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Exil Schweiz Tibeter auf der Flucht

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Passes. Fuss um Fuss. Und nach einigen Schritten vor Erschöpfung<br />

in den Schnee fallen. Die Steigung hält sich in Grenzen,<br />

doch die Höhe und <strong>der</strong> Wind machen uns zu schaffen. Manchmal<br />

müssen wir über brüchigen Harst. Das Einsinken strengt an. Es<br />

dünkt mich, ich funktioniere nur noch <strong>auf</strong> Befehle des Stammhirns,<br />

taumle betäubt weiter, immer weiter.<br />

Irgendwann sind wir oben. In 5716 Meter Höhe, <strong>der</strong> Nangpa<br />

La, Wasserscheide und Grenze. Auf <strong>der</strong> einen Seite das besetzte<br />

Tibet, <strong>auf</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Nepal und dahinter Indien. Kelsang ruft<br />

«Lha Gyallo» in den kalten Wind, «Sieg den Göttern», und legt<br />

gemeinsam mit Yangdol eine Khatag, die traditionelle Opfergabe<br />

in Form eines weissen Seidenschals am La Tse, dem heiligen Manisteinh<strong>auf</strong>en,<br />

nie<strong>der</strong>. Kelsang nimmt mir die Kamera ab, um<br />

mich zusammen mit Yangdol zu fotografieren. Ich knie nie<strong>der</strong><br />

neben das kleine Bündel, das in mehrere Jacken eingewickelte<br />

Mädchen mit seiner unbeschreiblichen Kraft. Es ist <strong>der</strong> zehnte<br />

Tag <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong>. Wir verweilen nicht lange. Wolken ziehen hinter<br />

den Gipfeln <strong>auf</strong>.<br />

– Die endlos wirkende weisse Ebene neigt sich nach <strong>der</strong> Passhöhe<br />

gegen die nepalesische Seite.<br />

Etwas weiter südlich beginnt <strong>der</strong> Nangpa­Gletscher steil abzufallen.<br />

Immer wie<strong>der</strong> stürzen wir <strong>auf</strong> dem blanken Eis. Steile<br />

Stücke rutschen wir <strong>auf</strong> dem Hintern hinunter, überspringen<br />

Spalten. In <strong>der</strong> zerklüfteten Eiswüste fällt es schwer, einen Weg<br />

zu finden. An einem zugefrorenen See gelingt es Kelsang nach<br />

mehrmaligen Versuchen, ein Loch in das Eis zu schlagen, indem<br />

er einen Felsbrocken <strong>auf</strong> das Eis schmettert. Endlich wie<strong>der</strong> einige<br />

Schlucke Wasser.<br />

Das Wetter verschlechtert sich und gibt Grund zur Besorgnis.<br />

Das Gehen <strong>auf</strong> dem Gletscher ist heimtückisch, Schnee und<br />

Eis, manchmal mit Geröll übersät. Yangdol hat sich den Fuss<br />

verstaucht, will sich aber dennoch nicht tragen lassen. Wir hoffen,<br />

bis Lunag zu kommen. Manchmal gilt es <strong>auf</strong> spitzen Graten<br />

das Gleichgewicht zu wahren, links und rechts stürzen Eiswände<br />

und Überhänge in Spalten o<strong>der</strong> gefrorene Seen. Gegen Abend<br />

beginnt es zu schneien, beim Einnachten hole ich meine Taschen­<br />

lampe hervor. Ich verstehe nicht, wieso es mir Kelsang nicht<br />

gleichtut. Er erklärt mit wenigen Gesten, dass er seine Lampe<br />

weggeworfen habe. Er hat sich über die schlechte chinesische<br />

Qualität geärgert. Von zwei Dutzend Ersatzlämpchen funktionierte<br />

kaum die Hälfte. Dazu kam, dass er realisierte, dass ich<br />

auch eine bei mir hatte. So muss mein kleines Ding uns dreien<br />

den Weg weisen. Doch schnell versiegt das kleine Licht. Die Batterien<br />

halten <strong>der</strong> Kälte nicht stand. Die Erschöpfung ist un­<br />

beschreiblich. Wir hatten kaum gerastet, kaum gegessen und<br />

höchstens einen halben Liter Wasser getrunken. Im Delirium<br />

läuft <strong>der</strong> Körper mechanisch und langsam voran. Das Grosshirn<br />

scheint ausgeklinkt zu sein. Um etwa zweiundzwanzig Uhr kommen<br />

wir zu kleinen Viehstallungen, die uns knapp Platz bieten.<br />

Wir sinken erschöpft nie<strong>der</strong>. Es dauert eine Weile, bis ich realisiere,<br />

dass dies Lunag sein soll. Ich hatte die Karte falsch interpretiert<br />

und hier eine kleine Siedlung mit mindestens einer warmen<br />

Suppe erwartet. Die Nacht ist kalt, und es zieht durch die<br />

Steinmauern. Vor dem Schlafen zwinge ich mich, einen <strong>der</strong><br />

Getreidestengel, die ich aus <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> mitgebracht habe, zu<br />

essen.<br />

Plötzlich streift uns ein Lichtstrahl. Wir sind zu erschöpft,<br />

um zu reagieren. Dann schaut uns das besorgte Gesicht eines<br />

Sherpas aus dem Dunkeln entgegen. Er bringt uns eine Tasse<br />

warmes Wasser. Er ist unterwegs zum Cho Oyu, um das Basislager<br />

einer deutschen Achttausen<strong>der</strong>expetition vorzubereiten.<br />

Aus: Manuel Bauer: <strong>Flucht</strong> aus Tibet. Zürich: Limmat Verlag 2009.<br />

153 | Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> Unterrichtseinheit <strong>Exil</strong> <strong>Schweiz</strong>, <strong>Tibeter</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong> | 154

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