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Exil Schweiz Tibeter auf der Flucht

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gibt es sehr genaue Anweisungen. Zuerst versuchen wir, allen<br />

Wesen gegenüber eine gleiche Einstellung zu entwickeln. Dann<br />

denken wir darüber nach, dass das Leben <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Wesen<br />

genauso kostbar ist wie unser eigenes und entwickeln so eine gewisse<br />

Sorge um die an<strong>der</strong>en.<br />

Was ist mit einer Person, die sich zu keiner Religion bekennt?<br />

Je<strong>der</strong> einzelne hat das Recht, einer Religion zu folgen o<strong>der</strong> nicht.<br />

Es ist durchaus möglich, ohne eine Religion zurechtzukommen,<br />

und in manchen Fällen macht es das Leben sogar leichter. Aber<br />

auch wenn man gar kein Interesse an Religionen hat, sollte man<br />

dennoch den Wert positiver menschlicher Eigenschaften nicht<br />

vergessen. Solange wir menschliche Wesen und Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

menschlichen Gesellschaft sind, brauchen wir menschliches Mitgefühl,<br />

sonst wird es uns nicht gelingen, glücklich zu sein. Da wir<br />

alle glücklich sein wollen und möchten, dass auch unsere Freunde<br />

und Familien glücklich sind, müssen wir Mitgefühl und Zuneigung<br />

entwickeln. Es gibt zwei Ebenen <strong>der</strong> Spiritualität, die zu<br />

unterscheiden wichtig ist: religiöse Spiritualität und nicht­religiöse<br />

Spiritualität. Mit <strong>der</strong> zuletzt genannten versuchen wir einfach,<br />

ein guter Mensch zu sein, ein Mensch mit einem guten Herzen.<br />

Auch sollten wir daran denken, dass aus einer Einstellung<br />

des Mitgefühls heraus automatisch Gewaltlosigkeit resultiert.<br />

Gewaltlosigkeit ist keine diplomatische Vokabel, son<strong>der</strong>n Mitgefühl<br />

in Aktion. Wenn man Hass in sich hegt, sind die eigenen<br />

Handlungen oft gewalttätig, während aus einem Herzen voller<br />

Mitgefühl gewaltlose Handlungen entspringen.<br />

Solange es Menschen gibt, wird es <strong>auf</strong> dieser Erde Streit und<br />

Konflikte geben. Das ist sicher. Wenn wir uns <strong>der</strong> Gewalt bedienen,<br />

um Streitereien und Konflikte zu schlichten, müssen wir täglich<br />

mit Gewalt rechnen, und das Ergebnis ist schrecklich. Ausserdem<br />

ist es ohnehin unmöglich, Streit durch Gewalt zu beseitigen.<br />

Gewalt erzeugt nur noch mehr Ablehnung und Unzufriedenheit.<br />

Gewaltlosigkeit bedeutet Dialog. Man spricht miteinan<strong>der</strong>,<br />

um sich verständlich zu machen. Dialog bedeutet Kompromissbereitschaft<br />

in einem Geist <strong>der</strong> Versöhnung, das heisst, man hört<br />

dem an<strong>der</strong>en zu und respektiert seine Ansichten und Rechte. Es<br />

gibt keinen 100%igen Gewinner und keinen 100%igen Verlierer.<br />

Es ist eine äusserst praktische Herangehensweise, ja man kann<br />

sogar sagen, die einzig wirklich nützliche. In unserer Zeit wird<br />

die Welt sehr schnell immer kleiner, und Auffassungen wie «wir»<br />

und «sie» sind veraltet. Würden unsere Interessen unabhängig<br />

von denen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en existieren, dann wäre es möglich, von einem<br />

echten Sieger und einem echten Verlierer zu sprechen. Aber<br />

da wir in Wirklichkeit alle voneinan<strong>der</strong> abhängig sind, sind die<br />

Interessen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en sehr eng mit unseren eigenen verknüpft.<br />

Wie sollte man da einen 100%igen Sieg erwarten können? Wir<br />

müssen teilen, und je<strong>der</strong> muss etwas <strong>auf</strong>geben, manchmal mehr,<br />

manchmal weniger, sonst gibt es keine Versöhnung.<br />

Wir müssen lernen, so zu denken – das ist die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit unserer heutigen Welt. Es ist auch die Grundlage<br />

meiner eigenen Vorgehensweise, die ich den Mittleren Weg nenne.<br />

Die <strong>Tibeter</strong> werden keinen 100%igen Sieg erringen können,<br />

denn ob es uns gefällt o<strong>der</strong> nicht, die Zukunft Tibets hängt in<br />

grossem Mass von China ab. In einem versöhnlichen Geist befürworte<br />

ich daher eine Aufteilung <strong>der</strong> Interessen, damit ein echter<br />

Fortschritt möglich wird. Kompromissbereitschaft ist <strong>der</strong> einzig<br />

gangbare Weg. Durch gewaltlose Methoden können wir die Rechte,<br />

Ansichten und Gefühle <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en teilen, und so können wir<br />

das Problem auch lösen.<br />

Ich nenne das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t manchmal ein Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

des Blutvergiessens. Es hat in diesem Jahrhun<strong>der</strong>t mehr Konflikte,<br />

mehr Blutvergiessen und mehr Waffen als jemals zuvor<br />

gegeben. Auf <strong>der</strong> Grundlage aller Erfahrungen, die wir in diesem<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t gemacht und aus denen wir gelernt haben, sollten<br />

wir das kommende Jahrhun<strong>der</strong>t zu einem Jahrhun<strong>der</strong>t des Dialogs<br />

machen. Der Grundsatz <strong>der</strong> Gewaltlosigkeit sollte überall<br />

Anwendung finden. Das kann nicht dadurch erreicht werden,<br />

dass wir hier sitzen und beten. Es bedeutet Arbeit, Anstrengung,<br />

und noch mehr Anstrengung.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

Aus: Dalai Lama: Die vier edlen Wahrheiten. Die Grundlage buddhistischer Praxis. Frankfurt:<br />

Wolfgang Krüger Verlag 1999. S. 123 –139.<br />

55 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 56

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