von Träumen leiten lässt und dem<br />

Übernatürlichen eine so zentrale Rolle zumisst. Der Einfluss Tibets?<br />

Jenes Tibets, in dem – so lässt Hergé die Leserschaft glauben<br />

– gewisse Mönche eben trotz allem über übernatürliche<br />

Kräfte verfügen, wie beispielsweise <strong>der</strong> schwebende und hellseherisch<br />

begabte «Gesegneter Blitz».<br />

Mit Jonathan (ab 1985), vor allem mit dem ersten <strong>der</strong> elf<br />

Bände, Auf <strong>der</strong> Suche nach <strong>der</strong> Erinnerung, hat auch Cosey ein<br />

Comic geschaffen, mit dem er den Verlust seines Freundes, Jonathan,<br />

zu verarbeiten versucht. Cosey und Jonathan fuhren in ihren<br />

Jugendjahren in den <strong>Schweiz</strong>er Alpen gemeinsam Ski o<strong>der</strong><br />

Motorrad, als Lektüre die Veden, die Bhagavad Gîta, Comics, C.<br />

G. Jung o<strong>der</strong> Woody Allen in den Taschen. Jonathan war im<br />

wirklichen Leben wie im Comic seltsam und exzentrisch. Er wollte<br />

mit dem Motorrad <strong>auf</strong> den Kilimandscharo fahren, verreiste<br />

schliesslich nach Nepal, wo er in einer psychiatrischen Klinik<br />

landete, nachdem man ihn halb tot an <strong>der</strong> tibetisch­nepalischen<br />

Grenze gefunden hatte. Jonathan blieb nicht in <strong>der</strong> Klinik. Er<br />

lief davon, Richtung Himalaja und Tibet – davon ist Cosey überzeugt.<br />

Und es ist auch dort, wo seine Geschichte, eine elfteilige<br />

39 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 40


Serie, beginnt. Der Comic ist so gesehen keine völlige Fiktion,<br />

son<strong>der</strong>n enthält wohl mehr Autobiographisches als alle an<strong>der</strong>en<br />

Comics. Cosey berichtet mit viel Einfühlungsvermögen und <strong>auf</strong>grund<br />

persönlicher Erfahrungen von wahren Menschen und Ereignissen.<br />

Zwar kommen hier und dort gängige Motive zur Darstellung<br />

wie die Suche nach einem neuen Dalai Lama o<strong>der</strong><br />

diejenige nach dem Schneemenschen, auch ist er spürbar von <strong>der</strong><br />

tibetischen Mystik fasziniert. Es fehlen jedoch die plumpen Stereotypen<br />

an<strong>der</strong>er Comics, so dass von einer aussergewöhnlichen<br />

Comic­Serie gesprochen werden darf, «<strong>der</strong>en Qualität sich nicht<br />

allein in <strong>der</strong> Handlung entfaltet», so <strong>der</strong> Klappentext, «son<strong>der</strong>n<br />

faszinierende Erfahrungen in einer fremden Kultur atmosphärisch<br />

dicht vermittelt.»<br />

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Auch in den Comics<br />

kehren Motive wie<strong>der</strong>, die wir bereits in den Tibet­Romanen kennengelernt<br />

haben: Die allwissenden, über übermenschliche Kräfte<br />

verfügenden, z. T. uralten Mönche/Lamas/Tulkus – keine Nonnen;<br />

Tibet als Gegend des Friedens, des langen Lebens, des<br />

Geheimwissens, das dem Planeten Erde Rettung bringen könnte;<br />

Tibet aber auch als Ort, in dem es bedrohliche und manipulative<br />

Kräfte gibt. Einerseits dargestellt durch schlechte Geistliche,<br />

die schwarze Magie anwenden (Der weisse Lama und The<br />

Black Lama), an<strong>der</strong>erseits durch mo<strong>der</strong>ne, vor allem von Westlern<br />

kontrollierte Technologie, die im Untergrund in geheimnisvollen,<br />

riesigen Höhlen <strong>auf</strong> ihren Einsatz wartet. Die lichte überhelle<br />

Welt Tibets zeichnet scharfe Schattenbil<strong>der</strong>. Irgendwo<br />

zwischen dieser lichten und dunklen Welt ist <strong>der</strong> Schneemensch,<br />

<strong>der</strong> Yeti, angesiedelt, <strong>der</strong> die Ambivalenz, die Tibet anhaftet, wi<strong>der</strong>zuspiegeln<br />

scheint: Einmal ist er ein friedliches, weises Wesen,<br />

mal ist er scheusslich, gefährlich und wild. In Der Schneemensch<br />

ist seine Erscheinung abhängig von <strong>der</strong> Einstellung <strong>der</strong><br />

Leute, die ihm begegnen. «Wir erscheinen euch gross o<strong>der</strong> klein,<br />

behaart o<strong>der</strong> bloss drohend o<strong>der</strong> traurig … eben so, wie es euch<br />

die persönliche Angst eingibt», sagt ein Lama dem in einem<br />

Agartha­Kloster gelandeten Reporter, eine Subjektivität, die – so<br />

wird immer deutlicher – auch <strong>auf</strong> unsere Tibetbil<strong>der</strong> zutrifft.<br />

Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 42


Diese sind zwar nur äusserst selten von Angst geprägt, aber von<br />

persönlichen Emotionen, Gefühlen, Bedürfnissen, Träumen, die<br />

in den Comics und vermehrt auch in <strong>der</strong> Werbung sowie ganz<br />

allgemein vom Kommerz <strong>auf</strong>genommen und benutzt werden.<br />

1 Uns sind rund vierzig Titel bekannt, was<br />

etwa sechzig Comics­Heften entspricht, da<br />

unter einem Titel ab und zu mehrere Hefte<br />

erschienen sind (zum Beispiel neun<br />

Hefte <strong>der</strong> Serie Jonathan, sechs Hefte <strong>der</strong><br />

Serie Der weisse Lama, usw.). In dieser<br />

Zahl nicht enthalten sind diejenigen Comics,<br />

in denen eine legendäre o<strong>der</strong> tatsächliche<br />

tibetische Geschichte möglichst<br />

originalgetreu nacherzählt wird, da diese<br />

Comics kaum etwas über die Art des westlichen<br />

Tibetbildes aussagen. In diese Kategorie<br />

gehört zum Beispiel die meisterhafte<br />

Nacherzählung des Lebens von<br />

Milarepa durch Eva van Dam, Shambhala<br />

Publications, 1991 o<strong>der</strong> die Schil<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> jungen Lebensjahre des 14. Dalai<br />

Lama in einem in Indien erschienenen Comic<br />

(Script Vijay Kranti, Artwork Jugesh<br />

Narula; Publishing House: Gaurav Gatha,<br />

New Delhi, 1982).<br />

2 Der Dimensionssprung<br />

3 Die Herkunft des Dr. Strange; Der Magier<br />

vom Dach <strong>der</strong> Welt, The Origin of an Avenger,<br />

Tim in Tibet …<br />

4 Todesurteil in <strong>Flucht</strong> aus Tibet; Das Rätsel<br />

<strong>der</strong> Dämonenglocken; Die Spur des<br />

Gletscherdämons; Der Magier vom Dach<br />

<strong>der</strong> Welt<br />

5 Den Katzenmythos nimmt übrigens auch<br />

<strong>der</strong> Comic Mitternacht in Rhodos <strong>auf</strong>.<br />

6 In Rampa 1979: 83 wird als vollständiger<br />

Name Lobsang Rampas Yza­mig­dmar­<br />

Lah­lu genannt.<br />

7 Der Schneemensch; Court of Crime …<br />

8 Der weisse Lama; Jonathan; Der Kampf<br />

um die We1t …<br />

9 Countdown des Wahnsinns; Jonathan …<br />

10 Das Rätsel <strong>der</strong> Dämonenglocken<br />

11 Mitternacht in Rhodos<br />

12 Countdown des Wahnsinns; Der weisse<br />

Lama; Tim in Tibet; Jonathan; Tödliche<br />

Kälte; Der Kampf um die Welt<br />

13 Die Spuren des Schneemenschen; Das Rätsel<br />

<strong>der</strong> Dämonenglocken; Tim in Tibet; Der<br />

weisse Lama; Tödliche Kälte …<br />

14 <strong>Flucht</strong> aus Tibet; Jonathan; Le cargo sous<br />

la mer<br />

15 <strong>Flucht</strong> aus Tibet; Der Lama von Lhasa …<br />

16 Poelmeyer hat in einer Broschüre die von<br />

Hergé verwendeten Vorlagen <strong>auf</strong>gezeigt.<br />

Unglücklich ist die Szene, in <strong>der</strong> Kapitän<br />

Haddock vor zwei zornvollen Gottheiten<br />

erwacht: Die beiden Statuen stehen <strong>auf</strong><br />

dem Boden, vor ihnen steht ein nicht­tibetisches<br />

Tischchen, <strong>auf</strong> dem – statt vielen<br />

Opfergaben – nur zwei son<strong>der</strong>bare Lampen<br />

stehen, usw.<br />

Aus: Martin Brauen: Traumwelt Tibet. Westliche Trugbil<strong>der</strong>. In Zusammenarbeit mit Renate<br />

Koller und Markus Vock. Bern/Stuttgart/Wien: Verlag Paul Haupt 2000. S. 124–129; S. 136–143.<br />

Arbeits<strong>auf</strong>träge<br />

– Welche Trugbil<strong>der</strong> bzw. Tibet-Klischees kommen in den<br />

Comics häufig vor? – Wie lässt sich diese Häufung erklären?<br />

– Einige <strong>der</strong> erwähnten Comics können Sie im Buchhandel<br />

o<strong>der</strong> antiquarisch erwerben o<strong>der</strong> in Bibliotheken<br />

ausleihen (z. B. «Tim in Tibet» (1959); «Jonathan» (ab<br />

1985), «Countdown des Wahnsinns» (1986); «Der weisse<br />

Lama» (1988–1992); «Der Schneemensch» (1991) usw.<br />

Überprüfen Sie an einzelnen Beispielen, wie die Klischees<br />

in Bild und Text umgesetzt sind.<br />

– Recherchieren Sie zu den Begriffen «Agartha», «Theosophen»<br />

und (Lobsang) «Rampa» und halten Sie Ihre<br />

wichtigsten Erkenntnisse fest.<br />

43 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 44


Text 3<br />

Dalai Lama<br />

Die vier edlen<br />

Wahr heiten. Die Grundlage<br />

buddhis tischer<br />

Praxis<br />

Mitgefühl, die Grundlage für menschliches Glück<br />

Ich denke, je<strong>der</strong> Mensch hat die Auffassung von einem innewohnenden<br />

Ich, einem «Ich», das irgendwie in ihm existiert. Wir können<br />

nicht erklären, warum wir diese Empfindung haben, aber sie<br />

ist da. Diese Auffassung bringt den Wunsch nach Glück und eine<br />

Abneigung gegen Leid mit sich. Das ist völlig legitim. Wir haben<br />

das Recht, so glücklich wie möglich zu sein und so wenig Leid wie<br />

möglich erfahren zu müssen.<br />

Die ganze Geschichte <strong>der</strong> Menschheit hat sich <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Grundlage<br />

dieser Auffassung entwickelt, aber dieses Streben ist nicht<br />

<strong>auf</strong> menschliche Wesen beschränkt. Aus buddhistischer Sicht<br />

werden auch die kleinsten Insekten von dem gleichen Wunsch<br />

getrieben. Auch sie versuchen, ihren Fähigkeiten entsprechend,<br />

Glück zu erfahren und Leid zu vermeiden.<br />

Aufgrund <strong>der</strong> menschlichen Intelligenz gibt es allerdings einige<br />

gravierende Unterschiede zwischen <strong>der</strong> Gattung Mensch<br />

und an<strong>der</strong>en Tiergattungen. Wir sind fortgeschrittenere Wesen,<br />

und als solche besitzen wir grössere Fähigkeiten. Wir sind in <strong>der</strong><br />

Lage, weit in die Zukunft hinein zu planen, und unser Erinnerungsvermögen<br />

ist gross genug, um uns viele Jahre zurückzuerinnern.<br />

Wir besitzen mündliche und schriftliche Traditionen, die<br />

uns an längst vergangene Ereignisse erinnern. Dank <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />

Möglichkeiten können wir sogar Ereignisse untersuchen,<br />

die sich vor Jahrmillionen zugetragen haben.<br />

So sind wir durch diese Intelligenz einerseits sehr gescheit,<br />

aber genau deswegen zweifeln wir auch mehr, sind misstrauischer<br />

und haben infolgedessen auch mehr Ängste. Ich denke,<br />

Vorstellungen <strong>der</strong> Angst sind im Menschen viel stärker ausgeprägt<br />

als in Tieren. Dazu kommen noch die vielen Konflikte innerhalb<br />

<strong>der</strong> menschlichen Gemeinschaft, innerhalb <strong>der</strong> eigenen<br />

Familie, ganz zu schweigen von den Konflikten innerhalb von<br />

Gruppierungen und zwischen Nationen, und natürlich den Konflikten,<br />

die je<strong>der</strong> einzelne in sich trägt. Alle diese Konflikte und<br />

Wi<strong>der</strong>spüche entstehen aus den unterschiedlichen Ansichten und<br />

Gedanken, die unsere Intelligenz mit sich bringt. Lei<strong>der</strong> kann<br />

Intelligenz auch sehr unglückliche Geisteszustände erzeugen. So<br />

gesehen wird sie zu einer weiteren Quelle menschlichen Leids.<br />

Trotzdem ist sie gleichzeitig das Instrument, mit dem wir unsere<br />

Konflikte und Differenzen überwinden können. Das denke ich<br />

jedenfalls.<br />

Von allen Spezies, die diesen Planeten bevölkern, ist <strong>der</strong><br />

Mensch <strong>der</strong> schlimmste Unruhestifter. Das ist nicht zu übersehen.<br />

Gäbe es keine Menschen mehr, wäre es um die Sicherheit<br />

unseres Planeten besser bestellt. Zweifellos würden Millionen<br />

von Fischen, Hühnern und an<strong>der</strong>en Kleintieren eine echte «Befreiung»<br />

erfahren.<br />

Die menschliche Intelligenz muss also konstruktiv eingesetzt<br />

werden. Das ist <strong>der</strong> Schlüssel. Wenn wir ihre Möglichkeiten<br />

richtig einsetzen würden, würden die Menschen sich nicht nur<br />

untereinan<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n auch dem Planeten weniger Schaden zufügen;<br />

ebenso wäre je<strong>der</strong> einzelne glücklicher. Es liegt ganz in<br />

unserer Hand. Es ist uns überlassen, ob wir unsere Intelligenz<br />

richtig o<strong>der</strong> falsch einsetzen. Niemand kann uns seine Werte <strong>auf</strong>zwingen.<br />

Wie können wir lernen, unsere Fähigkeiten sinnvoll<br />

45 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 46


einzusetzen? Als erstes müssen wir unsere eigene Natur verstehen,<br />

und wenn es uns dann nicht an Entschlossenheit mangelt,<br />

besteht die echte Möglichkeit, das menschliche Herz zu verwandeln.<br />

Vor diesem Hintergrund werde ich heute darüber sprechen,<br />

wie je<strong>der</strong> einzelne Glück erfahren kann, weil ich davon überzeugt<br />

bin, dass je<strong>der</strong> einzelne eine Schlüsselfunktion für das Ganze<br />

hat. Damit in einer Gesellschaft o<strong>der</strong> in einer Gemeinschaft eine<br />

Verän<strong>der</strong>ung stattfinden kann, muss <strong>der</strong> einzelne Initiative zeigen.<br />

Kann <strong>der</strong> einzelne ruhig, friedlich und wohlwollend werden,<br />

bringt das automatisch eine positive Atmosphäre in die Familie.<br />

Wenn die Eltern warmherzig, friedlich und ausgeglichen sind,<br />

entwickeln die Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Regel die gleiche Einstellung, das<br />

gleiche Verhalten.<br />

Das Problematische an unseren Einstellungen ist, dass sie<br />

oft von äusseren Faktoren gestört werden. Es ist daher nötig,<br />

solche äusseren Schwierigkeiten zu beseitigen. Die uns umgebenden<br />

Verhältnisse sind ein wichtiger Faktor für eine glückliche<br />

geistige Verfassung, aber noch wichtiger ist die eigene geistige<br />

Einstellung.<br />

Die äussere Umgebung mag unfreundlich, vielleicht sogar<br />

feindselig sein, mit einer korrekten geistigen Einstellung wird<br />

diese Situation den Frieden im eigenen Geist nicht stören. Ist die<br />

Einstellung aber nicht korrekt, kann man von Freunden umgeben<br />

sein, die besten Möglichkeiten und Vorteile mögen einem offenstehen<br />

– man wird nicht glücklich sein können. Dies zeigt,<br />

dass die geistige Einstellung wichtiger ist als äussere Umstände.<br />

Trotzdem scheinen die meisten Menschen sich mehr um die äusseren<br />

Umstände zu kümmern, während sie ihre innere Einstellung<br />

vernachlässigen. Mein Vorschlag wäre, dass wir mehr <strong>auf</strong><br />

unsere inneren Qualitäten achten.<br />

Es gibt viele Eigenschaften, die für inneren Frieden wichtig<br />

sind, aber aus meiner eigenen, wenn auch geringen Erfahrung<br />

glaube ich sagen zu können, dass menschliches Mitgefühl und<br />

Zuneigung, das Gefühl, dass man sich kümmert, die wichtigsten<br />

Faktoren sind.<br />

Was ist unter Mitgefühl zu verstehen? Für gewöhnlich erstreckt<br />

sich unsere Vorstellung von Mitgefühl o<strong>der</strong> Liebe <strong>auf</strong> das<br />

Gefühl <strong>der</strong> Verbundenheit mit unseren Freunden und den wenigen<br />

an<strong>der</strong>en, die uns lieb sind. Manchmal ist unser Mitgefühl<br />

auch mit Mitleid vermischt. Das ist ein Fehler. Jede Liebe o<strong>der</strong><br />

jedes Mitgefühl, das in irgendeiner Weise <strong>auf</strong> an<strong>der</strong>e herabschaut,<br />

ist kein echtes Mitgefühl. Um echt zu sein, muss Mitgefühl von<br />

Respekt für den an<strong>der</strong>en geprägt sein, und es muss <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Einsicht<br />

beruhen, dass an<strong>der</strong>e das gleiche Recht haben, glücklich zu<br />

sein und nicht zu leiden, wie man selbst. Da man das Leid <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en sehen kann, entwickelt man eine ehrliche Sorge um sie.<br />

Die Verbundenheit mit unseren Freunden, die wir empfinden,<br />

ist für gewöhnlich mehr Anhaftung als Mitgefühl. Echtes<br />

Mitgefühl ist unparteiisch, es kennt keine Vorurteile. Wenn wir<br />

ausschliesslich unseren Freunden gegenüber Nähe empfinden,<br />

nicht aber gegenüber schwierigen Personen o<strong>der</strong> Feinden o<strong>der</strong><br />

den unzähligen Menschen, die uns persönlich unbekannt und<br />

gleichgültig sind, dann ist unser Mitgefühl parteiisch.<br />

Wie ich schon sagte, basiert echtes Mitgefühl <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Einsicht,<br />

dass an<strong>der</strong>e das gleiche Recht dar<strong>auf</strong> haben, glücklich zu<br />

sein, wie man selbst. Der an<strong>der</strong>e, den wir als Feind betrachten,<br />

ist ein Mensch wie wir, <strong>der</strong> ebenfalls glücklich sein möchte, genauso<br />

wie wir. Er hat das gleiche Anrecht dar<strong>auf</strong> wie wir. Wenn<br />

man davon ausgehend eine ehrliche Sorge entwickelt, die sich<br />

ausnahmslos <strong>auf</strong> alle Wesen erstreckt, egal, ob die Einstellung<br />

des an<strong>der</strong>en einem selbst gegenüber freundlich o<strong>der</strong> feindselig<br />

ist, wird das als Mitgefühl bezeichnet.<br />

Ein Aspekt dieses Mitgefühls ist aktives Verantwortungsbewusstsein.<br />

Aus einer solchen Motivation entsteht ein gesundes,<br />

angstfreies Selbstvertrauen, das unserer Entschlossenheit för<strong>der</strong>lich<br />

ist. Ist man von Anfang an wirklich entschlossen, eine<br />

schwierige Aufgabe zu Ende zu bringen, ist es unwichtig, ob man<br />

einmal, zweimal o<strong>der</strong> dreimal scheitert. Das Ziel steht einem klar<br />

vor Augen, also lässt man in seinen Anstrengungen nicht nach.<br />

Eine solche optimistische, entschiedene Einstellung ist ein<br />

Schlüs selfaktor für Erfolg.<br />

47 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 48


Mitgefühl verleiht uns auch innere Kraft. Ist es erst einmal<br />

entwickelt, öffnet sich eine Tür im eigenen Innern, durch die wir<br />

uns mit unseren Mitmenschen und selbst mit an<strong>der</strong>en Wesen von<br />

Herz zu Herz leicht verständigen können. Hegen wir dagegen<br />

Hass und an<strong>der</strong>e böse Gefühle, empfinden die an<strong>der</strong>en uns gegenüber<br />

vielleicht ebenso. Das Ergebnis sind Misstrauen und<br />

Furcht, die eine Kluft zwischen uns schaffen und die Verständigung<br />

erschweren. Man fühlt sich einsam und isoliert. Sicher werden<br />

nicht alle uns gegenüber eine negative Einstellung hegen,<br />

aber bei einigen ist es sicher <strong>der</strong> Fall. Der Grund dafür liegt in<br />

unseren eigenen Gefühlen.<br />

An<strong>der</strong>en gegenüber negative Gefühle zu hegen und dennoch<br />

zu erwarten, dass man freundlich behandelt wird, ist unlogisch.<br />

Wenn wir von einer freundlichen Atmosphäre umgeben sein wollen,<br />

müssen wir zuerst einmal die Grundlage dafür schaffen. Ob<br />

die an<strong>der</strong>en dann dar<strong>auf</strong> positiv o<strong>der</strong> negativ reagieren, ist zweitrangig.<br />

Wir müssen den Boden für Freundlichkeit bereiten. Reagieren<br />

die an<strong>der</strong>en negativ dar<strong>auf</strong>, dann haben wir das Recht,<br />

uns entsprechend zu verhalten.<br />

Immer, wenn ich mit Menschen zu tun habe, versuche ich,<br />

mich so zu verhalten. Eigentlich braucht es keine offizielle Vorstellung<br />

bei einer ersten Begegnung mit einer Person, die ich<br />

noch nicht kenne. Ganz offensichtlich ist <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ein Mensch.<br />

In <strong>der</strong> Zukunft wird man vielleicht Roboter mit Menschen verwechseln<br />

können, aber im Augenblick besteht diese Gefahr nicht.<br />

Ich sehe ein Lächeln, ein paar Zähne und Augen und weiss, da ist<br />

ein an<strong>der</strong>es menschliches Wesen. Wir gleichen uns emotional,<br />

und auch was die körperlichen Merkmale angeht, sind wir uns<br />

ähnlich, manchmal mit Ausnahme <strong>der</strong> Farbe. Ob die Menschen<br />

im Westen nun aber gelbes, blaues o<strong>der</strong> weisses Haar haben, ist<br />

ziemlich unwichtig. Was zählt, ist, dass wir uns <strong>auf</strong> <strong>der</strong> emotionalen<br />

Ebene gleichen. Dadurch empfinde ich den an<strong>der</strong>en wie einen<br />

Bru<strong>der</strong> und begegne ihm spontan. In den meisten Fällen reagiert<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ähnlich und wird zum Freund. Manchmal<br />

gelingt es mir nicht, und dann habe ich die Freiheit, den Umständen<br />

entsprechend zu handeln.<br />

Grundsätzlich sollten wir einan<strong>der</strong> in aller Offenheit begegnen.<br />

Der an<strong>der</strong>e ist ein Mensch wie wir selbst. Es gibt gar nicht<br />

so viele Unterschiede zwischen uns.<br />

Mitgefühl schafft ganz natürlich eine positive Atmosphäre,<br />

in <strong>der</strong> man frei von Aggression und zufrieden ist. An einem Ort,<br />

an dem eine mitfühlende Person lebt, herrscht immer eine angenehme<br />

Atmosphäre, so dass sogar Tiere sich furchtlos nähern.<br />

Vor etwa fünfzig Jahren hielt ich einige Vögel im Norbulingka,<br />

dem Sommerpalast in Lhasa. Unter ihnen war ein kleiner Papagei.<br />

Zu jener Zeit hatte ich einen schon etwas älteren Betreuer,<br />

<strong>der</strong> mit seinen runden, strengen Augen ein wenig unfreundlich<br />

wirkte. Er fütterte die Vögel immer mit Nüssen. Schon beim<br />

Klang seiner Schritte o<strong>der</strong> sogar wenn er hustete, wurde <strong>der</strong> Papagei<br />

immer ganz <strong>auf</strong>geregt. Dieser Mann war zu dem kleinen<br />

Vogel aussergewöhnlich freundlich, und <strong>der</strong> Papagei reagierte<br />

mit aussergewöhnlicher Zuneigung dar<strong>auf</strong>. Ein paarmal gab<br />

auch ich ihm Nüsse, aber mir gegenüber zeigte er nie die gleiche<br />

Zuneigung. Manchmal versuchte ich ihn mit einem kleinen<br />

Stöckchen zu animieren, in <strong>der</strong> Hoffnung, dass er dann an<strong>der</strong>s<br />

reagieren würde, aber das Ergebnis blieb negativ. Ich wollte etwas<br />

erzwingen, und <strong>der</strong> Vogel reagierte nicht.<br />

Wenn man sich echte Freunde wünscht, sollte man also zuerst<br />

eine angenehme Atmosphäre erzeugen. Wir sind Gemeinschaftswesen,<br />

und Freunde sind wichtig. Wie bringt man Menschen<br />

zum Lachen? Wohl kaum, wenn man sich wie ein Stein<br />

benimmt und voller Misstrauen ist. Vielleicht schenken einem<br />

ein paar Leute ein künstliches Lächeln, wenn man reich ist o<strong>der</strong><br />

Einfluss hat, aber ein echtes Lächeln kommt nur aus echtem<br />

Mitgefühl.<br />

Die Frage ist also, wie man Mitgefühl entwickelt. Können<br />

wir wirklich ein vollkommen vorurteilsfreies, unparteiisches<br />

Mitgefühl entwickeln? Die Antwort dar<strong>auf</strong> ist ein eindeutiges<br />

«Ja». Obwohl früher und auch heutzutage vielfach die Ansicht<br />

vorherrscht, <strong>der</strong> Mensch sei von Natur aus aggressiv, denke ich,<br />

dass er sanft und gütig ist. Diesen Punkt wollen wir kurz betrachten.<br />

49 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 50


Zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Empfängnis und solange wir uns in <strong>der</strong><br />

Gebärmutter befinden, ist die geistige Einstellung unserer<br />

Mutter ein wichtiger Faktor für unsere Entwicklung. Ist ihr<br />

Geist friedlich und voller Mitgefühl, hat das eine positive Wirkung;<br />

macht sie sich Sorgen, schadet es uns. Und das ist erst<br />

<strong>der</strong> Anfang des Lebens! Der Geisteszustand <strong>der</strong> Eltern zum<br />

Zeitpunkt <strong>der</strong> Empfängnis ist also bereits wichtig. Wird ein<br />

Kind zum Beispiel durch eine Vergewaltigung gezeugt, so ist es<br />

ungewollt, und das ist etwas ganz Schreckliches! Eine Empfängnis<br />

sollte in <strong>der</strong> richtigen Art und Weise stattfinden, in<br />

ehrlicher Liebe und gegenseitigem Respekt, nicht in wil<strong>der</strong> Leidenschaft.<br />

Auch eine beiläufige Affäre ist nicht passend. Die<br />

beiden Partner sollten sich sehr gut kennen und einan<strong>der</strong> respektieren.<br />

Das ist die Grundlage für eine gute Ehe. Die Ehe<br />

selbst sollte ein Leben lang andauern, o<strong>der</strong> wenigstens so lange<br />

wie möglich. Dann ist die Situation geeignet, um ein Leben zu<br />

beginnen.<br />

Wir wissen, dass das Gehirn des Kindes in den Wochen nach<br />

<strong>der</strong> Geburt weiterwächst, und Experten zufolge ist in dieser Zeit<br />

physischer Kontakt für die weitere, ungestörte Entwicklung des<br />

Gehirns von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung. Auch daran sehen wir,<br />

wie wichtig die Zuneigung an<strong>der</strong>er schon allein für das Wachstum<br />

unseres Körpers ist.<br />

Nach <strong>der</strong> Geburt ist eine <strong>der</strong> ersten Handlungen <strong>der</strong> Mutter,<br />

dem Neugeborenen Milch zu geben, und eine <strong>der</strong> ersten Handlungen<br />

des Neugeborenen ist es, zu saugen und zu trinken. Milch<br />

ist oft ein Symbol für Mitgefühl. Ohne Milch kann ein Kind normalerweise<br />

nicht überleben. Durch das Trinken entsteht zwischen<br />

Mutter und Säugling ein Gefühl <strong>der</strong> Nähe. Wenn dieses<br />

Gefühl fehlt, wird <strong>der</strong> Säugling die Brust <strong>der</strong> Mutter nicht suchen,<br />

und wenn die Mutter dem Kind gegenüber Abneigung empfindet,<br />

wird sie nicht genügend Milch haben. Die Zuneigung <strong>der</strong><br />

Mutter bewirkt, dass ihre Milch fliesst. Die erste Handlung unseres<br />

Lebens, das Trinken <strong>der</strong> Muttermilch, ist somit ein Symbol<br />

für Zuneigung. Daran werde ich immer erinnert, wenn ich eine<br />

Kirche besuche und Darstellungen von Maria mit ihrem Kind<br />

Jesus im Arm sehe. Diese Darstellungen sind für mich ein Symbol<br />

<strong>der</strong> Liebe und <strong>der</strong> Zuneigung.<br />

Man hat herausgefunden, dass Kin<strong>der</strong> aus liebevollen Familien<br />

sich körperlich gesün<strong>der</strong> entwickeln und in <strong>der</strong> Schule besser<br />

lernen als Kin<strong>der</strong>, die keine menschliche Zuneigung erfahren.<br />

Die physische und geistige Entwicklung solcher Kin<strong>der</strong> gestaltet<br />

sich weitaus schwieriger. Sie tun sich auch als Erwachsene<br />

schwer, Zuneigung zum Ausdruck zu bringen. Das ist wirklich<br />

tragisch.<br />

Beschäftigen wir uns kurz mit dem letzten Augenblick unseres<br />

Lebens, mit dem Tod, dann sehen wir, dass es sogar zum<br />

Zeitpunkt des Todes den Geist einer sterbenden Person beruhigen<br />

kann, wenn sie sich von Freunden umgeben weiss, obwohl<br />

sie keinen direkten Nutzen mehr daraus ziehen kann. So spielt<br />

Zuneigung vom Anfang unseres Lebens bis zum Ende eine sehr<br />

wichtige Rolle.<br />

Zuneigung macht den Geist nicht nur friedfertiger und ruhiger,<br />

sie hat auch <strong>auf</strong> den Körper einen positiven Einfluss, während<br />

Hass, Eifersucht und Angst den Frieden unseres Geistes<br />

stören und so auch dem Körper schaden. Sogar unser Körper<br />

braucht inneren Frieden. Unruhe verträgt er schlecht. Das zeigt,<br />

dass eine Wertschätzung für inneren Frieden uns gewissermassen<br />

schon im Blut liegt. Obwohl auch die aggressive Seite Teil<br />

unserer Natur ist, behaupte ich dennoch, dass Zuneigung die bestimmende<br />

Kraft im Leben ist. Sie ermöglicht es uns, das grundlegend<br />

Gute unserer Natur zu stärken.<br />

Dem, was Mitgefühl wirklich bedeutet, kann man sich auch<br />

intellektuell annähern. Wenn ich einer an<strong>der</strong>en Person helfe und<br />

ihr zeige, dass sie mir nicht gleichgültig ist, werde ich selbst davon<br />

profitieren. Schade ich an<strong>der</strong>en, werde ich selbst schliesslich<br />

den Schaden davontragen. Ich sage oft halb im Spass, halb im<br />

Ernst, dass wir wenigstens kluge Egoisten sein sollten und keine<br />

dummen, wenn wir schon egoistisch sind. Wir sollten unsere Intelligenz<br />

nutzen, sie richtig gebrauchen, um unsere Einstellung<br />

zu korrigieren und einzusehen, dass wir durch eine mitfühlende<br />

Lebensweise auch unsere eigenen Interessen wahrnehmen kön­<br />

51 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 52


nen. In gewisser Weise könnte man sogar sagen, dass Mitgefühl<br />

ultimative Selbstsucht ist, aber in diesem Zusammenhang ist<br />

Selbstsucht nichts Verkehrtes. Sich selbst zu lieben ist wichtig.<br />

Wenn wir uns selbst nicht mögen, wie können wir dann an<strong>der</strong>e<br />

lieben? Manchmal reden Leute über Mitgefühl und erwecken<br />

den Eindruck, als würde Mitgefühl bedeuten, dass man die eigenen<br />

Interessen vollständig ignoriert, als müsste man sie wie ein<br />

grosses Opfer <strong>auf</strong>geben. Das ist nicht <strong>der</strong> Fall. Ganz im Gegenteil<br />

sollte echte Liebe die eigene Person miteinbeziehen.<br />

Es gibt zwei Arten von Selbstgefühl. Das eine zögert nicht,<br />

an<strong>der</strong>en Schaden zuzufügen, ist somit negativ und erzeugt nichts<br />

als Schwierigkeiten. Das an<strong>der</strong>e basiert <strong>auf</strong> Entschlossenheit,<br />

Willensstärke und Selbstvertrauen, und dieses Ich­Gefühl, dieses<br />

Selbstvertrauen, brauchen wir, um die Aufgaben, die sich uns<br />

im Leben stellen, zu bewältigen.<br />

Ähnlich gibt es auch zwei Arten von Begierde. Hass dagegen<br />

ist immer nur negativ und zerstört jegliche Harmonie.<br />

Für gewöhnlich geht dem Hass Ärger voraus. Ärger ist eine<br />

emotionale Reaktion, die allmählich zu Hass wird. Um Hass abzuschwächen,<br />

sollte man sich vor Augen führen, wie negativ Ärger<br />

ist. Viele Menschen denken, dass Ärger ein Teil von uns ist,<br />

den man ausdrücken muss, aber das ist ein Trugschluss. Vielleicht<br />

grollen Sie jemandem o<strong>der</strong> verspüren wegen vergangener<br />

Ereignisse einen Unwillen. Möglicherweise fühlen Sie sich besser,<br />

wenn Sie diesen Ärger ausdrücken, aber im allgemeinen ist<br />

es ratsamer, Ärger zu kontrollieren, denn dann wird er allmählich<br />

abnehmen. Das gelingt meiner Erfahrung nach am besten,<br />

wenn man sich vor Augen führt, dass Ärger etwas Negatives ist<br />

und dass man ohne ihn besser fährt. Diese Einstellung allein<br />

wird bereits einen grossen Unterschied machen.<br />

Immer wenn Ärger entsteht, können Sie sich darin üben, das<br />

Objekt Ihres Ärgers in einem an<strong>der</strong>en Licht zu sehen. Jede Person,<br />

je<strong>der</strong> Umstand, <strong>der</strong> Ärger verursacht, ist im Grunde genommen<br />

relativ. Unter einem bestimmten Gesichtspunkt macht es<br />

Sie wütend, unter einem an<strong>der</strong>en stellt man vielleicht ein paar<br />

positive Aspekte daran fest. Die <strong>Tibeter</strong> haben zum Beispiel ihr<br />

Land verloren und sind Flüchtlinge geworden. So betrachtet<br />

könnten wir Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit empfinden, aber<br />

<strong>der</strong> gleiche Umstand hat neue Möglichkeiten eröffnet, hat Begegnungen<br />

mit an<strong>der</strong>en Menschen und <strong>der</strong>en Religionen ermöglicht<br />

und so weiter. Eine flexiblere Sicht <strong>der</strong> Dinge zu entwickeln hilft<br />

uns, auch eine ausgeglichenere geistige Einstellung zu entwickeln.<br />

Das ist eine Methode.<br />

Nehmen wir ein an<strong>der</strong>es Beispiel. Wenn man krank ist, wird<br />

das Gefühl <strong>der</strong> eigenen Ohnmacht immer schlimmer, je mehr<br />

man über die Krankheit nachdenkt. Hier sollte man sich überlegen,<br />

dass es noch viel schlimmer sein könnte, dass man eine an<strong>der</strong>e,<br />

viel schlimmere Krankheit haben könnte. Sich vor Augen<br />

zu führen, dass alles tatsächlich viel schlimmer sein könnte, ist<br />

sehr tröstlich. Auch bei dieser Methode schult man sich darin,<br />

die eigene Situation zu relativieren. Verglichen mit einer viel<br />

schlimmeren Situation verliert sie sofort an Gewicht.<br />

Ähnlich verhält es sich mit an<strong>der</strong>en <strong>auf</strong>tretenden Schwierigkeiten.<br />

Sie mögen enorm erscheinen, solange man sich in sie verbohrt,<br />

aber wenn man das gleiche Problem mit etwas Abstand<br />

betrachtet, sieht es schon kleiner aus. Mit Hilfe dieser Methoden<br />

wie auch durch das Entwickeln einer umfassen<strong>der</strong>en Sichtweise<br />

kann man jede schwierige Situation entschärfen. Man sieht, es<br />

bedarf einer kontinuierlichen Anstrengung, aber diese hat zur<br />

Folge, dass Ihr Ärger abnimmt, Ihr Mitgefühl gestärkt und Ihr<br />

positives Potential vermehrt wird. Die Kombination bei<strong>der</strong> kann<br />

eine negative Person in eine positive verwandeln. Das sind die<br />

Methoden, die wir anwenden, um die Umwandlung zu bewirken.<br />

Wenn man darüber hinaus Vertrauen in eine Religion hat,<br />

ist es nützlich, diese Eigenschaften zu schulen und zu entwickeln.<br />

Die Evangelien lehren uns beispielsweise, die an<strong>der</strong>e Wange<br />

hinzuhalten. Das ist eine klare Anweisung, Toleranz zu üben.<br />

Für mich liegt die Botschaft <strong>der</strong> Evangelien darin, dass wir unsere<br />

Mitmenschen lieben sollen, weil wir Gott lieben. Ich denke,<br />

das bedeutet, dass unsere Liebe grenzenlos sein sollte. Solche religiösen<br />

Unterweisungen haben eine grosse Wirkung. Sie stärken<br />

und erweitern unsere guten Eigenschaften, und im Buddhismus<br />

53 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 54


gibt es sehr genaue Anweisungen. Zuerst versuchen wir, allen<br />

Wesen gegenüber eine gleiche Einstellung zu entwickeln. Dann<br />

denken wir darüber nach, dass das Leben <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Wesen<br />

genauso kostbar ist wie unser eigenes und entwickeln so eine gewisse<br />

Sorge um die an<strong>der</strong>en.<br />

Was ist mit einer Person, die sich zu keiner Religion bekennt?<br />

Je<strong>der</strong> einzelne hat das Recht, einer Religion zu folgen o<strong>der</strong> nicht.<br />

Es ist durchaus möglich, ohne eine Religion zurechtzukommen,<br />

und in manchen Fällen macht es das Leben sogar leichter. Aber<br />

auch wenn man gar kein Interesse an Religionen hat, sollte man<br />

dennoch den Wert positiver menschlicher Eigenschaften nicht<br />

vergessen. Solange wir menschliche Wesen und Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

menschlichen Gesellschaft sind, brauchen wir menschliches Mitgefühl,<br />

sonst wird es uns nicht gelingen, glücklich zu sein. Da wir<br />

alle glücklich sein wollen und möchten, dass auch unsere Freunde<br />

und Familien glücklich sind, müssen wir Mitgefühl und Zuneigung<br />

entwickeln. Es gibt zwei Ebenen <strong>der</strong> Spiritualität, die zu<br />

unterscheiden wichtig ist: religiöse Spiritualität und nicht­religiöse<br />

Spiritualität. Mit <strong>der</strong> zuletzt genannten versuchen wir einfach,<br />

ein guter Mensch zu sein, ein Mensch mit einem guten Herzen.<br />

Auch sollten wir daran denken, dass aus einer Einstellung<br />

des Mitgefühls heraus automatisch Gewaltlosigkeit resultiert.<br />

Gewaltlosigkeit ist keine diplomatische Vokabel, son<strong>der</strong>n Mitgefühl<br />

in Aktion. Wenn man Hass in sich hegt, sind die eigenen<br />

Handlungen oft gewalttätig, während aus einem Herzen voller<br />

Mitgefühl gewaltlose Handlungen entspringen.<br />

Solange es Menschen gibt, wird es <strong>auf</strong> dieser Erde Streit und<br />

Konflikte geben. Das ist sicher. Wenn wir uns <strong>der</strong> Gewalt bedienen,<br />

um Streitereien und Konflikte zu schlichten, müssen wir täglich<br />

mit Gewalt rechnen, und das Ergebnis ist schrecklich. Ausserdem<br />

ist es ohnehin unmöglich, Streit durch Gewalt zu beseitigen.<br />

Gewalt erzeugt nur noch mehr Ablehnung und Unzufriedenheit.<br />

Gewaltlosigkeit bedeutet Dialog. Man spricht miteinan<strong>der</strong>,<br />

um sich verständlich zu machen. Dialog bedeutet Kompromissbereitschaft<br />

in einem Geist <strong>der</strong> Versöhnung, das heisst, man hört<br />

dem an<strong>der</strong>en zu und respektiert seine Ansichten und Rechte. Es<br />

gibt keinen 100%igen Gewinner und keinen 100%igen Verlierer.<br />

Es ist eine äusserst praktische Herangehensweise, ja man kann<br />

sogar sagen, die einzig wirklich nützliche. In unserer Zeit wird<br />

die Welt sehr schnell immer kleiner, und Auffassungen wie «wir»<br />

und «sie» sind veraltet. Würden unsere Interessen unabhängig<br />

von denen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en existieren, dann wäre es möglich, von einem<br />

echten Sieger und einem echten Verlierer zu sprechen. Aber<br />

da wir in Wirklichkeit alle voneinan<strong>der</strong> abhängig sind, sind die<br />

Interessen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en sehr eng mit unseren eigenen verknüpft.<br />

Wie sollte man da einen 100%igen Sieg erwarten können? Wir<br />

müssen teilen, und je<strong>der</strong> muss etwas <strong>auf</strong>geben, manchmal mehr,<br />

manchmal weniger, sonst gibt es keine Versöhnung.<br />

Wir müssen lernen, so zu denken – das ist die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit unserer heutigen Welt. Es ist auch die Grundlage<br />

meiner eigenen Vorgehensweise, die ich den Mittleren Weg nenne.<br />

Die <strong>Tibeter</strong> werden keinen 100%igen Sieg erringen können,<br />

denn ob es uns gefällt o<strong>der</strong> nicht, die Zukunft Tibets hängt in<br />

grossem Mass von China ab. In einem versöhnlichen Geist befürworte<br />

ich daher eine Aufteilung <strong>der</strong> Interessen, damit ein echter<br />

Fortschritt möglich wird. Kompromissbereitschaft ist <strong>der</strong> einzig<br />

gangbare Weg. Durch gewaltlose Methoden können wir die Rechte,<br />

Ansichten und Gefühle <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en teilen, und so können wir<br />

das Problem auch lösen.<br />

Ich nenne das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t manchmal ein Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

des Blutvergiessens. Es hat in diesem Jahrhun<strong>der</strong>t mehr Konflikte,<br />

mehr Blutvergiessen und mehr Waffen als jemals zuvor<br />

gegeben. Auf <strong>der</strong> Grundlage aller Erfahrungen, die wir in diesem<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t gemacht und aus denen wir gelernt haben, sollten<br />

wir das kommende Jahrhun<strong>der</strong>t zu einem Jahrhun<strong>der</strong>t des Dialogs<br />

machen. Der Grundsatz <strong>der</strong> Gewaltlosigkeit sollte überall<br />

Anwendung finden. Das kann nicht dadurch erreicht werden,<br />

dass wir hier sitzen und beten. Es bedeutet Arbeit, Anstrengung,<br />

und noch mehr Anstrengung.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

Aus: Dalai Lama: Die vier edlen Wahrheiten. Die Grundlage buddhistischer Praxis. Frankfurt:<br />

Wolfgang Krüger Verlag 1999. S. 123 –139.<br />

55 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 56


Arbeits<strong>auf</strong>träge<br />

– Was heisst «Mitgefühl»? – Fassen Sie die Kernaus-<br />

sagen Dalai Lamas in eigenen Worten zusammen.<br />

– Wie unterscheidet sich «echtes» von «unechtem»<br />

Mitgefühl?<br />

– Mitgefühl, Freundlichkeit, Offenheit und Toleranz sind<br />

laut dem Dalai Lama wichtige Werte in <strong>der</strong> menschlichen<br />

Gemeinschaft. Zeigen Sie an Hand von Beispielen<br />

<strong>auf</strong>, wie wir als Einzelne (Privatpersonen) und als<br />

Staatsbürger/innen denken und handeln, wenn diese<br />

Werte für uns verbindlich sind.<br />

– Welches Verhältnis besteht zwischen <strong>der</strong> Einzelperson<br />

und <strong>der</strong> Gemeinschaft?<br />

– Der Dalai Lama setzt sich für Gewaltlosigkeit ein. –<br />

Wie begründet er, dass diese Einstellung die richtige<br />

ist?<br />

– Falls Sie nicht Buddhist/in sind: Welche wichtigen<br />

Erkenntnisse vermittelt Ihnen <strong>der</strong> Dalai Lama mit seinem<br />

Vortrag?<br />

57 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 58


Text 4<br />

Gyaltsen Gyaltag<br />

Die Geschichte des<br />

tibetischen Volkes<br />

Um <strong>der</strong> Problematik Tibets gerecht werden zu können, müssen<br />

die bestehenden Auffassungen über Tibet vor und nach <strong>der</strong> chinesischen<br />

Annexion einer kritischen Überprüfung unterzogen<br />

werden. Kurzum: Tibet muss entmystifiziert werden, man muss<br />

die «Wahrheit in den Tatsachen» suchen, wie dies Deng Xiaoping<br />

vortrefflich formuliert hat. Das idealisierte Shangrila­Image Tibets<br />

vor 1950 mit seinen romantischen und mystischen Attributen<br />

entspricht ebensowenig <strong>der</strong> Wirklichkeit wie das Bild vom<br />

«sozialistischen Paradies Tibet», das von <strong>der</strong> chinesischen Propaganda<br />

und von <strong>der</strong>en unkritischen westlichen Verteidigern verbreitet<br />

wurde und noch heute wird.<br />

Das traditionelle Tibet vor <strong>der</strong> chinesischen Besetzung war<br />

we<strong>der</strong> ein demokratisches Land noch ein sozialer Rechtsstaat im<br />

heutigen Sinne. Seine soziale Ordnung lässt sich umschreiben als<br />

eine hierarchisch geglie<strong>der</strong>te Nomaden­ und Bauerngesellschaft<br />

mit feudalen und hierokratischen Strukturmerkmalen, die zweifellos<br />

reformbedürftig war. Eine Min<strong>der</strong>heit herrschte über die<br />

Mehrheit, und die Oligarchie aus Klerus und Adel verfügte über<br />

die entscheidenden Machtmittel. Das Volk führte ein hartes und<br />

einfaches, aber zugleich ein zufriedenes und vor allem ein eigenes<br />

Leben, und es wurde von Menschen <strong>der</strong> gleichen Sprache, Religion,<br />

Kultur und Rasse regiert. Die <strong>Tibeter</strong> erlitten vor 1950 nie<br />

eine Hungersnot, und die sozialen Ungerechtigkeiten haben nie<br />

zu Volks<strong>auf</strong>ständen geführt.<br />

Seit Mitte des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts lag die Oberherrschaft sowohl<br />

über den geistlichen als auch den weltlichen Bereich <strong>der</strong><br />

Gesellschaft Tibets in den Händen <strong>der</strong> Dalai Lamas. Regierung<br />

und Verwaltung waren aus Vertretern <strong>der</strong> Geistlichkeit und des<br />

Adels zusammengesetzt. Diese enge Verbindung von geistlicher<br />

und weltlicher Herrschaft war <strong>der</strong> Höhepunkt eines langen und<br />

komplexen historischen Prozesses <strong>der</strong> gegenseitigen Anpassung<br />

von buddhistischer Hierarchie und weltlicher Aristokratie.<br />

Bezüglich des völkerrechtlichen Status von Tibet stellt <strong>der</strong><br />

Dalai Lama, das geistliche und politische Oberhaupt des tibetischen<br />

Volkes, folgendes in seiner Rede an Mitglie<strong>der</strong> des Europäischen<br />

Parlaments in Strassburg am 16. Juni 1988 fest: «Unsere<br />

mehr als zweitausendjährige Geschichte ist durch Unabhängigkeit<br />

gekennzeichnet. Seit <strong>der</strong> Gründung unserer Nation im Jahre<br />

127 v. Chr. haben wir <strong>Tibeter</strong> kein einziges Mal unsere Unabhängigkeit<br />

an eine ausländische Macht abgegeben.» In einem Kommentar<br />

<strong>der</strong> «Beijing­Rundschau» vom 2. August 1988 zum neuen<br />

Vorschlag des Dalai Lama zur Lösung des Konfliktes zwischen<br />

Tibet und China wird <strong>der</strong> chinesische Standpunkt zum völkerrechtlichen<br />

Status Tibets wie folgt ausgedrückt:<br />

«Er (das heisst <strong>der</strong> Dalai Lama) versucht nach wie vor, die<br />

Geschichte zu verfälschen, die Tatsachen <strong>auf</strong> den Kopf zu stellen,<br />

zu bestreiten, dass Tibet ein unveräusserlicher Bestandteil<br />

Chinas ist, die chinesische Souveränität über Tibet zu leugnen<br />

und die Tibet­Frage zu internationalisieren … Chinas Souveränität<br />

über Tibet lässt sich nicht bestreiten.»<br />

Die zitierten Aussagen des Dalai Lama und <strong>der</strong> «Beijing­<br />

Rundschau» verdeutlichen die zwei gegensätzlichen Standpunkte,<br />

die im grundsätzlichen Verständnis <strong>der</strong> Beziehungen zwischen<br />

Tibet und China bis heute bestehen. Die sino­tibetischen<br />

Beziehungen waren, historisch betrachtet – je nach <strong>der</strong>en Bedeutung<br />

und je nach Machtverhältnissen zwischen Tibet und<br />

China –, sehr unterschiedlich. Es gab Zeiten, wo mächtige Herrscher<br />

Tibets grosse Teile von China und an<strong>der</strong>en Nachbarstaa­<br />

59 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 60


ten eroberten. Wie alle Nationen dieser Welt erlebte Tibet dagegen<br />

auch Perioden, in denen seine Nachbarvölker, namentlich<br />

die Mongolen, Mandschus, Chinesen, Englän<strong>der</strong> und die nepalesischen<br />

Gurlchas, versuchten, Einfluss über Tibet zu erlangen.<br />

Das tibetische Volk betrachtete jedoch diese Zeiten nie als Verlust<br />

seiner nationalen Souveränität. Die Chinesen leiten hingegen<br />

aus <strong>der</strong> Einflussnahme sowohl <strong>der</strong> Mongolen als auch <strong>der</strong><br />

Mandschus ihren Anspruch <strong>auf</strong> die Souveränität über Tibet<br />

ab.<br />

Die Yarlung-Dynastie Tibets und die Tang-Dynastie<br />

Chinas<br />

Tibets alte und lange Geschichte reicht bis ins Jahr 127 v. Chr.<br />

zurück. Der Überlieferung zufolge vereinte in jenem Jahr <strong>der</strong><br />

erste König Tibets, Nyatri Tsenpo, die verschiedenen tibetischen<br />

Stämme, die das Hochland Tibets bewohnten, zu einer Nation.<br />

Ihm folgten 41 Könige <strong>der</strong> Yarlung­Dynastie, die 969 Jahre lang<br />

– das heisst bis 842 n. Chr. – Tibet regierten. Während dieser Perio­<br />

de war Tibet eine bedeutende politische und militärische Macht<br />

in Zentralasien, <strong>der</strong>en Einfluss weit über die Nachbarlän<strong>der</strong> hinausreichte.<br />

Nach einem ersten Einfall in China dehnten die <strong>Tibeter</strong> ihre<br />

kriegerischen Unternehmungen nach allen Richtungen aus. Mit<br />

<strong>der</strong> Einnahme <strong>der</strong> vier chinesischen Bollwerke in Chinesisch­<br />

Turkestan schnitten sie den chinesischen Verkehr mit dem Westen<br />

ab und legten dadurch den Grundstein zu einem tibetischen<br />

Grossreich in Zentralasien. Die <strong>Tibeter</strong> führten 648 n. Chr. eine<br />

Militärexpedition nach Nordindien durch. Im Westen besetzten<br />

sie Hunza, das heute zu Pakistan gehört. Im Norden und Nordosten<br />

verbündeten sie sich mit den Uiguren und den Westtürken.<br />

Mit den letzteren fielen sie oft in chinesisches Gebiet ein. Im Süden<br />

beherrschten die <strong>Tibeter</strong> das Königreich Nepal und die Bergstämme<br />

<strong>auf</strong> <strong>der</strong> indischen Seite des Himalaya. Ihre militärischen<br />

Unternehmungen führten bis nach Oberburma. Im Osten stiessen<br />

die tibetischen Heere immer weiter in das Reichsgebiet <strong>der</strong><br />

Tang­Dynastie hinein. Dazu schreibt <strong>der</strong> englische Diplomat und<br />

Historiker Richardson «Tibetische Generäle und Minister besetzten<br />

und verwalteten beinahe das ganze Kansu, den grösseren<br />

Teil von Sichuan und den Norden von Yünnan.» Für China<br />

bedeuteten die <strong>Tibeter</strong> somit eine dauernde Quelle <strong>der</strong> Unruhe<br />

und Gefahr. Die hervorragendsten Herrscher <strong>der</strong> tibetischen<br />

Yarlung­Dynastie waren Songtsen Gampo, Trisong Detsen und<br />

Ngadhak Tri Ralpachen.<br />

Unter <strong>der</strong> Herrschaft des Königs Songtsen Garnpo (617–649<br />

n. Chr.) wurde Tibet erstmals zu einem mächtigen Staat mit<br />

einer Zentralregierung, eigener Kultur, Religion und Schrift,<br />

einem einheitlichen Gesetzeskodex, einer starken Armee sowie<br />

offiziellen Beziehungen mit dem Ausland zusammengeschlossen.<br />

Während seiner Herrschaft gelangte <strong>der</strong> Buddhismus nach Tibet,<br />

und die tibetische Schrift wurde entwickelt. Er verkündete<br />

zudem einen Kodex, <strong>der</strong> aus sechzehn allgemeinen moralischen<br />

Verhaltensregeln bestand, die von den <strong>Tibeter</strong>n als ihr erstes<br />

«Gesetzbuch» betrachtet werden.<br />

König Songtsen Gampo festigte und erweiterte das tibetische<br />

Reich, indem er Teile von Westchina annektierte und den<br />

chinesischen Kaiser Tai Tsung <strong>der</strong> Tang­Dynastie dazu zwang,<br />

einen jährlichen Tribut von 50 000 Rollen Seide zu entrichten.<br />

Der chinesische Kaiser musste zudem im Jahre 641 eine seiner<br />

Töchter, nämlich die Prinzessin Wen­Cheng Kung Chu, dem tibetischen<br />

König zur Frau geben. In <strong>der</strong> heutigen offiziellen chinesischen<br />

Interpretation wird diese Heirat als das Bestreben des Kaisers<br />

Tai Tsung, die freundschaftlichen Beziehungen <strong>der</strong> beiden<br />

Nachbarn zu festigen, und als Beginn <strong>der</strong> «nicht abbrechenden»<br />

kulturellen Beziehungen zwischen China und Tibet dargestellt.<br />

Mit den Kontakten zum Herrscherhaus <strong>der</strong> Tang begannen<br />

die internationalen Beziehungen Tibets. Mit <strong>der</strong> Einführung des<br />

Buddhismus in Tibet wurden ferner religiöse und kulturelle Beziehungen<br />

mit Indien eingeleitet.<br />

Im Jahre 710 n. Chr. gab <strong>der</strong> chinesische Kaiser Shou­Li dem<br />

tibetischen König Tride Tsugtsen (697–755 n. Chr.) die chinesische<br />

Prinzessin Chin­Cheng Kung Chu zur Frau. Er hoffte, dass<br />

durch diese Heirat die Beziehungen zwischen Tibet und China<br />

61 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 62


sich entspannen und die Grenzkriege <strong>auf</strong>hören würden. Seine<br />

Hoffnung erfüllte sich nicht.<br />

Die Weigerung des chinesischen Kaisers, den jährlichen Tribut<br />

von 50 000 Rollen Seide zu entrichten, verschlechterte die Beziehungen<br />

zwischen Tibet und China zusehends, so dass <strong>der</strong> tibetische<br />

König Trisong Detsen (742–797 n. Chr.) seine Streitkräfte<br />

gegen China aussenden musste. Mit dem Einfall <strong>der</strong> tibetischen<br />

Armee in Gansu und Shanxi sowie ihrer Eroberung <strong>der</strong> damaligen<br />

kaiserlichen Hauptstadt Chang’an (heute Xi’an) nahm die Zeit des<br />

Friedens zwischen Tibet und China ein vorläufiges Ende. Nach <strong>der</strong><br />

<strong>Flucht</strong> des Kaisers aus seiner Hauptstadt setzten die <strong>Tibeter</strong> einen<br />

Bru<strong>der</strong> <strong>der</strong> chinesischen Prinzessin Ching­Cheng Kung Chu als<br />

Kaiser ein. Dieser wählte den tibetischen Namen Tashi als neuen<br />

Titel seiner Herrschaft. Der neue Kaiser, dessen Herrschaft jedoch<br />

nicht lange währte, stellte ein Bürgschaftsschreiben aus, worin<br />

China verpflichtet wurde, den jährlichen Tribut von 50 000 Rollen<br />

Seide zu entrichten. Dieses Ereignis wurde mit Inschriften <strong>auf</strong> einer<br />

Steinsäule, dem Schol­Doring, in Lhasa festgehalten. Unter<br />

<strong>der</strong> Herrschaft des Königs Trisong Detsen erreichte Tibet den Höhepunkt<br />

seiner politischen und militärischen Macht.<br />

Als <strong>der</strong> Buddhismus im siebten Jahrhun<strong>der</strong>t Tibet erreichte,<br />

stellte er eine ausländische Neuerung dar, die von <strong>der</strong> Königsfamilie<br />

und von ein paar Adelsfamilien <strong>auf</strong>genommen wurde. Von<br />

den zahlreichen Anhängern <strong>der</strong> alten animistischen Bön­Religion<br />

wurde er jedoch ignoriert o<strong>der</strong> gar abgelehnt. Erst in den letzten<br />

Jahrzehnten des achten Jahrhun<strong>der</strong>ts konnte sich die neue<br />

Religion in Tibet durchsetzen. Während dieser Periode wurden<br />

<strong>Tibeter</strong> als buddhistische Mönche ordiniert, und im Jahre 779 n.<br />

Chr. wurde das erste tibetische Kloster, Samye, gegründet. Danach<br />

breitete sich <strong>der</strong> Buddhismus rasch aus, und ausgangs des<br />

achten Jahrhun<strong>der</strong>ts hatten tibetische Geistliche die höchsten<br />

Stellen in <strong>der</strong> Verwaltung inne. Die bedeutendsten Wegbereiter<br />

<strong>der</strong> Verbreitung des Buddhismus in Tibet waren ausser dem bereits<br />

erwähnten tibetischen König Trisong Detsen <strong>der</strong> tantrische<br />

indische Meister Padmasambhava sowie die indischen Gelehrten<br />

Shantarakshita und Kamalashila. Padmasambhava war über­<br />

dies <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> ersten Schulrichtung des tibetischen<br />

Buddhismus, <strong>der</strong> Nyingmapa­Schule.<br />

Die ersten historisch dokumentierten sozialen Reformen<br />

wurden von dem tibetischen König Muni Tsenpo (Regierungszeit<br />

797–804 n. Chr.) durchgeführt. In seinem Bemühen, die grosse<br />

Ungleichheit zwischen Reichen und Armen zu verringern, setzte<br />

er mehrere Landreformen durch. Doch seine Bemühungen scheiterten.<br />

Nach seiner Thronbesteigung sandte <strong>der</strong> 40. König Tibets,<br />

Ngadhak Tri Ralpachen (815–836 n. Chr.), grosse Verbände tibetischer<br />

Streitkräfte an die Grenze zu China. Durch die Vermittlung<br />

buddhistischer Mönche aus Tibet und China wurde hin­<br />

gegen im Jahre 821 n. Chr. ein Friedensabkommen zwischen den<br />

beiden Län<strong>der</strong>n abgeschlossen. Der Text dieses Vertrages wurde<br />

<strong>auf</strong> drei Steinsäulen festgehalten. Eine Steinsäule wurde vor dem<br />

Tor des kaiserlichen Palastes in Chang’an und eine an<strong>der</strong>e an <strong>der</strong><br />

Grenze zwischen Tibet und China <strong>auf</strong> dem Berg Gugu Meru errichtet.<br />

Die dritte Steinsäule wurde zwei Jahre später vor dem<br />

Haupteingang von Dschökhang, dem tibetisch­buddhistischen<br />

Haupttempel in Lhasa, <strong>der</strong> Hauptstadt Tibets, <strong>auf</strong>gestellt.<br />

Die letzten Jahre des tibetischen Königtums wurden bestimmt<br />

durch die Verfolgung und Unterdrückung <strong>der</strong> buddhistischen<br />

Religion, denn <strong>der</strong> letzte tibetische König, Lang Darma,<br />

war ein Anhänger <strong>der</strong> einheimischen Bön­Religion. Lang Darma<br />

missbilligte die grosszügige För<strong>der</strong>ung des Buddhismus durch<br />

seinen Halbbru<strong>der</strong> Ngadhak Tri Ralpachen und bestieg nach<br />

dessen Ermordung durch zwei Minister 836 n. Chr. den Thron.<br />

Nach sechsjähriger Herrschaft fiel er 842 n. Chr. dem Mordanschlag<br />

eines buddhistischen Mönches zum Opfer. Mit seiner Ermordung<br />

zerfiel das tibetische Grossreich. Die Tang­Dynastie,<br />

die den Zerfall des tibetischen Reiches um eine Generation überdauerte,<br />

gewann in dieser Zeitspanne die meisten <strong>der</strong> von den<br />

<strong>Tibeter</strong>n eroberten Gebiete zurück.<br />

Nach dem Ende <strong>der</strong> Tang­Dynastie im Jahre 907 n. Chr.<br />

spalteten sich sowohl das chinesische als auch das tibetische<br />

Reich in unzählige kleine Fürstentümer ohne mächtige Zentral­<br />

63 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 64


egierung <strong>auf</strong>. Damit bestand nun keine gegenseitige Bedrohung<br />

mehr.<br />

Während <strong>der</strong> Regierungszeit und nach dem gewaltsamen<br />

Tod Lang Darmas setzte ein dunkles Zeitalter für den tibetischen<br />

Buddhismus ein. Erst nach <strong>der</strong> Ankunft des bedeutenden indischen<br />

Gelehrten Atisha (980–1055) im Jahre 1042 in Westtibet<br />

begann <strong>der</strong> Buddhismus sich wie<strong>der</strong> zu verbreiten. Atisha war<br />

von dem westtibetischen König Lha Lama Yeshe Oed nach Tibet<br />

eingeladen worden, um dort die buddhistische Lehre wie<strong>der</strong>zubeleben.<br />

Von Westen her breitete sich Atishas Lehrtätigkeit nach<br />

Zentraltibet aus. Unter seinem Einfluss begünstigten die herrschenden<br />

Adligen überall im Land das Wie<strong>der</strong>erwachen des Buddhis<br />

mus, und im gleichen Masse, wie er sich entfaltete, wuchs<br />

auch die politische Bedeutung religiöser Führer.<br />

Tibet und die mongolische Yuan-Dynastie<br />

Die Beziehungen zwischen Tibet und China wurden nach längerer<br />

Unterbrechung indirekt durch die Mongolen wie<strong>der</strong>hergestellt.<br />

Bereits im Jahre 1207 suchte eine tibetische Abordnung<br />

den mongolischen Führer Dschingis Khan (1162–1227) <strong>auf</strong> und<br />

bot ihm zur Vermeidung einer mongolischen Invasion Tibets die<br />

formelle Unterwerfung unter die mongolische Oberherrschaft<br />

an. Tibet wurde dar<strong>auf</strong> tributpflichtig und blieb von einer mongolischen<br />

Invasion verschont.<br />

Erst im Jahre 1247, nach rund 400 Jahren politischer Uneinigkeit<br />

und Zersplitterung, wurde Tibet wie<strong>der</strong> geeint unter den<br />

Sakya­Lamas, einer Linie von 20 Lama­Königen, die von 1249 bis<br />

1358 die politische und religiöse Herrschaft über Tibet mit <strong>der</strong><br />

Unterstützung <strong>der</strong> Mongolen <strong>auf</strong>rechterhielten. 1244 wurde <strong>der</strong><br />

bedeutendste Lama seiner Zeit und Abt des Sakya Klosters, Kunga<br />

Gyaltsen (1162–1251), <strong>der</strong> wegen seiner Gelehrsamkeit auch<br />

Sakya­Pandita genannt wird, vom mongolischen Prinzen Godan<br />

Khan, einem Enkelsohn von Dschingis Khan, in die Mongolei<br />

eingeladen. 1249 machte Godan den Sakya­Pandita zum Vizekönig<br />

von Tibet. Damit übernahmen die Mongolen erstmals die administrative<br />

Oberherrschaft über Tibet und begründeten den<br />

weltlichen Supremat einer geistlichen Persönlichkeit. Der Neffe<br />

von Sakya­Pandita, Sakya Drogön Phakpa (1235–1280), wurde<br />

1253 von Kublai Khan (1216–1295), dem neuen mongolischen<br />

Herrscher und Bru<strong>der</strong> Godans, zum weltlichen Herrscher über<br />

Tibet erhoben. Dies war <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> Hierokratie in Tibet, <strong>der</strong><br />

Verschmelzung von Staat und Religion in <strong>der</strong> Person des Lama­<br />

Herrschers. Im Jahre 1279 gründete Kublai Khan die mongolische<br />

Yuan­Dynastie. Als erster Mongolen­Kaiser Chinas ernannte<br />

er Sakya Drogön Phakpa zu seinem kaiserlichen Lehrer.<br />

Es ist unbestritten, dass während <strong>der</strong> Yuan­Dynastie das bis<br />

anhin unabhängige Tibet in ein wachsendes Abhängigkeitsverhältnis<br />

zum mongolischen Reich geriet. Zu dieser Zeit standen<br />

sowohl China als auch Tibet unter mongolischer Oberherrschaft.<br />

Als nach <strong>der</strong> Verlegung <strong>der</strong> mongolischen Hauptstadt von Karakorum<br />

nach Peking im Jahre 1264 und <strong>der</strong> Begründung <strong>der</strong><br />

Yuan­Dynastie ein kaiserliches Amt für buddhistische Ange­<br />

legenheiten geschaffen und Tibet unter dessen Administration<br />

gesetzt wurde, begann sich die Tendenz, Tibet als einen administrativen<br />

Teil Chinas zu betrachten, durchzusetzen.<br />

Umstritten ist dagegen die Ansicht, dass es sich bei <strong>der</strong> Oberherrschaft<br />

<strong>der</strong> Yuan­Dynastie über Tibet um eine mongolischchinesische<br />

Oberherrschaft gehandelt habe. Gemäss Auffassungen<br />

tibetischer und westlicher Historiker wurde in <strong>der</strong> Beziehung<br />

zwischen dem Oberhaupt Tibets und dem mongolischen Kaiser<br />

eine gegenseitige Hochachtung ausgedrückt, die <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Anerkennung<br />

<strong>der</strong> Unabhängigkeit Tibets beruhte. Der Rechtsgelehrte<br />

van Walt van Praag vertritt beispielsweise die Meinung, dass<br />

die tibetisch­mongolischen Beziehungen ein Ausdruck rassenspezifischer,<br />

kultureller und vor allem religiöser Affinität zwischen<br />

den beiden Völkern waren, die sie klar von den Chinesen<br />

unterschieden. Von den <strong>Tibeter</strong>n wurde dieses Verhältnis als<br />

Schutzherr- und Priester-Verhältnis beschrieben, das zwischen<br />

dem obersten Lama­Herrscher Tibets und dem Kaiser Chinas<br />

bestanden hat. Der oberste Lama­Herrscher wurde gleichzeitig<br />

als geistlicher Ratgeber des Kaisers angesehen.<br />

Der Kaiser seinerseits hatte die Funktion des Schutzpatrons<br />

65 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 66


über Tibet inne. Dieses spezifische Verhältnis zwischen Tibet<br />

und China blieb auch nach dem Ende <strong>der</strong> Yuan­Dynastie bestehen<br />

und setzte sich fort in den Beziehungen zwischen den Dalai<br />

Lamas von Tibet und den Mandschu­Kaisern von China. Die chinesische<br />

Version bestreitet jedoch, dass nur eine formale Beziehung<br />

zwischen dem Kaiser und dem Dalai Lama bestanden<br />

habe.<br />

Tibet und die chinesische Ming-Dynastie<br />

Die chinesischen Ming­Kaiser hatten wenig Kontakt mit Tibet,<br />

da sie mit den eindringenden Mongolen beschäftigt waren. Bereits<br />

vor <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Ming­Dynastie (1368–1644) erlangte<br />

Tibet seine Unabhängigkeit wie<strong>der</strong>. Der tibetische Fürst Changchub<br />

Gyaltsen (1302–1364), <strong>der</strong> erste von elf Herrschern <strong>der</strong> adligen<br />

Phagmo­Drupa­Familie, die von 1358 bis 1436 über Tibet<br />

herrschte, setzte sich 1350 als Herrscher über ein erneut vereintes<br />

und zentralisiertes Tibet ein. Er war Führer einer nationalen<br />

Erneuerungsbewegung und Reformer. Er reorganisierte die Administration<br />

Tibets und teilte das Land in eine Anzahl Dzongs<br />

ein. Unter seinen Anhängern ernannte er Distriktsverwalter. Er<br />

liess Strassen, Brücken und Herbergen an den Pilgerwegen bauen.<br />

Changchub Gyaltsen verfasste zudem einen Kodex von dreizehn<br />

Regeln für die Prozessordnung und Bestrafung <strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />

Grundlage einer zeitgemässen Zusammenfassung <strong>der</strong> sechzehn<br />

moralischen Verhaltensregeln, die <strong>der</strong> tibetische König Songtsen<br />

Gampo im siebten Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>auf</strong>gestellt hatte. Dadurch verlieh<br />

er dem Kodex eine historisch­ideologische Legitimation.<br />

Ausserdem verteilte er das Land in gleichem Masse unter die<br />

Bauern und legte eine Steuerabgabe von einem Sechstel des Ernte­Ertrages<br />

fest. Er und die Nachfolger seiner Linie wussten für<br />

ihre Herrschaft die Beziehung zu den Mongolen geschickt auszunutzen.<br />

Richardson zieht daraus den Schluss, dass <strong>der</strong> Anspruch<br />

«gewisser chinesischer Autoren» nach einer ununterbrochenen<br />

Unterwerfung Tibets unter die chinesische Herrschaft seit <strong>der</strong><br />

Yuan­Dynastie nicht gerechtfertigt sei.<br />

Wegen innerer Uneinigkeit verlor die Phagmo­Drupa­Fami­<br />

lie um die Mitte des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts ihre Macht an die Rinpung­<br />

Familie, die von <strong>der</strong> einflussreichen Karmapa­Schule des tibetischen<br />

Buddhismus unterstützt wurde. Die nächsten 130 Jahre<br />

wurde Tibet von vier Generationen dieser Herrscherfamilie regiert.<br />

Auch die Könige von Tsang, die 1566 <strong>auf</strong> die Ringpung­<br />

Familie folgten, stützten ihre Macht <strong>auf</strong> den Einfluss <strong>der</strong> Hierarchien<br />

<strong>der</strong> Karmapas. Während <strong>der</strong> 76 Jahre ihrer Regierungszeit<br />

för<strong>der</strong>ten und beschützten sie daher beson<strong>der</strong>s die Karmapa­<br />

Schule.<br />

Das Konzept <strong>der</strong> Reinkarnation<br />

Der Einfluss <strong>der</strong> Karmapa­Schule des tibetischen Buddhismus<br />

hatte eine grosse Bedeutung für die weitere Entwicklung <strong>der</strong><br />

Klosterinstitutionen und des Regierungssystems Tibets. Denn<br />

mit <strong>der</strong> Auffindung <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>verkörperung des zweiten Karmapa,<br />

Karma Pakshi (1204–1283), des Oberhauptes <strong>der</strong> Karmapa­<br />

Schule des tibetischen Buddhismus, wurde das religiöse Konzept<br />

<strong>der</strong> Reinkarnation eines religiösen Oberhauptes als leben<strong>der</strong><br />

Bodhisattva begründet. Die Einführung dieser Institution, <strong>der</strong><br />

Glaube an die lebende Inkarnation eines Bodhisattva, erwies<br />

sich nicht nur als eine Konzeption mit revolutionären religiösen<br />

Folgen, son<strong>der</strong>n war zugleich von entscheiden<strong>der</strong> institutioneller<br />

Bedeutsamkeit für die tibetische Staatsform.<br />

In einer buddhistisch durchdrungenen, von <strong>der</strong> Vorstellung<br />

<strong>der</strong> Inkarnation geleiteten Gesellschaft fand die Herrschaft<br />

durch biologische Erbfolge keine religiöse Zustimmung mehr. So<br />

war es dieses buddhistische Konzept, das die Übertragung <strong>der</strong><br />

weltlichen Herrschaftsmacht <strong>auf</strong> die führende Körperschaft <strong>der</strong><br />

Mönche ermöglichte. Sie spielte die entscheidende Rolle bei <strong>der</strong><br />

Suche, Auswahl und Schulung <strong>der</strong> Inkarnationen, denen die<br />

weltliche und religiöse Herrschaft übertragen wurde. Dieses<br />

Konzept wurde als ein wichtiges Mittel für die Gewährleistung<br />

<strong>der</strong> spirituellen und politischen Kontinuität <strong>der</strong> Klosterinstitutionen<br />

angesehen.<br />

Ohne die klösterlichen Einrichtungen wäre die neue Staatsform<br />

völlig undenkbar gewesen. Die Hauptausrichtung <strong>der</strong> Klös­<br />

67 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 68


ter war zwar religiöser Natur, aber sie lieferten die grundlegende<br />

Ausbildung und die religiösen Konzeptionen, <strong>auf</strong> die sich die<br />

gesamte politische und soziale Ordnung Tibets stützte. Die<br />

Grundlage dieses religiös­politischen Systems wurde bereits im<br />

14. Jahrhun<strong>der</strong>t gelegt. Zu voller Entfaltung gelangte es jedoch<br />

erst im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t unter <strong>der</strong> Herrschaft des fünften Dalai<br />

Lama. Er institutionalisierte die Herrschaft durch Reinkarnation<br />

und errichtete das einzigartige Regierungssystem des Ganden­Phodrang,<br />

dessen Grundlage die Verschmelzung <strong>der</strong> religiösen<br />

und politischen Führung in <strong>der</strong> Person des Dalai Lama war.<br />

Die Herrschaft <strong>der</strong> Dalai Lamas und die Mandschu-<br />

Ching-Dynastie<br />

Von 1642 bis zur <strong>Flucht</strong> des 14. Dalai Lama im Jahre 1959 stand<br />

Tibet unter <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> Dalai Lamas. Um den Ursprung<br />

<strong>der</strong> Dalai Lamas zu ergründen, ist es jedoch notwendig, bis ins<br />

15. Jahrhun<strong>der</strong>t zurückzugehen, denn <strong>auf</strong> <strong>der</strong> politischen Bühne<br />

Tibets traten die Dalai Lamas erst verhältnismässig spät <strong>auf</strong>. Ihr<br />

Erscheinen hatten sie dem Reformator und Gelehrten Tsong<br />

Khapa (1357–1419) zu verdanken, dem Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> neuen Gelugpa­Schule<br />

des tibetischen Buddhismus.<br />

Tsong Khapas Ziel war eine Reform <strong>der</strong> mönchischen Disziplin,<br />

eine Rückkehr zu grösserer Strenge und Geistigkeit. Seine Reformbewegung<br />

fand grossen Anklang unter den <strong>Tibeter</strong>n und zog<br />

daher in steigendem Masse Anhänger an, einschliesslich einiger<br />

einflussreicher Adliger, so dass die Zahl <strong>der</strong> Mönche und die Macht<br />

dieser Schule ständig wuchsen. Er und seine Anhänger gründeten<br />

zahlreiche Klöster, <strong>der</strong>en bedeutendste sich zu angesehenen akademischen<br />

Bildungsstätten mit Fakultäten in verschiedenen Disziplinen<br />

<strong>der</strong> buddhistischen Erkenntnislehre entfalteten.<br />

Einer <strong>der</strong> führenden Schüler von Tsong Khapa war Gedün<br />

Truppa (1391–1474), <strong>der</strong> posthum den Titel des ersten Dalai Lama<br />

erhielt. Nach seinem Tod wurde die Wie<strong>der</strong>verkörperung seines<br />

Geistes in einem jungen Mönch namens Gedün Gyatso (1475–<br />

1542) anerkannt. Dieser erhielt ebenfalls einen Nachfolger,<br />

Sonam Gyatso (1543–1588), <strong>der</strong> als die dritte Inkarnation von<br />

Gedün Truppa anerkannt wurde. Sonam Gyatso, <strong>der</strong> ein glänzen<strong>der</strong><br />

Gelehrter und ein eifriger Missionar war, besuchte 1577<br />

<strong>auf</strong> Einladung des Mongolenherrschers Altan Khan die Mongolei.<br />

Er bekehrte Altan Khan und eine beträchtliche Anzahl seiner<br />

Gefolgsleute zum Buddhimus und schuf ein festes Fundament<br />

<strong>der</strong> buddhistischen Lehre im Lande. Altan Khan verlieh<br />

Sonam Gyatso den Titel «Tale» (Dalai), ein mongolischer Ausdruck,<br />

<strong>der</strong> «Ozean», bedeutet. Dieser Ehrentitel wurde später<br />

auch rückwirkend <strong>auf</strong> seine beiden Vorgänger angewandt. Der<br />

mongolisch­tibetische Titel «Dalai Lama», den nun alle Nachfolger<br />

von Gedün Truppa bis heute tragen, bedeutet «Lehrer, dessen<br />

Weisheit so gross und tief wie <strong>der</strong> Ozean ist».<br />

Die Beziehung zwischen dem mongolischen Herrscherhaus<br />

Altan Khans und <strong>der</strong> Gelugpa­Schule wurde noch dadurch vertieft,<br />

dass <strong>der</strong> Urenkel von Altan Khan, Yönten Gyatso (1589–<br />

1617), von den <strong>Tibeter</strong>n als <strong>der</strong> vierte Dalai Lama anerkannt<br />

wurde. Innerhalb kurzer Zeit erstreckte sich <strong>der</strong> Einfluss <strong>der</strong><br />

Gelugpa­Schule über fast alle miteinan<strong>der</strong> rivalisierenden Stämme<br />

<strong>der</strong> Mongolen. Diese Machtbasis war die Grundlage, <strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />

schliesslich die Oberherrschaft <strong>der</strong> Dalai Lamas in Tibet beruhen<br />

sollte.<br />

Die ersten vier Dalai Lamas wurden berühmt durch ihre Gelehrsamkeit<br />

und geistige Erleuchtung. Doch <strong>der</strong> fünfte Dalai<br />

Lama, Ngawang Lobsang Gyatso (1617–1682), auch «Der Grosse<br />

Fünfte» genannt, institutionalisierte die Herrschaft durch Reinkarnation,<br />

indem er mit Hilfe <strong>der</strong> Mongolen das einzigartige Regierungssystem<br />

des Ganden­Phodrang errichtete, dessen Grundlage<br />

die Verschmelzung <strong>der</strong> religiösen und politischen Führung<br />

in <strong>der</strong> Person des Dalai Lama war.<br />

Infolge <strong>der</strong> Unterdrückung <strong>der</strong> Gelugpa­Anhänger durch<br />

den Tsangpa­König Karma Tenkyong Wangpo (1605–1642) wandte<br />

sich <strong>der</strong> fünfte Dalai Lama an den mongolischen Fürsten<br />

Gushri Khan um Hilfe. Gushri Khan marschierte mit seiner Armee<br />

in Tibet ein, unterwarf die Fürsten Nordosttibets, besiegte<br />

den Tsangpa­König und beendete so dessen Herrschaft. Er machte<br />

die Gelugpa­Tradition zur Staatsreligion und erhob 1642 den<br />

69 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 70


fünften Dalai Lama zum obersten religiösen Herrscher über Tibet.<br />

Als Titularkönig von Tibet übernahm er selbst die Aufgabe<br />

<strong>der</strong> Landesverteidigung und den Schutz des Dalai Lama. Gushri<br />

Khan führte auch das Amt des «Dhi­si», des Regenten, ein, <strong>der</strong><br />

für alle politischen Angelegenheiten verantwortlich war. Nur in<br />

äusserst wichtigen Belangen hatte er mit dem Dalai Lama zu<br />

beraten. Die Darlegung chinesischer Historiker, wonach Gushri<br />

Khan zu jener Zeit ein Vasall <strong>der</strong> Mandschu gewesen sei und dadurch<br />

auch dem Dalai Lama <strong>der</strong>selbe Status zukäme, wird von<br />

verschiedenen westlichen Historikern als tendenziöse Verdrehung<br />

<strong>der</strong> historischen Tatsachen verurteilt.<br />

Der fünfte Dalai Lama erklärte Lhasa zur Hauptstadt Tibets<br />

und verkündete, dass die tibetische Regierung fortan «Ganden­Phodrang»<br />

heisse, nach dem Namen seines Palastes im Kloster<br />

Drepung. Die Regierungsgeschäfte wurden nach dem Tod<br />

von Gushri Khan im Jahre 1655 effektiv vom fünften Dalai Lama<br />

geführt. 1679 ernannte er Sangye Gyatso zum Dhi­si – das heisst<br />

zum Regenten. Dhi­si Sangye Gyatso verheimlichte den Tod des<br />

fünften Dalai Lama (gestorben 1682) fünfzehn Jahre lang, regierte<br />

bis 1705 und vollendete in dieser Zeit den Bau des Potala<br />

Palastes.<br />

Das einmalige Regierungssystem Tibets wurde durch die religiöse<br />

Autorität des Dalai Lama sanktioniert, die absolut war<br />

und <strong>auf</strong> seiner einzigartigen Stellung als höchster Inkarnation<br />

beruhte; eine Stellung, die we<strong>der</strong> von innen noch von aussen in<br />

Frage gestellt werden konnte. Während vieler Herrschaftsperioden<br />

<strong>der</strong> Dalai Lamas befand sich dennoch die tatsächliche Regierungsmacht<br />

in den Händen des Regenten, da die Dalai Lamas<br />

häufig noch min<strong>der</strong>jährig waren. Unter <strong>der</strong> Regentschaft verfiel<br />

jedoch oft die Regierungsautorität, und Intrigen und Korruption<br />

griffen um sich.<br />

Gegenüber an<strong>der</strong>en verfügbaren Formen <strong>der</strong> Nachfolge –<br />

wie etwa <strong>der</strong> monarchischen Erbfolge o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Auslese durch die<br />

adlige Oligarchie – besass die Herrschaft durch Inkarnation<br />

gros se Vorteile. Die sorgfältige Suche nach <strong>der</strong> Inkarnation durch<br />

speziell ausgewählte Mönchskommissionen verhin<strong>der</strong>te Ränke­<br />

spiele und Vetternwirtschaft mächtiger Familien o<strong>der</strong> adliger<br />

Usurpatoren ebenso wie die Inthronisation eines unfähigen Erben.<br />

Da die Auswahl <strong>der</strong> Inkarnation in den Händen <strong>der</strong> klösterlichen<br />

Führung lag, verblieb die eigentliche Macht zur Bestimmung<br />

<strong>der</strong> Nachfolge in den Händen <strong>der</strong> Geistlichkeit, die sich aus<br />

allen Schichten des Volkes rekrutierte.<br />

In diesem Zusammenhang ist es beson<strong>der</strong>s bezeichnend,<br />

dass mit Ausnahme des vierten Dalai Lama, <strong>der</strong> einer mongolischen<br />

Fürstenfamilie entstammte, und des fünften Dalai Lama,<br />

<strong>der</strong> aus einer tibetischen Adelsfamilie kam, alle an<strong>der</strong>en Dalai<br />

Lamas in einfachen, nichtadligen Familien gefunden wurden.<br />

Dadurch wurde die Institution des Dalai Lama von politisch einflussreichen<br />

Beziehungen freigehalten.<br />

Auch die Beziehungen Tibets zu den Mandschu­Kaisern lassen<br />

sich als ein «Priester­Patron­Verhältnis» charakterisieren.<br />

Das heisst, <strong>der</strong> höchste Lama­Herrscher Tibets wurde jeweils <strong>der</strong><br />

geistliche Berater des chinesischen Kaisers, <strong>der</strong> seinerseits die<br />

Herrschaft des Lama in Tibet schützte und sicherstellte.<br />

Der erste Mandschu­Kaiser in China, Shun­Chih (1644–1661),<br />

lud den fünften Dalai Lama nach China ein. Der Dalai Lama<br />

nahm seine Einladung an. Während seines Besuches in <strong>der</strong> kaiserlichen<br />

Hauptstadt im Jahre 1652 wurde er vom Kaiser, <strong>der</strong> ein<br />

gläubiger Buddhist war, mit grosser Verehrung und als ebenbürtiges<br />

Staatsoberhaupt empfangen. Bezüglich <strong>der</strong> Kontroverse<br />

um die Gewichtung dieses Besuches beurteilen westliche und tibetische<br />

Historiker diesen Besuch generell als den eines unabhängigen<br />

religiösen und weltlichen Herrschers.<br />

Mit dem Tod des fünften Dalai Lama im Jahre 1682 brach in<br />

Tibet wie<strong>der</strong> eine Zeit <strong>der</strong> inneren Unruhen aus, die schliesslich<br />

zur direkten Einflussnahme <strong>der</strong> Mandschu­Kaiser über Tibet<br />

führten. Der damalige mongolische Titularkönig von Tibet,<br />

Lhabzang Khan (1697–1717), versuchte, seinen Einfluss <strong>auf</strong> das<br />

tibetische Reich wie<strong>der</strong>herzustellen, indem er einerseits sich an<br />

den Mandschu­Kaiser K’ang Hsi (1662–1722) um Hilfe wandte.<br />

An <strong>der</strong>erseits setzte er 1706 gewaltsam den als Lebenskünstler<br />

und Poet von <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Dalai Lamas abfallenden, aber von<br />

71 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 72


den <strong>Tibeter</strong>n hochgeachteten sechsten Dalai Lama, Tsangyang<br />

Gyatso (1683–1746), ab und ernannte einen Mönch seiner Wahl<br />

zum Dalai Lama. Sein Vorgehen entfachte grossen Zorn unter<br />

den <strong>Tibeter</strong>n, und seine Absicht scheiterte infolge dieser verfehlten<br />

Einmischung in religiöse Angelegenheiten Tibets. Im Jahre<br />

1717 überfielen die Dzungar­Mongolen Tibet, töteten Lhabzang<br />

Khan und setzten den von ihm ernannten Dalai Lama ab. Sie<br />

konnten sich jedoch nicht in den Besitz des 1708 in Lithang (Osttibet)<br />

geborenen Kindes bringen, das von den <strong>Tibeter</strong>n als ihr<br />

neuer Dalai Lama angesehen wurde. Der Mandschu­Kaiser<br />

K’ang­Hsi kam ihnen zuvor und bemächtigte sich selber des Kindes<br />

durch einen Glücksfall. Als im Jahre 1720 <strong>der</strong> siebte Dalai<br />

Lama, Kesang Gyatso (1708–1757), von Kumbum (Nordosttibet)<br />

aus die Reise nach Lhasa antrat, sandte <strong>der</strong> Mandschu­Kaiser zu<br />

seinem Schutz 4000 Soldaten mit ihm nach Lhasa. Dadurch gewann<br />

er das Wohlwollen <strong>der</strong> tibetischen Bevölkerung. Unterdessen<br />

wurden die Dzungar­Mongolen von einer tibetischen Armee<br />

unter <strong>der</strong> Führung von Miwang Pholha Sonam Tobgyal (1689–<br />

1747) und Khangchennas aus Tibet vertrieben. Auch die Nachricht<br />

von den Mandschu­Soldaten, die den siebten Dalai Lama<br />

nach Lhasa begleiteten, war mit ein Grund für den Abzug <strong>der</strong><br />

Dzungar­Mongolen aus Tibet.<br />

Dank den Wirren und internen Zwistigkeiten jener Zeit in<br />

Tibet und durch die Entsendung von Soldaten nach Lhasa als<br />

Begleitschutz des siebten Dalai Lama gelang es dem Mandschu­<br />

Kaiser K’ang­Hsi, in Tibet Fuss zu fassen. Um den Einfluss <strong>der</strong><br />

Mandschus in Tibet zu erhalten, ernannte sein Sohn, <strong>der</strong> Mandschu­Kaiser<br />

Yung­Cheng, im Jahre 1728 zum erstenmal zwei zivile<br />

Repräsentanten des Kaisers – bekannt als Ambane –, mit<br />

einer Garnison unter einem Militärkommandanten in Lhasa.<br />

Die Aufgabe <strong>der</strong> beiden Ambane bestand zunächst nur darin, als<br />

neutrale Beobachter die tibetische Regierung zu beraten.<br />

Richardson beschreibt ihre Rolle wie folgt: «In <strong>der</strong> Praxis waren<br />

sie kaum mehr als Beobachter mit <strong>der</strong> Aufgabe, über die Geschehnisse<br />

in Lhasa nach Peking zu berichten. Es war nicht ihre<br />

Aufgabe, aktiv Anteil an <strong>der</strong> Regierung Tibets zu nehmen.»<br />

Mit <strong>der</strong> Zeit begannen die Mandschus allerdings ihren Einfluss<br />

in <strong>der</strong> tibetischen Regierung auszudehnen. Eine Stärkung<br />

ihrer Position in Tibet erfolgte nach zwei Einfällen <strong>der</strong> nepalesischen<br />

Gurkhas in Tibet (1788 und 1792), die erst mit Hilfe <strong>der</strong><br />

kaiserlichen Truppen besiegt und aus Tibet vertrieben werden<br />

konnten. Die Mandschus, dies muss an dieser Stelle betont werden,<br />

mischten sich nur in die Aussenpolitik Tibets ein. In bezug<br />

<strong>auf</strong> die internen Angelegenheiten genoss die tibetische Regierung<br />

volle Handlungsfreiheit. Miwang Pholha, <strong>der</strong> eigentliche Herrscher<br />

über Tibet bis zu seinem Tod im Jahre 1747, verstand es<br />

vortrefflich, die Handlungsfreiheit <strong>der</strong> tibetischen Regierung<br />

auszubauen. «Durch seine Fähigkeit und seinen Takt in <strong>der</strong> Behandlung<br />

<strong>der</strong> Mandschus schränkte er <strong>der</strong>en Oberherrschaft <strong>auf</strong><br />

eine blosse Formalität ein.» Die Verwaltungsautorität <strong>der</strong> tibetischen<br />

Regierung reichte von Westtibet bis zum oberen Yangtse­<br />

Fluss.<br />

Tibet wurde damals zu einem Protektorat <strong>der</strong> Mandschu­<br />

Kaiser unter tibetischer Verwaltung. Das Protektorat wurde<br />

ohne tibetische Opposition errichtet. Es gab we<strong>der</strong> einen Vertrag<br />

noch Notenwechsel. Richardson weist dar<strong>auf</strong> hin, dass die Oberherrschaft<br />

<strong>der</strong> Mandschu­Kaiser über Tibet nicht durch die Eroberung<br />

Tibets zustande kam, «son<strong>der</strong>n durch eine geschickte<br />

Anpassungspolitik, und dass es auch diesmal ein nichtchinesischer<br />

Kaiser Chinas war, <strong>der</strong> die Verbindung mit Tibet hergestellt<br />

hatte».<br />

Angesichts <strong>der</strong> zunehmend schwächeren Position Chinas als<br />

Halbkolonie nach dem ersten Opiumkrieg (1840/1842) vermochten<br />

die Mandschu­Kaiser in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

ihrer Protektoratspflicht gegenüber Tibet kaum mehr<br />

nachzukommen. Es ist unbestritten, dass ab Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

bis Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts die wirkliche Macht in<br />

Tibet von <strong>der</strong> tibetischen Regierung unter <strong>der</strong> Führung des Dalai<br />

Lama ausgeübt wurde.<br />

73 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 74


Tibet und Grossbritannien<br />

Die politische Lage Tibets än<strong>der</strong>te sich nach <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>twende<br />

grundlegend. Die Regierung Grossbritanniens in Indien<br />

zeigte nach ihrer Kontrollergreifung in Indien, Sikkim, Kashmir,<br />

Bhutan und Nepal um 1850 ein wachsendes Interesse für<br />

Tibet. Grossbritanniens, aber auch Chinas Politik gegenüber Tibet<br />

beruhte <strong>auf</strong> expansionistischen Überlegungen. Sie war nicht<br />

die Auslegung realer Verhältnisse. Da Tibet ein stark religiös orientiertes<br />

Land war, begrenzte es seine externen Beziehungen<br />

<strong>auf</strong> das Minimum. Auch die geographische Lage trug dazu bei.<br />

Diese Isolation Tibets wurde von den Mandschus im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

ausgenützt, indem sie die Oberherrschaft über Tibet beanspruchten.<br />

Nach aussen hin gaben sie vor, China vertrete Tibet<br />

in aussenpolitischen Angelegenheiten. Diese <strong>der</strong> historischen<br />

Realität nicht entsprechende Behauptung Chinas verwirrte die<br />

übrige Welt. So wusste Grossbritannien im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht<br />

richtig, mit wem es in Angelegenheiten von Handelsbeziehungen<br />

und Grenzregelungen betreffend Tibet zu verhandeln habe. Um<br />

den wirklichen Status Tibets feststellen zu können, ersuchte<br />

Grossbritannien 1878 die Mandschu­Regierung um die Erlaubnis<br />

für die Entsendung einer britischen Forschungsexpedition nach<br />

Tibet. Die Mandschu­Regierung willigte ein, aber die tibetische<br />

Regierung verbot <strong>der</strong> Expedition das Betreten tibetischen Bodens.<br />

China war dagegen machtlos. 1890 verhandelte Grossbritannien<br />

mit <strong>der</strong> Mandschu­Regierung Chinas über die Grenze<br />

zwischen Fiber und Sikkim, das damals britisches Protektorat<br />

war. Die tibetische Regierung weigerte sich, dieses Abkommen<br />

anzuerkennen, mit <strong>der</strong> Begründung, Verträge mit China seien<br />

über Tibet nicht verbindlich. China war wie<strong>der</strong>um hilflos. Die<br />

britische Regierung in Indien erkannte zunehmend den schwindenden<br />

Einfluss <strong>der</strong> Mandschu­Regierung in Tibet. Verärgert<br />

über diesen Zustand, schrieb 1903 <strong>der</strong> damalige Vizekönig von<br />

Indien, Lord Curzon, an den britischen Staatssekretär, dass die<br />

«chinesische Suzeränität über Tibet eine verfassungsmässige<br />

Affektiertheit und eine politische Mythe gegenseitiger Bequemlichkeit<br />

bei<strong>der</strong> Parteien» sei.<br />

Grossbritannien war ausserdem über die Entwicklung<br />

freund schaftlicher Beziehungen zwischen Tibet und Russland<br />

besorgt. Um mit <strong>der</strong> tibetischen Regierung in Lhasa direkt Kontakt<br />

<strong>auf</strong>zunehmen, sandte Grossbritannien 1903 eine Militärexpedition<br />

unter dem Kommando von Oberst Francis Younghusband<br />

nach Tibet. Die schlecht ausgerüstete tibetische Armee<br />

wurde von den Briten besiegt, und diese marschierten in Lhasa<br />

ein. Im folgenden Jahr unterzeichneten Tibet und Grossbritannien<br />

die sogenannte «Lhasa­Konvention von 1904», in <strong>der</strong> sich<br />

Tibet unter an<strong>der</strong>em verpflichtete, ohne vorherige Zustimmung<br />

<strong>der</strong> britischen Regierung keine Zugeständnisse territorialer<br />

o<strong>der</strong> politischer Art an ausländische Mächte zu machen. Diese<br />

Konvention zwischen Tibet und Grossbritannien ohne Beteiligung<br />

<strong>der</strong> Mandschu­Regierung Chinas bedeutete vom völkerrechtlichem<br />

Standpunkt aus die Anerkennung <strong>der</strong> Souveränität<br />

Tibets durch die britische wie auch die chinesische Regierung.<br />

Sie wurde jedoch durch zwei weitere Verträge, die 1906 mit<br />

China und 1907 mit Russland ohne tibetische Beteiligung abgeschlossen<br />

wurden, zugunsten einer Anerkennung <strong>der</strong> chinesischen<br />

Suzeränität (Oberhoheit) über Tibet durch Gross britannien<br />

revidiert. Der englisch­chinesische Vertrag von 1906 hielt<br />

fest, dass China nicht als «ausländische Macht» gelten sollte.<br />

Ohne die betreffenden Län<strong>der</strong> zu konsultieren o<strong>der</strong> zu beteiligten,<br />

einigten sich Grossbritannien und Russland in ihrem bilateralen<br />

Vertrag von 1907, mit Tibet nur durch China und mit<br />

Afghanistan sowie Iran nur durch Grossbritannien zu verhandeln.<br />

Mit <strong>der</strong> Begründung, sie seien über diesen Vertragsabschluss<br />

nicht informiert und nicht konsultiert worden, lehnten<br />

es die drei genannten Län<strong>der</strong> hingegen ab, dieses Abkommen zu<br />

akzeptieren.<br />

Die Mandschu­Regierung versuchte, ihren Souveränitätsanspruch<br />

<strong>auf</strong> Tibet nicht nur <strong>auf</strong> dem Verhandlungsweg, son<strong>der</strong>n<br />

ebenso mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Dies führte<br />

1910 zur Einnahme Lhasas durch chinesische Truppen und zur<br />

<strong>Flucht</strong> des 13. Dalai Lama, Thubten Gyatso (1876–1933), nach<br />

Indien. Mit dem Sturz <strong>der</strong> Mandschu­Dynastie und <strong>der</strong> Errich­<br />

75 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 76


tung <strong>der</strong> chinesischen Republik im Jahre 1912 wandelte sich die<br />

politische Situation Tibets allerdings radikal.<br />

Tibet und die nationalchinesische Republik<br />

1911 wurde die Mandschu­Ch’ing­Dynastie von den Nationalchinesen<br />

unter <strong>der</strong> Führung von Dr. Sun Yatsen (1866–1925) gestürzt.<br />

1912 wurde die Republik ausgerufen, und Yuan Shik­K’ai<br />

(1859–1916) wurde Chinas erster Präsident. Noch im gleichen<br />

Jahr (1911) vertrieben die <strong>Tibeter</strong> die chinesischen Soldaten aus<br />

Tibet, und die zwei Ambane, die Repräsentanten des Mandschu­<br />

Kaisers, wurden aus Tibet über Indien nach China ausgewiesen.<br />

Damit fiel die Oberherrschaft <strong>der</strong> Mandschus über Tibet endgültig<br />

dahin. Es ist hier anzumerken, dass die Chinesen die Mandschus,<br />

die China während 200 Jahren beherrscht hatten, als<br />

fremde Eindringlinge betrachtet und in diesem Sinn vertrieben<br />

haben. Ungeachtet dieser historischen Tatsachen erhob <strong>der</strong> Präsident<br />

<strong>der</strong> nationalchinesischen Republik, Yuan Shik­K’ai, am<br />

12. April 1912 in bekannter Manier den Anspruch, dass Tibet als<br />

chinesische Provinz nach wie vor ein integraler Bestandteil Chinas<br />

sei. Der chinesische Standpunkt drückte sich bereits in <strong>der</strong><br />

ersten Verfassung <strong>der</strong> Republik China von 1912 aus. Gemäss Artikel<br />

3 dieser Verfassung wurde Tibet zwar nicht als Provinz,<br />

aber dennoch zur chinesischen Republik gezählt.<br />

Kurz nach seiner Rückkehr aus dem indischen <strong>Exil</strong> nach<br />

Lhasa verkündete <strong>der</strong> 13. Dalai Lama im Jahre 1913 die Unabhängigkeit<br />

Tibets. 1914 fand die Dreierkonferenz von Simla zwischen<br />

den gleichberechtigten Bevollmächtigten Grossbritanniens,<br />

Sir Henry McMahon, Tibets, Lönchen Shatra, und Chinas,<br />

Ivan Chen, statt. Die «Simla­Konferenz» war <strong>der</strong> erste ernsthafte<br />

Versuch im Sinne des heutigen Völkerrechts, die sino­tibetischen<br />

Differenzen zu bereinigen und die Grenze Tibets festzulegen.<br />

Sie erzielte jedoch keine konkrete Lösung in dieser Frage.<br />

An <strong>der</strong> «Simla­Konvention» wurde China die Suzeränität über<br />

ganz Tibet zugesprochen, aber China hätte sich verpflichten sollen,<br />

Tibet nicht als chinesische Provinz zu annektieren. Da die<br />

Simla­Konvention von China wegen <strong>der</strong> zweitgenannten Klausel<br />

nicht ratifiziert wurde, unterzeichneten Grossbritannien und Tibet<br />

einen separaten Vertrag. In diesem wurde unter an<strong>der</strong>em<br />

festgehalten, dass Chinas Rechte über Tibet erst bei einer Ratifizierung<br />

<strong>der</strong> Simla­Konvention durch die chinesische Regierung<br />

in Kraft treten würden. China betrachtet heute wie damals das<br />

britisch­tibetische Abkommen als ungültig. Eine Stellungnahme<br />

<strong>der</strong> indischen Regierung aus dem Jahre 1960 zuhanden <strong>der</strong> chinesischen<br />

Regierung weist eindeutig dar<strong>auf</strong> hin, dass China damals<br />

Tibet als gleichberechtigten Verhandlungspartner anerkannt<br />

habe.<br />

1918 brach wie<strong>der</strong> ein Grenzkrieg zwischen Tibet und China<br />

aus. Auf Ersuchen <strong>der</strong> chinesischen Regierung bat Grossbritannien<br />

die tibetische Regierung um ihr Einverständnis für die Entsendung<br />

des damaligen britischen Konsuls in Chengtu, Sir Eric<br />

Teichmann, als Vermittler zwischen Tibet und China nach Osttibet.<br />

Die tibetische Regierung hatte dagegen keine Einwände.<br />

Durch die Vermittlung Teichmanns kam es im August 1918 zur<br />

Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens zwischen<br />

den Bevollmächtigten bei<strong>der</strong> Län<strong>der</strong>. In diesem Abkommen wurde<br />

ferner als provisorische sino­tibetische Grenze die Linie längs<br />

dem oberen Yangtse­Fluss angenommen.<br />

Auf chinesischer Seite fehlte es nicht an Versuchen, den Einfluss<br />

<strong>auf</strong> Tibet geltend zu machen. So versuchte die chinesische<br />

Regierung mehrmals, chinesische Repräsentanten nach Lhasa<br />

zu entsenden. Ihnen wurde jedoch von den <strong>Tibeter</strong>n stets die Einreise<br />

verweigert. Desgleichen versicherte 1927 Chiang Kai­shek<br />

dem 13. Dalai Lama in einem Schreiben, China werde Tibet in<br />

jeglicher Beziehung unterstützen, vorausgesetzt, <strong>der</strong> Dalai Lama<br />

akzeptiere Chinas Suzeränität über Tibet. In seinem Ant wortschreiben<br />

erklärte <strong>der</strong> Dalai Lama, er sei bereit, freundschaftliche<br />

Beziehungen zwischen den beiden Län<strong>der</strong>n <strong>auf</strong> rechtzu erhalten,<br />

es sei ihm hingegen unmöglich, seinerseits die chinesische<br />

Suzeränität über Tibet zu akzeptieren.<br />

Der 13. Dalai Lama war für den Eintritt Tibets in die internationalen<br />

Beziehungen verantwortlich. Verschiedene internati­<br />

77 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 78


onale Abkommen mit Grossbritannien, <strong>der</strong> Mongolei und China<br />

wurden ferner abgeschlossen. Von 1912 bis zur gewaltsamen Einverleibung<br />

Tibets in die Volksrepublik China 1949/50 war Tibet<br />

somit de jure wie auch de facto absolut unabhängig. Kurz vor<br />

seinem Tod ahnte <strong>der</strong> 13. Dalai Lama bereits die aus dem Osten<br />

drohende Gefahr, und in seinem politischen Testament warnte er<br />

die <strong>Tibeter</strong> vor diesen Gefahren und for<strong>der</strong>te sie <strong>auf</strong>, vorbeugende<br />

Massnahmen zu treffen. Lei<strong>der</strong> blieben seine prophetischen<br />

Warnungen ungehört.<br />

Tibet und die Volksrepublik China<br />

Gleich nach <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Volksrepublik China unter <strong>der</strong><br />

Führung von Mao Tsetung im Jahr 1949 wurde Tibet durch<br />

Truppen <strong>der</strong> Volksbefreiungsarmee gewaltsam besetzt. Tibet protestierte<br />

vergeblich bei den Vereinten Nationen gegen die chinesische<br />

Besetzung. Die völkerrechtswidrige Invasion und Annexion<br />

Tibets durch die Volksrepublik China fiel in die Regierungszeit<br />

des gegenwärtigen 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso. Im November<br />

1950 übertrug die tibetische Nationalversammlung die religiöse<br />

und politische Regierungsgewalt <strong>auf</strong> den erst 15 Jahre alten 14.<br />

Dalai Lama. Der junge Dalai Lama, von liberaler Gesinnung und<br />

allem Neuen gegenüber <strong>auf</strong>geschlossen, versuchte den Mo<strong>der</strong>nisierungsprozess,<br />

den sein Vorgänger begonnen hatte, fortzusetzen.<br />

Nachdem er sein Amt als Staatsoberhaupt Tibets angetreten<br />

hatte, tat er sein Möglichstes, um längst fällige Reformen durchzuführen.<br />

Er setzte zu diesem Zweck eine Reformkommission<br />

ein. Anfänglich konnte die Reformkommission eine Reihe von<br />

Massnahmen durchführen. Die chinesische Besatzungsmacht<br />

sabotierte jedoch die Beschlüsse und Vorschläge <strong>der</strong> Reformkommission<br />

und verurteilte diese damit bald zur Handlungsunfähigkeit.<br />

Um ein Blutbad zu vermeiden, bemühte sich <strong>der</strong> Dalai Lama<br />

um eine friedliche Beilegung <strong>der</strong> kriegerischen Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

zwischen seinem Volk und den eindringenden chinesischen<br />

Truppen. Eine tibetische Delegation unter <strong>der</strong> Leitung des Ministers<br />

Ngabo Ngawang Jigme wurde nach Peking entsandt. Die<br />

Verhandlungen glichen allem an<strong>der</strong>en als einem «völkerverbindendem»<br />

Dialog. Dass Tibet ein unabhängiger und souveräner<br />

Staat sei, wurde von <strong>der</strong> chinesischen Regierung überhaupt nicht<br />

akzeptiert. Ohne Rücksprache mit dem Dalai Lama und <strong>der</strong> tibetischen<br />

Regierung in Lhasa nehmen zu dürfen, musste 1951 die<br />

tibetische Delegation in Peking unter chinesischem Diktat das<br />

sogenannte «17­Punkte­Abkommen zur friedlichen Befreiung Tibets»<br />

unterzeichnen. Die tibetische Delegation weigerte sich,<br />

auch die Siegel <strong>der</strong> tibetischen Regierung anzubringen, ohne die<br />

das Abkommen ungültig war. Aber die Chinesen fälschten in Peking<br />

tibetische Siegel und zwangen die Delegation, mit diesen<br />

das Dokument zu beglaubigen. Dieser ungleiche Vertrag ging<br />

von <strong>der</strong> Voraussetzung aus, dass Tibet ein Teil von China sei.<br />

Zum erstenmal in <strong>der</strong> Geschichte Tibets übten die Chinesen nun<br />

volle Kontrolle über ganz Tibet aus.<br />

Bald danach begann die chinesische Besatzungsmacht – ungeachtet<br />

aller Vereinbarungen, die die chinesische Regierung im<br />

«17­Punkte­Abkommen» abgeschlossen hatte – ihre «Reformen»<br />

zuerst den <strong>Tibeter</strong>n in Kham (Osttibet) und Amdo (Nordosttibet),<br />

später den <strong>Tibeter</strong>n in Ütsang (Zentraltibet) <strong>auf</strong>zuzwingen.<br />

Ihre willkürlichen Handlungen und ihr intolerantes Verhalten<br />

stiessen mit <strong>der</strong> Zeit <strong>auf</strong>zunehmenden Wi<strong>der</strong>stand unter <strong>der</strong> tibetischen<br />

Bevölkerung. Von Kham her, wo die chinesische Besatzungsmacht<br />

Zwangsmassnahmen ergriffen hatte, um ihre «Reformen»<br />

durchzusetzen, breiteten sich <strong>der</strong> bewaffnete Wi<strong>der</strong>stand<br />

und Protestkundgebungen rasch über ganz Tibet aus. Schliesslich<br />

erreichte die tibetische Wi<strong>der</strong>standsbewegung im offenen<br />

Volks<strong>auf</strong>stand am 10. März 1959 in Lhasa ihren tragischen Höhepunkt.<br />

Dabei fanden nach offizieller chinesischer Angabe rund<br />

87 000 <strong>Tibeter</strong> den Tod. Am 28. März 1959 wurde die tibetische<br />

Regierung <strong>auf</strong>gelöst, und das «Vorbereitungskomitee des Autonomen<br />

Gebietes Tibet» wurde bevollmächtigt, Funktionen und<br />

Befugnisse <strong>der</strong> tibetischen Regierung zu übernehmen. Gleichzeitig<br />

wurde die tibetische Währung ab sofort für ungültig erklärt.<br />

Auf Drängen <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> musste <strong>der</strong> Dalai Lama – als einfacher<br />

Soldat verkleidet – am 17. März 1959 die tibetische Haupt­<br />

79 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 80


stadt unter grösster Geheimhaltung verlassen und nach Indien<br />

flüchten. Über 85 000 <strong>Tibeter</strong> folgten dem Dalai Lama ins <strong>Exil</strong>.<br />

Aus dem <strong>Exil</strong> in Indien richtete er mehrmals Hilferufe an die<br />

Weltöffentlichkeit und an die Vereinten Nationen. Die Internationale<br />

Juristenkommission beschuldigte in ihren beiden Gutachten<br />

von 1959 und 1960 über die Geschehnisse in Tibet seit <strong>der</strong><br />

chinesischen Besetzung die Volksrepublik China, in Tibet Akte<br />

des Völkermordes begangen zu haben mit dem Ziel, die tibetische<br />

Bevölkerung als religiöse Gruppe zu vernichten. Die Vollversammlung<br />

<strong>der</strong> Vereinten Nationen nahm dar<strong>auf</strong>hin im Herbst<br />

1959 eine unverbindliche Resolution an, in <strong>der</strong> sie das Vorgehen<br />

<strong>der</strong> chinesischen Besatzungsmacht in Tibet verurteilte und die<br />

chinesische Regierung <strong>auf</strong>for<strong>der</strong>te, die fundamentalen Menschenrechte,<br />

einschliesslich des Rechts <strong>auf</strong> Selbstbestimmung<br />

des tibetischen Volkes, zu respektieren. Diese Resolution, die<br />

1961 und 1965 wie<strong>der</strong>holt wurde, brachte jedoch für das tibetische<br />

Volk keine greifbaren Ergebnisse.<br />

Der völkerrechtliche Status Tibets<br />

Rechtslage: Gemäss internationalem Recht ist ein souveräner<br />

Staat dann existent, wenn sein Gebiet von seinem Volk und seiner<br />

Regierung effektiv kontrolliert wird und er in <strong>der</strong> Lage ist,<br />

internationale Beziehungen einzugehen.<br />

Territorium: Das historische, kulturelle und ethnische Gebiet<br />

Tibets erstreckt sich von <strong>der</strong> Mc­Mahon­Linie im Westen<br />

und Süden bis zu Kunlun und Altyn Tagh im Norden und Dhartse­dho<br />

(Tachien­lu) im Osten. Das ganze Gebiet umfasst rund<br />

zwei Millionen Quadratkilometer.<br />

Volk: Die sechs Millionen <strong>Tibeter</strong> bilden ethnisch, kulturell,<br />

sprachlich und geschichtlich ein eigenständiges Volk, das sich<br />

von seinen Nachbarvölkern eindeutig unterscheidet.<br />

Regierung: Die tibetische Regierung in Lhasa unter <strong>der</strong><br />

Führung des Dalai Lama war die unangefochtene Herrscherin<br />

über Tibet.<br />

Seit <strong>der</strong> Unabhängigkeitserklärung durch den 13. Dalai Lama<br />

im Jahr 1913 hat China we<strong>der</strong> Macht noch Autorität irgendwel­<br />

cher Art in o<strong>der</strong> über Tibet ausgeübt. Bell, Grossbritanniens politischer<br />

Beamter in Sikkim und zugleich zuständig für Tibet<br />

sowie eine weltbekannte Autorität in Sachen Tibet, weist ausdrücklich<br />

dar<strong>auf</strong> hin, dass seit 1912 jegliche chinesische Kontrolle<br />

über Tibet <strong>auf</strong>gehört habe. Tsung­lien Shen und Shen Chi­liu,<br />

beide Vertreter <strong>der</strong> nationalchinesischen Regierung in Lhasa,<br />

die 1949 Tibet verlassen mussten, berichten: «Seit 1911 hat Lhasa<br />

in allen faktischen Bereichen eine völlige Unabhängigkeit genossen.»<br />

Richardson, <strong>der</strong> als diplomatischer Leiter zunächst <strong>der</strong> britischen<br />

und später <strong>der</strong> indischen Mission in Lhasa insgesamt acht<br />

Jahre in Tibet verbracht hat, bestätigt ebenfalls, dass Tibet bis<br />

zur kommunistischen Invasion 1950 völlige De­facto­Unabhängigkeit<br />

genossen habe. Als Ausdruck <strong>der</strong> tibetischen Unabhängigkeit<br />

zu dieser Zeit wird auch die Tatsache gewertet, dass die<br />

tibetische Regierung im Februar 1940 ein Amt für auswärtige<br />

Angelegenheiten errichtete. Die von <strong>der</strong> tibetischen Regierung<br />

verfolgte Neutralitätspolitik während des Zweiten Weltkrieges<br />

unterstreicht zudem ihre volle Handlungsfreiheit und die Unabhängigkeit<br />

Tibets.<br />

Die Regierung <strong>der</strong> Volksrepublik China vertritt trotz allem<br />

die historisch fragwürdige Auffassung, Tibet habe seit <strong>der</strong> mongolischen<br />

Yuan­Dynastie unter chinesischer Souveränität gestanden<br />

und sei deshalb ein unveräusserlicher Teil Chinas. Wie<br />

die vorangehende historische Darstellung gezeigt hat, kann die<br />

mongolische Oberherrschaft über Tibet nicht als eine chinesische<br />

ausgelegt werden. Zwischen den Souveränitätsansprüchen<br />

Chinas und dem ihnen zugrunde liegenden historischen tibetisch­chinesischen<br />

Verhältnis besteht eine offensichtliche Diskrepanz.<br />

Seit <strong>der</strong> Unabhängigkeitserklärung durch den 13. Dalai<br />

Lama im Jahre 1913 bis zur völkerrechtswidrigen Annexion Tibets<br />

durch die Volksrepublik China im Jahre 1951 ist Tibet ein<br />

vollständig unabhängiger Staat gewesen. Dies ist durch die Internationale<br />

Juristenkommission in ihrem bereits erwähnten<br />

Gutachten zur Tibet­Frage von 1960 auch bestätigt worden.<br />

81 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 82


Dann stellt sie fest, dass Tibet im Jahre 1949, als es von China<br />

gewaltsam besetzt wurde, die Kriterien für einen selbständigen<br />

Staat erfüllt habe: ein Volk mit einem eigenen Territorium und<br />

einer eigenen funktionierenden Regierung in diesem Territorium.<br />

Diese Feststellung ist ausserdem vom Wissenschaftlichen<br />

Fachdienst des Deutschen Bundestages in seinem Gutachten von<br />

1987 bestätigt worden.<br />

Aus: Gyaltsen Gyaltag: Die Geschichte des tibetischen Volkes. In: DU. Heft Nr. 7 / Juli 1995.<br />

Tibet. Der lange Weg. Zürich: TA­Media 1995. S. 14–19; S. 96.<br />

Arbeits<strong>auf</strong>träge<br />

– Welche Bedeutung hat <strong>der</strong> Herrscher Songtsen Gampo<br />

(617–649 n. Chr.) für die tibetische Geschichte?<br />

– Wann und unter welchen Umständen fand <strong>der</strong> Buddhismus<br />

in Tibet erstmals Anhänger?<br />

– Informieren Sie sich über die traditionelle tibetische<br />

Bön-Religion.<br />

– Wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen Tibet und<br />

dem mongolischen Reich im 13. Jahrhun<strong>der</strong>t? – Wie charakterisiert<br />

<strong>der</strong> Autor die Beziehung zwischen dem tibetischen<br />

Oberhaupt und dem mongolischen Kaiser?<br />

– Welche Bedeutung hat das Konzept <strong>der</strong> Reinkarnation für<br />

die Entwicklung des tibetischen Regierungssystems?<br />

– Von 1642 bis 1959 (<strong>Flucht</strong> des 14. Dalai Lamas) stand Tibet<br />

unter <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> Dalai Lamas. – Charakterisieren<br />

Sie einzelne dieser Persönlichkeiten <strong>auf</strong> Grund <strong>der</strong> Lektüre<br />

des entsprechenden Kapitels.<br />

– Recherchieren Sie zu unbekannten Fachausdrücken im<br />

Internet (z. B. Gelupga-Schule im tibetischen Buddhismus).<br />

– Halten Sie wichtige Eckdaten in den politischen Beziehungen<br />

zwischen Tibet, Grossbritannien und China fest<br />

(19. und frühes 20. Jahrhun<strong>der</strong>t).<br />

– Welches waren die wichtigsten Resultate <strong>der</strong> «Simla-<br />

Konvention» (1914)?<br />

– Welche Bedeutung hatte <strong>der</strong> 13. Dalai Lama, Thubten<br />

Gyatso (1876–1933), in <strong>der</strong> tibetischen und in <strong>der</strong> internationalen<br />

Politik?<br />

– Was geschah nach <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Volksrepublik China<br />

im Jahre 1949?<br />

– Informieren Sie sich über das so genannte «17-Punkte-Abkommen»<br />

zwischen Tibet und China, indem Sie das entsprechende<br />

Kapitel von Karénina Kollmar-Paulenz (Text 6) lesen.<br />

– Wie begründet <strong>der</strong> Autor Gyaltsen Gyaltag seine These, dass<br />

Tibet aus völkerrechtlicher Sicht ein souveräner Staat sei?<br />

– Lesen Sie zur Ergänzung den Text 6: «Unter chinesischer<br />

Herrschaft: Tibet nach 1950» und «Tibet im <strong>Exil</strong>» von<br />

Karénina Kollmar-Paulenz.<br />

83 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 84


Text 5<br />

Gyaltsen Gyaltag<br />

Die tibetische Familie<br />

im Wandel und<br />

Spannungsfeld zweier<br />

Kulturen<br />

Die traditionelle tibetische Familie<br />

Gesellschaftlicher Hintergrund<br />

Die tibetische Gesellschaft und ihre Strukturen waren recht vielschichtig.<br />

Tibets Gesellschaftsordnung kann nämlich we<strong>der</strong> im<br />

Rahmen eines einfachen bäuerlich­feudalistischen Modells erklärt<br />

werden noch war sie eine reine nomadische o<strong>der</strong> theokratische<br />

Gesellschaft. Sie war vielmehr eine vorindustrielle Bauern­ und<br />

Nomadengesellschaft mit feudalistisch­theokratischen Merkmalen,<br />

die eine streng strukturierte Hierarchie <strong>auf</strong>wies. An <strong>der</strong> Spitze<br />

dieser Hierarchie stand <strong>der</strong> Dalai Lama, in dessen Händen die<br />

Zügel <strong>der</strong> Oberherrschaft über den sowohl geistlichen als auch<br />

weltlichen Bereich vereinigt waren. Die tibetische Zentralregierung<br />

und <strong>der</strong>en Verwaltung war fast ausschliesslich aus Vertretern<br />

<strong>der</strong> Geistlichkeit und des Adels zusammengesetzt. Theoretisch<br />

war das ganze Land seit 1642 formelles Eigentum des Dalai<br />

Lama, des obersten religiösen und weltlichen Herrschers von Tibet.<br />

Er vergab das Land in einem «Lehensverhältnis» (Rauber­<br />

<strong>Schweiz</strong>er, 1976: 25) an die drei Grundherren: den Adel, die Geistlichkeit<br />

und die Zentralregierung. Für den Grundherrn bedeutete<br />

dieses «Lehensverhältnis» einerseits unbedingte Treue dem Dalai<br />

Lama gegenüber und an<strong>der</strong>erseits Besitz und Nutzniessung des<br />

geliehenen Bodens. «… it must be known that Tibetans consi<strong>der</strong><br />

all land … to be the property of the Dalai Lama by divine right,<br />

and that anybody who holds any does so as a trustee of His Holiness.»<br />

(Peter of Greece and Denmark, 1963: 408) Die geistliche<br />

und weltliche Oberherrschaft <strong>der</strong> Dalai Lamas ist seit 1642 das<br />

typische Merkmal des tibetischen Staates und muss als das Ergebnis<br />

eines jahrhun<strong>der</strong>telangen Anpassungsprozesses zwischen<br />

religiöser Hierarchie und weltlichem Adel begriffen werden.<br />

Wirtschaft und Lebensweise<br />

Die wirtschaftliche Gegebenheit und Möglichkeit eines Landes<br />

beeinflussen auch die Lebensweise <strong>der</strong> Bevölkerung dieses Landes.<br />

Im Fall Tibets gelangt Carrasco zu <strong>der</strong> Schlussfolgerung,<br />

dass die Wirtschaft Tibets aus einer Kombination von Ackerbau<br />

und Viehzucht besteht. «The economy of Tibet <strong>der</strong>ives from patterns<br />

of cereal agriculture and animal husbandry developed by<br />

the early civilizations of the Near East, with a few variations that<br />

can be best explained in terms of the high­altitude environment.»<br />

(Carrasco, 1959: 5) Stein unterstützt diese Ansicht und meint,<br />

gerade Tibet gebe von Natur aus dem Leben <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> eine dualistische<br />

Form, die manchmal ein und dieselbe Menschengruppe<br />

in einem jahreszeitlichen Rhythmus (Sommer und Winter)<br />

lenkt. Zuweilen leben zwei Gruppen in einer Symbiose. Seiner<br />

Schätzung nach betrieben fünf Sechstel <strong>der</strong> tibetischen Bevölkerung<br />

Ackerbau. (vgl. Stein, 1972: 109)<br />

In den tiefer gelegenen Tälern beson<strong>der</strong>s im Süden und Südosten<br />

Tibets, aber auch in den Höhenlagen, die noch Anbau erlaubten,<br />

wurde Ackerbau betrieben. In <strong>der</strong> tibetischen Sprache<br />

heisst Tal «rong» und Talbewohner «rong­pa», was zugleich auch<br />

«Ackerbauer» bedeuten kann. Hauptsächlich wurde Gerste angebaut,<br />

aus <strong>der</strong> das «Tsampa», das den <strong>Tibeter</strong>n als Grundnahrungsmittel<br />

diente, hergestellt wurde.<br />

85 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 86


Das Gegenstück waren die Grassteppen und die Alpenmatten,<br />

die Viehzucht ermöglichten. Sie werden im Tibetischen<br />

«drog» genannt. «Drog­pa» bedeutet demnach «Hochlän<strong>der</strong>»,<br />

also die Viehzüchter respektive Nomaden. Die nomadische Nutzung<br />

von Weidenflächen war in den meisten Fällen nicht nur eine<br />

angepasste, son<strong>der</strong>n die einzige mögliche Nutzung von Land –<br />

beson<strong>der</strong>s im Norden und Nordosten Tibets. Gezüchtet wurden<br />

in erster Linie Schafe sowie Jak und dessen Kreuzungen. Die<br />

Rolle <strong>der</strong> Nomaden, die überall in Tibet anzutreffen sind, darf<br />

<strong>auf</strong> keinen Fall unterschätzt werden. Sie leisteten nämlich einen<br />

wesentlichen Beitrag an die Nahrung (Fleisch und Milchprodukte)<br />

und Kleidung (Wolle, Häute) <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong>. Nichtsdestoweniger<br />

ist Stein <strong>der</strong> Meinung, dass zumindest in den Kulturzentren ein<br />

gewisses Vorwiegen <strong>der</strong> landwirtschaftlichen Anb<strong>auf</strong>lächen augenscheinlich<br />

sei. (vgl. Stein, 1972: 111)<br />

Hauptsächlich war jedoch die jahreszeitliche Dualität dafür<br />

verantwortlich, dass das sesshafte Leben Hand in Hand mit dem<br />

mobilen Leben einherging. «… it is economic life and the type of<br />

ecology that compel them to a dual way of life, different in summer<br />

and winter.» (Stein, 1972: 122) Beispielsweise in West­ o<strong>der</strong><br />

Osttibet blieben im Sommer nur die Frauen mit ihren Kin<strong>der</strong>n in<br />

den Dörfern zurück. Die Männer trieben ihre Viehherden <strong>auf</strong> die<br />

hochgelegenen Weiden und kehrten erst gegen Winter zu ihren<br />

Familien zurück. Je nach Gegend zeigte diese Dualität natürlich<br />

lokale Varianten. So gab es landwirtschaftliche Dörfer mit Weideland<br />

in <strong>der</strong> Nähe. Hier wurden die Viehherden während <strong>der</strong><br />

Tageszeit <strong>auf</strong> das Weideland geführt und nachts in ihre Stallungen<br />

zurückgetrieben. Diese Dualität als wirtschaftlich gemischte<br />

Lebensweise ist bei jenen Familien mit sowohl Landbesitz wie<br />

auch relativ grossem Viehbestand beson<strong>der</strong>s ausgeprägt. Solche<br />

Familien trennten sich häufig in zwei spezialisierte Wirtschaftseinheiten:<br />

Ein Teil <strong>der</strong> Familie blieb dem Ackerbau und somit<br />

dem sesshaften Leben treu, während <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Teil sich <strong>der</strong><br />

mobilen Lebensweise des Viehzüchters zuwandte. Beide Gruppen<br />

trugen in <strong>der</strong> Regel denselben Familien­ bzw. Sippennamen.<br />

Da es überhaupt keine Industrie irgendwelcher Art gab, war<br />

Tibet von Landwirtschaft und <strong>auf</strong> Nomadismus beruhen<strong>der</strong><br />

Viehwirtschaft total abhängig. Ackerbau und Viehzucht als Subsistenzwirtschaft<br />

bildeten somit das Rückgrat <strong>der</strong> Wirtschaft<br />

Tibets. Durch ihre spezialisierte Wirtschaftsführung waren die<br />

Bauern und Nomaden notwendigerweise <strong>auf</strong> den Austausch ihrer<br />

Produkte angewiesen. Beim Verk<strong>auf</strong> und K<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Produkte<br />

wurde Geld selten als Zahlungsmittel benutzt. Es wurde vielmehr<br />

Tauschhandel betrieben. Anstelle des Geldes wurde an<strong>der</strong>e<br />

Gebrauchsgüter eingesetzt, die je nach Gegend variierten. In vielen<br />

Teilen Tibets wurden häufig Tee­Ziegel als Zahlungsmittel<br />

verwendet; d. h. für eine Ware wurde je nach Wert eine bestimmte<br />

Anzahl von Tee­Ziegeln angeboten.<br />

Soziale Struktur<br />

Ganze Volksgruppen werden überall <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Basis ihres Besitzes<br />

und <strong>der</strong> Besitzverteilung innerhalb <strong>der</strong> jeweiligen Gesellschaft<br />

klassifiziert. Welche Arbeit und welchen Gewinn bzw. Nutzen<br />

<strong>der</strong> Besitz mit sich bringt, spielt dabei auch eine Rolle. Aufgrund<br />

sozialer und wirtschaftlicher Unterschiede werden also generell<br />

Menschen in verschiedene soziale Gruppen eingeteilt, die ihrerseits<br />

spezifische Merkmale <strong>auf</strong>weisen und <strong>auf</strong> charakteristische<br />

Art zueinan<strong>der</strong> in Beziehung stehen.<br />

Die Struktur <strong>der</strong> tibetischen Gesellschaft lässt sich gemäss<br />

den Ausführungen von Stein generell <strong>auf</strong> zwei Ebenen analysieren:<br />

nämlich <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Familie o<strong>der</strong> des Klans etwa im<br />

Falle <strong>der</strong> Nomaden und <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Ebene sozialer Klassen. (vgl. Stein,<br />

1972: 92) Seit dem neunten Jahrhun<strong>der</strong>t kann die tibetische Gesellschaft<br />

in drei Klassen eingeteilt werden: das gemeine Volk,<br />

den Adel und den Klerus bzw. die Geistlichkeit. Diese grobe Einteilung<br />

berücksichtigt natürlich die feinen Abstufungen und Untereinheiten<br />

nicht, die sich im L<strong>auf</strong>e <strong>der</strong> Geschichte Tibets entwickelt<br />

und auch verän<strong>der</strong>t haben. So bezieht sich <strong>der</strong> Begriff «Volk»<br />

mindestens <strong>auf</strong> zwei verschiedene Gruppen: wohlhabende Familien,<br />

die Land und/o<strong>der</strong> Vieh besassen und Arbeiter ohne Vieh­ und<br />

Landbesitz, die entwe<strong>der</strong> wohlhabenden Familien o<strong>der</strong> einem <strong>der</strong><br />

drei Grundherren (Adel, Geistlichkeit und Zentralregierung) o<strong>der</strong><br />

87 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 88


eiden untergeordnet waren. Die Unterscheidung zwischen <strong>der</strong><br />

grossen Masse ungelernter Arbeiter einerseits, die je<strong>der</strong> Beschäftigung<br />

nachgingen, und <strong>der</strong> kleinen Zahl gelernter Kunsthandwerker<br />

an<strong>der</strong>erseits ist eine weitere Differenzierung. Die Geistlichkeit<br />

bestand ebenfalls aus zwei Klassen, obgleich beide Klassen<br />

im Vergleich zum einfachen Volk <strong>auf</strong>grund buddhistischen Glaubens<br />

einen privilegierteren Status genossen. Eine kleinere Zahl<br />

wohlhaben<strong>der</strong>, hochgeborener und gelehrter Geistlichen stand<br />

dem armen, niedrigeren Klerus gegenüber, <strong>der</strong> gewöhnlich aus<br />

Laienbrü<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> fratres bestand, die alle Arten von Arbeiten in<br />

den Klöstern verrichteten. Eine tragfähige Mittelklasse existierte<br />

eigentlich nicht ausser wenigen reichen K<strong>auf</strong>leuten aus besser<br />

gestellten Familien und Gutsverwaltern. Peter of Greece and<br />

Denmark meint dazu, die Adeligen wie auch die Äbte <strong>der</strong> grossen<br />

Klöster hätten ihre Existenz durch eine Klasse von K<strong>auf</strong>leuten<br />

und Händlern nicht bedrohen lassen. «Instead, they themselves<br />

trade. … Their surplus goods find their way into native and foreign<br />

markets, and with the money obtained, they conduct profitable<br />

banking and lending operations, …» (Peter of Greece and Denmark,<br />

1963: 410) Am Rande dieser Gesellschaft gab es bestimmte<br />

Beschäftigungen o<strong>der</strong> Berufsarten, die im allgemeinen verachtet<br />

wurden. In manchen Fällen – wie etwa beim Fischer, Metzger<br />

o<strong>der</strong> Schmied – ist die Verachtung dieser Gewerbe <strong>auf</strong> buddhistischen<br />

Einfluss zurückzuführen, da eben das Töten von Lebewesen<br />

als schwerwiegende Sünde galt. Ferner müssten die Unterhalter<br />

wie Musikanten, Schauspieler, Barden usw. sowie die vielen<br />

Bettler als eine Kategorie für sich betrachtet werden.<br />

Die traditionelle tibetische Gesellschaftsordnung findet<br />

nicht so recht einen Platz in einem soziologischen Schichtungsmodell<br />

herkömmlicher Art. Sie müsste eher als eine historisch<br />

entstandene «segmentierte» Sozialstruktur verstanden werden,<br />

wobei innerhalb eines «Segments» wie etwa bei den Nomaden<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Geistlichkeit durchaus wie<strong>der</strong> von Schichten gesprochen<br />

werden kann. Ganz allgemein lassen sich in <strong>der</strong> tibetischen Gesellschaft<br />

zwei soziale Schichten unterschieden: die Oberschicht<br />

und Unterschicht.<br />

Die Oberschicht<br />

Die Oberschicht setzte sich zusammen aus dem Erbadel und <strong>der</strong><br />

Geistlichkeit, war Grundherr von Land und <strong>der</strong> ansässigen Bevölkerung<br />

und versah den Staat ausserdem mit religiösen und<br />

politischen Diensten. Der Begriff «Oberschicht» ist als Überbegriff<br />

für Adel und Geistlichkeit zu verstehen.<br />

Der Adel verfügte über grosse Macht und übte daher erheblichen<br />

Einfluss aus. Mit <strong>der</strong> Geistlichkeit zusammen teilte er die<br />

hohen Regierungsstellen. Wie die Klöster und «labrang» besass<br />

er ebenfalls grosse Län<strong>der</strong>eien und richterliche Gewalt über die<br />

ansässige Bevölkerung. Die Adeligen waren in <strong>der</strong> Regel abwesende<br />

Grundherren; d. h. sie lebten während <strong>der</strong> meisten Zeit in<br />

Lhasa, und ihre Gutsbesitze wurden von Verwaltern be<strong>auf</strong>sichtigt,<br />

die auch die Abgaben einzogen und sie an ihren jeweiligen<br />

Grundherrn nach Lhasa sandten, nachdem sie sich ihren Anteil<br />

angeeignet hatten. Die Adelsfamilien, die ausserhalb <strong>der</strong> Zentralprovinz<br />

lebten, verfügten über weniger Macht und Einfluss,<br />

o<strong>der</strong> ihre Macht und ihr Einfluss waren lokal beschränkt. In<br />

Osttibet gab es die Stammesanführer respektive ­häuptlinge und<br />

Lokalfürsten, die mächtig und einflussreich waren.<br />

Die Mönchsgemeinschaft ist eine <strong>der</strong> drei Komponenten <strong>der</strong><br />

buddhistischen Trinität: Buddha, die Lehre Buddhas und die<br />

Mönchsgemeinschaft, zu denen <strong>der</strong> Gläubige Zuflucht nimmt. Da<br />

<strong>der</strong> tibetische Buddhismus alle Lebensbereiche eines jeden <strong>Tibeter</strong>s<br />

wesentlich bestimmte, nahm die tibetische Geistlichkeit eine<br />

Son<strong>der</strong>stellung in <strong>der</strong> traditionellen Gesellschaftsordnung ein,<br />

die sich in Macht, Reichtum und Unantastbarkeit ausdrückte.<br />

Beinahe jede tibetische Familie schickte zumindest einen, in<br />

<strong>der</strong> Regel den jüngsten Sohn ins Kloster. Dies wird verständlich,<br />

wenn man bedenkt, dass bei den Klöstern es sich um wichtige,<br />

oft einzige Bildungs­ und Kulturzentren handelte. Zudem kehrten<br />

die meisten Mönche jedes Jahr für kurze Zeit zu ihren Familien<br />

zurück, um in <strong>der</strong> bäuerlichen Wirtschaft mitzuhelfen und<br />

vor allem ihre Familie mit den notwendigen religiösen Kulthandlungen<br />

zu versehen, die natürlich für das «Karma» (vgl. Kap. Die<br />

Unterschicht) <strong>der</strong> Familie von grosser Bedeutung ist. Ein Sohn<br />

89 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 90


im Kloster bedeutete für die Familie ausserdem im gewissen Sinne<br />

eine wirtschaftliche Entlastung.<br />

Die Unterschicht<br />

Die Unterschicht bestand überwiegend aus Bauern und Nomaden,<br />

aber auch aus Handwerkern, Händlern und Unterhaltern,<br />

die dem Staat und <strong>der</strong> Oberschicht gegenüber zu Abgaben in<br />

Form von Naturalien, Geld und Fronarbeit verpflichtet waren.<br />

Die Angehörigen <strong>der</strong> Unterschicht wurden in Tibet «mi­ser»<br />

genannt. Surkhang, ein ehemaliger tibetischer Minister, definiert<br />

«mi­ser» folgen<strong>der</strong>massen: «Basically, it refers to an individual<br />

who is bound to the land of a lord. In Tibet the lord can be<br />

monastry, aristocracy or government. These peasants cannot be<br />

deprived of their land, but also cannot leave the land without<br />

pernission of their lord.» (Surkhang, 1966: 26) Goldstein übersetzt<br />

«mi­ser» nicht nur mit «serf», son<strong>der</strong>n auch mit «citizen»<br />

und «subject». (vgl. Goldstein, 1971/a) Der deutsche Ausdruck für<br />

«subject» ist «Untertan» (Cassels Woerterbuch, 1974: 497) o<strong>der</strong><br />

«Höriger».<br />

Je nachdem, welcher Grundherrschaft seine Eltern angehörten,<br />

war ein «mi­ser» ein Untertan entwe<strong>der</strong> einer Adelsfamilie,<br />

eines Klosters, eines «ladrang» o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zentralregierung. Die<br />

Bindung an die Grundherrschaft wurde durch Parallel­Abstammung<br />

vererbt, also Mutter­Tochter und Vater­Sohn. Der «mi­ser»<br />

war dabei an den Boden <strong>der</strong> Grundherrschaft stärker gebunden<br />

als an dessen Besitzer bzw. Grundherrn. Denn beim Wechsel des<br />

Besitzers bzw. Grundherrn – z. B. bei <strong>der</strong> Enteignung einer in<br />

Missgunst geratenen Adelsfamilie – blieb er <strong>der</strong> Grundherrschaft<br />

und nicht seinem ehemaligen Grundherrn verhaftet. Daher<br />

schliesst diese Tatsache die Leibeigenschaft eigentlich aus, die<br />

oft mit dem tibetischen Gesellschaftssystem in Verbindung gebracht<br />

wird. «Grundherr und Untertan (miser) haben eine wechselseitige<br />

Beziehung von Herrschaft und Fürsorge einerseits,<br />

Ergebenheit und Leistungsverpflichtungen an<strong>der</strong>erseits. Grundherren<br />

haften Dritten gegenüber für ihre miser und schlichten<br />

Streitfälle unter denselben.» (Rauber­<strong>Schweiz</strong>er, 1976: 40)<br />

Die Nomaden<br />

Die Nomaden Tibets können nur teilweise <strong>der</strong> Unterschicht, also<br />

<strong>der</strong> Schicht <strong>der</strong> «mi­ser», zugeordnet werden, aber sie lassen sich<br />

nicht eindeutig in <strong>der</strong> tibetischen Gesellschaft im Sinne des eben<br />

beschriebenen Modells ansiedeln. Innerhalb <strong>der</strong> traditionellen Gesellschaft<br />

stellen sie vielmehr ein eigenes soziales «Segment» für<br />

sich dar. Es ist von wesentlicher Bedeutung, zwischen Nomaden<br />

West­ und Zentraltibets, die meist einem <strong>der</strong> drei Grundherren<br />

(Geistlichkeit, Adel und Zentralregierung) untertan waren, und<br />

den semi­autonomen Nomadenstämmen, die an <strong>der</strong> Peripherie des<br />

Machtbereiches <strong>der</strong> Zentralregierung ihren Lebensraum hatten,<br />

zu differenzieren. Die letzteren nämlich, die Nomadenstämme von<br />

Nordosttibet (Amdo), Osttibet (Kham) und <strong>der</strong> Nördlichen Ebene<br />

(Dschangthang) standen, eigene interne Hierarchien tradierend,<br />

gleichermassen neben dieser Schichtstruktur. Generell lässt sich<br />

folgendes festhalten: Die gesellschaftliche Organisation und (ihre)<br />

Struktur <strong>der</strong> tibetischen Nomaden gestaltete sich gemäss genealogischen<br />

Beziehungen, die <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Abstammung von einem gemeinsamen<br />

Vorfahren und <strong>auf</strong> <strong>der</strong> durch Filiation entstandenen Verwandtschaft<br />

<strong>der</strong> Einzelmitglie<strong>der</strong> beruhen. Clans bildeten das<br />

Sozialgefüge des nomadischen Sektors, wobei reale verwandtschaftliche<br />

Beziehungen nur in den unteren Struktureinheiten<br />

bestanden, die zusätzlich durch konkrete wirtschaftliche und soziale<br />

Beziehungen miteinan<strong>der</strong> verbunden waren. Die Grösse des<br />

Viehbesitzes war entscheidend für das gesellschaftliche Ansehen<br />

und für die soziale Position <strong>der</strong> Nomadenfamilie. Aus diesem<br />

Grunde war das Wachsen <strong>der</strong> Herden das vorherrschende Ziel des<br />

nomadischen Wirtschaftens, und eine Entnahme von Tieren aus<br />

<strong>der</strong> Herde erfolgte nur selten. Denn mit <strong>der</strong> Kopfzahl <strong>der</strong> Herde<br />

wuchs eben auch das soziale Ansehen.<br />

In West­ und Zentraltibet unterstanden die Nomaden einem<br />

Distriktvorsteher <strong>der</strong> Zentralregierung, einer Adelsfamilie o<strong>der</strong><br />

einem Kloster o<strong>der</strong> «ladrang». Die Nomaden Nordost­ und Osttibets<br />

unterstanden dagegen weitgehend unabhängigen Königen<br />

und Fürsten, aber auch hohen Inkarnationen und <strong>der</strong>en «ladrang».<br />

Diese einheimischen Führer zogen ebenfalls Abgaben in<br />

91 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 92


Naturalien und Geld ein und beanspruchten verschiedene Dienste,<br />

um damit ihren repräsentativen, administrativen und an<strong>der</strong>en<br />

Pflichten – wie die des Schutzes <strong>der</strong> Untergebenen – gerecht<br />

zu werden. Ihre Jurisdiktion erstreckte sich in den rein nomadischen<br />

Gegenden über Familien, in den Ackerbaugebieten jedoch<br />

über Territorien.<br />

Kultureller Hintergrund<br />

Die Abgeschlossenheit Tibets schuf im L<strong>auf</strong>e <strong>der</strong> Zeit eine eigene<br />

tibetisch­buddhistische Hochkultur sowie eine eigene Form des<br />

Buddhismus, namentlich den Mahayana­Buddhismus tibetischer<br />

Prägung, <strong>der</strong> viele Elemente <strong>der</strong> Urreligion Tibets, <strong>der</strong> animistischen<br />

«Bön­Religion» <strong>auf</strong>nahm und in sein Denksystem integrierte.<br />

Derartige «Bön­Elemente» sind insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> tibetischbuddhistischen<br />

Volksreligion anzutreffen. Als Beispiele seien hier<br />

die bekannten «Gebetsfahnen» o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Glaube an die Anwesenheit<br />

mehrerer Seelen im menschlichen Körper erwähnt.<br />

Leiden, Wie<strong>der</strong>geburt, Kausalität, Mitgefühl gegenüber allen<br />

Lebewesen und Weltverneinung sind Grundgedanken <strong>der</strong><br />

buddhistischen Religion, die vom historischen Buddha, <strong>der</strong> von<br />

563 bis 483 v. Chr. in Nordindien gelebt und mit 35 Jahren die<br />

Erleuchtung erlangt hat (vgl. Schuhmann, 1976: 15, 21 u. 48), gestiftet<br />

wurde. Diese wesentlichen Kerngedanken des Buddhismus<br />

bestimmen die Lebenseinstellung <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> in entscheiden<strong>der</strong><br />

Weise. Die durch diese Gedanken tief geprägte Lebenseinstellung<br />

beeinflusst ihrerseits das Familienleben, aber auch<br />

Erziehungsziele und Erziehungspraxis <strong>der</strong> Eltern. Aus dieser<br />

Überlegung heraus sollen anschliessend als kultureller Hintergrund<br />

diese buddhistischen Kerngedanken und ihre Einflüsse<br />

<strong>auf</strong> das Familienleben und die Sozialisation eingehen<strong>der</strong> behandelt<br />

werden. Die Lehre Buddhas und die Religion, die sich daraus<br />

in Tibet in eigener Prägung entwickelt hat, sind jedoch <strong>der</strong>massen<br />

tiefgründig, komplex und umfassend, dass es unmöglich ist,<br />

im Rahmen dieser Arbeit dieser Religion auch nur annährend<br />

gerecht zu werden.<br />

Grundgedanken des Buddhismus<br />

Nach <strong>der</strong> Auffassung An<strong>der</strong>sons basiert die Lehre Buddhas «<strong>auf</strong><br />

einem Erklärungsmodell geistiger Prozesse – <strong>der</strong> ältesten Psychologie,<br />

von <strong>der</strong> wir in <strong>der</strong> Welt wissen –, das zur Grundlage eines<br />

ausgefeilten Denksystems wurde.» (An<strong>der</strong>son, 1983:19) Der Kernaussage<br />

dieser Lehre zufolge ist die gewöhnliche menschliche Existenz<br />

ein unbefriedigen<strong>der</strong> Zustand, «in dem sich die Men schen<br />

<strong>auf</strong>grund eines fundamentalen Missverständnisses ihres eigenen<br />

Wesens selbst Leid zufügen …» (An<strong>der</strong>son, 1983:19) Um sich von<br />

diesem Leid zu befreien, sollen die Menschen einen an<strong>der</strong>en Daseinszustand,<br />

nämlich die «geistige Erleuchtung» anstreben, die<br />

eine völlig an<strong>der</strong>e Seinsweise darstellt.<br />

Im Unterschied zum älteren Buddhismus, dem Hinayana­<br />

Buddhismus («Hinayana» bedeutet «Kleines Fahrzeug»), <strong>der</strong> etwa<br />

in Thailand o<strong>der</strong> in Sri Lanka praktiziert wird, stellt <strong>der</strong> Mahayana­Buddhismus<br />

(«Mahayana» bedeutet «Grosses Fahrzeug»)<br />

«das Prinzip <strong>der</strong> Buddhaschaft über das Vorbild des historischen<br />

Buddhas» (An<strong>der</strong>son, 1983: 20) und weist zudem ausgeprägtere<br />

soziale Züge <strong>auf</strong>. Die Hauptaussage des Mahayana­Buddhismus,<br />

wie er von den <strong>Tibeter</strong>n nach eigener Interpretation gelebt wird,<br />

ist das allumfassende Mitgefühl allen Wesen gegenüber. Die<br />

Menschen sollen demnach allen Wesen gegenüber Mitgefühl entwickeln<br />

und ferner sich selbst als Teil eines evolutionären Prozesses<br />

verstehen, an dem alle Wesen gleichermassen teilhaben.<br />

Dem Verständnis des Mahayana­Buddhismus zufolge sind Mitgefühl<br />

und Erleuchtung untrennbar verknüpft. (vgl. An<strong>der</strong>son,<br />

1983: 20 u. Schumann; 1976: 131ff)<br />

Die «Vier Edlen Wahrheiten»<br />

Nach buddhistischer Überzeugung ist Leiden sowohl in seiner<br />

physischen als auch psychischen Ausprägung die Grundtatsache<br />

alles menschlichen bzw. geschöpflichen Daseins. Mit an<strong>der</strong>en<br />

Worten alles Leben ist Leiden. Leidenserlebnis und Leidenserfahrung<br />

sind die Antriebskräfte buddhistischen Denkens. Die<br />

Analyse des Leidens und damit des menschlichen Daseins sowie<br />

die Suche nach Erlösung vom Leiden und damit vom menschli­<br />

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chen Dasein bilden den Inhalt buddhistischen Denkens. Unmittelbar<br />

nach seiner Erleuchtung verkündete Buddha als erste<br />

Lehrrede die «Vier Edlen Wahrheiten» von Leiden, Leidensentstehung,<br />

Leidens<strong>auf</strong>hebung und vom Weg zur Leidens<strong>auf</strong>hebung.<br />

(vgl. An<strong>der</strong>son, 1983: 39ff; Schumann, 1976: 59ff) Diese «Vier<br />

Wahrheiten» stellen sozusagen das buddhistische Glaubensbekenntnis<br />

dar.<br />

In <strong>der</strong> ersten Wahrheit definiert Buddha das Leiden: leidhaft<br />

sind Geburt, Alter, Krankheit, Tod, Trauer, Jammer, Schmerz,<br />

Gram, Verzweiflung, mit Unliebem vereint und vom Lieben getrennt<br />

sein, Begehrtes nicht erlangen; kurz: die «fünf Daseinsfaktoren»<br />

(vgl. Schumann 1976: 60ff) sind leidhaft. Diese «fünf<br />

Daseinsfaktoren» sind Körper, Empfindung, Wahrnehmung,<br />

Geistesregungen und Bewusstsein. Sie konstituieren gemäss<br />

buddhistischer Auffassung die Persönlichkeit des menschlichen<br />

Individuums – d. h. in ihnen ist alles enthalten, was das menschliche<br />

Wesen ausmacht. Diese Bestandteile <strong>der</strong> Persönlichkeit<br />

sind deshalb leidhaft, weil – erstens – mit ihrem Vorhandensein<br />

die vom Leben untrennbaren, an sich Leid implizierenden Phänomene<br />

Geburt, Krankheit, Verlangen, Sympathie und Antipathie<br />

sich verbinden und weil sie – zweitens – vergänglich sind.<br />

Aus <strong>der</strong> geistigen Identifikation mit diesen «fünf Daseinsfaktoren»<br />

resultiert für das Individuum Leiden. Daraus erfolgt die<br />

Konsequenz, dass die menschliche Existenz an sich leidhaft und<br />

vergänglich ist.<br />

Da die «fünf Daseinsfaktoren» bzw, die fünf Bestandteile <strong>der</strong><br />

Persönlichkeit dem Gesetz des Vergehens unterworfen sind, ergibt<br />

sich daraus eine weitere folgenreiche, für das Verständnis<br />

des Buddhismus sehr wesentliche Schlussfolgerung, nämlich die<br />

Nicht­Existenz vom «Selbst» bzw. «Ich». «Die Person ist demnach<br />

ohne Seele, sie ist Nicht­Selbst, bloss empirische Person, nichts<br />

Wesenhaftes.» (Schumann, 1976: 65) Buddha hat jedoch die Existenz<br />

einer Psyche im Sinne von emotionalen Regungen mit dem<br />

daraus entstehenden Ich­Gefühl nicht abgestritten, son<strong>der</strong>n betrachtet<br />

sie als das Ergebnis <strong>der</strong> Wechselbeziehung zwischen den<br />

vier nicht­physischen Komponenten <strong>der</strong> Persönlichkeit. Er hat<br />

hingegen die Existenz einer «unsterblichen Seelen­Entität»<br />

(Schumann, 1976: 65), die den Tod überdauert, bestritten. Da <strong>der</strong><br />

buddhistischen Grundannahme zufolge alles im ständigen Wandel<br />

begriffen ist, ist es sinnlos zu erwarten, dass irgend etwas, sei<br />

es <strong>der</strong> menschliche Körper, <strong>der</strong> Bewusstseinszustand, die Beziehungen<br />

o<strong>der</strong> sogar die Welt, von einem Augenblick zum nächsten<br />

noch genau dasselbe ist. (vgl. An<strong>der</strong>son, 1983: 26f) Vergänglichkeit,<br />

Leidhaftigkeit und Nicht­Selbstheit sind, grob formuliert,<br />

die drei buddhistischen Kennzeichen des Individuums und <strong>der</strong><br />

Welt respektive <strong>der</strong> Gesellschaft. Die Einsicht in diese Kennzeichen<br />

<strong>der</strong> Persönlichkeit wird für das Individuum dadurch erleichtert,<br />

indem es sich selbst gegenüber einen objektiven Stand<br />

einnimmt.<br />

Mit dem Tod ist das menschliche Dasein keineswegs zu Ende,<br />

denn dem Tod eines unerlösten menschlichen Individuums folgt<br />

nach buddhistischer Annahme unausweichlich seine Wie<strong>der</strong>geburt,<br />

in <strong>der</strong> das Leiden des Werdens und Vergehens sich wie<strong>der</strong>holt.<br />

«Geborenwerden und Sterben und wie<strong>der</strong> Geborenwerden,<br />

das ist <strong>der</strong> Kreisl<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Existenzen.» (Schumann, 1976: 71)<br />

Die Ursache <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburt und somit des Leidens ist <strong>der</strong><br />

Inhalt <strong>der</strong> zweiten Wahrheit, nämlich <strong>der</strong> Wahrheit von <strong>der</strong> Leidensentstehung.<br />

(vgl. Schumann, 1976: 76ff) Unwissenheit bzw.<br />

Nichtkenntnis <strong>der</strong> «Vier Wahrheiten», Hass und Gier sind die Ursachen<br />

allen Leidens sowie die treibende Kraft des leidvollen<br />

Kreisl<strong>auf</strong>s <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten. Buddha hat drei Arten von Gier<br />

unterschieden: Gier nach Lust, nach Werden und nach Vernichtung.<br />

Die stärkste davon ist die Gier nach Lust, da sie auch die<br />

sexuelle Begierde sowie den Wunsch nach Genuss und Besitz einschliesst.<br />

Selbst die Befriedigung <strong>der</strong> Gier bedeutet Leiden, da<br />

sie vergeht und zum Kummer des Verlustes führt. Die Gier nach<br />

Werden ist die Gier nach weiteren Wie<strong>der</strong>geburten, wodurch das<br />

Wesen sich an den leidvollen Kreisl<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Existenzen bindet,<br />

den es eigentlich zu überwinden gilt. Diese Gier nach Werden<br />

lässt sich mit Schopenhauers «Willen zum Leben» vergleichen.<br />

Die Gier nach Vernichtung ist <strong>der</strong> Wunsch, das Unangenehme zu<br />

beseitigen o<strong>der</strong> zu vermeiden. In beson<strong>der</strong>er Bedeutung ist die<br />

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Gier nach Vernichtung <strong>der</strong> Drang zur Selbstbeseitigung, wobei<br />

damit nicht <strong>der</strong> Selbstmord gemeint ist. Denn für den Buddhisten<br />

ist alles Leben und vor allem das menschliche Leben ausserordentlich<br />

wertvoll. Nach <strong>der</strong> buddhistischen Auffassung ist die<br />

menschliche Existenzform für die Erlösung nämlich die günstigste,<br />

denn nur als Mensch ist das Wesen imstande, die Lehre<br />

Buddhas zu verstehen und den Weg <strong>der</strong> Erlösung zu gehen. Ausserdem<br />

gilt die menschliche Existenzform als schwer erlangbar<br />

und sehr selten. Die Gier entsteht ursächlich aus sinnlichen und<br />

geistigen Kontakten mit Objekten <strong>der</strong> Umwelt. Angenehme Sinneserfahrungen<br />

und Vorstellungen erzeugen Gier nach Lust und<br />

Werden, unangenehme Gier nach Vernichtung. Im Zusammenhang<br />

mit Freuds Trieblehre könnte man die Gier nach Lust mit<br />

<strong>der</strong> Libido und die Gier nach Vernichtung mit dem Destruktionstrieb<br />

vergleichen. (vgl. Freud, 1971: 12f)<br />

Gemäss <strong>der</strong> dritten Wahrheit, nämlich <strong>der</strong> «Wahrheit von<br />

<strong>der</strong> Leidens<strong>auf</strong>hebung» wird <strong>der</strong> Kreisl<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten<br />

und damit das Leiden durch die Aufhebung bzw. Aufgabe von<br />

Unwissenheit, Hass und Gier beendet. (vgl. Schumann, 1976: 88f)<br />

Ohne Erkenntnis <strong>der</strong> Leidhaftigkeit allen Daseins und <strong>der</strong>en Ursachen<br />

sowie ohne Einsicht in die Möglichkeit <strong>der</strong> Leidens<strong>auf</strong>hebung<br />

bleibt das Heilsziel, nämlich die Erleuchtung und das Verlöschen<br />

im Zustand von «Nirwana» (vgl. Schumann, 1976: 102ff)<br />

unerreichbar. Die Lehre von «Karma», dem Gesetz <strong>der</strong> Kausalität,<br />

erklärt, wie die Verwerfung von Unwissenheit, Hass und<br />

Gier für die Erlösung wirksam wird. Dem Kausalgesetz zufolge<br />

ziehen alle Taten bzw. Handlungen die ihnen qualitativ entsprechenden<br />

Folgen nach sich, ausgenommen bleiben jene Taten, die<br />

nicht von Unwissenheit, Hass und Gier motiviert sind. «Wer nicht<br />

mehr durch sein Karma an das Rad <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten gebunden<br />

ist, dem steht baldiges Verlöschen … bevor.» (Schumann,<br />

1976: 89)<br />

Das endgültige Erlösungsziel ist also das Erlöschen im Zustand<br />

von «Nirwana», das nur durch Aufhebung <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten<br />

und Leiden bedingenden Faktoren Unwissenheit, Hass<br />

und Gier zu erreichen ist. Die vierte Wahrheit beinhaltet nun<br />

den «Achtteiligen Pfad», <strong>der</strong> zu diesem Ziel hinführt. (vgl. Schumann,<br />

1976: 89ff) Der «Achtteilige Pfad» besteht aus: 1) rechter<br />

Ansicht, 2) rechtem Entschluss, 3) rechter Rede, 4) rechtem Verhalten,<br />

5) rechtem Leben, 6) rechter Anstrengung, 7) rechter<br />

Achtsamkeit und 8) rechter Meditation. Diese acht Regeln sind<br />

nicht als Gebote, son<strong>der</strong>n vielmehr als Tugenden zu verstehen,<br />

die alle gleichzeitig anzustreben sind. Nachfolgend sollen diejenigen<br />

Regeln, die für die tibetische Familie und Sozialisation <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> relevant sind, im einzelnen kurz erläutert werden. (vgl.<br />

Schumann, 1976: 91ff)<br />

1. Rechte Ansicht bedeutet einerseits die Erkenntnis <strong>der</strong><br />

buddhistischen «Vier Wahrheiten» und <strong>der</strong> Nicht-<br />

Selbstheit aller Dinge, an<strong>der</strong>erseits die Aufgabe <strong>der</strong><br />

«Vier Verkehrten Ansichten». Als verkehrte Ansichten<br />

gelten die Suche nach Dauer im Unbeständigen, nach<br />

Glück im Leidhaften, nach Selbst im Nicht-Selbsthaften<br />

und nach Schönheit im Hässlichen. Die Suche nach<br />

dem eigenen Selbst und damit nach <strong>der</strong> eigenen Identität<br />

wäre demzufolge eine verkehrte Ansicht.<br />

2. Der rechte Entschluss besteht im Entschluss zur Entsagung,<br />

zum Wohlwollen und zur Nichtschädigung von<br />

Lebewesen.<br />

3. Rechte Rede ist solche, die nicht aus Lüge, Klatsch,<br />

Schmähung und Geschwätz besteht.<br />

4. Rechtes Verhalten bedeutet, sich <strong>der</strong> Lebensberaubung,<br />

des Diebstahls und <strong>der</strong> Ausschweifungen zu enthalten.<br />

5. Rechtes Leben bzw. rechte Lebensführung bedeutet,<br />

einem Broterwerb nachzugehen, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en kein Leid<br />

verursacht. Buddha selbst sagte einmal, ein Laienbekenner<br />

soll keinen Handel mit Waffen, Lebewesen,<br />

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Fleisch, berauschenden Getränken und Gift betreiben.<br />

Dies erklärt auch den Grund, warum in Tibet Berufe<br />

wie die des Schlächters, des Fleischhändlers, <strong>der</strong><br />

Jägers o<strong>der</strong> des Schmiedes, <strong>der</strong> Waffen herstellt,<br />

disqualifiziert waren. Unter <strong>Tibeter</strong>n in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

sind Pflegeberufe beson<strong>der</strong>s beliebt, was damit zusammen-hängen<br />

könnte. Buddhas Äusserungen zur rechten<br />

Lebensführung im Erwerbsleben sind bemerkenswert.<br />

Er betrachtet äusserste Armut als Ursache von Diebstahl,<br />

Gewalttätigkeit und Mord. Seiner Erklärung<br />

nach führen vier Dinge zum weltlichen Wohlbefinden:<br />

Berufliche Tüchtigkeit, Schutz des Eigentums vor Verlust,<br />

gute Gesellschaft und Lebenszuschnitt nach <strong>der</strong><br />

Höhe des Einkommens. (vgl. Schumann, 1976: 93)<br />

6. Rechte Anstrengung besteht in <strong>der</strong> Bemühung zur Abwehr<br />

unheilsamer und zur Erzeugung heilsamer Geistesinhalte<br />

durch Kontrolle <strong>der</strong> Sinnesorgane und damit<br />

durch Erziehung zur objektiven Beobachtung und<br />

Wahrnehmung.<br />

7. Rechte Achtsamkeit bzw. Bewusstheit bedeutet, sich<br />

alle Körperfunktionen (Gehen, Atmen, Stehen usw.),<br />

Sinnesempfindungen, Denkprozesse und Denkobjekte<br />

bewusst machen. Zweck <strong>der</strong> Achtsamkeit ist die Kontrolle<br />

und Disziplinierung des flatterhaften Geistes.<br />

8. Rechte Meditation ist ganz allgemein als die Methode<br />

zur geistigen Disziplinierung zu verstehen. (vgl. Schumann,<br />

1976: 95f)<br />

Neben diesen acht Regeln gibt es im Buddhismus zehn sogenannte<br />

«negative Regeln» zur Vermeidung <strong>der</strong> wichtigsten unheilsamen<br />

Handlungen, von denen die ersten fünf für alle Buddhisten,<br />

Laien wie Mönche und Nonnen, bindend sind. (vgl. Schumann,<br />

1976: 99) Diese ersten fünf Regeln sind: 1) Vermeidung des Zer­<br />

störens von Leben, 2) Absehen vom Nehmen nicht gegebener<br />

Dinge, 3) Enthaltung von unkeuschem Wandel, 4) Vermeidung<br />

von Lüge und 5) Enthaltung vom Genuss berauschen<strong>der</strong> Getränke.<br />

Aus den acht Geboten des «achtteiligen Pfades» und den<br />

fünf «negativen Regeln» lassen sich ferner die buddhistischen<br />

zehn Tugenden ableiten, die sowohl für die Geistlichkeit wie auch<br />

für die Laien Gültigkeit haben. Die Kenntnis dieser zehn Tugenden<br />

ist unter den älteren <strong>Tibeter</strong>n weit verbreitet und sie bestimmen<br />

weitgehend die tibetischen Erziehungsziele. Die zehn Tugenden<br />

sind: 1) nicht töten, 2) nicht stehlen, 3) nicht sexuell<br />

fehlverhalten, 4) nicht lügen, 5)nicht entzweiend reden (d. h. nicht<br />

verleumden und Zwietracht säen), 6) nicht grob reden, 7) nicht<br />

dumm reden (d. h. nicht dummes Zeug schwatzen), 8) nicht habsüchtig<br />

sein, 9) an<strong>der</strong>en nicht schaden und 10) falsche Vorstellungen<br />

vermeiden. Die ersten drei sind physische, die mittleren vier<br />

verbale und die letzten drei geistige Tugenden, die einzuhalten<br />

sind. Damit erfassen diese zehn Tugenden das menschliche Individuum<br />

in seiner Ganzheit, nämlich seinern Körper, seine Sprache<br />

und seinen Geist. Mit an<strong>der</strong>en Worten, das menschliche Individuum<br />

wird mit diesen Tugenden dazu angehalten. seine<br />

Handlungen, seine Sprache bzw. Kommunikation und seinen<br />

Geist bzw. sein Bewusstsein zu kontrollieren.<br />

Die Bedeutung bzw. die Wertschätzung <strong>der</strong> Mutter kommt<br />

beispielsweise in den ersten drei <strong>der</strong> sogenannten «sieben Ursache­Wirkung­Anweisungen»<br />

für die Erzeugung des «Bodhicitta»,<br />

des allumfassenden Mitgefühls, zum Ausdruck. In diesen drei<br />

ersten Anweisungen wird nämlich ermahnt: 1) alle Wesen als die<br />

eigene Mutter anzusehen, 2) sich ihrer Freundlichkeit bewusst<br />

zu werden und 3) ihre Freundlichkeit zu vergelten. Wie die Eltern­Kind­Beziehung<br />

sein sollte, hat bereits <strong>der</strong> berühmte tibetische<br />

König Songtsen­Gampo, <strong>der</strong> von 630 bis 649 n. Chr. in Tibet<br />

geherrscht hatte, in seinem buddhistisch inspirierten 16 Gesetze<br />

umfassenden Erlass formuliert.<br />

99 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 100


Wie<strong>der</strong>geburten und das Karmagesetz<br />

Die Grundlage <strong>der</strong> buddhistischen Ethik bildet das unpersönliche<br />

Kausalitätsprinzip, das jedem Wesen die Frucht seiner<br />

Handlungen unausbleiblich zukommen lässt. Der buddhistischen<br />

Kosmographie zufolge lassen sich sechs verschiedene Welten unterscheiden,<br />

in denen ein Wesen wie<strong>der</strong>geboren werden kann: die<br />

Welt <strong>der</strong> Götter, die Welt <strong>der</strong> Halbgötter, die Welt <strong>der</strong> Menschen,<br />

die Welt <strong>der</strong> Tiere, die Welt <strong>der</strong> Geister und die Hölle. Die Existenz<br />

von organischem Leben auch <strong>auf</strong> an<strong>der</strong>en Gestirnen und<br />

Weltsystemen wird ferner von den Buddhisten anerkannt. Die<br />

menschliche Wie<strong>der</strong>geburt ist nach buddhistischer Auffassung<br />

nicht die höchste Existenzform. Für die Erlösung ist sie jedoch<br />

die günstigste. Deshalb ist das menschliche Dasein allen an<strong>der</strong>en<br />

Existenzformen vorzuziehen.<br />

Die Wie<strong>der</strong>geburt ist eine natürliche Folge, die im Gesetz <strong>der</strong><br />

Kausalität begründet ist. Genau wie in <strong>der</strong> physischen Welt folgen<br />

auch die Existenzformen dem Kausalgesetz, das besagt, dass<br />

jede Wirkung ihre Ursache hat und dieser Ursache entspricht.<br />

Auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Ethik und Wie<strong>der</strong>geburt wird dieses Prinzip<br />

«Karma» genannt, dem zufolge bessere Wie<strong>der</strong>geburt durch gute<br />

Taten und schlechtere durch schlechte Taten bewirkt wird.<br />

«Ohne eine über die Taten richtende göttliche Instanz anzuerkennen,<br />

unterscheidet <strong>der</strong> Buddhismus heilsame und unheilsame<br />

Taten, nämlich solche, die in Richtung <strong>der</strong> Erlösung und solche,<br />

die von ihr weg führen. Die positive o<strong>der</strong> negative Bilanz<br />

zwischen den heilsamen und unheilsamen Handlungen eines<br />

Wesens entscheidet am Ende seines Lebens, in welchem Reich<br />

<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburt es wie<strong>der</strong> entstehen und von welcher Qualität<br />

seine dortige Daseinsform sein wird.» (Schumann, 1976: 73f)<br />

Das jetzige Dasein und dessen Qualität eines menschlichen<br />

Individuums ist folglich das Ergebnis seiner in den Vorexistenzen<br />

vollzogenen Taten. Seine zukünftige Existenzform und <strong>der</strong>en<br />

Qualität wird von den Handlungen seines gegenwärtigen<br />

Daseins bestimmt, wobei nicht Handlungen an sich massgebend<br />

sind, son<strong>der</strong>n ihr Motiv, also die geistige Einstellung des Handelnden.<br />

Demzufolge bestimmt nicht <strong>der</strong> Handlungsvollzug, son­<br />

<strong>der</strong>n die Handlungsintention, <strong>der</strong> Willensakt des Handelnden<br />

die zukünftigen Existenzformen und <strong>der</strong>en Qualitäten. Erst die<br />

Hand lungen, die frei von Unwissenheit, Hass und Gier sind, ermöglichen<br />

demnach dem menschlichen Individuum, sich vom<br />

leidvollen Kreisl<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten zu befreien und die angestrebte<br />

Erlösung zu erlangen. Es muss noch angefügt werden,<br />

dass die karmischen Folgen vollzogener bzw. beabsichtigter Taten<br />

nicht nur bei <strong>der</strong> nächsten o<strong>der</strong> einer späteren Wie<strong>der</strong>geburt,<br />

son<strong>der</strong>n bereits in diesem Leben eintreten können, was von den<br />

Buddhisten sogar als Vorzug angesehen wird. Es ist daher nicht<br />

zufällig, als was und wer, wo und wie, bei welchen Eltern man<br />

wie<strong>der</strong>geboren wird. Das «Karma­Gesetz» darf jedoch nicht deterministisch<br />

<strong>auf</strong>gefasst werden. Die Taten legen nämlich die<br />

Qualität, d. h. z. B. das Geburtsmilieu bzw. Sozialisationsmilieu,<br />

die physische Gestalt und die geistigen Anlagen <strong>der</strong> künftigen<br />

wie<strong>der</strong>geburtlichen Existenzformen eines Wesens fest, nicht aber<br />

die Handlungen des Wesens. Aufgrund <strong>der</strong> Willensfreiheit<br />

herrscht je<strong>der</strong> über seine Handlungen selbst.<br />

Bei aller Wichtigkeit, die <strong>der</strong> Buddhismus <strong>der</strong> sittlichen<br />

Zucht beimisst, wertet er die Güte zu den Wesen noch höher. «Sie<br />

wird als Wohlwollen ohne Zuneigung verstanden und hat den<br />

Zweck, aus dem eigenen Herzen den Hass zu entfernen. Sie ist<br />

eine Läuterungsübung, die die Erlösung för<strong>der</strong>t und in <strong>der</strong> das<br />

Objekt <strong>der</strong> Güte von untergeordneter Bedeutung ist.» (Schumann,<br />

1976: 100) Desgleichen meint Schumann: «Güte und Mitleid<br />

geben <strong>der</strong> Ethik die Lebenswärme, ohne sie ist jede Ethik<br />

steinern und kalt.» (Schumann, 1976: 101f) Güte und Mitleid, die<br />

<strong>der</strong> Buddhist den Wesen entgegenbringen soll, dürfen jedoch keine<br />

Emotion aus Sinneswahrnehmungen sein, son<strong>der</strong>n Tugenden,<br />

die er aus freiem Entschluss entwickelt.<br />

Aus: Gyaltsen Gyaltag: Die tibetische Familie im Wandel und Spannungsfeld zweier Kulturen.<br />

Rikon­Zürich: Tibet­Institut 1990. S. 66–80.<br />

Bibliographie<br />

An<strong>der</strong>son, W.: Der tibetische Buddhismus als Religion und Psychologie. München / Bern 1983.<br />

Carrasco, P.: Land and Polity in Tibet. Seattle 1959.<br />

Freud, S.: Abriss <strong>der</strong> Psychoanalyse. Das Unbehagen in <strong>der</strong> Kultur. Frankfurt a.M. / Hamburg 1971.<br />

101 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 102


Goldstein, M.C.: Serfdom and Mobility. An Examination of the Institution of «Human Lease» in<br />

Traditional Tibetan Society. In: Journal of Asian Studies, Vol. 30, No. 2 (1971), S. 521–534.<br />

Peter of Greece and Denmark: A Study of Polyandry. The Hague 1963.<br />

Rauber­<strong>Schweiz</strong>er, H.: Der Schmied und sein Handwerk im traditionellen Tibet. Zürich­Rikon<br />

1976.<br />

Schumann, H.W.: Buddhismus – Stifter, Schulen und Systeme. Zürich / Olten 1976.<br />

Stein, R.A.: Tibetan Civilization. London 1972 (Französische Originalausgabe: La Civilisation<br />

Tibétaine. Dunod 1962).<br />

Surkhang, W.: Tax Measurement and Lag’don tax. In: Bulletin of Tibetology, Vol. III. / Nr. 1,<br />

S. 15–28.<br />

Arbeits<strong>auf</strong>träge<br />

Unterkapitel: Gesellschaftlicher Hintergrund:<br />

– Nennen Sie die Kernaussagen <strong>der</strong> Seiten 85 bis 93<br />

oben. – Schlagen Sie unbekannte Fachausdrücke im<br />

Wörterbuch nach.<br />

– Welche Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede sehen Sie<br />

im Vergleich zu westlichen Gesellschaftsstrukturen (in<br />

Geschichte und Gegenwart)?<br />

Unterkapitel: Kultureller Hintergrund:<br />

– Rekapitulieren Sie die «Vier Edlen Wahrheiten». – Welche<br />

wichtigen Erkenntnisse erhalten Sie als Nicht-Buddhist/in?<br />

– «Achtteiliger Pfad»: Welche <strong>der</strong> Tugenden sind für Sie<br />

gut nachvollziehbar und erstrebenswert? – Bei welchen<br />

Punkten bleiben für Sie Fragen offen?<br />

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Text 6<br />

Karénina Kollmar-Paulenz<br />

Kleine Geschichte<br />

Tibets<br />

Unter chinesischer Herrschaft: Tibet nach 1950<br />

Die politische Situation nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

Die politische Landschaft in Asien än<strong>der</strong>te sich nach dem Ende<br />

des Zweiten Weltkriegs grundlegend. Indien erlangte 1947 die<br />

Unabhängigkeit, und für die tibetische Regierung stellte sich die<br />

Frage, ob das unabhängige Indien die britische Tibet­Politik<br />

fortsetzen würde. Die neue indische Regierung hielt es indes für<br />

wichtiger, mit China gute Beziehungen herzustellen, als den Anspruch<br />

<strong>auf</strong> die tibetische Unabhängigkeit zu unterstützen. Tibet<br />

wie<strong>der</strong>um versuchte, mit Indien neu über die ehemaligen tibetischen<br />

Gebiete, die Grossbritannien annektiert hatte, zu verhandeln,<br />

und erkannte erst im Juni 1948 Indien als Nachfolgestaat<br />

Britisch­Indiens an. Diese verspätete Anerkennung kostete Tibet<br />

in indischen Regierungskreisen viele Sympathien.<br />

1947/48 entsandte Tibet unter dem Deckmantel einer «Handelsmission»<br />

eine erste offizielle Delegation nach Indien, China,<br />

Grossbritannien und die USA, um sich in <strong>der</strong> Nachkriegsordnung<br />

als unabhängige Nation Gehör zu verschaffen und direkte Handelskontakte<br />

vor allem mit Grossbritannien und den USA anzuknüpfen.<br />

Die Mission war von diplomatischen Verstimmungen<br />

<strong>der</strong> chinesischen Regierung begleitet, die die Anerkennung <strong>der</strong><br />

von <strong>der</strong> tibetischen Regierung ausgestellten Pässe durch die Re­<br />

gierungen <strong>der</strong> betroffenen Län<strong>der</strong> zu verhin<strong>der</strong>n versuchte. Obwohl<br />

die tibetische Mission Visa für die USA erhielt, behandelte<br />

die US­Regierung die <strong>Tibeter</strong> nicht als offizielle Gesandte eines<br />

ausländischen Staates. Die Briten weigerten sich sogar, Visa <strong>auf</strong><br />

tibetische Pässe auszustellen.<br />

In China brach nach <strong>der</strong> Kapitulation Japans 1945 ein Bürgerkrieg<br />

zwischen <strong>der</strong> Guomindang unter Chiang Kai­shek und<br />

den Kommunisten unter Mao Zedong aus, <strong>der</strong> im Herbst 1949<br />

zugunsten <strong>der</strong> Kommunisten entschieden wurde. Am 1. Oktober<br />

1949 gab Mao Zedong offiziell die Gründung <strong>der</strong> Volksrepublik<br />

China bekannt.<br />

Der Einmarsch <strong>der</strong> Volksbefreiungsarmee<br />

Der Bürgerkrieg in China und <strong>der</strong> bevorstehende Sieg <strong>der</strong> Kommunisten<br />

wurden in Tibet mit grösster Sorge beobachtet. Die Regierung<br />

in Lhasa reagierte <strong>auf</strong> die bevorstehende Bedrohung mit<br />

<strong>der</strong> Ausweisung aller chinesischen Beamten und aller Personen,<br />

die sie als Spitzel Chinas verdächtigte. Weitere Massnahmen bestanden<br />

in <strong>der</strong> Aufrüstung <strong>der</strong> Armee durch Waffen­ und Munitionskäufe<br />

in Indien. Darüber hinaus wurden einzelne tibetische<br />

Truppenkontingente von den in Gyantse stationierten indischen<br />

Truppen trainiert. Truppen und Waffen wurden nach Nagchukha<br />

und Kham geschafft, um die Grenzen zu sichern. Bei dem<br />

Versuch, Telegraphenlinien einzurichten, machte sich jedoch die<br />

verfehlte Bildungspolitik bemerkbar, denn nur wenige <strong>Tibeter</strong> beherrschten<br />

die englische Sprache und waren in <strong>der</strong> Lage, die Telegraphenlinien<br />

zu bedienen. Die 1944 eröffnete englische Schule<br />

in Lhasa hatte durch den Druck konservativer klerikaler Kreise<br />

nach nur fünf Monaten wie<strong>der</strong> schliessen müssen.<br />

Das kommunistische China verfolgte von Beginn an eine Politik<br />

<strong>der</strong> «Wie<strong>der</strong>vereinigung» Tibets mit dem chinesischen «Mutterland».<br />

Die Unabhängigkeitsbestrebungen Tibets galten als<br />

Zeichen imperialistischen Einflusses. Am 1. Januar 1950 verkündete<br />

Radio Peking in seiner Neujahrsansprache die Absicht Chinas,<br />

Tibet durch den Einmarsch <strong>der</strong> Volksbefreiungsarmee vom<br />

«britischen imperialistischen Joch zu befreien». Die tibetische<br />

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Regierung hatte schon 1949 an die Regierungen von Grossbritannien,<br />

den USA und Indien appelliert, jedoch we<strong>der</strong> von Indien<br />

noch England Unterstützung erhalten. Die US­Regierung erwog<br />

zwar die Entsendung einer diplomatischen Mission nach Tibet,<br />

gab den Plan jedoch <strong>auf</strong>grund des indischen Wi<strong>der</strong>stands <strong>auf</strong>.<br />

Die UdSSR unterstützten das kommunistische China. Am Vorabend<br />

<strong>der</strong> chinesischen Invasion war Tibet politisch isoliert.<br />

Am 5. Oktober 1950 überquerten die Truppen <strong>der</strong> Volksbefreiungsarmee<br />

den Yangtse und nahmen nach drei Wochen die<br />

Stadt Chamdo ein. Der Oberbefehlshaber <strong>der</strong> tibetischen Armee<br />

in Osttibet und Gouverneur von Kham, Ngabo Ngawang Jigme,<br />

ergab sich den Chinesen. Erleichtert wurde die Okkupation Osttibets<br />

durch die schlechte Ausrüstung <strong>der</strong> tibetischen Armee,<br />

aber auch durch die Unterstützung einiger hoher geistlicher<br />

Würdenträger wie des erst dreizehnjährigen Panchen Lamas,<br />

dessen Berater in seinem Namen Mao Zedong ein Telegramm<br />

schickten, in dem sie seinen Wunsch zur «Befreiung» Tibets ausdrückten.<br />

Nicht nur in Kham, son<strong>der</strong>n auch in <strong>der</strong> Zentralregierung<br />

in Lhasa gab es eine Reihe von Sympathisanten <strong>der</strong> Chinesen.<br />

So beeinträchtigte neben <strong>der</strong> militärischen Schwäche vor<br />

allem die Gespaltenheit <strong>der</strong> religiösen und politischen Eliten des<br />

Landes in eine pro­ und eine antichinesische Partei den tibetischen<br />

Kampf um die Unabhängigkeit.<br />

Obwohl <strong>der</strong> Fall von Chamdo <strong>der</strong> Volksbefreiungsarmee den<br />

Weg nach Lhasa öffnete, rückten die chinesischen Truppen zuerst<br />

nicht weiter vor, son<strong>der</strong>n versuchten über Propaganda die<br />

<strong>Tibeter</strong> von den Vorteilen eines Anschlusses an China zu überzeugen.<br />

Einen Monat nach <strong>der</strong> Besetzung von Kham wurde in<br />

Lhasa, nach <strong>der</strong> Befragung <strong>der</strong> beiden Staatsorakel Nechung<br />

und Gadong, <strong>der</strong> erst fünfzehnjährige Dalai Lama drei Jahre<br />

früher als üblich als weltliches und geistliches Oberhaupt Tibets<br />

inthronisiert. Der Regent Taktra trat von seinem Amt zurück.<br />

Im gleichen Monat appellierte Tibet an die Vereinten Nationen.<br />

Da sich Grossbritannien und Indien wegen des «ungeklärten<br />

Rechtsstatus» Tibets gegen eine Behandlung <strong>der</strong> Tibetfrage aussprachen,<br />

blieb <strong>der</strong> Appell ohne Erfolg.<br />

Das Siebzehn-Punkte-Abkommen<br />

Unterdessen war Taktse Rinpoche, <strong>der</strong> ältere Bru<strong>der</strong> des 14. Dalai<br />

Lamas und Abt des Klosters Kumbum in Amdo, nach Lhasa<br />

gekommen und hatte aus erster Hand von seinen Erlebnissen<br />

während eines Jahres unter kommunistischer Herrschaft berichtet.<br />

Der Bericht war so negativ, dass sich die Regierung entschloss,<br />

den Dalai Lama nach Yatung an <strong>der</strong> indischen Grenze in<br />

Sicherheit zu bringen. Dort entschied die Regierung, mit China<br />

ernsthafte Verhandlungen <strong>auf</strong>zunehmen. Diese fanden von April<br />

bis Mai 1951 in Peking statt, wo auch das sogenannte «Siebzehn­Punkte­Abkommen»,<br />

das Tibets Schicksal besiegelte, am<br />

23. Mai von <strong>der</strong> tibetischen Delegation unter <strong>der</strong> Leitung von<br />

Ngabo Ngawang Jigme unterzeichnet wurde. Die einzelnen<br />

Punkte des Abkommens behandeln die (in chinesischen Augen)<br />

Reintegration Tibets in das chinesische «Mutterland» und formulieren<br />

<strong>der</strong>en politische Gestaltung aus. Tibet erhält regionale<br />

Autonomie und die Garantie, dass das existierende politische<br />

System nicht geän<strong>der</strong>t wird (Punkt 4). Darüber hinaus werden<br />

Religionsfreiheit sowie <strong>der</strong> weitere Unterhalt <strong>der</strong> Klöster garantiert.<br />

Die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> tibetischen Sprache wird genauso festgelegt<br />

wie die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Landwirtschaft, Weidewirtschaft,<br />

des Handels und <strong>der</strong> Industrie. Reformprozesse sollen nicht <strong>auf</strong><br />

Druck <strong>der</strong> chinesischen Autoritäten eingeleitet werden, son<strong>der</strong>n<br />

allein durch die tibetische Regierung o<strong>der</strong> in Abstimmung mit<br />

ihr (Punkt 11). Punkt 15 regelt die Einsetzung eines militärischen<br />

und administrativen Komitees sowie eines militärischen<br />

Hauptquartiers in Lhasa, um die Umsetzung des Siebzehn­<br />

Punkte­Abkommens zu gewährleisten. Dies war <strong>der</strong> einzige kontrovers<br />

diskutierte Punkt, aber auch hier gaben die tibetischen<br />

Delegierten nach.<br />

Die tibetische Delegation besass keine Vollmacht von ihrer<br />

Regierung, ein solch weitreichendes Abkommen zu unterzeichnen.<br />

Dass sie es doch tat, zeugt von dem immensen politischen<br />

Druck, unter dem sie stand. Die tibetische Regierung erfuhr von<br />

<strong>der</strong> Unterzeichnung und dem Inhalt des Abkommens erst über<br />

das Radio am 26. Mai 1951.<br />

107 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 108


In dem Abkommen erkennt Tibet das erste Mal die Oberhoheit<br />

Chinas an. Dies wäre zu verschmerzen gewesen, wenn sich<br />

die Chinesen an den Inhalt des Abkommens gehalten hätten. Sie<br />

haben das Abkommen jedoch nie in die Praxis umgesetzt. Zudem<br />

sind die einzelnen Punkte so offen formuliert, dass ihnen ein<br />

grosser Interpretationsspielraum blieb, den sie für eine Transformation<br />

<strong>der</strong> tibetischen Regierung und des bestehenden sozialen<br />

Systems nutzten.<br />

Die ersten Jahre unter chinesischer Herrschaft<br />

Die Unterzeichnung des Siebzehn­Punkte­Abkommens wurde<br />

von einer starken Fraktion in <strong>der</strong> Regierung und den Klöstern<br />

unterstützt, u. a. von den Äbten <strong>der</strong> drei grossen Klosterinstitutionen<br />

und dem Tutor des Dalai Lamas, Ling Rinpoche. Ihr Hauptargument<br />

war, dass das Abkommen we<strong>der</strong> das religiös­politische<br />

System noch den Status und die Macht des Dalai Lamas gefährde.<br />

Am 24. Oktober 1951 stimmte die Regierung in Lhasa dem<br />

Abkommen endgültig zu und beendete hiermit die seit 1911 bestehende<br />

faktische Unabhängigkeit Tibets, das nun in die Volksrepublik<br />

China eingeglie<strong>der</strong>t wurde.<br />

Am 26. Oktober 1951 rückte die Volksbefreiungsarmee in erstaunlicher<br />

Ordnung und Disziplin nach Zentraltibet vor. Gewalt<br />

und Plün<strong>der</strong>ungen kamen nicht vor. In wenigen Monaten war in<br />

Lhasa eine Garnison von 20 000 Soldaten stationiert, eine überwältigende<br />

Militärpräsenz angesichts einer Bevölkerung von<br />

rund 30 000 <strong>Tibeter</strong>n. Die ersten Jahre <strong>der</strong> Okkupation verliefen<br />

in Zentraltibet ruhig. Die Eliten wurden mit grosszügigen Geschenken<br />

gek<strong>auf</strong>t, und die lokale Bevölkerung profitierte von <strong>der</strong><br />

Errichtung neuer Schulen und Krankenhäuser. Strassen wurden<br />

gebaut und Garnisonen im ganzen Land errichtet. 1954 erhielten<br />

<strong>der</strong> Dalai Lama und <strong>der</strong> Panchen Lama eine Einladung nach Peking,<br />

wo sie von Zhou Enlai und Mao Zedong feierlich empfangen<br />

wurden. Der Dalai Lama berichtet in seiner Autobiographie, wie<br />

fasziniert er damals von Mao Zedong gewesen war, bis dieser ihm<br />

bei ihrem letzten Treffen mitteilte, Religion sei Gift, sie zerstöre<br />

ein Volk und verlangsame den Fortschritt eines Landes. Auf sei­<br />

ner Rückreise nach Lhasa wurde ihm zudem bewusst, wie sehr<br />

sich seine Heimat Amdo unter <strong>der</strong> chinesischen Herrschaft verän<strong>der</strong>t<br />

hatte.<br />

Im Jahr 1955 wurde das «Vorbereitende Komitee <strong>der</strong> Autonomen<br />

Region Tibet» eingerichtet, das in <strong>der</strong> Folgezeit zum eigentlichen<br />

Regierungsorgan von Tibet wurde, obwohl die Zentralregierung<br />

von Lhasa mit ihren verschiedenen Ämtern weiterhin<br />

funktionierte. Als Vorsitzen<strong>der</strong> des «Vorbereitenden Komitees»<br />

wurde <strong>der</strong> Dalai Lama ernannt. Obwohl in dem Komitee eine<br />

Reihe von <strong>Tibeter</strong>n mitarbeitete, bestimmten die Chinesen die<br />

politische Richtung.<br />

Im Osten sah die Lage völlig an<strong>der</strong>s aus als in Zentraltibet.<br />

Schon 1949 war es zu lokalem Wi<strong>der</strong>stand gegen die chinesische<br />

Okkupation in Kham und Amdo gekommen, <strong>der</strong> in den folgenden<br />

Jahren nicht abriss. Die von den Chinesen 1954 begonnenen<br />

«demo kratischen Reformen», die u. a. die Kollektivierung des<br />

meistens in Klosterbesitz befindlichen Landes und die Sesshaftwerdung<br />

<strong>der</strong> Nomaden vorsahen, führten im Winter 1955–1956<br />

zum sogenannten «Kanding»­Aufstand (benannt nach <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Stadt in Osttibet), <strong>der</strong> unorganisiert und spon tan ablief.<br />

Als <strong>der</strong> Aufstand blutig nie<strong>der</strong>geschlagen wurde, schlossen sich<br />

verschiedene Stammesgruppen, ihre alten Zwistigkeiten vergessend,<br />

zusammen, und es kam zu einer landesweiten Rebellion.<br />

Mehr als 15 000 Khampa­Familien flüchteten aus Osttibet nach<br />

Lhasa und Umgebung. Die Region konnte die vielen Flüchtlinge<br />

jedoch nicht <strong>auf</strong>nehmen. Spannungen zwischen <strong>der</strong> Lokalbevölkerung<br />

und den Khampas zwangen diese, nach Lhokha im Südosten<br />

auszuweichen. Dort organisierte sich <strong>der</strong> Khampa­Wi<strong>der</strong>stand,<br />

und die Bewegung gab sich den Namen Chushi Gangdrug,<br />

«Vier Flüsse – Sechs Schneeberge». Dieser alte Name für Kham<br />

steht symbolisch für den Zusammenschluss sämtlicher osttibetischer<br />

Ethnien jenseits partikularer Differenzen.<br />

Der Aufstand von 1959 und die <strong>Flucht</strong> des Dalai Lamas<br />

1957 begannen die USA, den Khampa­Wi<strong>der</strong>stand sowohl logistisch<br />

als auch militärisch zu unterstützen, und eine wachsende<br />

109 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 110


Zahl von Zentraltibetern schloss sich Chushi Gangdrug an. In<br />

ganz Tibet begannen anti­chinesische Kampagnen. 1958 hatten<br />

die Khampa­Wi<strong>der</strong>standsgruppen fast alle abgelegenen Regionen<br />

Tibets unter ihre Kontrolle gebracht, und sogar die Anhänger<br />

des bisher chinatreuen Panchen Rinpoche schlossen sich vermehrt<br />

dem Wi<strong>der</strong>stand an. Sowohl China als auch die Zentralregierung<br />

in Lhasa verloren zunehmend die Kontrolle über die Situation<br />

in Tibet.<br />

In dieser angespannten Lage führte eine an und für sich unbedeutende<br />

Episode zur Eskalation. Im März 1959 wurde <strong>der</strong> Dalai<br />

Lama eingeladen, im chinesischen Militär­Hauptquartier von<br />

Lhasa <strong>der</strong> Aufführung einer Tanzgruppe beizuwohnen. Er nahm<br />

die Einladung an. Das Ungewöhnliche an <strong>der</strong> Einladung bestand<br />

in <strong>der</strong> Aussetzung <strong>der</strong> üblichen Etikette: Der Dalai Lama sollte<br />

allein kommen. Als dies bekannt wurde, kamen sofort Gerüchte<br />

über eine von den Chinesen geplante Entführung des Dalai Lamas<br />

<strong>auf</strong>, und immer mehr Leute versammelten sich vor dem Norbulingka,<br />

dem Sommerpalast des Dalai Lamas. Die spontane Demonstration<br />

richtete sich genauso gegen die chinesische Besatzungsmacht<br />

wie gegen die tibetische Aristokratie, die des Verrats<br />

am Dalai Lama bezichtigt wurde. Nach dem Lynchmord an einem<br />

hohen tibetischen Regierungsbeamten wurde aus <strong>der</strong> Demonstration<br />

rasch eine Revolte. Der Dalai Lama floh mit seinen engsten<br />

Beratern und einer Gruppe von Khampa­Wi<strong>der</strong>standskämpfern in<br />

<strong>der</strong> Nacht vom 16. zum 17. März nach Indien. Noch heute ist unklar,<br />

warum die Chinesen nicht versuchten, seine <strong>Flucht</strong> zu verhin<strong>der</strong>n.<br />

Auch kann wohl nie geklärt werden, ob die Chinesen tatsächlich<br />

vorhatten, den Dalai Lama gefangenzusetzen.<br />

Nachdem die Demonstrationen mehr als eine Woche gedauert<br />

hatten, schritt die Volksbefreiungsarmee in Lhasa ein, und<br />

vom 20. bis 22. März lieferten sich die chinesischen Truppen mit<br />

den meist schlecht ausgerüsteten <strong>Tibeter</strong>n erbitterte Kämpfe,<br />

die fast 10 000 Tote for<strong>der</strong>ten. Als <strong>der</strong> Dalai Lama am 30. März<br />

die Grenze zu Indien überschritt, war <strong>der</strong> Aufstand in Lhasa<br />

längst nie<strong>der</strong>geschlagen, und über dem Potala wehte die rote chinesische<br />

Fahne.<br />

Die <strong>Flucht</strong> des Dalai Lamas führte zum Zusammenbruch des organisierten<br />

landesweiten Wi<strong>der</strong>stands. Zwischen April und Mai<br />

1959 überquerten mehr als 7000 <strong>Tibeter</strong>innen und <strong>Tibeter</strong> die<br />

Grenze und baten in Indien um Asyl. Viele tibetische Soldaten<br />

und Khampas sahen nach <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> ihres spirituellen und weltlichen<br />

Oberhauptes keinen Sinn mehr im bewaffneten Wi<strong>der</strong>stand<br />

und gaben <strong>auf</strong>. Nur vereinzelt kam es noch zu Kämpfen.<br />

Von Mustang aus, einer tibetischen Enklave in Nepal, wurden<br />

mit amerikanischer Unterstützung Guerilla­Angriffe geführt,<br />

die erst 1974 endeten, als die USA und die nepalesische Regierung<br />

ihre Hilfe einstellten.<br />

Der rasche Zusammenbruch des Wi<strong>der</strong>stands verdeutlicht<br />

das eigentliche Anliegen <strong>der</strong> Revolte. Es ging um den Status und<br />

die Macht des Dalai Lamas. Die Einrichtung des «Vorbereitenden<br />

Komitees <strong>der</strong> Autonomen Region Tibet», die mit dem Einverständnis<br />

<strong>der</strong> tibetischen Regierung erfolgt war, hatte zum Verlust<br />

seiner uneingeschränkten Macht geführt. Dieser Machtverlust<br />

stand in <strong>der</strong> buddhistischen Gesellschaft Tibets für die<br />

Degeneration <strong>der</strong> buddhistischen Lehre, und die Chinesen wurden<br />

nicht nur zu politischen Feinden, son<strong>der</strong>n auch zu «Feinden<br />

<strong>der</strong> buddhistischen Lehre». So nannte sich die Khampa­Wi<strong>der</strong>standsbewegung<br />

zuerst «Freiwilligenarmee zur Verteidigung<br />

des Buddhismus». Die Institution <strong>der</strong> Dalai Lamas erweist sich<br />

damit als Brennpunkt einer gemeinsamen tibetischen kulturellen<br />

Identität, die <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Religion beruht. Die Vernachlässigung<br />

dieser kulturellen und religiösen Selbstwahrnehmung war vielleicht<br />

<strong>der</strong> folgenschwerste Fehler <strong>der</strong> chinesischen Tibet­Politik.<br />

Reformen und Kulturrevolution: Zerstörung des kulturellen Erbes<br />

Die <strong>Flucht</strong> des Dalai Lamas, vieler Mitglie<strong>der</strong> des Adels und <strong>der</strong><br />

Regierung sowie weiterer bedeuten<strong>der</strong> Lamas wie des Sakya<br />

Tridzin und des Karmapa bedeuteten das Ende <strong>der</strong> traditionellen<br />

weltlichen und geistlichen Führung des Landes. China gelang<br />

es <strong>auf</strong>grund seiner militärischen Überlegenheit, aber auch<br />

<strong>auf</strong>grund des entstandenen Führungsvakuums, das Land innerhalb<br />

kurzer Zeit völlig in seine Gewalt zu bringen. In <strong>der</strong> Abwe­<br />

111 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 112


senheit des Dalai Lamas wurde <strong>der</strong> Panchen Lama zum Vorsitzenden<br />

des «Vorbereitenden Komitees» ernannt. Er hatte sich<br />

während <strong>der</strong> Revolte loyal zu China verhalten, und in seinem<br />

Territorium in Tsang war es zu keinen Unruhen gekommen.<br />

China än<strong>der</strong>te nun seine Politik in Tibet. Während es sich in<br />

den Jahren vor 1959 bemüht hatte, die lokalen Eliten für sich zu<br />

gewinnen, versuchte die kommunistische Führung nun, das Volk<br />

zu überzeugen. Die neue ideologische Kampagne zeichnete das<br />

Tibet vor 1950 als Hölle <strong>auf</strong> Erden, aus <strong>der</strong> China die tibetischen<br />

Massen befreit hatte. Neben <strong>der</strong> Indoktrination war die Landreform<br />

die wichtigste politische Massnahme dieser Jahre. Sie traf<br />

die Klöster am härtesten, da <strong>der</strong> Landbesitz ihr finanzielles<br />

Rück grat darstellte, von dem Tausende von Mönchen abhingen.<br />

Die Klöster wurden gezwungen, ihr Land <strong>auf</strong>zugeben, was gleichbe<br />

deutend mit <strong>der</strong> Vernichtung ihrer materiellen Existenzgrundlage<br />

war. Dies war wahrscheinlich die einschneidendste Verän ­<br />

<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> tibetischen Gesellschaft seit <strong>der</strong> Einführung des<br />

Buddhismus im 7. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />

In nur wenigen Jahren nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Revolte<br />

wurde das traditionelle Tibet transformiert. Diejenigen, die<br />

Wi<strong>der</strong>stand gegen die Chinesen geleistet hatten, wurden entwe<strong>der</strong><br />

umgebracht o<strong>der</strong> verschwanden in Lagern, wo harte Arbeit<br />

und katastrophale Lebensbedingungen für ihren schnellen Tod<br />

sorgten. Die Klöster konnten ihre religiösen Funktionen nur<br />

noch sehr eingeschränkt ausüben, weil ihnen das Geld zur<br />

Durch führung <strong>auf</strong>wändiger Zeremonien fehlte. Viele Mönche<br />

waren entwe<strong>der</strong> ins Ausland geflohen o<strong>der</strong> in Arbeitslagern interniert.<br />

Die Umverteilung des Landes führte zur Bildung neuer<br />

sozialer Klassen. Dieser Umbruch und <strong>der</strong> stetige Zuzug von<br />

Chinesen nach Osttibet hatten dort Hungersnöte und einen<br />

Rückgang <strong>der</strong> tibetischen Bevölkerung zur Folge. Als <strong>der</strong> Panchen<br />

Lama begann, die Konsequenzen <strong>der</strong> chinesischen Politik<br />

für die <strong>Tibeter</strong> zu kritisieren, wurde er seiner Ämter enthoben<br />

und später in einem Lager interniert, aus dem er erst 1978 entlassen<br />

wurde.<br />

Der Reformprozess kulminierte 1965 in <strong>der</strong> Errichtung <strong>der</strong><br />

Tibetischen Autonomen Region (TAR), die Tibet endgültig in die<br />

Volksrepublik China integrierte und ihren Son<strong>der</strong>status, <strong>der</strong><br />

durch das Siebzehn­Punkte­Abkommen begründet worden war,<br />

beendete.<br />

Die 1966 von Mao angeführte Kulturrevolution erfasste auch<br />

Tibet. Im Februar des Jahres verboten die Behörden das erste<br />

Mal die Durchführung <strong>der</strong> Mönlam­Zeremonie in Lhasa. Das<br />

Verbot bildete den Auftakt zu einem vollständigen Verbot <strong>der</strong><br />

Religionsausübung in <strong>der</strong> Öffentlichkeit. Im August 1966 verbreiteten<br />

die Roten Garden <strong>auf</strong> Wandzeitungen die Hauptpunkte<br />

<strong>der</strong> Kulturrevolution: Alle religiösen Feste sollten abgeschafft,<br />

äus sere Zeichen buddhistischer Religiosität wie Stupas, Mani­<br />

Mauern, Gebetsfahnen und Weihrauch und sämtliche Photos des<br />

Dalai Lamas und Panchen Lamas zerstört werden. Klöster und<br />

Tempel wurden für den öffentlichen Gebrauch umgewidmet,<br />

«feudale Bräuche» wie Parties, <strong>der</strong> Austausch von Geschenken<br />

und das Überreichen von Khatas, <strong>der</strong> traditionellen Glücksschleifen,<br />

wurden eingestellt. Auch die Muslime wurden <strong>auf</strong>gefor<strong>der</strong>t,<br />

sich <strong>der</strong> neuen Gesellschaft anzupassen und ihre traditionellen<br />

Bräuche <strong>auf</strong>zugeben.<br />

Die folgenden Jahre sahen die Ausradierung einer ganzen<br />

Kultur. Fast alle <strong>der</strong> nahezu 6000 Klöster und Tempel wurden<br />

geplün<strong>der</strong>t und zerstört, selbst vor <strong>der</strong> Jowo­Statue im Jokhang<br />

machte die Zerstörungswut nicht halt. Die kostbarsten Goldobjekte<br />

wurden nach Peking geschickt, wo sie eingeschmolzen wurden.<br />

Die Kulturrevolution bedeutete für Tibet den Versuch <strong>der</strong><br />

Zerstörung seiner kulturellen Identität.<br />

1975 führte die Regierung in Peking eine neue Siedlungspolitik<br />

in bezug <strong>auf</strong> Tibet ein. Während Amdo und Teile von Kham<br />

schon längst einen grossen Anteil an Chinesen <strong>auf</strong>wiesen, wurden<br />

nun finanzielle Anreize für Han­Chinesen geschaffen, sich<br />

in Zentraltibet nie<strong>der</strong>zulassen. Es gibt keine genauen Statistiken,<br />

einer offiziellen Schätzung zufolge dürften aber nach 1982<br />

ungefähr 96 000 Han­Chinesen nach Tibet übergesiedelt sein.<br />

113 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 114


Die Entwicklung in den achtziger Jahren<br />

Gegen Ende <strong>der</strong> siebziger Jahre, nach dem Tod von Mao, nahm<br />

die chinesische Tibet­Politik unter Deng Xiaoping eine neue<br />

Wende. Hu Yaobang, <strong>der</strong> neue Generalsekretär <strong>der</strong> kommunistischen<br />

Partei, prangerte <strong>auf</strong> seiner Tibetreise 1980 die von den<br />

Chinesen begangenen Fehler offen an. Es begann eine Phase <strong>der</strong><br />

Entspannung. Gefangene wurden aus den Lagern entlassen, und<br />

1982 wurde die Religionsausübung wie<strong>der</strong> eingeschränkt erlaubt.<br />

Klöster und Tempel wurden instandgesetzt, Mönche traten wie<strong>der</strong><br />

in die Klöster ein, und in den Schulen wurde wie<strong>der</strong> Tibetisch<br />

unterrichtet. Der Panchen Lama durfte erstmals seit fast<br />

zwanzig Jahren Tibet besuchen. Als <strong>der</strong> Dalai Lama 1983 im indischen<br />

Bodhgaya eine Belehrung zum tantrisch­buddhistischen<br />

Kālacakra­Zyklus gab, erlaubte China Hun<strong>der</strong>ten von Pilgern<br />

aus Tibet die Teilnahme. 1985 öffnete die Universität von Lhasa<br />

ihre Pforten. Auslän<strong>der</strong> durften, wenn auch mit Einschränkungen,<br />

das Land bereisen.<br />

Die zaghafte Liberalisierung hielt jedoch nicht lange an.<br />

Im September 1987 richtete <strong>der</strong> Dalai Lama während eines<br />

USA­Besuchs einen Vorschlag an die chinesische Regierung, <strong>der</strong><br />

fünf Punkte enthielt, u. a. dass ganz Tibet in eine Friedenszone<br />

umgewandelt werden sollte. Nur wenige Tage später demonstrierte<br />

eine Gruppe von Mönchen aus Drepung in Lhasa für die<br />

Unabhängigkeit Tibets. Der ersten Demonstration folgte eine<br />

zweite, in <strong>der</strong>en Verl<strong>auf</strong> die Demonstranten von <strong>der</strong> Polizei nie<strong>der</strong>geknüppelt<br />

wurden. Das erste Mal war die übrige Welt<br />

Zuschauerin <strong>der</strong> Ereignisse in Tibet, da die Szenen von ausländischen<br />

Touristen gefilmt wurden. Diese und die folgenden Demonstrationen<br />

gingen vor allem von <strong>der</strong> Mönchs­ und Nonnengemeinschaft<br />

aus, die durch die Politik <strong>der</strong> Freizügigkeit wie<strong>der</strong><br />

angewachsen war. Obwohl die chinesische Führung in den achtziger<br />

Jahren die wachsende Bedeutung <strong>der</strong> Religion in Tibet toleriert<br />

und in gewissem Masse sogar geför<strong>der</strong>t hatte, solange sie<br />

die Vorherrschaft <strong>der</strong> kommunistischen Partei nicht in Frage<br />

stellte, genügte dies dem Klerus nicht. Für die Mönche garan­<br />

tierte allein die Unabhängigkeit Tibets die Autorität <strong>der</strong> buddhistischen<br />

Lehre in Tibet. Nach dem Tod des Panchen Lamas,<br />

<strong>der</strong> sich in seinem letzten Lebensjahr sehr negativ über die bisherige<br />

Tibet­Politik Chinas geäussert hatte, eskalierte die Situation,<br />

und am 5. März 1989 kam es zu den grössten anti­chinesischen<br />

Demonstrationen seit 1959 in Lhasa. Nach dreitägigen<br />

Strassenkämpfen verhängten die Chinesen am 8. März 1989 das<br />

Kriegsrecht über Tibet. Es wurde erst Ende April 1990 <strong>auf</strong>gehoben.<br />

Zur gegenwärtigen Lage <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> in <strong>der</strong> Tibetischen Autonomen<br />

Region<br />

Die Erfahrungen <strong>der</strong> achtziger Jahre führten zu einer erneuten<br />

Revision <strong>der</strong> chinesischen Tibet­Politik. Das Pendel schlug wie<strong>der</strong><br />

in Richtung politischer Indoktrination und Unterdrückung<br />

<strong>der</strong> Religion aus. Die von <strong>der</strong> chinesischen Führung verfolgte Religionspolitik<br />

ist bis heute ambivalent. Die Äbte und hohen Lamas<br />

geniessen in <strong>der</strong> tibetischen Gesellschaft immer noch fast<br />

uneingeschränkte Autorität. Daher reglementieren die Chinesen<br />

die Zahl <strong>der</strong> Mönche in den Klöstern und versuchen, die religiösen<br />

Eliten zu beeinflussen. 1987 wurde zu diesem Zweck ein buddhistisches<br />

Kolleg in Peking gegründet, in dem junge Lamas zu<br />

«patriotischen Lamas» ausgebildet werden. Von <strong>Tibeter</strong>n selbst<br />

errichtete klösterliche Institutionen sind jedoch häufig gefährdet.<br />

So wurde das neue Serthar­Kloster in Amdo, das innerhalb<br />

kurzer Zeit ungefähr 5000 Mönche und Nonnen beherbergte, im<br />

Juli 2001 zerstört. Mönche und Nonnen werden immer wie<strong>der</strong><br />

verhaftet und in den Gefängnissen gefoltert. Wie in den achtziger<br />

Jahren finden religiöse Zeremonien in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

statt, ihre Bedeutung verschiebt sich jedoch un<strong>auf</strong>haltsam von<br />

<strong>der</strong> religiösen <strong>auf</strong> die folkloristische, für Touristen inszenierte<br />

Ebene.<br />

Die Immigration von Chinesen in die Region wird massiv<br />

geför<strong>der</strong>t. Das Leben in Tibet, das in früheren Jahrzehnten einer<br />

Strafversetzung gleichkam, ist heute attraktiv, weil die Löhne<br />

dreimal höher als im chinesischen Durchschnitt sind. Da beson­<br />

115 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 116


<strong>der</strong>s <strong>der</strong> technische Sektor und <strong>der</strong> Finanzmarkt geför<strong>der</strong>t werden,<br />

werden gut ausgebildete Immigranten angelockt, die die<br />

<strong>Tibeter</strong> in den Billiglohnsektor abdrängen, so dass sich <strong>der</strong> Lebensstandard<br />

für <strong>Tibeter</strong> weiter verschlechtert.<br />

Tibet ist reich an Bodenschätzen. Es besitzt Gold, Uran,<br />

Kohle, Kupfer, Borax, Eisen, Zink und Lithium. In grösserem<br />

Umfang wird zur Zeit nur Gold abgebaut. Die in Tibet errichteten<br />

Kraftwerke exportieren Strom nach China. Der Norden des<br />

Landes wird als Lager für nuklearen Abfall genutzt. In Osttibet<br />

gab es riesige Wäl<strong>der</strong>, <strong>der</strong>en Abholzung zu einer ökologischen<br />

Katastrophe geführt hat. Da in Tibet alle grossen Ströme Asiens<br />

entspringen, kam es zu Bodenerosion und damit zu immensen<br />

Überschwemmungsrisiken in Süd­ und Südostasien. 1998 wurden<br />

die Abholzungen zwar teilweise gestoppt, sie werden heute<br />

jedoch <strong>auf</strong> niedrigem Niveau fortgesetzt.<br />

Mitte <strong>der</strong> neunziger Jahre rückte die Kontroverse über die<br />

Wie<strong>der</strong>geburt des Panchen Lamas die Religionspolitik des kommunistischen<br />

Chinas einmal mehr in den Blickpunkt <strong>der</strong> Weltöffentlichkeit.<br />

Im Mai 1995 hatte <strong>der</strong> Dalai Lama einen Jungen aus<br />

dem nordwesttibetischen Nagchu als Wie<strong>der</strong>geburt des 7. Panchen<br />

Lamas anerkannt. Seine Anerkennung von chinesischer<br />

Seite hätte bedeutet, dass die Chinesen die religiöse Autorität<br />

des Dalai Lamas akzeptieren. So verkündeten sie, für die Auffindung<br />

des neuen Panchen Lamas sei allein die <strong>auf</strong> die Mandschu­<br />

Zeit zurückgehende Zeremonie <strong>der</strong> Goldenen Urne verbindlich,<br />

und wählten einen an<strong>der</strong>en Jungen als 8. Panchen Lama. Der<br />

vom Dalai Lama anerkannte 8. Panchen Lama verschwand noch<br />

im selben Jahr spurlos. Über seinen Verbleib ist bis heute nichts<br />

bekannt.<br />

Aufgrund <strong>der</strong> fortgesetzten Verletzung <strong>der</strong> Menschenrechte<br />

in Tibet und <strong>der</strong> Unmöglichkeit, eine tibetische kulturelle Identität,<br />

die in den eigenen religiösen und kulturellen Traditionen<br />

verwurzelt ist, zu bewahren, fliehen heute noch jährlich Hun<strong>der</strong>te<br />

von <strong>Tibeter</strong>innen und <strong>Tibeter</strong>n nach Indien ins <strong>Exil</strong>. Diese andauernde<br />

<strong>Flucht</strong> spricht das deutlichste Urteil über den Versuch<br />

Chinas, Tibet in ein sozialistisches Land zu transformieren.<br />

Tibet im <strong>Exil</strong><br />

«Little Lhasa»: Bewahrung <strong>der</strong> Tradition<br />

Dem Dalai Lama und den mit ihm nach Indien geflohenen Regierungsmitglie<strong>der</strong>n<br />

wurde 1959 von Jawaharlal Nehru ein ehemaliger<br />

englischer Erholungsort, Dharamsala, im indischen Bundesstaat<br />

Himachal Pradesh als vorübergehen<strong>der</strong> Aufenthaltsort<br />

zugewiesen. Indien verhielt sich zuerst sehr zurückhaltend gegenüber<br />

den tibetischen Flüchtlingen, da es einen Konflikt mit<br />

China vermeiden wollte. Nachdem es allerdings im Herbst 1962<br />

zu militärischen Auseinan<strong>der</strong>setzungen zwischen beiden Län<strong>der</strong>n<br />

wegen <strong>der</strong> umstrittenen McMahon­Linie gekommen war,<br />

die in einer Nie<strong>der</strong>lage Indiens endeten, än<strong>der</strong>te sich die indische<br />

Politik gegenüber dem Dalai Lama. Die indische Regierung ermutigte<br />

die <strong>Tibeter</strong>, sich politisch zu organisieren, was zur Gründung<br />

<strong>der</strong> <strong>Exil</strong>regierung führte. Darüber hinaus wurde das Nechung­Kloster<br />

des «Staatsorakels» in Dharamsala neu errichtet<br />

sowie Institutionen ins Leben gerufen, <strong>der</strong>en Aufgabe es ist, die<br />

als authentisch «tibetisch» anerkannten künstlerischen und musikalischen<br />

Traditionen zu bewahren, z. B. das Tibetan Institute<br />

for Performing Arts. Die drei grossen Klosterinstitutionen Ganden,<br />

Sera und Drepung hingegen wurden in Südindien wie<strong>der</strong>gegründet,<br />

da in <strong>der</strong> Umgebung von Dharamsala nicht genügend<br />

Land zur Verfügung stand.<br />

Die demokratisch gewählte <strong>Exil</strong>regierung in Dharamsala<br />

besteht aus Institutionen <strong>der</strong> Legislative, Exekutive und Judikative.<br />

Die Abgeordnetenversammlung, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />

tibetischen <strong>Exil</strong>bevölkerung gewählt werden, wählt die Exekutive,<br />

den Kashag (Ministerrat). Durch die demokratische Wahl <strong>der</strong><br />

Abgeordneten unterscheidet sich die <strong>Exil</strong>regierung von <strong>der</strong> Zentralregierung<br />

vor 1959. Oberste politische und religiöse Instanz<br />

bleibt jedoch <strong>der</strong> Dalai Lama. Da seine Autorität nicht demokratisch<br />

legitimiert, son<strong>der</strong>n im Religiösen begründet ist, ist die demokratische<br />

<strong>Exil</strong>regierung letztlich religiös fundiert.<br />

Tibet wies vor 1959 eine grosse ethnische und kulturelle Diversität<br />

<strong>auf</strong>. Zwischen den einzelnen Regionen gab es bedeutende<br />

sprachliche und kulturelle Unterschiede, die oft zu spannungsge­<br />

117 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 118


ladenen Beziehungen führten. Vor 1959 sahen sich die Khampa<br />

und Amdowa nicht durch die Zentralregierung von Lhasa politisch<br />

repräsentiert. Dies än<strong>der</strong>te sich im <strong>Exil</strong>. Der Dalai Lama<br />

und die <strong>Exil</strong>regierung versuchen, eine gemeinsame religiöse und<br />

kulturelle Identität aller <strong>Tibeter</strong>innen und <strong>Tibeter</strong> im <strong>Exil</strong>, unabhängig<br />

von ihrer regionalen Herkunft, herzustellen. Auf <strong>der</strong><br />

religiösen Ebene können sie an die im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t entstandene<br />

Rime­Bewegung anknüpfen, die eine Einheit in <strong>der</strong> Diversität<br />

aller tibetisch­buddhistischen religiösen Traditionen anstrebte.<br />

Politisch nimmt die tibetische <strong>Exil</strong>regierung für sich in<br />

Anspruch, als Fortsetzung <strong>der</strong> Zentralregierung von Lhasa das<br />

tibetische Volk in seiner Gesamtheit innerhalb und ausserhalb<br />

Tibets zu repräsentieren. Hierdurch wurde Dharamsala zur provisorischen<br />

Hauptstadt <strong>der</strong> gesamten tibetischen Welt. Hier soll<br />

das alte Tibet in seiner kulturellen und religiösen Authentizität<br />

bewahrt werden, was auch in <strong>der</strong> Bezeichnung «Little Lhasa»<br />

zum Ausdruck kommt. Tibetische Kultur und Religion in ihrer<br />

Unverfälschtheit werden symbolisch repräsentiert, u. a. im traditionellen<br />

Kunsthandwerk, in <strong>der</strong> Thangka­Malerei und vor allem<br />

in <strong>der</strong> religiösen Autorität <strong>der</strong> Tulkus. Die tibetische Geschichte<br />

wird als Geschichte eines friedliebenden, <strong>der</strong> Ausübung seiner<br />

Religion hingegebenen Volkes erzählt, für das Gewalt keine Option<br />

zur Konfliktlösung darstellte. Der Essentialisierung tibetischer<br />

Kultur leistet jedoch nicht nur die tibetische <strong>Exil</strong>regierung<br />

Vorschub, son<strong>der</strong>n auch die zahlreichen westlichen Anhängerinnen<br />

und Anhänger des tibetischen Buddhismus, die das verklärte<br />

Bild eines Shangri La, eines buddhistischen Paradieses hinter<br />

dem Himalaya, <strong>auf</strong> das Tibet vor 1959 und sein Erbe in <strong>der</strong> tibetischen<br />

<strong>Exil</strong>gesellschaft projizieren.<br />

Aus: Karénina Kollmar­Paulenz: Kleine Geschichte Tibets. München: Verlag C. H. Beck 2006.<br />

S. 159–174.<br />

Arbeits<strong>auf</strong>träge<br />

Kapitel: Unter chinesischer Herrschaft: Tibet nach 1950:<br />

– Wie bewertete die kommunistische chinesische Regierung<br />

die Unabhängigkeitsbestrebungen Tibets nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg?<br />

– Welche Vereinbarungen beinhaltete das «Siebzehn-<br />

Punkte-Abkommen» (1951) und welche Bedeutung hatte<br />

dieses für das Verhältnis Tibet–China?<br />

– Aus welchen Gründen kam es zum Aufstand im Jahre<br />

1959 und zur <strong>Flucht</strong> des Dalai Lamas?<br />

– Welche unmittelbaren Folgen hatte die <strong>Flucht</strong> des Dalai<br />

Lamas für das tibetische Volk?<br />

– Beschreiben Sie die Auswirkungen <strong>der</strong> von Mao Zedong<br />

angeführten Kulturrevolution (ab 1966) für Tibet.<br />

– Beschreiben Sie die politischen Entwicklungen in den<br />

achtziger und neunziger Jahren.<br />

– Informieren Sie sich über die Menschenrechte und<br />

Menschenrechtsverletzungen (s. Recherche-Aufträge<br />

S. 147) und ziehen Sie Schlussfolgerungen.<br />

Kapitel: Tibet im <strong>Exil</strong>:<br />

– Aus welchen Institutionen besteht die tibetische <strong>Exil</strong>regierung<br />

in Dharamsala (Indien)?<br />

– Welche vorrangigen Ziele verfolgt die <strong>Exil</strong>regierung?<br />

119 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 120


Pressetexte zum 50. Jahrestag des Tibet-Aufstands (März 2009)<br />

Text 7<br />

Neue Zürcher Zeitung, 10. März 2009<br />

Peter A. Fischer<br />

Chinas <strong>Tibeter</strong> im<br />

Mo<strong>der</strong> ni sierungs-Stress.<br />

Öko nomische Rückständigkeit,<br />

spirituelle Stärke<br />

und vielschichtige<br />

Benachteiligung<br />

In Chinas Provinz Qinghai leben neben Hanchinesen und Muslimen<br />

auch viele <strong>Tibeter</strong>. Die Chinesen haben diesen manchen<br />

Fortschritt gebracht. Doch für das tibetische Bemühen um Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

in Autonomie und ohne Verlust <strong>der</strong> eigenen Kultur<br />

haben sie kein Verständnis.<br />

Xining, Ende Februar<br />

Xining, die Hauptstadt <strong>der</strong> chinesischen Provinz Qinghai, liegt<br />

unten im Tal. Unten heisst hier <strong>auf</strong> gut 2200 Metern über Meer.<br />

Die Gipfel <strong>der</strong> umliegenden imposanten, trocken­kargen Berglandschaft<br />

ragen teilweise über 5000 Meter hinaus. Sie bergen zu<br />

dieser Jahreszeit noch tiefgefrorene Wasserläufe, welche den für<br />

Nordostchina lebenswichtigen Gelben Fluss speisen. Die Provinz<br />

Qinghai, die gut 17­mal grösser ist als die <strong>Schweiz</strong>, beherbergt<br />

5,5 Millionen Einwohner. Von diesen leben gut 1,8 Millionen in<br />

<strong>der</strong> Agglomeration Xining. In <strong>der</strong> Hauptstadt herrscht ein lautes<br />

Treiben, wie in vielen an<strong>der</strong>en chinesischen Städten. Nebst <strong>der</strong><br />

Zentralverwaltung, dem Handel und den Universitäten haben<br />

sich im Tal Bergb<strong>auf</strong>irmen, Schwerindustrie sowie grosse Kraftwerke<br />

angesiedelt.<br />

Negatives soll verborgen bleiben<br />

Die <strong>Tibeter</strong>, welche das Gebiet zu ihrer Kulturregion Amdo zählen,<br />

sind längst in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit. Offiziell machen sie noch gut<br />

einen Fünftel <strong>der</strong> Einwohner <strong>der</strong> Provinz Qinghai aus, zu denen<br />

seit langem auch Muslime und in den letzten Jahrzehnten immer<br />

mehr Hanchinesen zählen. Viele Muslime sind Bauern, manche<br />

gewiefte Händler. Die Han dominieren die Verwaltung, die Industrie<br />

und sind auch im Handel und Gewerbe zu finden. Der<br />

Lebensraum <strong>der</strong> tibetischen Halbnomaden hingegen ist das <strong>auf</strong><br />

gegen 4000 Metern über Meer gelegene Hochplateau. Auch viele<br />

Bauerndörfer in den Bergtälern werden fast nur von <strong>Tibeter</strong>n<br />

bewohnt.<br />

«Ein <strong>Schweiz</strong>er will nach Dangcai? Das geht lei<strong>der</strong> nicht.<br />

Dangcai ist zurzeit für Auslän<strong>der</strong> gesperrt», informiert ein Beamter<br />

<strong>der</strong> Sicherheitspolizei den Fahrer. Dieser rief dort an,<br />

nachdem er erfahren hatte, dass <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er das <strong>auf</strong> Tibetisch<br />

Takster genannte kleine Bergdorf besuchen möchte, das rund<br />

eine Stunde Fahrt von Xining entfernt liegt und in dem einst <strong>der</strong><br />

vor fünfzig Jahren ins <strong>Exil</strong> geflüchtete Dalai Lama als Bauernsohn<br />

geboren wurde. Der Fahrer verweigert bedauernd die Fahrt.<br />

Er musste sich verpflichten, im Zweifelsfall die Sicherheitsdienste<br />

anzurufen. Er würde seine Lizenz und damit seine Lebensgrundlage<br />

verlieren, wenn er trotzdem hinfahren würde, erklärt<br />

er. Kollegen, die es dorthin geschafft haben, berichten, dass die<br />

wenigen Einwohner verängstigt geflüchtet seien und jedes Gespräch<br />

verweigert hätten. «Hier herrscht keine Freiheit wie bei<br />

121 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 122


euch in Europa; die Leute wissen, dass sie <strong>auf</strong>passen müssen, mit<br />

wem sie reden und was sie sagen», kommentiert <strong>der</strong> Übersetzer.<br />

Im Gegensatz zur angrenzenden Autonomen Region Tibet,<br />

die <strong>der</strong>zeit für Journalisten und Auslän<strong>der</strong> ganz geschlossen ist,<br />

gilt die Provinz Qinghai grundsätzlich als offen. Aber lokale Behörden<br />

haben die meisten <strong>der</strong> (zahlreichen) Orte, in denen vor<br />

einem Jahr Demonstrationen von <strong>Tibeter</strong>n für mehr religiöse<br />

und kulturelle Freiheiten und grössere Autonomie stattgefunden<br />

haben, zu für Auslän<strong>der</strong> gesperrtem Gebiet erklärt. Obwohl, wie<br />

sich bald zeigt, die Realitäten vielschichtig sind und auch die<br />

Chinesen manch Positives für sich beanspruchen könnten, soll<br />

Negatives verborgen bleiben und nichts das Bild <strong>der</strong> chinesischen<br />

Propaganda trüben.<br />

Viele Einschränkungen erweisen sich während eines fünftägigen<br />

Besuchs allerdings als von eher theoretischer Natur. Es ist<br />

möglich, praktisch ungehin<strong>der</strong>t über 1300 Kilometer durch die<br />

eindrückliche Landschaft zu reisen. Nirgends stossen wir <strong>auf</strong><br />

Strassensperren, und einzig beim Übernachten gilt es <strong>auf</strong>zupassen,<br />

weil Hotels im Prinzip die Polizei informieren müssten; diese<br />

könnte einschreiten und den Besucher umgehend zurück in<br />

die Hauptstadt spedieren. Weil es nicht in erster Linie <strong>der</strong> Journalist<br />

ist, <strong>der</strong> mit harten Sanktionen rechnen muss, son<strong>der</strong>n dessen<br />

Gesprächspartner und Begleiter, die offenbar in ernsthafte<br />

Schwierigkeiten geraten könnten, wenn einschlägige Behörden<br />

von unbotmässigen Kontakten mit Auslän<strong>der</strong>n erfahren, sollen<br />

hier keine Orte und Namen genannt werden.<br />

Die an den Hängen klebenden Bauerndörfer mit ihren ungepflasterten<br />

Gassen und den Häusern aus Tonerde gleichen sich.<br />

Dass <strong>Tibeter</strong> hier leben, ist an Gebetsfahnen und kleinen Klöstern<br />

zu erkennen, während in den muslimischen Siedlungen keine<br />

Fahnen wehen, dafür Moscheen stehen und die Männer Hüte<br />

tragen. Im Hof des Hauses einer tibetischen Familie spazieren<br />

Hühner und ein Schwein; draussen ist ein kleiner Acker, <strong>auf</strong> dem<br />

Weizen und Gerste angebaut werden. Einige Schafe und Yaks<br />

werden in den Bergen zum Weiden geführt. Teile eines geschlachteten<br />

Schweins hängen im Freien zum Trocknen. Zum Essen<br />

gibt es die traditionelle tibetische Hauptspeise Tsampa, ein mit<br />

den blossen Fingern geknetetes Gemisch aus Yak­Butter, Zucker<br />

und geröstetem Gerstenmehl, sowie Brot. Bei beson<strong>der</strong>en Anlässen<br />

kommt Fleisch <strong>auf</strong> den Tisch; Gemüse, das in dieser Höhe<br />

kaum wächst, gibt es selten.<br />

Bildung und ethnische Spannungen<br />

Die meisten Bauern tragen farbige tibetische Klei<strong>der</strong>, teilweise<br />

ergänzt durch mo<strong>der</strong>ne Mützen und Jacken. Von Wind und Wetter<br />

gezeichnete Gesichtszüge machen es schwer, das Alter <strong>der</strong><br />

Leute zu schätzen. Die Klei<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> sind sehr schmutzig.<br />

Ein Knabe leidet seit längerem unter akutem Durchfall. Medikamente<br />

nutzt die Familie aber nicht – ob weil ihr das Geld dazu<br />

fehlt o<strong>der</strong> weil sie den Künsten <strong>der</strong> Ärzte misstraut, bleibt unklar.<br />

In <strong>der</strong> Stube des geräumigen Hofhauses steht ein kleiner Altar<br />

mit einem Bild des Dalai Lama. Eigentlich haben die Chinesen<br />

solches streng verboten, doch <strong>der</strong> Dorfvorsteher sei ein <strong>Tibeter</strong><br />

und deswegen störe sich niemand daran, dass sie alle ihr<br />

geistiges Oberhaupt verehrten, heisst es. Die Grossmutter kann<br />

we<strong>der</strong> lesen noch schreiben. Auch ihr Sohn, <strong>der</strong> Bauer, und dessen<br />

Frau sind Analphabeten. Ein zweiter Sohn ist einst illegal<br />

über die Grenze nach Indien geflüchtet und hat dort in einer<br />

exiltibetischen Schule Tibetisch und Englisch gelernt. Er kehrte<br />

illegal wie<strong>der</strong> ins chinesische Tibet zurück, weil er seiner Heimat<br />

helfen wollte. Über die Probleme, die er wegen seines Ausbruchs<br />

mit den chinesischen Behörden hatte, will er nicht sprechen. Er<br />

versucht nun mit Hilfe von Gel<strong>der</strong>n von europäischen Buddhisten<br />

lokale Schulen zu renovieren und zu unterstützen. Auch hat<br />

er den Bau einer Wasserfassung am Berghang organisiert, welche<br />

die Häuser mit fliessendem Wasser versorgt. Früher mussten<br />

die Dorfbewohner das Wasser zu Fuss fast einen Kilometer vom<br />

Bach holen. Auch die chinesische Regierung hat dem Dorf Fortschritt<br />

gebracht: Seit einigen Jahren führt eine geteerte Strasse<br />

in den Ort, und erst seit fünf Jahren gibt es Strom. Damit ist das<br />

Leben etwas einfacher geworden, aber es ist immer noch hart.<br />

123 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 124


Am meisten Sorge bereitet <strong>der</strong> Bauernfamilie, dass es im Dorf<br />

keine gute Schule gibt, in <strong>der</strong> die Kin<strong>der</strong> auch richtig Tibetisch<br />

lernen können. Einige Dutzend Kilometer weiter haben Bauern<br />

mit eigenem Einsatz und Gel<strong>der</strong>n aus dem Ausland eine Schule<br />

hergerichtet, in <strong>der</strong> es nun heizbare Räume gibt. Die Regierung<br />

zahlt die chinesischen Lehrer und Unterrichtsmaterialien, doch<br />

bis jetzt nicht den Tibetisch­Unterricht. Alle über dreissigjährigen<br />

Bauern im Dorf können we<strong>der</strong> lesen noch schreiben und sprechen<br />

auch kein Chinesisch. Ohne ihre Kin<strong>der</strong> hätten sie deshalb<br />

Mühe, sich in einer Kreisstadt o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong> Hauptstadt zurechtzufinden.<br />

Schon als sie Kin<strong>der</strong> gewesen seien, hätten die Muslime im<br />

Nachbardorf eine Schule gehabt, erzählen einige. Doch weil die<br />

<strong>Tibeter</strong> an<strong>der</strong>e Sitten hätten und Schweinefleisch ässen, seien sie<br />

dort nicht willkommen gewesen. Auch heute komme es gelegentlich<br />

zu Spannungen. Als die Muslime in ihre knappen Weidegründe<br />

eingedrungen seien, hätten die <strong>Tibeter</strong> die Nachbarn in die<br />

<strong>Flucht</strong> schlagen müssen. Ein Muslim sei dabei lei<strong>der</strong> umgekommen.<br />

Die Dorfältesten hätten den Fall dann geregelt.<br />

Die tibetischen Bauern in <strong>der</strong> Region galten seit alters als<br />

gute Krieger. Bis heute sind sie für ihre sportliche Fertigkeit mit<br />

Pfeil und Bogen bekannt. Die chinesischen Kaiser unterstützten<br />

einst aktiv die Verbreitung des Buddhismus in <strong>der</strong> Region, um so<br />

die <strong>Tibeter</strong> zu befrieden. Sie wüssten, dass Gewaltanwendung<br />

nicht rechtens sei und nur Mitgefühl und Barmherzigkeit zum<br />

Ziel führe, sagen die Bauern. Der Dalai Lama predige das. Noch<br />

mittelalterlicher wirkt das Leben <strong>der</strong> tibetischen Halbnomaden<br />

im Hochland. In Schaffellkleidung gehüllt, treiben langhaarige<br />

Hirten und ihre Hunde bei Minustemperaturen und starkem<br />

Wind die Schaf­ und Yak­Herden über die Weiden. Einige sind<br />

<strong>auf</strong> Motorrä<strong>der</strong>n unterwegs. In Dörfern hängen viele untätig herum.<br />

Mit den Familien sind in den letzten Jahrzehnten auch die<br />

Tierbestände stark gewachsen. Die Regierung hat viele Weidegründe<br />

einzäunen lassen, um die Hirten zu einem nachhaltigeren<br />

Umgang mit dem Land zu zwingen. Dennoch sind überall<br />

Tiere zu sehen. Viele Gebiete wirken überweidet und zeigen deutliche<br />

Anzeichen von Erosion.<br />

In neuen Siedlungen ohne Arbeit<br />

In einem Hochtal verblüfft eine riesige Ansammlung von Reihenhaussiedlungen,<br />

welche von <strong>der</strong> Regierung für die Nomaden<br />

gebaut worden sind. Der grösste Teil davon steht noch leer. Zwei<br />

rund dreissigjährige Ehepaare wohnen in einem <strong>der</strong> vergleichsweise<br />

komfortablen Backsteinhäuser mit angrenzendem Stall<br />

für einige Schafe. Sie seien letztes Jahr hierhergezogen, damit<br />

sie ihre Kin<strong>der</strong> in die Schule schicken und dennoch bei sich behalten<br />

könnten, erzählen sie. Die Regierung habe ihnen die Häuser<br />

mitsamt Wasserversorgung gratis zur Verfügung gestellt. Sie<br />

seien <strong>auf</strong>gefor<strong>der</strong>t worden, einen Teil ihrer Tiere zu verk<strong>auf</strong>en<br />

und in die Häuser zu ziehen; das gehöre zu einem chinesischen<br />

Programm zum Schutz gefährdeter Gebiete vor Überweidung.<br />

Einige Tiere hätten sie denn auch verk<strong>auf</strong>t, zur Finanzierung<br />

<strong>der</strong> Ausstattung mit Sofa und Fernseher und eines mo<strong>der</strong>nen<br />

Fahrrads für die Kin<strong>der</strong>. Doch die ältere Generation wolle nicht<br />

hierherziehen; sie sei mit den restlichen Tieren <strong>auf</strong> dem Hochland<br />

geblieben. Nur Junge und gebrechliche Alte wohnten hier.<br />

Das grosse Problem: Es gibt in <strong>der</strong> neuen Siedlung für die<br />

<strong>Tibeter</strong> keine Arbeit. Um beispielsweise eine professionelle<br />

Fleisch­ o<strong>der</strong> Wollverarbeitung – praktisch die gesamte Viehwirtschaft<br />

dient bloss dem lokalen Gebrauch – <strong>auf</strong>zuziehen, fehlen<br />

den <strong>Tibeter</strong>n das Kapital, das Know­how, <strong>der</strong> Zugang zu den<br />

Märkten in <strong>der</strong> Hauptstadt und wohl auch die unternehmerischen<br />

Ambitionen. Die Eltern hoffen, dass ihre Kin<strong>der</strong> einst <strong>auf</strong><br />

die Uni gehen können und einen sicheren Job zum Beispiel in <strong>der</strong><br />

Verwaltung finden werden. Dazu müssen sie allerdings gut Chinesisch<br />

lernen. Überall in den Wintersiedlungen und Dörfern<br />

<strong>auf</strong> dem Hochland stehen Klöster. An<strong>der</strong>s als in <strong>der</strong> säkular geprägten<br />

Gesellschaft <strong>der</strong> Hanchinesen sind hier offensichtlich<br />

grosse Teile <strong>der</strong> Dorfbevölkerung damit beschäftigt, Heiligtümer<br />

zu umrunden, Gebetstrommeln zu bewegen, sich in <strong>der</strong> eisigen<br />

Kälte vor Tempeln <strong>auf</strong> den Boden zu werfen und einen Teil<br />

ihrer geringen Einkünfte den Klöstern zu spenden. Sie erwerben<br />

sich so religiöse Meriten für die nächste Wie<strong>der</strong>geburt. Trotz behördlichen<br />

Einschränkungen und verstärkter Überwachung<br />

125 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 126


fehlt es den Klöstern offensichtlich nicht an Mönchen. Obwohl<br />

eigentlich zuerst eine obligatorische weltliche Schulbildung abgeschlossen<br />

werden müsste, sind viele Kin<strong>der</strong> und Jugendliche unter<br />

ihnen. Traditionell schicken tibetische Grossfamilien jeweils<br />

eines ihrer Kin<strong>der</strong> ins Kloster, das dort buddhistisch unterwiesen<br />

wird und lesen und schreiben lernt.<br />

Mangelndes gegenseitiges Verständnis<br />

In einem Kloster haben Mönche eine gemischte Internatsschule<br />

gegründet, in <strong>der</strong> Jugendliche ohne Schulbildung einerseits tibetisch<br />

und chinesisch lesen und schreiben lernen können und an<strong>der</strong>erseits<br />

das Malen von religiösen Thanka­Bil<strong>der</strong>n erlernen<br />

sollen, die sie später verk<strong>auf</strong>en können. Die lokalen Behörden bezahlen<br />

einen weltlichen Lehrer. Doch während im Kloster an<br />

weiteren Goldverzierungen gearbeitet wird, stehen den Schülern<br />

in <strong>der</strong> Schule vorläufig nur Strohlager als Betten zur Verfügung,<br />

und Teile des Daches sind defekt. Im Winter gibt es keinen Strom<br />

und kein fliessendes Wasser. Einheimische spenden offenbar lieber<br />

für religiöse Tempel als für eine Schule. Und Gel<strong>der</strong> aus dem<br />

Ausland anzunehmen, wird den Mönchen schwergemacht.<br />

Auch das mythologische «Shangri­La» <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> ist im<br />

Umbruch begriffen und wirkt <strong>der</strong>zeit mehr hart und wild als<br />

edel. Unter den meisten <strong>Tibeter</strong>n scheint die Einsicht unbestritten,<br />

dass Bildung und Zugang zu mo<strong>der</strong>nen Arbeitsmöglichkeiten<br />

Schlüsselelemente einer besseren Zukunft sind. Viele wollen<br />

sich dabei jedoch ihre Kultur erhalten, <strong>der</strong>en Kern sie in den<br />

überlieferten religiösen Traditionen und in ihrer tibetischen<br />

Sprache sehen. Benachteiligungen durch mangelnde Qualifikation<br />

und fehlende Ambitionen sowie durch Repression <strong>der</strong> Ordnungskräfte<br />

und erzwungene Sinisierung schüren gärenden Unmut<br />

und ethnische Spannungen. Dies scheint teilweise den Blick<br />

dafür zu verstellen, dass Chinas Regime tatsächlich einiges an<br />

Fortschritt in <strong>der</strong> Form von besseren Strassen, Strom, Bildung<br />

und rudimentärer medizinischer Versorgung gebracht hat.<br />

Die Proteste vom vergangenen Jahr haben dabei die Fronten<br />

nur noch verhärtet. Vielen indoktrinierten Funktionären scheint<br />

das Verständnis völlig zu fehlen für den Wert <strong>der</strong> tibetischen<br />

Kultur und Religiosität. Im Streben nach einer stärker autonom<br />

gestalteten Mo<strong>der</strong>nisierung ohne Kulturverlust sehen sie nur<br />

Rückständigkeit und die Gefährdung von Chinas territorialer<br />

Einheit. Umgekehrt wollen manche <strong>Tibeter</strong> in allen Hanchinesen<br />

und Muslimen nur Besetzer sehen und verkennen dabei, dass<br />

sie zur Erhaltung einer lebendigen tibetischen Kultur in einer<br />

sich mo<strong>der</strong>nisierenden Gesellschaft zwingend auch das Vertrauen<br />

und die Herzen <strong>der</strong> Hanchinesen gewinnen müssten.<br />

Peter A. Fischer: Chinas <strong>Tibeter</strong> im Mo<strong>der</strong>nisierungs­Stress. Ökonomische Rückständigkeit,<br />

spirituelle Stärke und vielschichtige Benachteiligung. © Neue Zürcher Zeitung, 2009. Mit<br />

freundlicher Genehmigung <strong>der</strong> Neuen Zürcher Zeitung. http://www.nzz.ch.<br />

127 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 128


Text 8<br />

Neue Zürcher Zeitung, 11. März 2009<br />

Peter A. Fischer<br />

China sieht im Dalai<br />

Lama einen Spalter.<br />

Gegen seitige Vorwürfe<br />

und verbreitetes Unverständis<br />

Während <strong>der</strong> Dalai Lama den Chinesen vorwirft, die<br />

tibe tische Kultur auslöschen zu wollen, will Peking in<br />

ihm nur einen gefährlichen Spalter sehen. Die verhär-<br />

teten Fronten verunmöglichen einen konstruktiveren<br />

Zugang.<br />

pfi, Peking, 10. März Eine völlige Verdrehung <strong>der</strong> Tatsachen hat<br />

<strong>der</strong> Chefsprecher des chinesischen Aussenministeriums, Ma Chaoxu,<br />

am Dienstag dem Dalai Lama und seinen Getreuen vorgeworfen.<br />

«Demokratische Reformen» hätten in den letzten fünfzig<br />

Jahren in Tibet ein feudalistisches System <strong>der</strong> Leibeigenschaft<br />

und Sklaverei durch eine ganz neue Periode <strong>der</strong> Entwicklung ersetzt.<br />

Scharfe Vorwürfe<br />

Die <strong>Tibeter</strong> hätten weitgehende Autonomierechte, und China<br />

habe in Tibet entscheidende Fortschritte in dem fundamentalsten<br />

Menschenrecht erzielt, dem Recht <strong>auf</strong> ein besseres Leben.<br />

Dass <strong>der</strong> Dalai Lama und seine Anhänger immer wie<strong>der</strong> die Fakten<br />

verdrehten, habe nur einen Grund: Sie seien gefährliche Separatisten,<br />

welche Tibet von China abspalten wollten.<br />

In einer Rede zum fünfzigsten Jahrestag des Aufstands <strong>der</strong><br />

<strong>Tibeter</strong> in Lhasa gegen die chinesischen Kommunisten hatte <strong>der</strong><br />

Dalai Lama am Dienstag zuvor die «demokratischen Reformen»<br />

<strong>der</strong> Chinesen hart gegeisselt. Diese seien den <strong>Tibeter</strong>n ohne<br />

Rücksicht <strong>auf</strong> <strong>der</strong>en Traditionen <strong>auf</strong>gezwungen worden und hätten<br />

in ein unglaubliches Chaos geführt. Während <strong>der</strong> fünfzig<br />

Jahre hätten repressive Erziehungskampagnen den <strong>Tibeter</strong>n das<br />

Leben buchstäblich immer wie<strong>der</strong> zur Hölle gemacht; Hun<strong>der</strong>ttausende<br />

seien über die Jahre den Verfolgungen zum Opfer gefallen.<br />

Aufruf zur Koexistenz<br />

Bis heute lebten die <strong>Tibeter</strong> in konstanter Angst, und die chinesischen<br />

Behörden begegneten ihnen mit grossem Misstrauen.<br />

Religion, Kultur und tibetische Identität stünden in Tibet kurz<br />

vor <strong>der</strong> Vernichtung. Der von den Chinesen forcierte Bau von<br />

Strassen und Infrastruktur diene in Wirklichkeit nur dem Ziel,<br />

die <strong>Tibeter</strong> zu sinisieren. Trotzdem hielt <strong>der</strong> Dalai Lama in seiner<br />

Rede an seinem «mittleren Weg» fest, bei dem er die territoriale<br />

Zugehörigkeit Tibets zu China ausdrücklich anerkennt,<br />

dafür aber in friedlichen Verhandlungen mit Peking eine weitgehende<br />

kulturelle, religiöse und auch politische Autonomie für die<br />

<strong>Tibeter</strong> erreichen will. <strong>Tibeter</strong> und Chinesen müssten in Freundschaft<br />

miteinan<strong>der</strong> koexistieren, nur das garantiere China längerfristig<br />

Stabilität und Einheit, sagte <strong>der</strong> Dalai Lama.<br />

Der chinesische Aussenminister Yang Jiechi hatte am Wochen<br />

ende dem Oberhaupt <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> kurzerhand die Legitimation<br />

abgesprochen. Der Dalai Lama sei keine religiöse Figur,<br />

son<strong>der</strong>n bloss ein schlechter Politiker, verkündete Yang. Die Dif­<br />

129 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 130


ferenzen zwischen China und dem Dalai Lama hätten nichts mit<br />

Religion, Min<strong>der</strong>heitenschutz, Kultur und Menschenrechten zu<br />

tun, wie im Westen fälschlicherweise angenommen werde, son<strong>der</strong>n<br />

rührten nur daher, dass China seine territoriale Einheit<br />

gegen Versuche, Tibet abzuspalten, resolut verteidige. In einem<br />

Memorandum über die angestrebte Autonomie hätten <strong>der</strong> Dalai<br />

Lama und dessen Gefolgschaft zugegeben, dass sie in allen von<br />

<strong>Tibeter</strong>n bewohnten Gebieten eine autonome Zone schaffen wollten,<br />

aus <strong>der</strong> das chinesische Militär und Vertreter an<strong>der</strong>er ethnischer<br />

Gruppen vertrieben werden sollten. Damit würden sie etwa<br />

einen Viertel <strong>der</strong> Fläche Chinas de facto abspalten. Kein Land<br />

<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Welt würde je solche Angriffe einer Min<strong>der</strong>heit <strong>auf</strong> seine<br />

Einheit akzeptieren.<br />

Ganz in diesem Sinne hat <strong>der</strong> chinesische Präsident Hu Jintao<br />

seine tibetische Verwaltung am Montag <strong>auf</strong>gefor<strong>der</strong>t, «eine<br />

grosse Mauer gegen Separatismus und für nationale Einheit» zu<br />

bauen und zu verstärken. Gleichzeitig müssten noch stärkere<br />

Anstrengungen unternommen werden zur wirtschaftlichen Entwicklung<br />

des Gebiets und zur Schaffung eines «vereinigten, demokratischen,<br />

prosperierenden, harmonischen sozialistischen<br />

neuen Tibet».<br />

Mit dem Dalai Lama und dessen Anhängern will <strong>der</strong> chinesische<br />

Präsident offensichtlich gar nicht ernsthaft ins Gespräch<br />

kommen. Hu, <strong>der</strong> bereits vor zwanzig Jahren als Parteichef <strong>der</strong><br />

Autonomen Region Tibet das Militär hatte <strong>auf</strong>fahren lassen, um<br />

gegen Demonstrationen von <strong>Tibeter</strong>n für mehr Freiheit und Demokratie<br />

vorzugehen, scheint dar<strong>auf</strong> zu setzen, dass sich das<br />

Problem von selbst lösen wird, wenn <strong>der</strong> charismatische, aber<br />

alternde Dalai Lama das Zeitliche segnet.<br />

Ruhe unter starker Militärpräsenz<br />

Seit den Demonstrationen vor einem Jahr, bei denen es teilweise<br />

zu gewaltsamen Exzessen von <strong>Tibeter</strong>n gegen Muslime und Hanchinesen<br />

gekommen war, haben sich die Fronten zwischen den<br />

Lagern verhärtet. Peking verstärkte seine Militär­ und Polizeipräsenz,<br />

ordnete in den Klöstern Umerziehungskampagnen an,<br />

liess die Vergabe von Pässen an <strong>Tibeter</strong> (und Muslime) völlig einstellen<br />

und schränkte die Bewegungsfreiheit <strong>der</strong> Mönche ein.<br />

Zahlreiche Auslän<strong>der</strong> wurden aus den Gebieten ausgewiesen<br />

o<strong>der</strong> erhielten ihre Visa nicht mehr verlängert. Für Journalisten<br />

ist die Autonome Region Tibet seit einem Jahr gesperrt und das<br />

Arbeiten in den umliegenden tibetischen Gebieten erschwert.<br />

Am Dienstag blieb es in den tibetischen Gebieten – soweit<br />

bekannt – denn auch ruhig. Doch es herrscht ein Klima <strong>der</strong> Unfreiheit<br />

und Angst. Viele <strong>Tibeter</strong> hoffen, dass es zu keinen neuen<br />

Unruhen kommt, damit sich die Lage wie<strong>der</strong> etwas entspannt<br />

und zum alten Pragmatismus zurückgekehrt werden kann. Denn<br />

es stimmt zwar, dass die Kulturrevolution den <strong>Tibeter</strong>n – wie <strong>der</strong><br />

übrigen Bevölkerung Chinas auch – grosses Leid gebracht hat.<br />

Doch <strong>der</strong> Vorwurf des Dalai Lama, die tibetische Kultur sei kurz<br />

davor, von den Chinesen ausgelöscht zu werden, wirkt überzogen.<br />

Trotz Einschränkungen lebendige Kultur<br />

Bei einer kürzlich gemachten Reise durch vorwiegend von <strong>Tibeter</strong>n<br />

bewohnte Gebiete in Qinghai zeugten zahlreiche Klöster<br />

und Mönche sowie das Verhalten <strong>der</strong> Nomaden und <strong>der</strong> tibetischen<br />

Bauern von einem nach wie vor sehr regen religiösen Leben,<br />

ganz an<strong>der</strong>s als in den mehrheitlich von Hanchinesen bewohnten<br />

Gebieten. Doch die meisten tibetischen Bauern und<br />

Nomaden sind sehr arm und leben teilweise noch fast wie im Mittelalter.<br />

Viele können we<strong>der</strong> lesen noch schreiben. Es bestehen<br />

ethnische Spannungen um Weidegründe und Wasser vor allem<br />

zwischen <strong>Tibeter</strong>n und Muslimen. Die von den Chinesen ge­<br />

bauten Strassen, die Stromleitungen und Schulen bringen tatsächlich<br />

Fortschritt. Mehr <strong>Tibeter</strong> können heute auch Tibetisch<br />

schreiben lernen, doch viele, welche eine bessere Ausbildung genossen<br />

haben, wollen nicht mehr in das harte Hirtenleben zurück.<br />

Die grosse Herausfor<strong>der</strong>ung besteht deshalb wohl darin,<br />

nach Wegen zu suchen, die Mo<strong>der</strong>nisierung zu bewältigen, ohne<br />

dass es dabei zu allzu grossen kulturellen Brüchen und damit<br />

sozialen Spannungen kommt.<br />

131 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 132


Wenn die Chinesen einsehen würden, dass dies ohne Respekt<br />

vor <strong>der</strong> (vom Dalai Lama repräsentierten) tief verankerten<br />

Religiosität <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> und <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> Klöster kaum gelingen<br />

kann, wäre schon viel gewonnen. Was Peking <strong>der</strong>zeit im Verhältnis<br />

mit Taiwan beteuert, gilt auch für Tibet: Nicht das Militär<br />

kann die Probleme wirklich lösen, vielmehr gälte es vorerst, Vertrauen<br />

und damit die Basis für eine konstruktivere Herangehensweise<br />

zu schaffen.<br />

Peter A. Fischer: Chinas <strong>Tibeter</strong> im Mo<strong>der</strong>nisierungs­Stress. Ökonomische Rückständigkeit,<br />

spirituelle Stärke und vielschichtige Benachteiligung. © Neue Zürcher Zeitung, 2009. Mit<br />

freundlicher Genehmigung <strong>der</strong> Neuen Zürcher Zeitung. http://www.nzz.ch.<br />

133 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 134


Text 9<br />

Die Zeit, 12. März 2009<br />

Georg Blume<br />

Protest im Lotossitz.<br />

Wie tibetische Mönche<br />

für ein Essen zu Ehren<br />

des Dalai Lama Kopf<br />

und Kragen riskierten<br />

Qinghai<br />

Das tibetische Kloster in den hohen Bergen <strong>der</strong> westchine­<br />

sischen Provinz Qinghai steht leer. Die Mönche haben sich<br />

versteckt, in einem nahen Hofhaus mit lehmverschmierten Betonwänden.<br />

Drinnen haben sie ein Porträt des Dalai Lama <strong>auf</strong>gehängt.<br />

Vor dem Bild haben die Mönche Butterlampen entzündet<br />

und ein Festmahl <strong>auf</strong>gestapelt: Berge von gesüsstem<br />

Hefebrot, fritierten Fladen, Äpfel und Bananen. Dazu Pepsi­<br />

Cola und Orangenlimonade. Noch haben sie nichts davon angerührt.<br />

Sie sitzen im Lotossitz <strong>auf</strong> blau­weissen Teppichen und<br />

beten. Unter roten Decken, die sie um die Schultern gewickelt<br />

haben, tragen sie goldbraune Seidenjacken. An ihren Handgelenken<br />

blinken die Gebetsketten. Ihre staubigen Schuhe haben<br />

sie nicht ausgezogen.<br />

«Wir beten für die Rückkehr des Dalai Lama», sagen sie. Mit<br />

ihrer Feier gedenken sie des 10. März, an dem vor genau 50 Jahren<br />

<strong>der</strong> Dalai Lama nach Indien floh.<br />

Doch genau das ist verboten.<br />

Die Mönche gehen ein dreifaches Risiko ein: Sie brechen die<br />

Vorschrift, nach <strong>der</strong> sie in China nicht das Inbild des Dalai Lama<br />

anbeten dürfen. Sie machen das am Vortag des politisch hochsensiblen<br />

Jahrestages, zu dem ihnen die kommunistischen Behörden<br />

ausdrücklich jede Art religiöser Betätigung untersagt<br />

haben. Und sie laden dazu eine Fotografin und einen Reporter<br />

<strong>der</strong> ZEIT ein. Das ist für die Mönche gefährlich. Ihnen wurde bei<br />

Wi<strong>der</strong>stand mit <strong>der</strong> Schliessung ihres Klosters gedroht. Doch die<br />

Mönche wollen <strong>der</strong> Welt beweisen, dass ihnen ihr Glaube wichtiger<br />

ist als die Vorschriften <strong>der</strong> Partei. «Wir danken, dass Sie aus<br />

<strong>der</strong> Ferne zu uns gekommen sind, und hoffen, dass Ihre Zeitung<br />

unser Kloster bekannter machen wird», grüsst ihr Klostervorsteher<br />

im diplomatischen Tonfall. Dann bietet er ein Glas Tee an.<br />

Unser Treffen hat Duojie* organisiert, ein junger tibetischer<br />

Student aus <strong>der</strong> westchinesischen Millionenmetropole Lanzhou.<br />

Duojie hat keinen einfachen Job. Der Fahrer, ein Chinese, darf<br />

nicht erfahren, worum es geht. Auslän<strong>der</strong>n ist für unbestimmte<br />

Zeit <strong>der</strong> Zutritt zu den meisten tibetischen Siedlungsgebieten im<br />

Westen Chinas versperrt. Peking aber hat ein riesiges Sicherheits<strong>auf</strong>gebot<br />

nach Tibet entsandt. Es patrouilliert <strong>auf</strong> Strassenkreuzungen<br />

und durch die Zentren <strong>der</strong> grösseren Städte. Die<br />

chinesische Regierung will damit vermeiden, dass sich die Ereignisse<br />

des letzten Jahres wie<strong>der</strong>holen. Viele tibetische Klöster befanden<br />

sich vor einem Jahr in offener Revolte. In Absprache mit<br />

<strong>der</strong> <strong>Exil</strong>bewegung nutzten sie die Aufmerksamkeit vor den Olympischen<br />

Spielen in Peking zum Aufstand gegen die chinesische<br />

Herrschaft. Auch die Mönche, die uns jetzt empfangen, schwenkten<br />

vor einem Jahr die tibetische Nationalflagge. Duojie kennt sie<br />

gut. Er hat in seiner Jugend zwei Jahre als junger Mönch in ihrem<br />

Kloster verbracht. Seine Eltern waren so arm, dass sie für<br />

ihn kein Schulgeld bezahlen konnten. Duojie verdankt den Mönchen<br />

viel, obwohl er es später vorzog, allein in die Stadt zu ziehen.<br />

Jetzt will er ihnen helfen. Er glaubt, dass internationale<br />

135 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 136


Aufmerksamkeit ihnen Selbstvertrauen gibt. Doch die Behörden<br />

dürfen von <strong>der</strong> Natur unseres Besuches nichts erfahren, sonst<br />

drohen Duojie und den Mönchen Strafen.<br />

Vor den Kameras <strong>der</strong> Polizei legt uns <strong>der</strong> Vorsteher die Gebetsschals um<br />

Ganz unerkannt bleiben wir nicht. Kein tibetisches Kloster ist<br />

seit den Unruhen des letzten Jahres ohne ständige Bewacher. Im<br />

Hof des Klosters, einem grossen, neu angelegten Komplex hinter<br />

bunt bemalten Mauern, parkt ihr schwarzer Volkswagen Santana<br />

3000. Duojie ist überrascht. «Schnell weg hier», zischt er.<br />

Dann treffen er und <strong>der</strong> Vorsteher per Handy eine Verabredung.<br />

Er kehrt wie<strong>der</strong> um und stellt uns den Klosterpolizisten als Mitglie<strong>der</strong><br />

einer buddhistischen Vereinigung im Ausland vor. Vor<br />

ihren Kameras legt uns <strong>der</strong> Vorsteher den traditionellen weissen<br />

Gebetsschal <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> um. Das übliche Zeremoniell. So begrüssen<br />

auch kommunistische Ka<strong>der</strong> in Tibet ihre Gäste.<br />

Damit geben sich die zwei Polizisten zufrieden. Sie tragen<br />

dunkelblaue Ka<strong>der</strong>klei<strong>der</strong> mit Abzeichen und Polizeigürtel. Einer<br />

ist Chinese, einer <strong>Tibeter</strong>, das ist in jedem Kloster <strong>der</strong> Gegend<br />

so. Der <strong>Tibeter</strong> kann mit den Mönchen reden, die meist nur<br />

Tibetisch sprechen. Der Chinese überwacht das Ganze.<br />

Der Vorsteher erklärt den beiden, dass er uns die Ruinen des<br />

600 Jahre alten Klosters über den Klippen am an<strong>der</strong>en Flussufer<br />

zeigen will. Bis dorthin ist es ein langer Spaziergang, vorbei an<br />

ärmlichen Lehmhütten und matschigen Reisfel<strong>der</strong>n. Unterwegs<br />

berichtet <strong>der</strong> Vorsteher, wie sehr sich das Leben im Kloster seit<br />

einem Jahr verän<strong>der</strong>t habe. Dabei spricht er die unangenehmsten<br />

Dinge mit einem freundlichen Lächeln an, so wie man es von<br />

einem Lama wie ihm erwartet.<br />

Früher hätten sich die Mönche frei gefühlt, sagt er. Seit dem<br />

Aufstand im letzten März aber könnten sie nichts mehr unbeobachtet<br />

tun. Bei jedem Gang zur Bushaltestelle o<strong>der</strong> zum Bahnhof<br />

werde er fotografiert. Jeden Abend rufe bei ihm ein Regierungsbeamter<br />

an, um nach beson<strong>der</strong>en Vorkommnissen des Tages zu<br />

fragen. Alle seine Telefongespräche würden abgehört. Die Stimmung<br />

sei bedrückend, er fühle ständige Trauer. Der 10. März sei<br />

für ihn beson<strong>der</strong>s belastend. Er und seine Mönche dürften an<br />

dem Tag nicht das Kloster verlassen. Deshalb stehe es am Vortag<br />

leer. Damit die Mönche in kleinen Gruppen im Geheimen gedenken.<br />

Seine Erzählung erinnert an die Schicksale politischer Dissidenten<br />

in China. Auch sie stehen oft unter Beobachtung von<br />

Zivilpolizisten und dürfen an bestimmten Jahrestagen – meist<br />

ist es <strong>der</strong> 4. Juni, <strong>der</strong> Tag <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Studentenrevolte<br />

von 1989 – ihr Haus nicht verlassen. Nur gibt es von ihnen<br />

in China wenige Dutzende. Nun aber hat sich Peking entschieden,<br />

Zigtausende tibetische Mönche wie Dissidenten zu behandeln.<br />

Es gab Zeiten, als Mönche und Kommunisten miteinan<strong>der</strong> auskamen<br />

Grund dafür gibt es aus Pekinger Sicht offenbar genug. Tatsächlich<br />

hat die Radikalität <strong>der</strong> Mönche unter <strong>der</strong> chinesischen<br />

Repression und dem politischen Druck <strong>der</strong> tibetischen <strong>Exil</strong>bewegung<br />

zugenommen. Der Vorsteher lässt kein Argument aus<br />

Peking gelten, während er mit leichten Strassenschuhen durch<br />

die Pfützen <strong>der</strong> Feldwege stapft. Er ärgert sich immer noch über<br />

den 14. März des letzten Jahres. An diesem Tag erlebte Lhasa,<br />

die Hauptstadt des tibetischen Buddhismus, den grössten Aufstand<br />

seit Jahrzehnten. Die frustrierte tibetische Jugend randalierte<br />

und zerstörte die chinesischen Geschäfte <strong>der</strong> Stadt. 20 Chinesen<br />

kamen dabei nach offiziellen Angaben ums Leben. Seither<br />

benutzt Peking das Ereignis, um seine drakonischen Sicherheitsmassnahmen<br />

in Tibet zu rechtfertigen. Der Vorsteher aber sieht<br />

darin eine hinterhältige List <strong>der</strong> Chinesen, die, als Mönche verkleidet,<br />

die Gewalt angezettelt hätten. Dass es möglicherweise<br />

tibetische Studenten in Lhasa waren, die den Protest entfachten,<br />

so wie es Augenzeugen damals berichteten, lässt <strong>der</strong> Lama nicht<br />

gelten. Seine Ansichten entsprechen ganz <strong>der</strong> Argumentation<br />

<strong>der</strong> <strong>Exil</strong>regierung unter dem Dalai Lama. Offenbar ist sein Kontakt<br />

zur <strong>Exil</strong>bewegung trotz aller Überwachung sichergestellt.<br />

Der Vorsteher und Duojie erreichen den Fluss, über dessen<br />

Ufern sich in schwindelerregen<strong>der</strong> Höhe die Ruinen des alten<br />

137 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 138


Klosters erheben. Hier haben sie zusammen gebadet, als Duojie<br />

ein kleiner Junge war. Die Kulturrevolution, als die Kommunisten<br />

die tibetischen Klöster zerstörten und plün<strong>der</strong>ten, war damals<br />

schon vergessen. Beide können sich an Zeiten erinnern, als<br />

die Mönche mit den Kommunisten einigermassen auskamen.<br />

«Wenn wir uns um die Armen im Dorf kümmerten, nahmen wir<br />

<strong>der</strong> Partei die Arbeit ab. Das wurde von <strong>der</strong> KP auch anerkannt»,<br />

sagt <strong>der</strong> Vorsteher.<br />

Auf dem Rückweg hat sich Duojie in <strong>der</strong> nahen Kreisstadt<br />

mit Vater und Bru<strong>der</strong> zum Essen verabredet. Wir überqueren die<br />

Strasse zum Restaurant. Als <strong>der</strong> Vater kurz dar<strong>auf</strong> das Lokal<br />

betritt, haben ihn Polizisten bereits ausgehorcht, wer wir seien.<br />

Der Vater bleibt dar<strong>auf</strong>hin stumm. Draussen marschieren mit<br />

weissen Helmen, Schlagstöcken und Schutzschil<strong>der</strong>n ausgerüstete<br />

Militärpolizisten in grüner Uniform. Sie werden von Polizeijeeps<br />

begleitet, die demonstrativ langsam in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Strasse<br />

fahren. Duojie wird es ungemütlich. Schnell verabschiedet er<br />

sich von seiner Familie, lässt den Fahrer vorfahren. Bloss weg.<br />

Als das Auto endlich die Landstrasse zurück nach Lanzhou erreicht,<br />

gibt Duojie dem Fahrer eine DVD. Er lässt laut stellen.<br />

Mo<strong>der</strong>ner tibetischer Folk. Über den Bildschirm im Sonnenschutz<br />

des Beifahrers flimmern Aufnahmen von Bergen und<br />

Klöstern. Er lehnt sich zurück, singt mit. Auf einem 3800 Meter<br />

hohen Pass steigt er aus, zerreisst Papier und wirft es als Konfetti<br />

in die Lüfte. Es geht ihm wie<strong>der</strong> besser. Ob er die Reise bereue?<br />

«Das musste sein», sagt Duojie. Später ruft noch einmal <strong>der</strong> Vater<br />

an. Die Polizei sei bei ihm gewesen. Die Eltern hätten gesagt,<br />

dass sie uns nicht kennten. Wir seien Freunde ihres Sohnes.<br />

«Nicht schlimm. Da passiert nichts mehr», sagt Duojie.<br />

* Namen von <strong>der</strong> Redaktion geän<strong>der</strong>t<br />

Georg Blume: Protest im Lotossitz. Wie tibetische Mönche für ein Essen zu Ehren des Dalai<br />

Lama Kopf und Kragen riskierten. © Die Zeit, 2009.<br />

139 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 140


Text 10<br />

Tages-Anzeiger, 10. März 2009<br />

Christof Münger<br />

Zuerst schickte Mao<br />

Blumen, dann kamen<br />

die Soldaten<br />

Heute vor 50 Jahren haben sich Hun<strong>der</strong>ttausende <strong>Tibeter</strong><br />

gegen ihre chinesischen Besatzer erhoben. Mao<br />

Zedong liess den Aufstand brutal nie<strong>der</strong>schlagen, <strong>der</strong><br />

Dalai Lama floh nach Indien.<br />

Im Januar 1950 war Mao Zedong zu Gast in Moskau. Erst seit<br />

kurzem an <strong>der</strong> Macht, wollte Mao wissen, wie man sich dort hält.<br />

Und wer wusste das besser als Genosse Stalin? Der gab ihm den<br />

Rat, religiöse und ethnische Min<strong>der</strong>heiten zu unterjochen. Das<br />

war in Maos Sinn: Seit er am 1. Oktober 1949 nach Bürgerkrieg<br />

und Revolution die Volksrepublik ausgerufen hatte, war er entschlossen,<br />

Tibet dem kommunistischen China einzuverleiben.<br />

Joseph Stalin fand deshalb nur lobende Worte: «Die <strong>Tibeter</strong><br />

müssen unterdrückt werden.» Stalin schlug vor, Tibet und an<strong>der</strong>e<br />

Grenzregionen mit Han­Chinesen zu besiedeln, die über 90<br />

Prozent <strong>der</strong> chinesischen Bevölkerung ausmachten, um ein Gegengewicht<br />

zu den ethnischen Min<strong>der</strong>heiten herzustellen. Genau<br />

dies tat das kommunistische Regime dann auch.<br />

Zunächst aber folgte Mao Stalins Empfehlung und entsand­<br />

te 20 000 Soldaten nach Tibet, das seit 1913 unabhängig war. Die<br />

Truppen blieben aber <strong>auf</strong> sich gestellt, da noch keine richtige<br />

Strasse ins himalajsche Hochland führte. Der Nachschub an Essen<br />

und Munition blieb aus, die Chinesen litten unter <strong>der</strong> dünnen<br />

Luft und konnten die schlecht ausgerüstete, tibetische Armee<br />

nicht besiegen.<br />

Also än<strong>der</strong>te Mao seine Taktik und verhandelte mit dem Dalai<br />

Lama, wie die chinesische Dissidentin Jung Chang in ihrer<br />

Mao­Biografie schreibt. 1951 einigten sie sich <strong>auf</strong> ein Abkommen,<br />

das vorsah, dass Tibet als autonome Region in China fortbestehen<br />

sollte. Drei Jahre später reiste <strong>der</strong> 19­jährige Dalai Lama als<br />

geistiger und politischer Führer Tibets nach Peking. Mao bemühte<br />

sich, seinen Gast für sich einzunehmen und damit dessen<br />

Reich, das er als historischen Teil Chinas betrachtete.<br />

Der Dalai Lama wie<strong>der</strong>um versuchte seine Unabhängigkeit<br />

zu stärken, indem er beantragte, in die Kommunistische Partei<br />

<strong>auf</strong>genommen zu werden, was aber abgelehnt wurde. Nach seiner<br />

Rückkehr erhielt <strong>der</strong> Dalai Lama allerdings von Mao einen<br />

Brief, worin dieser schrieb, wie sehr er ihn vermisse.<br />

Derweil trieb Mao, wie ebenfalls von Stalin empfohlen, den<br />

Bau von zwei Strassen nach Tibet voran. Sie öffneten <strong>der</strong> Volksarmee<br />

das Tor zu Tibet. Die Streitkräfte wurden jedoch bereits<br />

in den ans Hochland angrenzenden Gebieten in Kämpfe verwickelt.<br />

Die Volksarmee konnte die Aufstände nur mit Artillerie<br />

und Flugzeugen sowjetischer Herkunft nie<strong>der</strong>schlagen. Deshalb<br />

verschob Peking den Plan nochmals, Tibet zu «maoisieren». Die<br />

Rebellen waren ortskundig und hatten einen «starken Kampfgeist»,<br />

wie Mao feststellte. Auch dank ausländischer Hilfe: Der<br />

amerikanische Geheimdienst CIA warf per Fallschirm Waffen<br />

ab. Die USA betrachteten Tibet als Aussenposten im Kampf gegen<br />

den Kommunismus.<br />

Peking spricht von «Befreiung»<br />

Es war allerdings nur eine Frage <strong>der</strong> Zeit, bis <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand in<br />

Tibet brechen würde. Als die Volksrepublik 1958 zum «Grossen<br />

Sprung nach vorn» ansetzte – ein Wirtschaftsför<strong>der</strong>ungspro­<br />

141 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 142


gramm, das in einer Hungersnot mit 20 bis 40 Millionen Toten<br />

endete –, waren die Tage des unabhängigen Tibet gezählt. Mao<br />

entsandte seine Volksbefreiungsarmee, die erneut <strong>auf</strong> erbitterten<br />

Wi<strong>der</strong>stand stiess. Das war ganz in Maos Sinn. Das sei <strong>der</strong><br />

beste Anlass, um «das Problem gründlich lösen zu können».<br />

Am 10. März 1959 war es soweit. Der tibetische Volks<strong>auf</strong>stand<br />

begann, als sich das Gerücht verbreitete, die Chinesen<br />

wollten den Dalai Lama entführen. Hun<strong>der</strong>ttausende demonstrierten<br />

in Lhasa. Zunächst schauten die Besatzer zu. Am 17.<br />

März begannen sie, Lhasa zu beschiessen, drei Tage später fiel<br />

die Hauptstadt. Gemäss übereinstimmenden Quellen wurden<br />

86 000 <strong>Tibeter</strong> getötet, unter ihnen viele Mönche; Zehntausende<br />

wurden in Straflager verschleppt, gefoltert o<strong>der</strong> zu Zwangsarbeit<br />

gezwungen. Die Chinesen plün<strong>der</strong>ten und zerstörten Tempel<br />

und Klöster.<br />

<strong>Flucht</strong> auch in die <strong>Schweiz</strong><br />

Peking interpretiert die Ereignisse bis heute als Befreiungskrieg.<br />

Dabei sei die Feudalherrschaft in Tibet beendet worden. In <strong>der</strong><br />

Tat lag die politische Macht traditionell bei <strong>der</strong> religiösen Elite.<br />

Den Klöstern gehörte das Land, das die Bauern als Leibeigene<br />

bebauten. Allerdings wollten die «befreiten» <strong>Tibeter</strong> nichts wissen<br />

vom «neuen sozialistischen Tibet». Und sie halfen dem Dalai<br />

Lama, am Tag des chinesischen Angriffs zu fliehen. Er überquerte<br />

die Gebirgszüge des Himalaja und gelangte ins indische <strong>Exil</strong><br />

in Dharamsala, gefolgt von einem anwachsenden und anhaltenden<br />

Strom von mehr als 100 000 Flüchtlingen. 1000 fanden in <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> eine neue Heimat.<br />

Dass dem Dalai Lama die <strong>Flucht</strong> gelang, lag offenbar im Interesse<br />

des Regimes: Gemäss Biografin Jung Chang hatte Mao<br />

angeordnet, den Dalai Lama entkommen zu lassen. Er befürchtete,<br />

dessen Tod würde die Weltöffentlichkeit gegen China <strong>auf</strong>bringen,<br />

vor allem die buddhistischen Län<strong>der</strong> und Indien.<br />

In Moskau war man an<strong>der</strong>er Meinung. Nach Stalins Tod war<br />

Nikita Chruschtschow zum starken Mann <strong>auf</strong>gestiegen. Und <strong>der</strong><br />

hätte den Dalai Lama nicht entkommen lassen. «Es wäre besser,<br />

er wäre in einem Sarg», ärgerte sich Chruschtschow, als er im<br />

Oktober 1959 in Peking zu Gast war. Gemäss dem sowjetischen<br />

Gesprächsprotokoll des Gipfeltreffens fürchtete Moskau den lebenden<br />

Dalai Lama aus demselben Grund wie Peking den toten.<br />

Chruschtschow hatte die propagandistische Chance erkannt, die<br />

sich dem Westen im Kalten Krieg bot: «Jetzt ist <strong>der</strong> Dalai Lama<br />

in Indien, und vielleicht geht er in die USA.»<br />

Das hat das Oberhaupt <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> seither immer wie<strong>der</strong> getan.<br />

Heute ist er ein politischer Popstar – nicht nur in den USA,<br />

son<strong>der</strong>n im Westen allgemein.<br />

Christof Münger: Zuerst schickte Mao Blumen, dann kamen die Soldaten. © Tamedia, 2009.<br />

143 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 144


Arbeits<strong>auf</strong>träge Texte 7–10<br />

– Lesen Sie 2 bis 3 <strong>der</strong> vorliegenden Zeitungsberichte<br />

bzw. Reportagen vergleichend und nennen Sie einige<br />

Kernaussagen.<br />

– Welche historischen und politischen Hintergründe<br />

werden ausführlich dargestellt?<br />

– In welchen Formulierungen kommt die persönliche<br />

Meinung <strong>der</strong> Journalisten zum Ausdruck?<br />

– Welchen/e Text/e finden Sie beson<strong>der</strong>s informativ, an<br />

schaulich, interessant? – Begründen Sie Ihre Meinung.<br />

145 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>


Recherche-Aufträge<br />

Menschenrechte<br />

und Menschenrechtsverletzungen<br />

Auf <strong>der</strong> Website www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language.aspx?...<br />

finden Sie die «Allgemeine Erklärung <strong>der</strong> Menschenrechte» <strong>der</strong><br />

Vereinten Nationen (1948).<br />

– Greifen Sie zwei bis drei Menschenrechte heraus, die<br />

Ihnen beson<strong>der</strong>s wichtig und unverzichtbar scheinen.<br />

Begründen Sie Ihre Meinung, indem Sie <strong>auf</strong> Ihr<br />

Wissen und <strong>auf</strong> Ihre Erfahrung zurückgreifen, und<br />

führen Sie Beispiele an, die Ihre Ausführungen illus-<br />

trieren. Ziehen Sie eine Schlussfolgerung.<br />

Auf <strong>der</strong> Website www.igfm­muenchen.de finden Sie die umfangreichste<br />

Sammlung von Doku men ten zum Thema Tibet und<br />

Menschenrechte in deutscher Sprache. Verantwortlich ist die Arbeits<br />

gruppe München <strong>der</strong> Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte,<br />

IGFM.<br />

– Lesen Sie einige <strong>der</strong> Nachrichten, die IGFM im Internet<br />

veröffentlicht hat, und kommentieren Sie diese <strong>auf</strong> dem<br />

Hintergrund Ihrer Kenntnis <strong>der</strong> «Allgemeinen Erklärung<br />

<strong>der</strong> Menschenrechte» (1948).<br />

147 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>


Text 11<br />

Manuel Bauer<br />

Dzapowa (Tibet),<br />

5. April 1995<br />

Am Morgen erweisen sich die fünfzehn Minuten, die wir für den<br />

Abbruch des Lagers benötigen, als verhängnisvoll: Die Kälte<br />

packt uns. Wir versuchen durch Springen und Bewegung unsere<br />

Füsse warm zu halten, doch wird das Gefühl auch nach dem langen<br />

Tagesmarsch nicht in die Zehen zurückkehren. Wir finden<br />

an <strong>der</strong> Wasserstelle wie<strong>der</strong> Wasser, können es aber kaum trinken,<br />

denn es gefriert im Becher sofort ein. Es muss um minus<br />

dreissig Grad sein.<br />

Von nun an werden wir <strong>auf</strong> dem Gyabrag­Gletscher gehen. Die<br />

Höhe lässt uns nur langsam vorankommen. Alle paar Meter<br />

braucht <strong>der</strong> Körper einen Halt, um zu Sauerstoff zu kommen.<br />

Wie haushohe Haifischzähne säumen bizarre Eisformationen<br />

unseren Weg. Den Rucksack empfinde ich als enorme Last. Die<br />

Gedanken beschränken sich <strong>auf</strong> das Notwendigste: Vorwärts,<br />

vorwärts. Wasser, Wasser. Der Körper beansprucht alle Energien.<br />

Auch die kleinsten Bewegungen werden zu grössten Anstrengungen.<br />

Einzelne Wegstrecken legen wir <strong>auf</strong> blankem Eis<br />

zurück. Ein <strong>auf</strong>gefangener Ausrutscher bedeutet grossen Kraftverlust.<br />

Plötzlich sehen wir vom Pass her drei Männer <strong>auf</strong> uns<br />

zukommen. Ich bleibe etwas zurück, denke, es sei besser, ihnen<br />

nicht zu dritt zu begegnen. Absurd müssen wir wirken. Ein Tibe­<br />

ter, ein <strong>Schweiz</strong>er und ein Mädchen. Doch als ich <strong>auf</strong>schliesse,<br />

ist Kelsang mit ihnen in ein Gespräch verwickelt, sie entpuppen<br />

sich als Schmuggler. Er erkundigt sich nach den Wegverhält­<br />

nissen <strong>auf</strong> <strong>der</strong> nepalesischen Seite. Wir verabschieden uns undgehen<br />

weiter über die unendlich scheinende Schneefläche des<br />

Nangpa­Gletschers. Die Etappen werden immer kürzer, bis wir<br />

nur noch wenige Schritte am Stück gehen können. Wir kauen<br />

Eis, um zu etwas Flüssigkeit zu kommen. Eis ist besser als<br />

Schnee, gleich kalt im Mund, birgt aber mehr Flüssigkeit. Sich<br />

hinzusetzen ist so anstrengend, dass wir uns bald nur noch in<br />

den Schnee fallen lassen. Nach dem Aufstehen braucht es mehrere<br />

Minuten, bis <strong>der</strong> Körper sich gefasst hat und das Weitergehen<br />

möglich ist. Längere Pausen gönnen wir uns nicht, zum Essen<br />

sind wir zu erschöpft. Immer häufiger merke ich, dass ich das<br />

Fotografieren vergesse. Ich muss mich immer von Neuem dazu<br />

zwingen. Nur schon die Kamera vor das Auge zu heben, braucht<br />

volle Konzentration. Ein Objektivwechsel erscheint als unerreichbare<br />

Leistung. Mache ich in Bild, verliere ich so viel Zeit,<br />

dass es lange dauert, bis ich Kelsang und Yangdol einhole. Meist<br />

treffe ich dann <strong>auf</strong> sie, wie sie mit verdrehten Glie<strong>der</strong>n, das Gesicht<br />

nach unten, im Schnee liegen. Vor Erschöpfung reglos wirken<br />

sie wie zwei Tote. Ich lasse mich dann neben sie fallen und<br />

hoffe, dass mir Kelsang noch einige Minute Ruhe gönnt.<br />

Das Wetter ist gut. Die Orientierung ist einigermassen einfach,<br />

obwohl ein Weg nicht zu sehen ist. Doch oft ist er spürbar.<br />

Wo vor uns an<strong>der</strong>e Flüchtling gingen, ist <strong>der</strong> Grund fester und<br />

vermag uns zu tragen. Geraten wir davon ab, versinken wir tief<br />

im Schnee. Wie <strong>auf</strong> einer unsichtbaren Brücke arbeiten wir uns<br />

langsam vorwärts, <strong>der</strong> Freiheit zu. Plötzlicher Schneefall o<strong>der</strong><br />

stärkere Winde wären <strong>der</strong> Tod. Der Schnee bleibt in dieser Höhe<br />

und Kälte sehr lange pulvrig. Vom Wind <strong>auf</strong>gewirbelt, gelangt er<br />

in die Lunge und wird zu Wasser. Eine häufige Todesursache <strong>auf</strong><br />

dem Nangpa La ist das Ersticken. Ganze Flüchtlingsgruppen<br />

verloren so ihr Leben. Das Schneegestöber reicht uns zeitweise<br />

bis zur Brust.<br />

Langsam steigen wir an, am Horizont <strong>der</strong> breite Rücken des<br />

149 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 150


Passes. Fuss um Fuss. Und nach einigen Schritten vor Erschöpfung<br />

in den Schnee fallen. Die Steigung hält sich in Grenzen,<br />

doch die Höhe und <strong>der</strong> Wind machen uns zu schaffen. Manchmal<br />

müssen wir über brüchigen Harst. Das Einsinken strengt an. Es<br />

dünkt mich, ich funktioniere nur noch <strong>auf</strong> Befehle des Stammhirns,<br />

taumle betäubt weiter, immer weiter.<br />

Irgendwann sind wir oben. In 5716 Meter Höhe, <strong>der</strong> Nangpa<br />

La, Wasserscheide und Grenze. Auf <strong>der</strong> einen Seite das besetzte<br />

Tibet, <strong>auf</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Nepal und dahinter Indien. Kelsang ruft<br />

«Lha Gyallo» in den kalten Wind, «Sieg den Göttern», und legt<br />

gemeinsam mit Yangdol eine Khatag, die traditionelle Opfergabe<br />

in Form eines weissen Seidenschals am La Tse, dem heiligen Manisteinh<strong>auf</strong>en,<br />

nie<strong>der</strong>. Kelsang nimmt mir die Kamera ab, um<br />

mich zusammen mit Yangdol zu fotografieren. Ich knie nie<strong>der</strong><br />

neben das kleine Bündel, das in mehrere Jacken eingewickelte<br />

Mädchen mit seiner unbeschreiblichen Kraft. Es ist <strong>der</strong> zehnte<br />

Tag <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>. Wir verweilen nicht lange. Wolken ziehen hinter<br />

den Gipfeln <strong>auf</strong>.<br />

– Die endlos wirkende weisse Ebene neigt sich nach <strong>der</strong> Passhöhe<br />

gegen die nepalesische Seite.<br />

Etwas weiter südlich beginnt <strong>der</strong> Nangpa­Gletscher steil abzufallen.<br />

Immer wie<strong>der</strong> stürzen wir <strong>auf</strong> dem blanken Eis. Steile<br />

Stücke rutschen wir <strong>auf</strong> dem Hintern hinunter, überspringen<br />

Spalten. In <strong>der</strong> zerklüfteten Eiswüste fällt es schwer, einen Weg<br />

zu finden. An einem zugefrorenen See gelingt es Kelsang nach<br />

mehrmaligen Versuchen, ein Loch in das Eis zu schlagen, indem<br />

er einen Felsbrocken <strong>auf</strong> das Eis schmettert. Endlich wie<strong>der</strong> einige<br />

Schlucke Wasser.<br />

Das Wetter verschlechtert sich und gibt Grund zur Besorgnis.<br />

Das Gehen <strong>auf</strong> dem Gletscher ist heimtückisch, Schnee und<br />

Eis, manchmal mit Geröll übersät. Yangdol hat sich den Fuss<br />

verstaucht, will sich aber dennoch nicht tragen lassen. Wir hoffen,<br />

bis Lunag zu kommen. Manchmal gilt es <strong>auf</strong> spitzen Graten<br />

das Gleichgewicht zu wahren, links und rechts stürzen Eiswände<br />

und Überhänge in Spalten o<strong>der</strong> gefrorene Seen. Gegen Abend<br />

beginnt es zu schneien, beim Einnachten hole ich meine Taschen­<br />

lampe hervor. Ich verstehe nicht, wieso es mir Kelsang nicht<br />

gleichtut. Er erklärt mit wenigen Gesten, dass er seine Lampe<br />

weggeworfen habe. Er hat sich über die schlechte chinesische<br />

Qualität geärgert. Von zwei Dutzend Ersatzlämpchen funktionierte<br />

kaum die Hälfte. Dazu kam, dass er realisierte, dass ich<br />

auch eine bei mir hatte. So muss mein kleines Ding uns dreien<br />

den Weg weisen. Doch schnell versiegt das kleine Licht. Die Batterien<br />

halten <strong>der</strong> Kälte nicht stand. Die Erschöpfung ist un­<br />

beschreiblich. Wir hatten kaum gerastet, kaum gegessen und<br />

höchstens einen halben Liter Wasser getrunken. Im Delirium<br />

läuft <strong>der</strong> Körper mechanisch und langsam voran. Das Grosshirn<br />

scheint ausgeklinkt zu sein. Um etwa zweiundzwanzig Uhr kommen<br />

wir zu kleinen Viehstallungen, die uns knapp Platz bieten.<br />

Wir sinken erschöpft nie<strong>der</strong>. Es dauert eine Weile, bis ich realisiere,<br />

dass dies Lunag sein soll. Ich hatte die Karte falsch interpretiert<br />

und hier eine kleine Siedlung mit mindestens einer warmen<br />

Suppe erwartet. Die Nacht ist kalt, und es zieht durch die<br />

Steinmauern. Vor dem Schlafen zwinge ich mich, einen <strong>der</strong><br />

Getreidestengel, die ich aus <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> mitgebracht habe, zu<br />

essen.<br />

Plötzlich streift uns ein Lichtstrahl. Wir sind zu erschöpft,<br />

um zu reagieren. Dann schaut uns das besorgte Gesicht eines<br />

Sherpas aus dem Dunkeln entgegen. Er bringt uns eine Tasse<br />

warmes Wasser. Er ist unterwegs zum Cho Oyu, um das Basislager<br />

einer deutschen Achttausen<strong>der</strong>expetition vorzubereiten.<br />

Aus: Manuel Bauer: <strong>Flucht</strong> aus Tibet. Zürich: Limmat Verlag 2009.<br />

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Text 12<br />

Christian Schmidt<br />

Jigme Sangpo Takna:<br />

Freiheit für Tibet!<br />

1929 in Lhasa (Ü­Tsang), geboren, 36 Jahre inhaftiert,<br />

2002 entlassen, seither in Rikon (Zürich)<br />

Der Händedruck von Jigme Sangpo Takna ist sanft und weich,<br />

aber ohne schwach zu sein. Schwäche wäre auch mit <strong>der</strong> Existenz<br />

dieses Mannes unvereinbar. Jigme Sangpo Takna sass von 1965<br />

bis 2002 in chinesischen Gefängnissen. Sein Körper ist gezeichnet<br />

von Foltermalen; jahrelang lebte er in Isolation. Trotzdem hat er<br />

bis zum letzten Tag <strong>der</strong> Haft nicht <strong>auf</strong>gehört, seinen For<strong>der</strong>ungen<br />

treu zu bleiben. Ungebrochen, unbeeindruckt und unbeirrbar. Genauso<br />

ist er im Gespräch. Er diktiert den Verl<strong>auf</strong>, er lässt sich<br />

nicht unterbrechen, bis alles gesagt ist. Erst dann gestattet er die<br />

nächste Frage.<br />

Heute lebt Jigme Sangpo Takna in einer winzigen Klause im<br />

Kloster Rikon. Auf <strong>der</strong> Türe steht: «Free Tibet!» In seinem Zimmer<br />

gibt es nur wenige Dinge, darunter ein kleines weisses Pferd,<br />

einen breitkrempigen Strohhut und einen Stapel Koffer. Es ist die<br />

Einrichtung eines Mannes, <strong>der</strong> sich ein Leben lang gewohnt war,<br />

mit nichts auszukommen, und es ist die Einrichtung eines Mannes,<br />

<strong>der</strong> stets zum Abschied bereit ist.<br />

Jigme Sangpo Takna sagt: «Ich bin glücklich.»<br />

Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 156


Das Elend <strong>der</strong> Gefängniszeit begann 1965, sechs Jahre nach dem<br />

Aufstand in Lhasa und sechs Jahre nach <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Kundüns.<br />

Damals kritisierte <strong>der</strong> Panchen Rinpoche die chinesische Regierung.<br />

Er sagte: «Es ist alles an<strong>der</strong>s, als ihr uns versprochen habt.<br />

Tibet entwickelt sich nicht. Es gibt keine Religionsfreiheit. Unsere<br />

Sprache verschwindet. Die Leute hungern.» Die Worte lösten<br />

bei den Besetzern viel Unmut aus, und sie verlangten in <strong>der</strong> Folge<br />

von allen gebildeten Menschen in Lhasa, dass sie sich von<br />

Panchen Rinpoches Vorwürfen distanzieren, und zwar öffentlich.<br />

Das wurde auch von mir gefor<strong>der</strong>t. Die Chinesen befahlen eine<br />

Vollversammlung, und je<strong>der</strong> musste Stellung nehmen. Alle meine<br />

Landsleute verurteilten die Äusserungen und distanzierten<br />

sich. Nur ich nicht. Als ich an <strong>der</strong> Reihe war, sagte ich: «Ich habe<br />

kein Vertrauen in die chinesische Regierung. China hat sich mit<br />

dem Hintern <strong>auf</strong> unser Land gesetzt. Ihr erdrückt uns!» Im Saal<br />

herrschte Schweigen, auch bei den Chinesen, die vorne sassen<br />

und die Vollversammlung leiteten. Sie reagierten nicht. Als sich<br />

alle geäussert hatten, konnten wir nach Hause, auch ich.<br />

Schon bald wurde die nächste Vollversammlung angekündigt.<br />

Diesmal wurde ich namentlich <strong>auf</strong>gerufen, musste <strong>auf</strong>stehen<br />

und – gebückt – stehen bleiben. Dann überhäuften sie mich<br />

mit Vorwürfen. Ich sei reaktionär. Ich würde alte und falsche<br />

Geschichten über Tibet erzählen. Ich sei gegen den Fortschritt.<br />

Ich sei für die Unabhängigkeit. Anstatt in den Kommunismus zu<br />

vertrauen, würde ich noch immer beten. Zudem würde ich, <strong>der</strong><br />

damals als Lehrer arbeitete, die Kin<strong>der</strong> schlagen.<br />

Alle kritisierten mich, auch Arbeitskollegen und Eltern von<br />

Schülern. Alle waren gegen mich. Was soll ich dazu sagen? Ich<br />

tat nichts an<strong>der</strong>es, als meine Meinung zu äussern und meine<br />

Überzeugung zu vertreten. Und ja, es ist wahr, manchmal schlug<br />

ich die Kin<strong>der</strong>, mit dem Lineal, wenn sie zu laut waren.<br />

Doch auch an diesem Tag konnte ich wie<strong>der</strong> nach Hause. Es<br />

dauerte nochmals zwei Tage, bis ich verhaftet wurde. Polizisten<br />

kamen und sagten: «Pack das Bettzeug!» Sie fuhren mich ins Gefängnis<br />

von Lhasa.<br />

Ich wurde in die Abteilung 2 gebracht. Sie besteht aus zwei<br />

Wellblechbaracken mit je zwanzig Räumen. In jedem Zimmer leben<br />

zwischen zehn und fünfzehn Gefangenen, die alle <strong>auf</strong> dem<br />

Sandboden schlafen und für die Notdurft einen einzigen Eimer<br />

zur Verfügung haben. Die meisten meiner Mitgefangenen waren<br />

Kriminelle; nur einige wenige waren aus politischen Gründen<br />

inhaftiert. Alle politischen waren Mitarbeiter des Panchen Rinpoche.<br />

Das Leben war sehr hart. Die erste Zeit arbeitete ich in<br />

einem Steinbruch; wir wurden in die nahen Berge gefahren, wo<br />

wir Lastwagen mit Steinen beladen mussten, die für den Bau von<br />

Häusern und für Verbauungen des Kyi Chu, des Lhasa­Flusses,<br />

verwendet wurden. Ich kann heute noch erkennen, welcher Abschnitt<br />

mit unseren Steinen kanalisiert worden ist. Die beiden<br />

folgenden Jahre arbeitete ich in <strong>der</strong> Schreinerei des Gefängnisses,<br />

wo wir Stühle und Tische herstellten. 1968, nach drei Jahren,<br />

wurde ich entlassen. Aber es war keine wirkliche Entlassung;<br />

denn ich wurde weiterhin überwacht. Das heisst, ich durfte<br />

nicht zu Hause wohnen, son<strong>der</strong>n musste in einem weniger streng<br />

überwachten Teil des Gefängnisses bleiben. Meine Freiheit bestand<br />

darin, dass ich jeweils sonntags Ausgang hatte. Diese Zeit<br />

nutzte ich, um meine Schwester zu besuchen. Schon um siebzehn<br />

Uhr musste ich wie<strong>der</strong> zurück sein.<br />

Bereits zwei Jahre später wurde ich erneut verhaftet. Aber<br />

nun muss ich etwas ausholen. Damit man versteht, wie es so weit<br />

kommen konnte.<br />

Ich wurde im Bezirk Lhasa geboren, in eine Familie aus dem<br />

unteren Adel namens Takna. Takna heisst Tigernase. Mein Vater<br />

arbeitete für die tibetische Regierung und war, wenn ich mich<br />

richtig erinnere, Vorsteher unseres Heimatorts Takna Chü. Das<br />

sage ich <strong>auf</strong> Chinesisch. Auf Tibetisch wäre <strong>der</strong> Name Takna<br />

Shiga, aber heute sagen alle Takna Chü. Wir besassen ein grosses<br />

zweistöckiges Haus, in dem meine Mutter vierzehn Kin<strong>der</strong><br />

gebar. Doch bis <strong>auf</strong> einen Bru<strong>der</strong> und zwei Schwestern sind alle<br />

früh gestorben.<br />

Zum Haus gehörte ein grosser Garten mit vielen Blumen<br />

und zwei grossen Walnussbäumen, einer im Osten, einer im Westen<br />

des Grundstücks. Weil ich im Sommer immer barfuss ging,<br />

157 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 158


hatte ich ganz gelbe Fusssohlen – gefärbt von den Blumenblättern.<br />

Dieses Gelb! Daran kann ich mich sehr gut erinnern. Meistens<br />

spielte ich mit unseren Pferden. Eines davon war ein weisses<br />

Fohlen. Ich nannte es «Sengtrug», also «Löwenkind», in Erinnerung<br />

an die beiden weissen Löwen <strong>auf</strong> <strong>der</strong> tibetischen Fahne. Ich<br />

liebte es, über die Wiesen zu galoppieren.<br />

Mit neun Jahren musste ich in die Schule. Es war eine private,<br />

weil es keine öffentliche gab; nur in den Klöstern wurden damals<br />

Kin<strong>der</strong> unterrichtet. Da wir Geld hatten, konnten wir uns<br />

diese Ausgabe leisten. Nun, für mich war das aber keine beson<strong>der</strong>s<br />

schöne Zeit. Wir wurden geschlagen, nicht fest, jedoch immer<br />

wie<strong>der</strong>. Zum Beispiel, wenn wir schlechte Prüfungen ablegten.<br />

Das ging so: Wir mussten uns in einer Reihe <strong>auf</strong>stellen, <strong>der</strong><br />

beste Schüler zuvor<strong>der</strong>st, <strong>der</strong> schlechteste zuhinterst. Der Lehrer<br />

ging mit seinem Bambusstecken <strong>der</strong> Reihe entlang. Der beste<br />

erhielt keinen Schlag, <strong>der</strong> zweitbeste kam mit einem davon, <strong>der</strong><br />

drittbeste mit zwei – und so weiter. Weil wir zwölf Schüler waren,<br />

kriegte <strong>der</strong> letzte also elf Schläge.<br />

Dann begannen die Chinesen Tibet zu besetzen. Zu Beginn<br />

war das gar nicht so schlimm. Die Soldaten blieben un<strong>auf</strong>fällig<br />

und friedlich, pflanzten ihr eigenes Getreide an und stahlen<br />

nicht. Und sie bauten die erste öffentliche Schule, <strong>auf</strong> eigene Kosten.<br />

So ermöglichten sie auch Kin<strong>der</strong>n eine Ausbildung, die we<strong>der</strong><br />

reiche Eltern hatten noch ins Kloster eintreten wollten.<br />

Diese Schule sollte für mein künftiges Leben sehr wichtig<br />

werden. Ich hatte mich inzwischen weitergebildet und fünf Jahre<br />

Privatunterricht in tibetischer Sprache und Grammatik erhalten,<br />

um die buddhistischen Schriften verstehen und interpretieren<br />

zu können. Dieses Wissen wollte ich weitergeben, und so bewarb<br />

ich mich um eine Stelle als Lehrer. Ich erinnere mich noch<br />

genau an den Tag, als die Schule eröffnet wurde. Es war <strong>der</strong> 15.<br />

August 1952. Wir hatten etwa fünfzig Schüler, das heisst, die<br />

Klassenzimmer waren zur Hälfte gefüllt. Mehr Kin<strong>der</strong> kamen<br />

nicht, weil viele Eltern fürchteten, die Besetzer würden ihre Kin<strong>der</strong><br />

stehlen und nach China entführen.<br />

Weshalb liess ich mich an einer von Chinesen gebauten Schu­<br />

le anstellen? Nun, die Chinesen sagten, dass sie unsere Kin<strong>der</strong><br />

ausbilden wollen. Dank dem verbesserten Wissen würde sich das<br />

Land weiter entwickeln, und sie, die Chinesen, würden sich wie<strong>der</strong><br />

zurückziehen. Nie war die Rede davon, dass sie bleiben und<br />

die Macht ergreifen würden. Das glaubte ich. Ich glaubte alles.<br />

Ich wertete es auch positiv, dass sie uns gestatteten, regelmässig<br />

Mönche aus den Klöstern Sera, Ganden und Drepung in die<br />

Schule kommen zu lassen, damit sie mit den Kin<strong>der</strong>n beteten. Es<br />

sah alles recht gut aus, o<strong>der</strong> nicht?<br />

Dass ich mich getäuscht hatte, wurde mir spätestens beim<br />

Aufstand im März 1959 klar. Weil ich mit Nierenproblemen im<br />

Bett lag, erlebte ich diese Zeit nur aus <strong>der</strong> Ferne. Doch ich konnte<br />

die Schüsse hören. Ich hörte Menschen «Unabhängigkeit für Tibet!»<br />

rufen. Panzer kamen in die Stadt; <strong>der</strong> Potala wurde bombardiert<br />

und verschwand in einer Staubwolke. Wir fürchteten,<br />

dass wir nur noch eine Ruine sehen würden. Doch <strong>der</strong> Sitz Kundüns<br />

vermochte allen Angriffen zu trotzen; das freute uns sehr.<br />

Schliesslich verlagerten sich die Kämpfe auch in unser Quartier.<br />

Kugeln durchschlugen die Fenster des Hauses, in dem ich damals<br />

zusammen mit meiner Mutter wohnte. Dann kamen die Soldaten<br />

hinein und stellten alle Männer an die Wand. Wir waren neun.<br />

Meine Mutter warf sich vor den Chinesen <strong>auf</strong> den Boden und flehte:<br />

«Bitte entführt meinen Sohn nicht!» Doch sie hörten nicht <strong>auf</strong><br />

sie und brachten uns in den Norbulingka, wo Kundün bis anhin<br />

die Sommermonate verbracht hatte. Allerdings sah es hier ganz<br />

an<strong>der</strong>s aus. Wo früher Tänze <strong>auf</strong>geführt worden waren, lagen<br />

jetzt Leichen, fünfzig bis sechzig, manche ohne Kopf.<br />

Zwar stellten die Chinesen fest, dass ich mit den Aufständen<br />

nichts zu tun hatte und liessen mich frei. So konnte ich zurück<br />

an die Schule und weiterarbeiten. Doch das Leben hatte sich verän<strong>der</strong>t.<br />

Jeden Tag gab es Sitzungen, zwecks Umschulung. Vier<br />

Punkte sollten wir erfüllen: Wir mussten reine Gedanken haben,<br />

wir mussten ein reines Verhalten zeigen, wir mussten … Ach, ich<br />

mag mich nicht mehr erinnern. Jedenfalls erfüllte ich diese Ansprüche<br />

nicht.<br />

Da merkte ich, dass nun wirklich eine an<strong>der</strong>e Zeit angebro­<br />

159 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 160


chen war. Natürlich hatte es schon früher Zeichen gegeben. Bereits<br />

als Kundün seinen Amtssitz 1950 zum ersten Mal gezwungenermassen<br />

verlassen hatte und in die Nähe <strong>der</strong> indischen<br />

Grenze nach Dromo flüchtete, hatte ich gedacht: «Wir müssen<br />

doch kämpfen! Wir können unser Land nicht einfach <strong>auf</strong>geben!»<br />

Und dann hatten sie dieses 17­Punkte­Abkommen erlassen. Ich<br />

war absolut dagegen. Fünf chinesische Generäle kamen, um es<br />

umzusetzen. Als sie durch die Strassen von Lhasa marschierten,<br />

ging ich wie alle an<strong>der</strong>en Bewohner hin, um sie anzuschauen.<br />

Einige spuckten sie an, an<strong>der</strong>e klatschten. Das war aber kein<br />

Applaus. Klatschen heisst in Tibet: «Geht weg! Verschwindet!»<br />

So wie die Mönche klatschen, wenn sie böse Geister vertreiben<br />

wollen. In dieser Zeit hatte ich mich auch zum ersten Mal einer<br />

Gruppe von Aktivisten angeschlossen. Wir hängten Plakate <strong>auf</strong>,<br />

<strong>auf</strong> denen stand: «Chinesen, wir leiden unter euch! Wir brauchen<br />

euch nicht! Lasst uns in Ruhe!» Dabei müssen die Besetzer und<br />

ihre Spitzel mich wohl beobachtet haben.<br />

Das trug mir, wie gesagt, die ersten drei Jahre Gefängnis<br />

ein, von 1965 bis 1968. Danach befand ich mich für zwei Jahre in<br />

Halbgefangenschaft, und bereits 1970 wurde ich zum zweiten<br />

Mal verhaftet.<br />

Das kam so. Ehemalige Schüler von mir hatten eine Untergrundorganisation<br />

gegründet. Sie nannten sich «Junge Tiger». Im<br />

Militär hatten sie als Übersetzer gearbeitet und waren dabei offenbar<br />

in den Besitz von wichtigen Dokumenten gekommen. Sie<br />

wollten damit nach Indien fliehen, wurden aber in <strong>der</strong> Nähe von<br />

Shigatse verhaftet. Als die Polizei sie durchsuchte, fand sie neben<br />

den Dokumenten auch ein Foto von mir. Das Bild hatten sie offenbar<br />

in Erinnerung an ihren Lehrer mitgenommen. Ich erinnere<br />

mich, wie die Schüler eines Tages bei mir zuhause darum gebeten<br />

hatten. Ich gab es ihnen – ohne eine Ahnung zu haben, dass sie<br />

eine Wi<strong>der</strong>standsbewegung gegründet hatten und ohne zu ahnen,<br />

welche Folgen dieses Souvenir für mich einmal haben sollte.<br />

Da für die Polizei klar war, dass ich die Schüler angestiftet<br />

hatte, kam ich wie<strong>der</strong> ins Gefängnis. Diesmal aber nicht in eine<br />

Wellblechbaracke, son<strong>der</strong>n in eine Isolierzelle, zwei <strong>auf</strong> zwei Me­<br />

ter gross, im Boden ein Loch anstelle einer Toilette. Schlafen<br />

musste ich <strong>auf</strong> einem rohen Betonblock, unter dem steten Blick<br />

<strong>der</strong> Wächter, die <strong>auf</strong> dem Gitterdach hin und her gingen. Zudem<br />

wurden mir Schellen um die Oberarme gelegt. Sie waren mit einer<br />

über meinen Rücken l<strong>auf</strong>enden Kette verbunden, die meine<br />

Bewegungsfreiheit so stark einschränkte, dass ich kaum essen<br />

konnte. Auch drangen bei je<strong>der</strong> Bewegung Stacheln in meine<br />

Muskeln. Ja, die Armschellen hatten Stacheln; sie waren nach<br />

innen gerichtet und liessen mich vor Schmerzen schreien. Da,<br />

hier, hier und hier. Man sieht die Narben noch immer.<br />

Den ganzen Tag tat ich nichts an<strong>der</strong>es als beten und <strong>auf</strong> und<br />

ab gehen, in einer Welt, die zwei Schritte gross war. Ich sagte<br />

immer dieselben Mantras, tausende Male, ohne Unterbruch. Und<br />

immer wie<strong>der</strong> schrie ich: «Freiheit für Tibet! Raus mit den Kommunisten!»<br />

Das half mir, nicht wahnsinnig zu werden. Und ja,<br />

ich weinte auch immer wie<strong>der</strong>. Die Mitgefangenen versuchten<br />

mir so gut als möglich zu helfen. Sie liessen mir heimlich Butter­<br />

und Fleischstücke zukommen, die sie sich vom Mund absparten.<br />

Zudem gelang es ihnen, mir eine Schnur mit hun<strong>der</strong>t Knoten in<br />

die Zelle zu schmuggeln. Das war meine Betschnur, mein Ersatz<br />

für den Rosenkranz. Ja, hun<strong>der</strong>t Knoten, nicht hun<strong>der</strong>tacht wie<br />

üblich. Es war einfach so.<br />

Nach neun Monaten nahmen sie mir die Kette ab; nach zwei<br />

Jahren entfernten sie die Oberarmschellen und verlegten mich<br />

in eine normale Zelle. Kurz danach erkrankte ich. Ich verlor fast<br />

meine ganze Sehkraft und konnte nur noch zwischen hell und<br />

dunkel unterscheiden. Trotzdem durfte ich zu keinem Arzt. Bis<br />

ich mich von einem Arzt untersuchen lassen durfte, vergingen<br />

drei Jahre. Er sagte, meine Augen könnten geheilt werden, aber<br />

ich müsse in ein Spital. Dar<strong>auf</strong> entschied die Gefängnisleitung,<br />

mich nicht behandeln zu lassen.<br />

1980 – nach zehn Jahren – war meine zweite Haftzeit vorbei,<br />

und ich wurde entlassen. Entlassen, das heisst, ich kam wie<strong>der</strong><br />

in Halbgefangenschaft. Da ich aber so schlecht sah, durfte ich<br />

mit einem Stock spazieren gehen, während die an<strong>der</strong>en Insassen<br />

Ziegelsteine brennen mussten. Schliesslich erwirkten meine Ver­<br />

161 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 162


wandten, dass ich ins Spital gebracht werden konnte. Hier operierten<br />

sie mein linkes Auge, und nach drei Monaten konnte ich<br />

wie<strong>der</strong> etwas lesen. In dieser Zeit erfuhr ich auch, was mit den<br />

«Jungen Tigern» geschehen war. Zwei hatten sie hingerichtet;<br />

die an<strong>der</strong>en waren ins Gefängnis geworfen worden.<br />

Damit beende ich die Erzählung über diese Zeit.<br />

Es dauerte drei Jahre, bis ich erneut verhaftet wurde. Sie<br />

fanden schnell einen Grund. Kaum konnte ich wie<strong>der</strong> sehen, begann<br />

ich mich erneut für mein Land einzusetzen und verteilte<br />

Flugblätter. Ich war überzeugter denn je. Weil ich an die Unabhängigkeit<br />

Tibets glaube. Weil ich mein Land liebe. Weil Tibet<br />

unrechtmässig besetzt ist. Weil ich <strong>auf</strong> eine bessere Zukunft hoffe.<br />

Und weil ich davon ausging, es würde endlich zu einem Volks<strong>auf</strong>stand<br />

kommen. Endlich würden sich meine Landsleute erheben<br />

und gemeinsam würden wir Tibet befreien. Aber es kam<br />

nicht so weit. Am 1. September 1983 holten sie mich und brachten<br />

mich zurück ins Gefängnis. Aufgrund meiner schlechten Augen<br />

hatte ich nicht bemerkt, dass Polizeispitzel mich beschatteten.<br />

Im Gefängnis wurde ich wie<strong>der</strong> verhört, zwei Tage lang,<br />

vielleicht auch drei, was weiss ich. Ich sagte dasselbe, was <strong>auf</strong><br />

meinen Flugblättern stand: dass Tibet unabhängig werden müsse.<br />

Sie erwi<strong>der</strong>ten dar<strong>auf</strong>, ich sei kein guter Bürger. Ich sei gegen<br />

die Revolution. Und ich sei auch kein guter Mensch. Achtzehn<br />

Monate sass ich in Untersuchungshaft, dann kam es zur Verhandlung.<br />

Die erste Verhandlung übrigens; bis anhin hatte ich<br />

meine Strafen immer ohne Urteil abgesessen. Vier Richter sassen<br />

mir gegenüber, einen Verteidiger hatte ich nicht, und Publikum<br />

war nicht zugelassen, obwohl die Verhandlung in einem<br />

Saal mit tausend Plätzen stattfand. Ich sass in einem Käfig und<br />

trug Handschellen. Wie<strong>der</strong> hörte ich, was für ein schlechter<br />

Mensch ich sei, dar<strong>auf</strong> teilten sie mir das Verdikt mit: fünfzehn<br />

Jahre.<br />

Ich war sprachlos. Fünfzehn Jahre. Wie sollte ich überleben?<br />

Als sie mir schliesslich das Wort erteilten, sagte ich: «Ich akzeptiere<br />

das Urteil nicht! Was habe ich getan – ausser mich für mein<br />

Land einzusetzen? Ich bin nicht schuldig. Hören Sie: Ich bin nicht<br />

schuldig!» Aber natürlich half es nicht. Diesmal brachten sie<br />

mich in ein an<strong>der</strong>es Gefängnis, immerhin war es etwas besser,<br />

keine Baracke mit Sandboden, son<strong>der</strong>n ein Neubau mit richtigen<br />

Betten, zwei übereinan<strong>der</strong>, zwölf in einem Raum. Alle, die hier<br />

lebten, hatten sehr lange Strafen abzusitzen. Es war auch das<br />

Vorzeigegefängnis, wie sich herausstellte. Das bedeutete, dass<br />

offizielle Besucher und ausländische Delegationen hierhin geführt<br />

wurden, denen man den chinesischen Gefängnisalltag<br />

demonstrieren wollte. Das war clever gemacht, denn von den Insassen<br />

hier traute sich niemand zu klagen – aus Angst, dass die<br />

Strafe zusätzlich verlängert würde.<br />

Die ersten Jahre verliefen ruhig, bis es im Herbst 1987 in<br />

Lhasa wie<strong>der</strong> zu Aufständen kam. Weil Mönche und Nonnen gefoltert<br />

wurden. Weil schwangere Frauen zur Abtreibung gezwungen<br />

wurden. Weil Neugeborene erstickt o<strong>der</strong> mit Injektionen getötet<br />

wurden. Wir hörten im Gefängnis davon. Eines Tages,<br />

während dem Morgenessen, schrie ich laut: «Freiheit für Tibet!<br />

Gefangene, wehrt euch! Solidarisieren wir uns! Aufstand im Gefängnis!<br />

Aufstand!!»<br />

Aber nichts passierte. Niemand unterstützte mich. Einzige<br />

Folge war, dass ich erneut in Einzelhaft gesetzt wurde, wor<strong>auf</strong> ich<br />

zehn Tage lang Nahrung und Wasser verweigerte. Sie versuchten,<br />

mich zwangsweise zu ernähren, aber ich würgte alles wie<strong>der</strong><br />

hinaus, solange, bis sie <strong>auf</strong>gaben. Sie sagten: «Dann krepier halt!»<br />

Mit <strong>der</strong> Einzelhaft war es aber nicht erledigt. Ich wurde erneut<br />

angeklagt. Zur Verhandlung waren diesmal mehrere hun<strong>der</strong>t Zuschauer<br />

zugelassen, denen ich als Beispiel für einen schlechten<br />

Menschen vorgeführt wurde. Der Staatsanwalt stellte den Antrag,<br />

mich hart zu bestrafen, und die Richter erwogen tatsächlich,<br />

mich hinrichten zu lassen. Schliesslich entschieden sie aber,<br />

mir «nochmals eine Chance» zu geben und mich nur zu zusätzlichen<br />

fünf Jahren zu verurteilen. Anstatt fünfzehn waren es nun<br />

zwanzig. Aber ich war bereit, jedes Urteil hinzunehmen. Für mich<br />

gab es keinen an<strong>der</strong>en Weg. Mein Herz sagte mir, was ich zu tun<br />

hatte, und wenn ich für mein Land mein Leben lassen musste.<br />

163 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 164


Als ich abgeführt wurde, rief ich erneut: «Freiheit für Tibet!<br />

Freiheit für Tibet!» Die Wärter hielten mir den Mund zu.<br />

Die folgenden Jahre verliefen aus meiner Sicht ohne nennenswerten<br />

Ereignisse. Ich lebte meinen Gefängnisalltag. Weil<br />

ich schlecht sah, konnten sie mir keine schwierigen Arbeiten <strong>auf</strong>halsen.<br />

Meine Aufgabe war es, die zum Gefängnis gehörenden<br />

Obstbäume zu be<strong>auf</strong>sichtigen. So verbrachte ich meine Zeit mit<br />

Apfel­, Pfirsich­ und Aprikosenbäumen.<br />

Damit beende ich die Erzählung über diese Zeit.<br />

Im Jahr 1992 wurde unser Gefängnis wie<strong>der</strong> einmal zum<br />

Ziel einer ausländischen Delegation. Dass Besuch kommen würde,<br />

hatte sich bereits am Vortag abgezeichnet. Wir wurden in an<strong>der</strong>e<br />

Räume verlegt, mussten uns waschen, und aus <strong>der</strong> Küche<br />

roch es, wie es sonst nie roch: nach Gemüse und Schweinefleisch.<br />

Dann kam die Delegation; wir sahen sie im Hof stehen: eine Frau<br />

und zwei Männer, alles Langnasen. Ich hatte mir bereits zurecht<br />

gelegt, was ich tun würde. Eine zerbrochene Scheibe hatte mich<br />

dar<strong>auf</strong> gebracht. Ich ging zum Fenster und rief <strong>auf</strong> Englisch und<br />

Tibetisch durch die Öffnung: «Freiheit für Tibet! Freiheit für Tibet!»<br />

Und: «China raus aus Tibet! China raus aus Tibet!»<br />

Ich hatte meine Parolen erst ein paar Mal skandiert, als die<br />

Mitgefangenen mich vom Fenster wegrissen. Sie wussten, was<br />

kommen würde, und sie fürchteten sich, dass auch sie ihren Teil<br />

abbekommen würden. Doch die Langnasen hatten mich gehört.<br />

Sie fragten die Wächter, wer denn da gerufen habe. Die Wächter<br />

antworteten: ein Irrer. Doch die Gäste gaben nicht so schnell <strong>auf</strong>.<br />

Sie gingen in den Aufenthaltsraum und fragten herum, bis sie<br />

die Hintergründe meines Falls kannten. Mit diesen Informationen<br />

kehrten sie nach Europa zurück, und zum ersten Mal wurde<br />

über meinen Fall öffentlich gesprochen: Ein tibetischer Lehrer,<br />

<strong>der</strong> passiv und friedlich seine Meinung äussert, kommt für Jahrzehnte<br />

ins Gefängnis, wird gefoltert und in Isolationshaft gesetzt.<br />

Seltsam an dieser Geschichte ist, dass ich meine Parolen nur<br />

<strong>auf</strong> Englisch schreien konnte, weil meine Folterknechte sie mir<br />

beigebracht hatten. Ja, genau diese. Unfreiwillig! Während den<br />

Verhören hatten sie mir jeweils vorgeworfen, ich hätte <strong>auf</strong> den<br />

Strassen «Free Tibet!» gerufen. Das war aber völlig falsch, denn<br />

ich konnte kein Wort Englisch. Nur dank ihnen lernte ich also,<br />

was ich bei Anwesenheit einer Delegation mit Langnasen zu<br />

schreien hatte: «Free Tibet!»<br />

Es sollte aber weitere zehn Jahre dauern, bis ich freikam, und<br />

es sollte noch verschiedentlich zu neuen Schwierigkeiten kommen.<br />

So etwa am 1. Mai 1998. An diesem Tag musste wir wie üblich<br />

beim Hissen <strong>der</strong> chinesischen Fahne die Nationalhymne singen.<br />

Doch zwei Gefangene, beide Khampas, waren nicht bereit, <strong>der</strong> roten<br />

Fahne ihre Ehre zu bezeugen. Sie schrieen: «Wir verneigen<br />

uns nicht vor China!» Der Protest pflanzte sich über die Mauern<br />

in an<strong>der</strong>e Abteilungen des Gefängnisses fort, es kam zu Tumulten,<br />

und die Wächter begannen mit Knüppeln und Eisenstangen<br />

drein zu schlagen. Bald stand auch das Militär da. Schüsse fielen,<br />

und die ersten Toten lagen in ihrem Blut. Schliesslich brachten sie<br />

uns in die Zellen zurück, und sofort begann die Untersuchung:<br />

Wer hat zuerst geschrieen? Wer sind die Anführer? Natürlich kamen<br />

sie schnell zu mir. Doch diesmal stimmte es nicht, im Gegenteil,<br />

ich hatte sogar noch zu besänftigen versucht. Vergeblich. Sie<br />

legten mir Handschellen an, dann zogen zwei Polizisten ihren<br />

Gurt aus den Schl<strong>auf</strong>en und begannen mich auszupeitschen. Da,<br />

man sieht die Narben noch immer. Die meisten Leute glauben<br />

nicht, dass Gurten Narben hinterlassen, aber es ist so. Die Polizisten<br />

hiessen Pema Namgyal und Tashi Dorji. Ich will, dass das<br />

<strong>auf</strong>geschrieben wird. Alle sollen ihre Namen kennen.<br />

Dann, am 20. September 2001, begann sich meine Lage plötzlich<br />

zu bessern. Ich glaube, weil Präsident Bush nach China gekommen<br />

war und amerikanische Menschenrechtsdelegierte ihn<br />

über meine Situation informiert hatten. An diesem Tag wurde<br />

ich jedenfalls in ein vornehmes Hotel gebracht; plötzlich gingen<br />

die Türen <strong>auf</strong> und meine Verwandten standen da. Wir konnten<br />

uns in Ruhe unterhalten und ein ausgezeichnetes Essen geniessen.<br />

Ich fragte mich natürlich, was das solle, fand aber keine<br />

Antwort. Dann brachten sie mich ins Gefängnis zurück. Gegen<br />

Abend kam ein Aufseher in meine Zelle und sagte: «Zieh dich an.<br />

165 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 166


Delhi<br />

INDIA<br />

500 Km<br />

NEPAL<br />

Lhasa<br />

BHUTAN<br />

BANGLADESH<br />

TIBET<br />

MYANMAR<br />

USA<br />

CHINA<br />

Rikon<br />

Der Gefängnisverwalter will dich sehen.» Während er mich in<br />

einen Sitzungsraum brachte, sagte er, ich solle mich ja gut benehmen,<br />

den Verwalter nicht anschreien und keinen meiner politischen<br />

Slogans rufen. Wie<strong>der</strong> fragte ich mich, was das solle.<br />

Aber es blieb keine Zeit. Kaum befand ich mich im Sitzungsraum,<br />

trat <strong>der</strong> Verwalter ein. Er sagte: «Du bist krank. Du wirst entlassen.<br />

Aber vergiss nicht: Wir haben dich immer gut behandelt.<br />

Wir haben gut zu dir geschaut.» Dann fügte er an: «Damit wir<br />

dich gehen lassen, muss du uns allerdings ein Versprechen geben.<br />

Welches, wirst du später erfahren.» Anschliessend brachten<br />

sie mich in die Zelle zurück.<br />

Die Tage vergingen, nichts geschah. Bis ich wie<strong>der</strong> ich in das<br />

Gasthaus gebracht wurde. Diesmal traf ich allerdings nicht meine<br />

Verwandten, son<strong>der</strong>n den Direktor des Gefängnisses. Er eröffnete<br />

mir, dass die USA ein Gesuch für meine Entlassung<br />

gestellt hätten. Von chinesischer Seite sei man bereit, dar<strong>auf</strong> einzugehen.<br />

«Allerdings musst du uns etwas versprechen.» Nun<br />

kam, was man mir angekündigt hatte. «Was?» fragte ich. «Du<br />

musst unterschreiben, dass du nach deiner Ausreise nie nach Tibet<br />

zurückkehrst.»<br />

Damit war die Unterhaltung beendet, und ich war wie vor<br />

den Kopf gestossen. Was sollte ich tun? Endlich hatte ich Aussicht<br />

dar<strong>auf</strong>, entlassen zu werden. Von den einundvierzig Jahren,<br />

zu denen ich insgesamt verurteilt worden war, müsste ich die<br />

letzten fünf nicht absitzen. Doch zu welchem Preis? Auf Tibet<br />

verzichten? Es war, als würde ich mich selbst aus meiner Heimat<br />

verbannen. Als würde ich mir Tibet selbst verbieten.<br />

Nach drei Tagen traf ich den Direktor erneut. Ich hatte mich<br />

entschieden. Ich sagte: «Ich kann diese Bedingung nicht akzeptieren.<br />

Das geht nicht. Ich kann mir nicht selbst mein Land verbieten.<br />

Das ist gegen meine Überzeugung.» Er erwi<strong>der</strong>te: «Was<br />

bist du denn bereit zu unterschreiben?» Ich nahm ein Blatt Papier<br />

und hielt fest: «Es ist gut, dass ich entlassen werde. Aber <strong>der</strong><br />

Direktor will, dass ich schriftlich bezeuge, dass ich nie zurückkehre.»<br />

Der Direktor nahm das Blatt und zerriss es.<br />

Dar<strong>auf</strong> brachten sie mich in die Zelle zurück, und ich hörte<br />

ein halbes Jahr nichts mehr. Ich lebte meinen Alltag, es war alles<br />

wie immer. Bis am 30. März 2002. An diesem Tag hiess man mich<br />

plötzlich, meine Toilettensachen packen. Man bringe mich in ein<br />

tibetisches Spital, sagten sie. Ich glaubte ihnen nicht. Vielleicht<br />

wollten sie mich einfach in ein an<strong>der</strong>es Gefängnis verlegen, um<br />

mich loszuwerden. Sie setzten mich in ein Gefängnisauto, es fuhr<br />

Richtung Stadt und hielt vor einem vierstöckigen Gebäude. Ich<br />

kannte das Haus nicht. Die Türe ging <strong>auf</strong>, und meine Verwandten<br />

kamen heraus. Sie schlossen mich in die Arme, alle weinten.<br />

Das Auto fuhr ab – und ich war frei. Was für ein unglaublicher<br />

Moment. Ich konnte es kaum fassen.<br />

Drei Monate später verliess ich das Land und flog zuerst in<br />

die USA, dann in die <strong>Schweiz</strong>. Seit dem 15. August 2002 bin ich<br />

nun hier. Ich möchte den schweizerischen Behörden für die freundliche<br />

Aufnahme sehr danken. Und auch für die Operation des<br />

rechten Auges. Ich sehe wie<strong>der</strong> sehr gut damit. Mit dem linken,<br />

das in China operiert worden ist, sehe ich lange nicht so gut.<br />

Aus: Christian Schmidt/Manuel Bauer: <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>. <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>. 12 Lebensgeschichten.<br />

Zürich: Limmat Verlag 2009. S. 209–226.<br />

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Text 13<br />

Christian Schmidt<br />

Dickie Yangzom Shitsetsang:<br />

Mein Herz<br />

gehört heute noch Tibet<br />

1946 bei Shigatse (Ü­Tsang), geboren, 1956 nach Indien<br />

geflüchtet, seit 1964 in Littenheid (Thurgau); verheiratet, drei<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Dickies Mann Tempal wird uns während des Interviews einen<br />

Zettel zustecken. Dar<strong>auf</strong> steht: «1. Frau im Vorstand des Vereins<br />

<strong>Tibeter</strong> Jugend in Europa», «1. Frau im Vorstand <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> Gemeinschaft<br />

in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> & Liechtenstein», «1. <strong>Tibeter</strong>in mit Autoprüfung<br />

in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>» und «1. tibetische Abteilungsleiterin in<br />

einer psychiatrischen Klinik». Tempal ist stolz <strong>auf</strong> seine Frau. Sie<br />

ist erfolgreich und in vielen Bereichen eine Pionierin, aber zu bescheiden,<br />

um selbst dar<strong>auf</strong> <strong>auf</strong>merksam zu machen. Sie wird keinen<br />

dieser Punkte von sich aus ansprechen.<br />

Die Fahrt zu Dickie Yangzom Shitsetsang führt durch ein Tal<br />

mit sanft geschwungenen Hügeln und einem versteckten Weiher.<br />

Mäusebussarde segeln im Wind. Nach einer letzten Kurve taucht<br />

eine Ansammlung von Häusern <strong>auf</strong>, mit Post, Café und Bibliothek.<br />

Die Häuser bilden ein Dorf, das keines ist: Littenheid ist eine<br />

– private – psychiatrische Klinik. Dickie Shitsetsang arbeitet hier,<br />

als Ergotherapeutin; hier wohnt sie auch, in einer Personalwoh-<br />

Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 170


nung zusammen mit ihrem Mann Tempal und einem tibetischen<br />

Hund, <strong>der</strong> singen kann. Und hier ist sie auch <strong>auf</strong>gewachsen, als<br />

Pflegekind <strong>der</strong> Eigentümer <strong>der</strong> Klinik. «Ich hatte eine unbeschwerte<br />

Jugend», sagt sie. Davon zeugt das Familienbild in <strong>der</strong> Wohnwand.<br />

Es zeigt im Vor<strong>der</strong>grund die Pflegeeltern, links dahinter<br />

den Sohn Hans mit Frau Marianne und Tochter, rechts Dickie<br />

mit ihren Angehörigen – eine tibetisch-schweizerische Grossfamilie.<br />

Wenn ich heute <strong>auf</strong> meine Kindheit in Tibet zurückschaue, so<br />

empfinde ich sie wie einen kostbaren Schatz. Ich wusste damals<br />

ja noch nicht, wie wertvoll diese Zeit ist; denn wie sollte ich ahnen,<br />

was die Zukunft bringen würde. Und natürlich gehört mein<br />

Herz auch heute noch Tibet, aber unter den aktuellen Umständen<br />

kann ich mir nicht vorstellen, dort zu leben. Wie sollen Menschen<br />

glücklich sein, wenn sie we<strong>der</strong> ihre Meinung frei äussern<br />

noch ihre Überzeugungen leben können? Ich sehne mich nach<br />

<strong>der</strong> vergangenen Zeit in Tibet, aber nicht nach <strong>der</strong> Gegenwart.<br />

Deshalb habe ich auch kein Heimweh. Heimat gibt es nur zusammen<br />

mit Freiheit.<br />

Ich wurde in eine wohlhabende Familie in Shigatse geboren.<br />

Unser Haus war gross, es verfügte über Terrasse, Altarraum<br />

und Gästezimmer, wir hatten mehrere Dienstboten, und ich hatte<br />

sogar ein Kin<strong>der</strong>mädchen für mich allein. Nach dem frühen<br />

Tod meines Vaters erzogen mich meine Mutter und mein ältester<br />

Bru<strong>der</strong>. So durfte ich, wie damals unüblich für tibetische Mädchen,<br />

die Schule besuchen, und zwar die chinesische. Diese gefiel<br />

mir besser als die tibetische. Während in <strong>der</strong> tibetischen nur<br />

Wissen eingetrichtert wurde, durften die Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> chinesischen<br />

Schule auch spielen und tanzen. Zudem lehrte man uns<br />

patriotische Lie<strong>der</strong>, in denen China gepriesen wurde. Aber das<br />

störte uns wenig. Mir gefielen auch die Uniformen mit dem roten<br />

Tuch um den Hals. Das sah sehr schön aus. Für mich gab es keinen<br />

Grund, die Chinesen zu verurteilen o<strong>der</strong> nicht zu mögen. Sie<br />

waren sehr freundlich und verteilten Bonbons.<br />

Das än<strong>der</strong>te sich, als die Besetzer an meine Familie heran­<br />

traten und den Wunsch äusserten, mich nach China zu schicken.<br />

Ihr Plan war es, von je<strong>der</strong> wohlhabenden Familie ein bis zwei<br />

Kin<strong>der</strong> im eigenen Land auszubilden. Da meine Mutter diesem<br />

Ansinnen keinesfalls nachgeben wollte, suchte sie einen Weg, um<br />

mich dem Zugriff <strong>der</strong> Chinesen zu entziehen. Sie entschied sich,<br />

mich in eine Schule nach Indien zu schicken, an die englische<br />

«St. Joseph’s Convent School» in Kalimpong.<br />

Ich verliess Tibet 1956, in Begleitung meiner Mutter, meines<br />

Kin<strong>der</strong>mädchens und meines ältesten Bru<strong>der</strong>s, <strong>der</strong> damals bereits<br />

als K<strong>auf</strong>mann zwischen den beiden Län<strong>der</strong>n hin und her<br />

reiste. Offiziell waren wir als Pilger unterwegs; so gab es keine<br />

Fragen. Mutter und Bru<strong>der</strong> blieben nach <strong>der</strong> Ankunft in Kalimpong<br />

noch einige Zeit bei mir, dann aber kehrten beide nach Tibet<br />

zurück. Da ich erst zehn Jahre alt war, fiel mir <strong>der</strong> Abschied<br />

schwer. Ich fühlte mich alleine und verstand auch nicht, weshalb<br />

ich mein Land unbedingt verlassen musste. Doch heute erkenne<br />

ich, über welchen Weitblick meine Mutter verfügte. Sie hatte die<br />

Gefahr am Horizont erkannt und gespürt, was <strong>auf</strong> Tibet zukommen<br />

würde.<br />

Kalimpong war für mich eine an<strong>der</strong>e Welt. Ich lebte plötzlich<br />

in einer eigenen Wohnung, zusammen mit meinem Kin<strong>der</strong>mädchen,<br />

das für mich putzte und kochte. Ich sah zum ersten Mal<br />

einen europäischen Menschen – helle Haut, gross, blond, es war<br />

eine Ordensschwester –, und überhaupt war das Leben ganz an<strong>der</strong>s.<br />

Ich verstand die Sprache <strong>der</strong> Strasse nicht, und in <strong>der</strong> Schule<br />

tönte es nochmals an<strong>der</strong>s; hier wurde englisch unterrichtet.<br />

Aber wie alle jungen Menschen lernte ich schnell, und so hatte<br />

ich mich bald gut eingelebt. Die meisten Kin<strong>der</strong> kamen aus Tibet<br />

und Indien, einige aber aus Thailand o<strong>der</strong> sogar von Europa. Es<br />

waren nur Mädchen, und sie hatten entwe<strong>der</strong> einen aristokratischen<br />

Hintergrund, o<strong>der</strong> sie stammten aus wohlhabenden K<strong>auf</strong>mannsfamilien.<br />

Ich war drei Jahre in Kalimpong, als ich eines Tages von <strong>der</strong><br />

Schule nach Hause kam und das Kin<strong>der</strong>mädchen in Tränen <strong>auf</strong>gelöst<br />

fand. In Tibet sei Krieg ausgebrochen, sagte sie. Schon<br />

gebe es Flüchtlinge in <strong>der</strong> Stadt, und sie hätten ihr von einem<br />

171 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 172


Aufstand in Lhasa, von Angriffen <strong>der</strong> Chinesen und vielen toten<br />

Menschen erzählt. Doch mehr wisse sie nicht. Nach dieser<br />

schrecklichen Nachricht versuchte ich mit meiner Familie Kontakt<br />

<strong>auf</strong>zunehmen, doch die Verbindung nach Tibet war bereits<br />

abgebrochen. Zur Verzweiflung und Ungewissheit kam hinzu,<br />

dass mir bald das nötige Geld fehlte, um meinen Lebensunterhalt<br />

zu bestreiten.<br />

Damit war klar, dass ich meine Ausbildung nicht würde beenden<br />

können, und ebenfalls klar war, dass es für mich vorläufig<br />

kein Zurück nach Tibet gab. Für wie lange? Niemand wusste es.<br />

Plötzlich waren Heimat und Familie weit weg, und ich hatte keine<br />

Ahnung, wie mein Leben weitergehen sollte. Einzige Hoffnung<br />

blieb, unter dem immer grösser werdenden Flüchtlingsstrom<br />

vielleicht schon bald auch meine Familie zu entdecken. Ich<br />

hoffte so sehr, meine Mutter und die Geschwister würden ihren<br />

Weg hierher finden. Dann wären auch sie in Sicherheit, dann wären<br />

wir wie<strong>der</strong> eine Familie. Aber sie kamen nicht. Weil sie alle<br />

gefangengenommen worden waren.<br />

Ich verliess Kalimpong 1961. Die tibetische Vertretung in<br />

<strong>der</strong> Stadt hatte einen Aufruf erlassen, dass sich alle Jugendlichen<br />

mit Fremdsprachenkenntnissen nach Dharamsala begeben<br />

sollten. Hier würden sie für Übersetzungen gebraucht. So reiste<br />

ich an den <strong>Exil</strong>sitz Seiner Heiligkeit, wo ich ins «Tibetan Childrens<br />

Village» kam. Geleitet wurde das Kin<strong>der</strong>dorf damals von<br />

<strong>der</strong> älteren <strong>der</strong> beiden Schwestern Seiner Heiligkeit, Tsering<br />

Dolma­La. Sie war wie eine Mutter zu mir, und so fühlte ich mich<br />

endlich wie<strong>der</strong> etwas <strong>auf</strong>gehoben. Ich unterrichtete die an<strong>der</strong>en<br />

Flüchtlingskin<strong>der</strong> in Englisch, zudem half ich Tsering Dolma­La<br />

im Büro und unterstützte sie beim Übersetzen. Im Kin<strong>der</strong>dorf<br />

fühlte ich mich wohl und gut <strong>auf</strong>gehoben, sassen wir doch alle im<br />

selben Boot, was ein starkes Gefühl <strong>der</strong> Zusammengehörigkeit<br />

gab. Doch war <strong>der</strong> Hintergrund sehr traurig, und <strong>der</strong> elende Zustand<br />

vieler Kin<strong>der</strong> beschäftigte mich. Ich erfuhr, wie schrecklich<br />

Menschen mit Menschen umgehen können. Ich war ein<br />

Teenager mit einem viel zu ernsten Gesicht, und die Zeit in Dharamsala<br />

machte mich schon früh sehr reif.<br />

Littenheid<br />

Dharamsala<br />

Shigatse<br />

Lhasa<br />

Kalimpong<br />

Dann rief mich Tsering Dolma­La eines Tages zu sich und<br />

sagte, es sei nun an <strong>der</strong> Zeit, dass ich an meine eigene Ausbildung<br />

und Zukunft denken solle. Sie sehe für mich eine Möglichkeit, in<br />

die <strong>Schweiz</strong> zu reisen und dort weiter zur Schule zu gehen. In die<br />

<strong>Schweiz</strong>? Das sagte mir gar nichts, aber ich spürte, dass sich hier<br />

für mich eine grossartige Chance <strong>auf</strong>tat. So entschied ich mich,<br />

das Angebot anzunehmen, und schnell hatte ich mir auch einen<br />

Plan zurecht gelegt. Ich wollte für einige Jahre in dieses Land<br />

reisen, dann aber nach Dharamsala zurückzukehren, um erneut<br />

im Kin<strong>der</strong>dorf zu arbeiten.<br />

Ich verliess Indien 500 Km 1964 zusammen mit zwanzig an<strong>der</strong>en<br />

Mädchen. Das jüngste war drei Jahre Kokonorsee alt; ich mit meinen achtzehn<br />

war Thun wie die Mutter. Es gibt eine Aufnahme Tschaptscha von dieser Reise.<br />

Sie zeigt uns Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Flugzeugkabine,<br />

Ba Sumdo<br />

zusammen mit<br />

dem Dharamsala eher streng blickenden Piloten und TIBET einer freundlich lächelnden<br />

Stewardess. Wir landeten am Lhasa frühen Morgen des 16. März in<br />

Kloten, überall Delhi lag Schnee. NEPAL Ich fragte mich: Ist das hier immer<br />

Kathmandu<br />

CHINA<br />

so? Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> Grenzkontrolle BHUTAN warteten die Pflegefamilien,<br />

und die Mädchen wurden von ihren neuen Eltern in<br />

Empfang genommen. INDIA Bodhgaya Noch nie fühlte ich mich so weit weg von<br />

173 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 174<br />

Delhi<br />

INDIA<br />

500 Km<br />

NEPAL<br />

BHUTAN<br />

BANGLADESH<br />

TIBET<br />

BANGLADESH<br />

MYANMAR<br />

MYANMAR<br />

CHINA


Tibet wie in diesem Moment. Zum Glück hatten meine Pflegeeltern<br />

sich zur Aufnahme eines zweiten tibetischen Mädchens<br />

bereit erklärt. Sie hiess Tseten. So war ich nicht ganz <strong>auf</strong> mich<br />

allein gestellt.<br />

Mit dem Auto fuhren wir von Kloten nach Littenheid. Mit<br />

dabei war auch <strong>der</strong> Sohn <strong>der</strong> Pflegeeltern, <strong>der</strong> vom Alter her zwischen<br />

mir und dem an<strong>der</strong>en tibetischen Mädchen lag. Wir schauten<br />

uns neugierig an; er hatte plötzlich zwei Schwestern, und ich<br />

hatte einen neuen Bru<strong>der</strong>. Unterwegs war ich dann vor allem<br />

damit beschäftigt, die Umgebung zu studieren. Ich schaute zum<br />

Fenster hinaus und dachte: «Dieser Schnee! Diese Dunkelheit!»<br />

Viel an<strong>der</strong>es konnte ich nicht wahrnehmen. Dabei hatte ich in<br />

Indien noch geträumt, wie es in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> aussehen würde: Ich<br />

hatte Riegelhäuser mit blühenden Geranien und einer Strasse<br />

gesehen, die durch einen sommerlichen Wald führt. Nun konnte<br />

davon kein Rede sein. Tseten war noch mehr verwirrt. Sie fragte<br />

mich: «Sind wir jetzt in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, o<strong>der</strong> geht die Reise noch<br />

weiter?» Erst später sollte ich herausfinden, dass ich von einer<br />

Strasse geträumt habe, die es gibt: Sie führt von Rikon hin<strong>auf</strong><br />

zum Kloster.<br />

Dann kamen wir in Littenheid an. Im Haus <strong>der</strong> Pflegeeltern<br />

erhielt ich nicht nur ein eigenes Zimmer, son<strong>der</strong>n auch eine Toilette<br />

und ein Bad für mich allein. Welcher Unterschied zur Bescheidenheit<br />

in Dharamsala! Ich staunte und war überwältigt.<br />

Zuerst mussten wir in die Badewanne, dann erhielten wir unsere<br />

erste Apfelwähe. So etwas kannte ich nicht, und ich konnte kaum<br />

davon essen. Ich versuchte es wirklich, aber es ging nicht. Entsprechend<br />

froh war ich, als auch noch Brot und Wurst <strong>auf</strong> den<br />

Tisch kamen. Inzwischen schätze ich aber wenig mehr als eine<br />

gute Apfelwähe!<br />

Dass mein neues Zuhause im Vergleich zu an<strong>der</strong>en Häusern<br />

in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> luxuriös war, konnte ich anfänglich nicht beurteilen.<br />

Ich hatte ja keinen Vergleich, und zu Beginn bedeutete mir<br />

das auch nichts. Erst mit <strong>der</strong> Zeit lernte ich schätzen, was mir die<br />

Schwyns – so hiessen meine Pflegeeltern – alles bieten konnten.<br />

Ich realisierte, dass ich quasi Glück im Unglück hatte, wie man<br />

sagt. Zwar war ich ein Flüchtlingskind, wie viele an<strong>der</strong>e Menschen<br />

aus Tibet auch, aber ich war beinahe ein wenig im Paradies<br />

gelandet. Das Haus war ganz neu. Die Schwyns hatten es<br />

extra bauen lassen, nachdem sie sich entschieden hatten, Tseten<br />

und mich <strong>auf</strong>zunehmen.<br />

Bald nach <strong>der</strong> Ankunft begann ich Deutsch zu lernen, und<br />

bereits nach einem halben Jahr wurde ich in die 2. Sekundarklasse<br />

eingeschult. Da sass ich nun, als einzige Exotin und gleichzeitig<br />

als älteste <strong>der</strong> Klasse. Am schwierigsten waren für mich<br />

die Aufsätze; am besten erging es mir in den Französischlektionen.<br />

Diese Sprache war für alle neu, so waren hier alle gleich. Als<br />

<strong>der</strong> Lehrer mich deshalb lobend erwähnte und sagte, ich sei besser<br />

als die an<strong>der</strong>en, war ich natürlich stolz.<br />

Wenn meine Pflegemutter mit Tseten und mir in die Stadt<br />

ging, das heisst nach Wil, dann schauten uns die Leute in <strong>der</strong><br />

Strasse an, o<strong>der</strong> sie drückten uns eine Schokolade in die Hand.<br />

Wir sahen ja so an<strong>der</strong>s aus. Als es mir eines Tages zuviel wurde,<br />

fragte ich meine Pflegmutter: «Was kann ich tun, dass sie mich<br />

nicht anstarren?» Sie sagte ohne zu zögern: «Starr einfach zurück!»<br />

Das half nicht nur. Es zeigte mir einmal mehr, welch<br />

grossartige Menschen die Schwyns sind und welch wun<strong>der</strong>bares<br />

Verständnis sie für Menschen aus an<strong>der</strong>en Kulturen haben. Man<br />

darf nicht vergessen: Das war Mitte <strong>der</strong> Sechzigerjahre, und es<br />

gab in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> noch kaum Menschen mit dunkler Haut. Bald<br />

begann ich meine Pflegeeltern deshalb «Amala» und «Pala» zu<br />

nennen, «Mutter» und «Vater». So nenne ich sie heute noch. Das<br />

sind nicht nur Worte, so empfinde ich auch.<br />

Überhaupt, das Familienleben in Littenheid war einzigartig.<br />

Die Schwyns behandelten mich nicht wie ein Kind, son<strong>der</strong>n als<br />

erwachsenen Menschen. Für Tseten war ich grosse Schwester<br />

und Vorbild, und auch mit Hans, meinem <strong>Schweiz</strong>er Bru<strong>der</strong>, hatte<br />

ich ein ausgezeichnetes Verhältnis. Er war nie eifersüchtig; er<br />

akzeptierte uns zwei Mädchen sofort.<br />

Bald begann ich meine Zukunft zu planen. Zuerst wünschte<br />

ich mir, Dolmetscherin zu werden. Doch dann realisierte ich,<br />

dass ich dafür ein Studium brauchte. Das hiess noch länger zur<br />

175 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 176


Schule zu gehen, mit einer Matur abzuschliessen und anschliessend<br />

nochmals für Jahre eine Universität zu besuchen. Deshalb<br />

gab ich diese Idee wie<strong>der</strong> <strong>auf</strong> und nahm mir vor, nach <strong>der</strong> 3. Sekundarklasse<br />

eine Ausbildung zur Pflegefachfrau zu beginnen,<br />

und zwar vor <strong>der</strong> Haustüre, in <strong>der</strong> Psychiatrischen Klinik Littenheid.<br />

Danach wollte ich zurück nach Dharamsala, um mein<br />

Wissen hilfreich einzubringen.<br />

Doch während dieser Ausbildung än<strong>der</strong>ten sich meine Pläne.<br />

Bei einem Besuch in einem <strong>Tibeter</strong>heim im Zürcher Oberland<br />

traf ich einen jungen Mann, den ich sympathisch fand und <strong>der</strong><br />

mir gefiel. Das war 1966, ich war gerade zwanzig Jahre alt und<br />

hatte bis anhin kaum über dieses Thema nachgedacht. Zwar gab<br />

es schon früher einen jungen Mann, <strong>der</strong> mir Liebesbriefe schrieb<br />

und mich von <strong>der</strong> Schule nach Hause begleitete, das heisst, bis<br />

fast nach Hause. Aber das hatte sich nicht weiter entwickelt, und<br />

ich hatte mir auch noch nie überlegt, ob ich einen <strong>Schweiz</strong>er<br />

Mann o<strong>der</strong> einen <strong>Tibeter</strong> heiraten möchte. Das schien mir nicht<br />

wichtig. Wichtig war mir, dass es <strong>der</strong> richtige ist. Nun war aber<br />

plötzlich alles klar. Tempal Gyaltsen Shitsetsang entpuppte sich<br />

als <strong>der</strong> Mann meines Lebens. Nachdem wir uns besser kennen<br />

gelernt hatten, kam <strong>der</strong> Tag, als ich meinen Pflegeeltern eröffnete,<br />

dass ich einen Freund habe, und 1970 sagte ich ihnen, dass ich<br />

zu heiraten gedenke. Heute, bald vierzig Jahre später, sind wir<br />

noch immer ein Paar.<br />

Mit diesem Ja zur Liebe wurde mir klar, dass ich in <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> bleiben würde. Das fiel mir nicht leicht, aber mein Mann<br />

und ich fällten gemeinsam den Entscheid, unsere Zukunft hier<br />

<strong>auf</strong>zubauen. So begann ich in <strong>der</strong> Klinik zu arbeiten, und wir<br />

bezogen eine Personalwohnung.<br />

Von meiner Familie hörte ich zum ersten Mal im Jahr 1979<br />

wie<strong>der</strong>. All die Jahre war ich in steter Sorge gewesen; nie hatte<br />

ich etwas gehört, immer nur diese schreckliche Ungewissheit.<br />

Nun war es Sommer, und ich fuhr nach Rikon, um Seine Heiligkeit<br />

zu sehen, <strong>der</strong> hier <strong>auf</strong> Besuch weilte. Da sprach mich einer<br />

seiner Gefolgsleute an und übergab mir einen Brief. Ich war wie<br />

geschockt und spürte den Boden unter den Füssen wegtauchen.<br />

Das Schreiben konnte nur von meiner Familie sein! Ich riss den<br />

Umschlag <strong>auf</strong> und überflog die Zeilen. Geschrieben hatte mein<br />

Bru<strong>der</strong>, endlich Neuigkeiten von Zuhause! Dreiundzwanzig Jahre<br />

nachdem ich Tibet verlassen hatte! Erleichtert stellte ich fest,<br />

dass alle am Leben waren. An diesem Tag konnte ich so beruhigt<br />

einschlafen wie schon lange nicht mehr.<br />

Ich beschloss, meinen Bru<strong>der</strong> zu treffen und flog sobald als<br />

möglich nach Kathmandu. Im Flugzeug sitzend sah ich vor meinem<br />

geistigen Auge den jungen Mann, den ich drei Jahre vor dem<br />

Aufstand in Lhasa zum letzten Mal gesehen hatte. Natürlich war<br />

mir bewusst, dass er nun älter war, wie ich auch, und so versuchte<br />

ich ihn mir auch vorzustellen: reifer, aber immer noch genauso<br />

stolz wie einst. Aber als er dann nach <strong>der</strong> Grenzkontrolle <strong>auf</strong><br />

mich zu kam, da gab es mir einen Stich ins Herz. Mein Bru<strong>der</strong>!<br />

Er war nicht nur gebrechlich, son<strong>der</strong>n auch gebrochen.<br />

Was er mir in <strong>der</strong> Folge erzählte, ist so unvorstellbar, dass<br />

ich es kaum in Worte fassen kann.<br />

Nach dem Aufstand im Jahr 1959 war er sofort verhaftet und<br />

ins Gefängnis gesteckt worden – aus dem einzigen Grund, weil er<br />

aus einem reichen Haus stammte. Anschliessend wurde er zum<br />

Tode verurteilt. Aber nicht nur einmal, son<strong>der</strong>n ein zweites Mal,<br />

und schliesslich noch ein drittes Mal. Doch das Urteil wurde<br />

nicht vollzogen, dafür musste er sieben Jahre in Einzelhaft verbringen.<br />

Erst mit <strong>der</strong> Machtübernahme durch Deng Xiao Ping<br />

kam es zu einer Revision <strong>der</strong> Urteile, und mein Bru<strong>der</strong> begann<br />

zu hoffen. Dann kam er eines Tages tatsächlich frei. Allerdings<br />

musste er eine Bedingung eingehen: Man wisse, dass zwei seiner<br />

Geschwister im Ausland seien, ein Bru<strong>der</strong> in Indien und eine<br />

Schwester in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Er müsse versprechen, diese beiden<br />

nach Tibet zurückzuholen. «Ja», sagte mein Bru<strong>der</strong>, «ich habe<br />

verstanden, was ihr mir erklärt habt. Das Leben in Tibet ist jetzt<br />

viel besser als früher, dank China. Und dank China hat unser<br />

Land eine goldene Zukunft vor sich. Ich werde ihnen sagen, dass<br />

sie zurückkommen sollen.» Mein Bru<strong>der</strong> verliess das Gefängnis –<br />

und das Land.<br />

Tagelang sassen wir einan<strong>der</strong> gegenüber, und es brach nur<br />

177 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 178


so aus ihm heraus. Manchmal lachten wir, meistens weinten wir.<br />

Zum ersten Mal konnte er erzählen. Zwanzig Jahre seines Lebens<br />

hatte er verloren. Seine Gesundheit hatte er verloren. Wofür?<br />

Was hatte er getan?<br />

Doch noch immer hatte ich meine Mutter nicht gesehen. Ich<br />

sehnte mich so sehr nach ihr, und ich wollte sie aus ihrer misslichen<br />

Lage befreien. Denn inzwischen hatte mir mein Bru<strong>der</strong> erzählt,<br />

was man ihr angetan hatte. Im Verl<strong>auf</strong>e <strong>der</strong> Kulturrevolution<br />

war sie immer wie<strong>der</strong> gedemütigt und schikaniert worden.<br />

So zwangen die Chinesen die Angestellten meiner Mutter dazu,<br />

sich <strong>auf</strong> ihren Rücken zu setzen und <strong>auf</strong> ihr zu reiten. Auf diese<br />

Weise sollte ihr klar gemacht werden, dass es keine Klassengesellschaft<br />

mehr gibt und die einstigen Untergebenen nun die<br />

Oberhand haben. Von Kathmandu aus sandte ich deshalb ein Gesuch<br />

an die chinesischen Behörden, damit sie meiner Mutter ein<br />

Visum für einen Besuch in Indien ausstellen. Nein, lautete <strong>der</strong><br />

erste Bescheid, meine Mutter habe Herzprobleme und könne<br />

nicht reisen, was aber nicht stimmte. Ich reklamierte, und nach<br />

einigem Hin und Her erhielt sie schliesslich das Visum.<br />

Im April 1980 kam <strong>der</strong> Tag, an dem mein Bru<strong>der</strong> und ich mit<br />

einem Taxi an die tibetisch­nepalesische Grenze fuhren, um unsere<br />

Mutter abzuholen. Beim Aussteigen sah ich eine alte Frau,<br />

beachtete sie jedoch nicht weiter. Das Gesicht sagte mir nichts.<br />

Erst als ich meinen Bru<strong>der</strong> reagieren sah, da realisierte ich: Das<br />

war meine Mutter! Ich hatte sie nicht erkannt, so sehr hatte sie<br />

sich verän<strong>der</strong>t. Sie war wie gelähmt und konnte kaum sprechen,<br />

einerseits vor Freude, an<strong>der</strong>erseits aus einer tiefen Angst, die in<br />

<strong>der</strong> vergangenen Zeit zu ihrem ständigen Begleiter geworden<br />

war. Als wir uns hinsetzten und ich sie nach <strong>der</strong> Situation zuhause<br />

fragte, da schaute sie sich immer wie<strong>der</strong> um und fragte leise:<br />

«Darf ich das sagen?» Sie hatte Angst vor Spitzeln. Und als wir<br />

dann im Hause meines Bru<strong>der</strong>s angekommen waren, da merkte<br />

ich, dass sie sich auch angewöhnt hatte, stumm zu beten. Sie<br />

traute sich nicht mehr, Mantras laut zu sagen.<br />

Meine Mutter ist nicht nach Tibet zurückgekehrt. Sie ist<br />

1989 in Ruhe und Frieden in Indien gestorben.<br />

Bis ich schliesslich auch meine drei Schwestern sehen würde,<br />

sollten noch einmal drei Jahre vergehen. Ich traf sie 1992 <strong>auf</strong><br />

meiner ersten Reise nach Tibet. Es war ein erschreckendes Wie<strong>der</strong>sehen.<br />

Eine hatten die chinesischen Polizisten so lange gefoltert,<br />

dass sie heute stark gehbehin<strong>der</strong>t ist; die zweite erhielt<br />

Hiebe <strong>auf</strong> den Kopf, bis sie taub wurde. Nur die dritte hat die<br />

Besetzung einigermassen unbeschadet überstanden.<br />

Tibet ist mir seither fremd. In Lhasa kann ich mich kaum<br />

orientieren. Plötzlich gibt es hier eine Flut chinesischer Gesichter,<br />

plötzlich diese unzähligen Autos, und die Häuser sind in den<br />

Himmel gewachsen. Deshalb bezeichne ich heute die <strong>Schweiz</strong> als<br />

meine Heimat, o<strong>der</strong> zumindest als meine zweite Heimat. In mir<br />

steckt inzwischen viel einer typischen <strong>Schweiz</strong>erin. Ich denke<br />

nicht mehr wie eine Frau aus Tibet, ich bin offener und direkter<br />

geworden. Ich sage meine Meinung, ich nehme meine Rechte<br />

wahr. Ich habe auch schon eine 1.­August­Rede in unserer Gemeinde<br />

gehalten. Das heisst, mein Herz ist in zwei Län<strong>der</strong>n zuhause.<br />

So betrachtet, ist das übrigens ein Gewinn. Ich kenne<br />

nicht nur eine Kultur, ich kenne zwei. Ich kenne nicht nur eine<br />

Lebensart, son<strong>der</strong>n zwei. Das versuche ich auch unseren Kin<strong>der</strong>n<br />

Jigme Norbu, Norzin Dolkar und Pema Dolkar weiterzugeben.<br />

Alle drei sind natürlich zweisprachig – wobei sie besser<br />

<strong>Schweiz</strong>erdeutsch als Tibetisch sprechen.<br />

Trotzdem engagieren sich mein Mann und ich weiterhin und<br />

mit aller Kraft für die Sache Tibets. Ich sehe es nicht nur als<br />

meine Verantwortung, son<strong>der</strong>n auch als Pflicht an, mich für mein<br />

Land einzusetzen, und zwar unermüdlich.<br />

Das habe ich auch unseren Kin<strong>der</strong>n weiterzugeben versucht.<br />

Wenn ich heute sehe, wie sie sich für Tibet einsetzen, dann bin<br />

ich dankbar und stolz und denke, dass unsere Erziehung etwas<br />

genützt hat.<br />

Aus: Christian Schmidt/Manuel Bauer: <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>. <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>. 12 Lebensgeschichten.<br />

Zürich: Limmat Verlag 2009. S. 29–43.<br />

179 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 180


Bausteine Tibet-Thementage/Materialien<br />

Vorträge und Kooperationen<br />

Lehrpersonen, die sich für die Gestaltung von Tibet­Themen­<br />

tagen direkt in den Schulzimmern o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Aula interessieren,<br />

empfehlen wir die folgenden Referentinnen und Referenten und<br />

Bildschauen:<br />

Autoren<br />

Manuel Bauer:<br />

– «<strong>Flucht</strong> aus Tibet», Live­Reportage und Vortrag (mit Integration<br />

aktueller Zeitdokumente seiner Heiligkeit dem Dalai Lama<br />

und «<strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>. <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>. 12 L e b e n s g e s c h i c h ­<br />

ten»).<br />

– «Dalai Lama – Unterwegs für den Frieden», Live­Reportage und<br />

Vortrag (Manuel Bauer begleitete den Dalai Lama <strong>auf</strong> über<br />

vierzig weltweiten Reisen als offizieller Fotograf. Ein Nahporträt<br />

einer aussergewöhnlichen Persönlichkeit unserer Zeitgeschichte.)<br />

Manuel Bauer lebt und arbeitet in Winterthur, freischaffen<strong>der</strong> Fotograf.<br />

Nach seiner Ausbildung zum Werbefotografen wen de te sich<br />

Manuel Bauer dem Fotojournalismus zu und spezialisier te sich <strong>auf</strong><br />

Langzeitprojekte. Gründungsmitglied <strong>der</strong> Foto grafie agentur<br />

Lookat. Seit 1990 fotografiert er in Indien, <strong>der</strong> Tibetischen Diaspora<br />

und Tibet. Internationale Bekanntheit erlangte er durch<br />

seine Reportage «<strong>Flucht</strong> aus Tibet» in <strong>der</strong> Kulturzeitschrift du.<br />

Seit 2001 ist er persönlicher Fotograf des Dalai Lama. Zahlreiche<br />

Ausstellungen und Auszeichnungen im In­ und Ausland. Lehrtätigkeit<br />

am Medienausbildungszentrum MAZ Luzern.<br />

Kosten und Daten <strong>auf</strong> Anfrage.<br />

Manuel Bauer, Albrechtstrasse 2, 8406 Winterthur / ZH<br />

T 078 622 08 11, bauer@manuelbauer.ch<br />

Christian Schmidt und Manuel Bauer: «<strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>. <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>. 12 Lebensgeschichten». Lesung aus dem Buch «<strong>Exil</strong><br />

<strong>Schweiz</strong>. <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>. 12 Lebensgeschichten» mit Christian<br />

Schmidt und «<strong>Flucht</strong> aus Tibet»­Ton und Bilddokumentation<br />

mit Manuel Bauer, anschliessende Diskussion mit den Autoren.<br />

Christian Schmidt, 1955, lebt und arbeitet in Zürich, freischaffen<strong>der</strong><br />

Journalist. Studium <strong>der</strong> Publizistik. Christian Schmidt<br />

kennt das Thema Tibet <strong>auf</strong>grund seiner Texte für Manuel Bauers<br />

Bildband «Dalai Lama – Unterwegs für den Frieden». Dazu<br />

kommen mehrere Interviews mit dem Dalai Lama, Texte für<br />

Tonbildschauen zum Thema Tibet, Reisen zu den <strong>Exil</strong><strong>auf</strong>enthaltsorten<br />

<strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> in Indien sowie Zeitungsartikel über die<br />

Situation des Landes. Schmidt beschäftigt sich seit Jahren mit<br />

dem Thema Menschenrechte.<br />

Kosten und Daten <strong>auf</strong> Anfrage bei Manuel Bauer (Adresse<br />

siehe linke Seite), o<strong>der</strong><br />

Christian Schmidt, Kontrast AG, Josefstrasse 92, 8005 Zürich<br />

T 044 272 63 31, schmidt@kontrast.ch<br />

Portraitierte<br />

Es besteht ausserdem die Möglichkeit mit den deutschsprechenden<br />

Portraitierten aus dem Buch: «<strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>. <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Flucht</strong>.12 Lebensgeschichten» ein Gespräch zu führen. Daten<br />

nach frühzeitiger Vereinbarung.<br />

Dickie Shitsetsang, 9573 Littenheid TG<br />

T 071 923 31 12, dshitsetsang@bluemail.ch<br />

Pema Meier, Dorfplatz 14, 9056 Gais AR<br />

T 071 793 33 59<br />

Pema Lamdark, Hinterdorfstrasse 46, 8400 Winterthur<br />

T 079 766 44 51 79, p.lamdark@gmx.net<br />

181 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 182


Ausstellungen<br />

Bei Manuel Bauer können folgende Fotoausstellungen gegen eine<br />

Gebühr ausgeliehen werden:<br />

«Dalai Lama – Unterwegs für den Frieden»<br />

«Tibet – Besetztes Land»<br />

«Möge ich allen Lebewesen Wunschjuwel sein – Die 8. Rein­<br />

karnation Shantidevas»<br />

«Das Kalachakra Sand­Mandala»<br />

Umfang und Kosten nach Absprache.<br />

Manuel Bauer, Albrechtstrasse 2, 8406 Winterthur / ZH<br />

T 078 622 08 11, bauer@manuelbauer.ch<br />

Experten aus <strong>der</strong> tibetischen Kultur in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

Tibet Institut Rikon. Schwerpunkt: Das Tibet­Institut ist das religiöse<br />

buddhistische Zentrum <strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong>innen und <strong>Tibeter</strong> in<br />

<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, übernimmt aber auch Aufgaben in <strong>der</strong> schweizerischen<br />

Gesellschaft, z. B. im Bildungswesen; Führungen durch<br />

das Kloster, auch mit Schulklassen und die Betreuung von schulischen<br />

Arbeiten.<br />

Tibet Institut, Tibet­Institut Rikon<br />

Wildbergstrasse 10, 8486 Rikon<br />

T 052 383 17 29, info@tibetinstitut.ch<br />

Tibet­Office Genf, Tseten Samdup Chhoekypa. Schwerpunkt:<br />

Ver mittlung von Englisch sprechenden Referenten zum tibetsino<br />

logischen Dialog, zur <strong>Exil</strong>­Regierung und aktuellen Thematiken<br />

<strong>der</strong> <strong>Tibeter</strong> in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> und im <strong>Exil</strong> allgemein.<br />

The Tibet Bureau, Tseten Samdup Chhoekypa<br />

Place de la Navigation 10, 1201 Genf<br />

T 022 738 79 40, tseten@tibetoffice.ch<br />

Sigrid Joss, Schwerpunkt: <strong>Tibeter</strong> in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, Begrün<strong>der</strong>in<br />

Verein <strong>Tibeter</strong> Heimstätten. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

des <strong>Schweiz</strong>erischen Roten Kreuzes, Aufarbeitung des Archivs<br />

über die <strong>Tibeter</strong> in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> für das Bundesarchiv.<br />

Sigrid Joss(­Arnd), Kranichweg 20/2, 3074 Muri / BE<br />

T 031 951 23 57, sigrid.joss@redcross.ch<br />

Dolkar Gyaltag, Sozialpädagogin im <strong>Tibeter</strong> Haus, Pestalozzi­<br />

Dorf. Stiftung Kin<strong>der</strong>dorf Pestalozzi<br />

Dolkar Gyaltag, Stiftung Kin<strong>der</strong>dorf Pestalozzi<br />

Kin<strong>der</strong>dorfstrasse 20, 9043 Trogen / AR<br />

T 071 343 73 73, haus yahbulagang@pestalozzi.ch<br />

Vorstand des Vereins <strong>Tibeter</strong> Jugend. Schwerpunkt: Im Westen<br />

das Bewusstsein <strong>der</strong> unrechtmässigen und gewaltsamen Besetzung<br />

Tibets durch die Volksrepublik China wachzuhalten und<br />

das gerechte Anliegen des unterdrückten und seiner fundamentalen<br />

Menschenrechte beraubten tibetischen Volkes in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

zu vertreten.<br />

Verein <strong>Tibeter</strong> Jugend in Europa, Tibetan Youth Association<br />

in Europe, Binzstrasse 15, 8045 Zürich<br />

T 079 506 85 12, info@tibetanyouth.org<br />

Weitere Referenten und Referentinnen<br />

Dr. Marietta Kind, Ethnologin, Universität Bern<br />

Forschungsschwerpunkte und Interessen, Gelebte Bön­Religion<br />

und ihre Geschichte Nepal, Tibet, Indien und <strong>Exil</strong>, Pilgerreisen<br />

im Himalaya, Ethnographien des Himalaya, Anthropology of<br />

Landscape, Schnittstelle Ethnologie und Entwicklungszusammenarbeit,<br />

Tibetischer Buddhismus in <strong>der</strong> Diaspora, 2. und 3.<br />

Generation <strong>Tibeter</strong> in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>.<br />

marietta.kind@relwi.unibe.ch<br />

183 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 184


Prof. Dr. Jens Schlieter, Universität Bern<br />

Forschungs­ und Lehrschwerpunkte: Ideengeschichte des indotibetischen<br />

Buddhismus, Theoretische bzw. systematische Religionswissenschaft,<br />

Bioethik <strong>der</strong> Religionen, Schnittstelle Religion<br />

– Philosophie in vergleichen<strong>der</strong> Perspektive, Theorie religiöser<br />

Sprache bzw. Sprachphilosophie in religiösen Traditionen.<br />

jens.schlieter@relwi.unibe.ch<br />

Prof. Dr. Karénina Kollmar­Paulenz, Universität Bern<br />

Forschungsschwerpunkte: Religionsgeschichte Tibets und <strong>der</strong><br />

Mongolei, Kulturbeziehungen Tibet­Mongolei, Religionstheorie<br />

Buddhismusrezeption in Europa.<br />

karenina.kollmar­paulenz@relwi.unibe.ch<br />

Departement für Kunst­ und Kulturwissenschaften<br />

Universität Bern, Vereinsweg 23, 3012 Bern, T 031 631 38 50<br />

Websiteverweise<br />

Amnesty International, Texte über Menschenrechtsverletzungen<br />

in Tibet Materialen und Informationen <strong>auf</strong> dem Netz von<br />

Tibetorganisationen: www.amnesty.ch<br />

Gesellschaft <strong>Schweiz</strong>erische Tibetische Freundschaft:<br />

www.tibetfocus.com (auch Zeitschrift «Tibet Focus» mit Hintergrundgeschichten<br />

über Tibet und <strong>Tibeter</strong> in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>)<br />

Tibet­Institut Rikon: www.tibet­institut.ch<br />

Tibet­Office Genf: www.tibetoffice.com<br />

<strong>Tibeter</strong>gemeinschaft <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>: www.tibetswiss.com<br />

Verein <strong>Tibeter</strong> Jugend Europa: www.vtje.org<br />

Verein Tibetische Frauen­Organisation in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> Frauen:<br />

www.tfos.ch<br />

Archive/Fachbibliotheken<br />

Tibet Institut Rikon, www.tibet­institut.ch (Grösste tibetische<br />

Fachbibliothek mit über 12 000 Titeln)<br />

<strong>Schweiz</strong>erisches Rotes Kreuz Bern, Tibet Archiv: www.srk.ch<br />

Literaturverweise<br />

Gyaltsen Gyaltag, Asiatische Flüchtlinge in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Fragen<br />

zur Integration. Studia Ethnographica Friburgensia 12. Freiburg:<br />

Universitätsverlag 1984.<br />

Gyaltsen Gyaltag, Tibet einst und heute. Eine Gedenkschrift<br />

zum Anlass des 20. Jahrestages des tibetischen National<strong>auf</strong>standes<br />

vom 10. März 1959. In: The Office of Tibet, Verein <strong>Tibeter</strong><br />

Jugend / Europa. Rikon­Zürich: <strong>Tibeter</strong> Gemeinschaft in <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> (Hg.) 1979<br />

Peter Grie<strong>der</strong>, Tibet – Land zwischen Himmel und Erde, München:<br />

Grin Verlag 1993<br />

Peter Lindegger, 40 Jahre <strong>Tibeter</strong> in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>.Versuch einer<br />

ersten Bestandes<strong>auf</strong>nahme für die Jahre zwischen 1960 und<br />

2000, Tibet­Institut Rikon, Opuscula Tibetana Fasc. 29, 2000<br />

Karma Lobsang, Marietta Kind, Prof. Dr. Jens Schlieter (Projektleiter),<br />

Forschungsbericht Universität Bern: Buddhistische<br />

Identität im Wandel: Eine Untersuchung <strong>der</strong> zweiten und dritten<br />

Generation tibetischer Migrantinnen und Migranten in <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> (Forschungsbericht fertiggestellt per 2010)<br />

185 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 186


Tibet­Insitut Rikon, Tibetisches Juwel, Buddhismus und westliche<br />

Welt im Gespräch, Werd Verlag, Zürich, 2008<br />

Manuel Bauer / Christian Schmidt, Dalai Lama – Unterwegs für<br />

den Frieden, Zürich: Kontrast Verlag 2005 (Anhang: Menschenrechtsverletzungen<br />

in Tibet im Weltspiegel)<br />

Claudia Seele­Nyima, Tibetische Frauen zwischen Tradition und<br />

Innovation. Eine Untersuchung zum soziokulturellen Wandel im<br />

indischen <strong>Exil</strong>. Münster / Hamburg / London: LIT Verlag 2001<br />

Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 187

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