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Exil Schweiz Tibeter auf der Flucht

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Das Elend <strong>der</strong> Gefängniszeit begann 1965, sechs Jahre nach dem<br />

Aufstand in Lhasa und sechs Jahre nach <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Kundüns.<br />

Damals kritisierte <strong>der</strong> Panchen Rinpoche die chinesische Regierung.<br />

Er sagte: «Es ist alles an<strong>der</strong>s, als ihr uns versprochen habt.<br />

Tibet entwickelt sich nicht. Es gibt keine Religionsfreiheit. Unsere<br />

Sprache verschwindet. Die Leute hungern.» Die Worte lösten<br />

bei den Besetzern viel Unmut aus, und sie verlangten in <strong>der</strong> Folge<br />

von allen gebildeten Menschen in Lhasa, dass sie sich von<br />

Panchen Rinpoches Vorwürfen distanzieren, und zwar öffentlich.<br />

Das wurde auch von mir gefor<strong>der</strong>t. Die Chinesen befahlen eine<br />

Vollversammlung, und je<strong>der</strong> musste Stellung nehmen. Alle meine<br />

Landsleute verurteilten die Äusserungen und distanzierten<br />

sich. Nur ich nicht. Als ich an <strong>der</strong> Reihe war, sagte ich: «Ich habe<br />

kein Vertrauen in die chinesische Regierung. China hat sich mit<br />

dem Hintern <strong>auf</strong> unser Land gesetzt. Ihr erdrückt uns!» Im Saal<br />

herrschte Schweigen, auch bei den Chinesen, die vorne sassen<br />

und die Vollversammlung leiteten. Sie reagierten nicht. Als sich<br />

alle geäussert hatten, konnten wir nach Hause, auch ich.<br />

Schon bald wurde die nächste Vollversammlung angekündigt.<br />

Diesmal wurde ich namentlich <strong>auf</strong>gerufen, musste <strong>auf</strong>stehen<br />

und – gebückt – stehen bleiben. Dann überhäuften sie mich<br />

mit Vorwürfen. Ich sei reaktionär. Ich würde alte und falsche<br />

Geschichten über Tibet erzählen. Ich sei gegen den Fortschritt.<br />

Ich sei für die Unabhängigkeit. Anstatt in den Kommunismus zu<br />

vertrauen, würde ich noch immer beten. Zudem würde ich, <strong>der</strong><br />

damals als Lehrer arbeitete, die Kin<strong>der</strong> schlagen.<br />

Alle kritisierten mich, auch Arbeitskollegen und Eltern von<br />

Schülern. Alle waren gegen mich. Was soll ich dazu sagen? Ich<br />

tat nichts an<strong>der</strong>es, als meine Meinung zu äussern und meine<br />

Überzeugung zu vertreten. Und ja, es ist wahr, manchmal schlug<br />

ich die Kin<strong>der</strong>, mit dem Lineal, wenn sie zu laut waren.<br />

Doch auch an diesem Tag konnte ich wie<strong>der</strong> nach Hause. Es<br />

dauerte nochmals zwei Tage, bis ich verhaftet wurde. Polizisten<br />

kamen und sagten: «Pack das Bettzeug!» Sie fuhren mich ins Gefängnis<br />

von Lhasa.<br />

Ich wurde in die Abteilung 2 gebracht. Sie besteht aus zwei<br />

Wellblechbaracken mit je zwanzig Räumen. In jedem Zimmer leben<br />

zwischen zehn und fünfzehn Gefangenen, die alle <strong>auf</strong> dem<br />

Sandboden schlafen und für die Notdurft einen einzigen Eimer<br />

zur Verfügung haben. Die meisten meiner Mitgefangenen waren<br />

Kriminelle; nur einige wenige waren aus politischen Gründen<br />

inhaftiert. Alle politischen waren Mitarbeiter des Panchen Rinpoche.<br />

Das Leben war sehr hart. Die erste Zeit arbeitete ich in<br />

einem Steinbruch; wir wurden in die nahen Berge gefahren, wo<br />

wir Lastwagen mit Steinen beladen mussten, die für den Bau von<br />

Häusern und für Verbauungen des Kyi Chu, des Lhasa­Flusses,<br />

verwendet wurden. Ich kann heute noch erkennen, welcher Abschnitt<br />

mit unseren Steinen kanalisiert worden ist. Die beiden<br />

folgenden Jahre arbeitete ich in <strong>der</strong> Schreinerei des Gefängnisses,<br />

wo wir Stühle und Tische herstellten. 1968, nach drei Jahren,<br />

wurde ich entlassen. Aber es war keine wirkliche Entlassung;<br />

denn ich wurde weiterhin überwacht. Das heisst, ich durfte<br />

nicht zu Hause wohnen, son<strong>der</strong>n musste in einem weniger streng<br />

überwachten Teil des Gefängnisses bleiben. Meine Freiheit bestand<br />

darin, dass ich jeweils sonntags Ausgang hatte. Diese Zeit<br />

nutzte ich, um meine Schwester zu besuchen. Schon um siebzehn<br />

Uhr musste ich wie<strong>der</strong> zurück sein.<br />

Bereits zwei Jahre später wurde ich erneut verhaftet. Aber<br />

nun muss ich etwas ausholen. Damit man versteht, wie es so weit<br />

kommen konnte.<br />

Ich wurde im Bezirk Lhasa geboren, in eine Familie aus dem<br />

unteren Adel namens Takna. Takna heisst Tigernase. Mein Vater<br />

arbeitete für die tibetische Regierung und war, wenn ich mich<br />

richtig erinnere, Vorsteher unseres Heimatorts Takna Chü. Das<br />

sage ich <strong>auf</strong> Chinesisch. Auf Tibetisch wäre <strong>der</strong> Name Takna<br />

Shiga, aber heute sagen alle Takna Chü. Wir besassen ein grosses<br />

zweistöckiges Haus, in dem meine Mutter vierzehn Kin<strong>der</strong><br />

gebar. Doch bis <strong>auf</strong> einen Bru<strong>der</strong> und zwei Schwestern sind alle<br />

früh gestorben.<br />

Zum Haus gehörte ein grosser Garten mit vielen Blumen<br />

und zwei grossen Walnussbäumen, einer im Osten, einer im Westen<br />

des Grundstücks. Weil ich im Sommer immer barfuss ging,<br />

157 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 158

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